Mein unsichtbares Kind - Begleitbuch für Frauen, Angehörige und Fachpersonen vor und nach einem Schwangerschaftsabbruch - Heike Wolter - E-Book

Mein unsichtbares Kind - Begleitbuch für Frauen, Angehörige und Fachpersonen vor und nach einem Schwangerschaftsabbruch E-Book

Heike Wolter

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Beschreibung

Das Unsichtbare sehen können Promi-Schwangerschaften, Reproduktionsmedizin, der entschlüsselte Mensch – Schwangerschaft und Geburt sind alltägliche Medieninhalte. Ein Thema wird jedoch oft gemieden: der Schwangerschaftsabbruch. Während manche Abtreibungsgegner vehement gegen betroffene Frauen und die durchführenden Mediziner vorgehen, behaupten einige Abbruchs-Befürworter, da existiere noch gar kein echter Mensch. Der überwiegende Rest der Gesellschaft befasst sich, wenn überhaupt, meist nur hinter vorgehaltener Hand mit der Thematik. Doch viele betroffene Frauen und auch ihre Partner spüren, dass ein Schwangerschaftsabbruch Einfluss auf ihr weiteres Leben nehmen könnte oder bereits genommen hat. Das eigene Ich wahrnehmen Ob vorher oder nachher: Dieses Buch bietet unvoreingenommene Unterstützung in der Entscheidungsfindung. Verständlich werden die Schritte des Abbruchs erklärt, sollte der Eingriff noch bevorstehen. Diverse Hilfestellungen ermöglichen außerdem den Aufbruch in die Heilungsphase, falls die Schwangerschaft bereits abgebrochen wurde. Sensibel werden für Bedürfnisse anderer In Interviews kommen Frauen (und ein Mann) zu Wort, die sich aufgrund verschiedener Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden haben. Andere Betroffene, Mitmenschen und Fachpersonen lesen somit über • die Erfahrungen des Verlusts und die häufigsten Fragen • die wichtigen ersten Schritte nach einem Abbruch • den Verlauf der Auseinandersetzung und der Trauer • hilfreiche Wege zu Heilung und Integration • Weiterleben nach einem Abbruch, mögliche dauerhafte Veränderungen Offene Informationen erhalten Betroffene und Fachpersonen, die sich mit der Abbruchs-Thematik befassen, finden Zugang zu Themen wie • rechtliche Grundlagen (Deutschland / Österreich / Schweiz) • Abbruchsmethoden, körperliche und seelische Begleiterscheinungen • achtsamer Umgang vor, während und nach einem Abbruch

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„Es ist wichtig, dass die unterschiedlichen Abbruchserfahrungen von Frauen anerkannt, bestätigt und verstanden werden.“

American Psychological Association (APA) Task Force on Mental Health and Abortion

Inhaltsverzeichnis

Mit Liebe berühren… Eine Einführung

Mit Liebe berühren

Warum ich dieses Buch geschrieben habe

Bezeichnungen für das unsichtbare Kind

Wie mit dem Ende anfangen?

Interviewpartner

Vorgehen

Erlebnisberichte

Grundsätzliche Überlegungen

Rahmenbedingungen

Gesellschaftliche Bewertung von Schwangerschaft und Elternschaft

Geschichtliche Einflüsse

Antike

Mittelalter und Frühe Neuzeit

Weimarer Republik

Nationalsozialismus

Bundesrepublik bis 1990

DDR bis 1990

Das wiedervereinigte Deutschland

Österreich

Schweiz

Besondere Regelungen bei medizinischer Indikation

Herausforderung Präimplantationsdiagnostik

Wann beginnt Leben und welches Leben ist schutzwürdig?

Medizin

Philosophie

Religion und Theologie

Recht

Rechteabwägung zwischen Mutter und Kind

Gründe für Schwangerschaftsabbrüche

Kriminologische Indikation

Medizinische Indikation

Beratungsregel / Soziale Indikation / Notlagenindikation

Gemeinsamkeiten von Betroffenen

Chronologie des Abbruchs: Die Entscheidung

Die Schwangerschaft als Umbruchssituation

Überlebensstrategien im Konfliktfall

Die (verpflichtende) Beratung

Wie erkenne ich eine „gute“ Beratung?

Entscheidungsfindung

Beratung und Begleitung in der Entscheidungsfindung

Entscheidende Fragen

Grundlegende Fragen zum Abbruch

Fragen zu den Ursachen

Fragen zu Alternativen

Fragen zu Folgen des Schwangerschaftsabbruchs

Fragen zum Abschied vom Kind

Fragen zur Zukunft mit einem Kind

Fragen zur Zukunft mit einem behinderten Kind

Fragen zur Zukunft ohne Kind

(Fach)Ärztliche Beratung

Medizinische Fragen

Beratungsleitlinien in der Pränataldiagnostik

Schwangerschafts- und Familienberatungsstellen

Deutschland

Österreich und Schweiz

Das Wesen der Schwangerschaftskonfliktberatung

Wahl des Beratungssettings

Themenspektrum

Sachinformationen und persönliches Gespräch

Persönliche Fragestellungen

Konflikte in der Partnerschaft und mit dem werdenden Vater

Gewalterfahrungen

Einflussnahme Dritter

Kindheitserfahrungen

Weitere individuelle Beratungsinhalte

Alternativen zum Schwangerschaftsabbruch

Ein krankes oder behindertes Baby austragen

Sich entschieden haben

Gefühlslage nach der Entscheidung

Wie die Schalen einer Zwiebel

Sich fokussieren

Fortsetzung der Schwangerschaft

… trotz persönlich ungünstiger Lebensumstände

… trotz kriminologischer Indikation

… trotz medizinischer Indikation

… und gleichzeitiger Schwangerschaftsabbruch (Reduktion)

Was dein Kind später wissen soll

Chronologie des Abbruchs: Durchführung

Informierte Entscheidungen treffen

Ortswahl

Methodenwahl

Arztgespräch

Medikamentöser Schwangerschaftsabbruch in der Frühschwangerschaft

Medikamentöser Schwangerschaftsabbruch in der späteren Schwangerschaft

Medikamentöser Schwangerschaftsabbruch mit vorhergehendem Fetozid

Chirurgischer Schwangerschaftsabbruch in der Frühschwangerschaft

Reduktion von Mehrlingen

Schwangerschaftsabbruch aufgrund der akuten Gefährdung des mütterlichen Lebens

Vorgehen

Länderspezifische Informationen

Terminverschiebung oder -absage

Benötigte Unterlagen

Kostenübernahme

Konfrontation mit Lebensrechtlern

Der angemessene Umgang in Praxis oder Klinik

Konfrontation mit anderen Patientinnen

Der Schwangerschaftsabbruch und die Folgestunden

Chronologie des Abbruchs: Verarbeitung

Mythen über Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen

Medizinische Folgen

Körperliche Folgen

Heilungsprozesse

(Natürliches) Primäres Abstillen

Rechtliche Folgen

Emotionale Folgen

Individuelle Gefühlslage

Träume

Fragen und Zweifel

Mögliche Gefühle nach dem Abbruch

Der Welt neu begegnen

Zusammentreffen mit Schwangeren

Zusammentreffen mit Kindern

Zusammentreffen mit anderen Personen

Kinderwunsch

Schuld

Schuldgefühle

Arten von Schuld

Schuld als Übertragungsstrategie

Auswirkungen von Schuld

Erinnerung und Heilung

Körperlich heilen

Seelisch heilen

Sich bewusst erinnern

Verhinderte Heilung

Beratung und Begleitung im Heilungsprozess

Professionelle Gesprächsangebote

Eigene Ressourcen

Neue Perspektiven

Kommunikation mit anderen

Rituale

Definition

Spezielle Rituale

Bestattung

Rituale als Unterstützung

Wichtige Daten

In die Zukunft gehen

Sinngebung

Neue Lebenskonzepte

Folgeschwangerschaft

Integration

Männer im Kontext des Schwangerschaftsabbruchs

Vaterschaft

Wenn der werdende Vater das Kind behalten möchte

Wenn der Mann zum Abbruch drängt

Partnerschaft

Mitmenschen

Herkunfts- und eigene Kernfamilie

Unterstützung

Innerfamiliärer Konflikt

Die Familie als „Wächter“

Einflussnahme

Die Rolle der eigenen Mutter

Die Rolle der Familie nach dem Abbruch

Der Umgang mit den eigenen Kindern

Personen im persönlichen Umfeld

Personen im beruflichen Umfeld

Personen im öffentlichen Raum

Wünsche an das Umfeld

Perspektivenwechsel

„Kann mich jemand verstehen?“ (Jessica Sennekamp)

„Ein Zwiegespräch – mindestens zu dritt“ (Doris Schiller)

„Alles zu viel?“ (Anna)

„Denkt auch mal an das Personal!“ (Heike Kufahl)

„Ein sehr intimes, heikles Thema“ (Gudrun Holtz)

… was man mit Schmerz berührte – Ein Resümée

Danksagung

Appendix

Glossar

Quellenverzeichnis

Hilfreiche Adressen / Internetseiten / Bücher

Beratungsstellen

Deutschland

Österreich

Schweiz

Internetangebote

Foren für Betroffene

Bücher und Filme für Betroffene

Bücher für Fachpersonen

Fragebogen zum Buch

Verhütungsmethoden im Vergleich

Mit Liebe berühren… Eine Einführung

Mit Liebe berühren

„Heilen bedeutet, mit Liebe zu berühren, was man mit Schmerz/Angst berührte.“ (Levine, 1992)

So formulierte es einmal Stephen Levine (*1937). Sein Leben lang hat sich der spirituelle Lehrer und Autor von Büchern wie „Noch ein Jahr zu leben“ mit dem Leben, dem Tod und der Trauer beschäftigt.

Levines Spruch über das Heilen ist einer der Leitgedanken meines Buches. Er geht von einem anderen Ansatz aus als die meisten Veröffentlichungen zum Thema Schwangerschaftsabbruch. Denn dort geht es häufig um die Diskussion der möglichen Folgen oder um religiöse Bezüge. Die Konsequenzen einer willentlich beendeten Schwangerschaft werden je nach – oft ideologischem – Standpunkt sehr verschieden eingeschätzt. Manche Autoren sind der Ansicht, ein Schwangerschaftsabbruch habe keine langfristigen Auswirkungen für die Mutter, andere wiederum sprechen von massiven, oft negativen Folgen.

Mir geht es darum, Wege zu zeigen, wie eine Heilung im Sinne einer Integration des Geschehenen in das eigene Leben gut gelingen kann. Das bedeutet zuerst, sich aktiv den Erlebnissen der Vergangenheit zuzuwenden und sie zu berühren.

Ich habe mich in der Anrede im Buch für das sehr persönliche „du“ entschieden. Mir ist bewusst, dass ich dadurch eine besondere Nähe schaffe. Ich möchte damit aber vor allem eine Vertrauensbasis herstellen. Und dir sagen: Ich bleibe auf Augenhöhe mit dir. Vor dir liegt keine Gebrauchsanweisung, sondern ein Bündel aus Informationen und Angeboten, die du auf ihre Tauglichkeit hin prüfen kannst. Entscheide selbst, welche der Informationen für dich von besonderem Wert sind.

Warum ich dieses Buch geschrieben habe

Wer meinen Lebensweg kennenlernt, der mag sich fragen, warum gerade ich ein Buch zum Thema Schwangerschaftsabbruch verfasse. Alle meine sechs Kinder waren sehr erwünscht, und über einen Abbruch habe ich nie nachgedacht.

Mein drittes Kind jedoch, meine Tochter Lilly, starb völlig unerwartet bei der Geburt durch einen Riss der Gebärmutter und der damit einhergehenden vorzeitigen Plazentaablösung.

In den Folgejahren habe ich getrauert und erlebt, wie schwer meine Trauer für meine Umwelt oft war. Manche Reaktionen haben mich verletzt, weil sie aus meiner Sicht taktlos waren, manche Kommentare haben mich auch bloß geärgert. Aber ich bin wieder aufgestanden, habe nach Ursachen gesucht und mich viel mit Schwangerschaft und Geburt beschäftigt. Unter anderem schrieb ich zwei ausführliche Begleitbücher für verwaiste Eltern.

Dabei fiel mir auf: Über Abbrüche wird harsch geurteilt. Besonders über solche, die nicht medizinisch begründet werden. Mir erschien das anmaßend. Woher will jemand wissen, wie sich diese vielleicht schwerwiegende Entscheidung für Frauen und Familien anfühlt und wie sie sich auswirkt? Wie kann man unterstellen, für Betroffene sei alles ganz klar und einfach, weil sie selbst so entschieden haben?

Ich sah – und sehe – das anders: Entspricht es nicht eher der Tatsache, dass viele Betroffene einen Abbruch ebenfalls als Verlust empfinden? Sicher jene, die sich nach einer ungünstigen medizinischen Prognose gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft entschieden haben. Aber wahrscheinlich auch viele andere.

Ich habe mir einen Schwangerschaftsabbruch nie für mich selbst vorstellen können, habe nie einen solchen Konflikt empfunden. Das spielt jedoch für meine Position gar keine Rolle.

Es geht nicht um mich, es geht um jede einzelne Betroffene. Auch wenn ich möchte, dass Frauen ermutigt werden, eine Schwangerschaft fortzuführen, steht für mich außer Frage, dass am Ende diejenige entscheidet, deren Körper und Leben von der Entscheidung betroffen sind. Wer die Konsequenzen einer Entscheidung tragen muss, der sollte über seinen Weg so weit wie möglich bestimmen dürfen.

Ich denke aber auch, dass Betroffene den Abbruch in dem Wissen tun sollten, dass da ein Kind existiert (hat), wenn auch vielleicht nur für einen kleinen Moment in ihrem Leben.

An den Reaktionen meiner Umwelt stellte ich im Laufe meiner Autorenschaft an diesem Buch fest, wie merkwürdig manchen meine Sichtweise erschien. Mir selbst hingegen wurde immer klarer, was eine wesentliche Lehre aus meinem eigenen Verlust geworden war: Nicht vorschnell über andere Menschen, ihre Ansichten und Gefühle sowie ihr Handeln zu urteilen.

Einen ähnlichen Standpunkt vertritt auch Doris Schiller. Sie ist die Leiterin einer Schwangerschaftsberatungsstelle in meiner Gegend. Ich habe sie nach meiner stillen Geburt als Trauerbegleiterin kennen- und schätzen gelernt und nun – nach vielen Jahren – gefragt, was sie von einem solchen Buch-Begleiter für Betroffene halte.

Mein Buch ist das Ergebnis eines dreijährigen, intensiven Dialogs mit ihr über Fragen zum Thema Schwangerschaftsabbruch. Dabei habe ich nach und nach bemerkt, wie groß das Tabu und wie kontrovers das Thema an und für sich ist. Manche – vor allem Betroffene – wollten sich nur ungern äußern, andere – vor allem Experten – meinten, die einzig richtige Perspektive zu haben.

In diesem umkämpften Feld möchte ich einen Anker für Betroffene bieten, um Integration zu unterstützen und die Blickwinkel auf das Geschehen zu weiten.

Wie schon bei meinen anderen Büchern beschloss ich, mich zuerst einmal umzuschauen, was schon an Büchern, Materialien und Fachinformationen existierte. Es kam – der erste Schock: Es gab wenig, Vieles davon war stark ideologisch gefärbt, und oft wurden Begrifflichkeiten verwendet, die weder die Würde der betroffenen Frau / Familie noch die des Kindes erkennen ließen.

Aber so schnell ließ ich mich nicht entmutigen: Ich suchte Fachpersonen, die sich beruflich mit dem Thema befassen. Es kam – der zweite Schock: Ablehnung von nahezu allen Seiten.

Ein Arzt, der routinemäßig Schwangerschaftsabbrüche in der Frühschwangerschaft durchführt, ließ mich wissen: „In dem Entwurf des Buches und dem Fragebogen wird immer von dem ‚Kind‘ gesprochen, wenn es um einen Abbruch geht. Aber beim Abbruch gibt es ja noch gar kein Kind. Es geht um einen Fruchtsack, einen Embryo, und manchmal ist beides noch nicht sichtbar.“

Die Betreiberin einer Internetseite, die nach eigenen Angaben vorurteilsfrei über den Schwangerschaftsabbruch informieren soll, schrieb mir, dass „mit einem emotionalisierenden Sprachgebrauch […] ambivalenten Frauen nicht geholfen“ sei und: „Der bei einem frühen medikamentösen Abbruch ausgestoßene Embryo (3–10 Millimeter groß) wird wohl unter Umständen in der Toilette hinuntergespült (ist nicht viel anders als bei einer Menstruation).“

Ein Vertreter der Lebensrechtsbewegung warf mir hingegen vor: „Das ist Mord an Kindern und Sie befürworten ihn.“

Die Überzeugungen der Fachpersonen variierten also bereits im Vorfeld sehr stark. Manche behaupteten, mein Buch rede den Betroffenen ein schlechtes Gewissen ein. Andere wiederum waren der Meinung, mein Buch verharmlose die massiven psychologischen und körperlichen Störungen, die mit einem Abbruch einhergingen.

Dabei hatte ich außer dem Fragebogen noch nicht ein einziges Wort zu Papier gebracht.

Einen letzten, und zwar den für mich bedeutsamsten, Schritt wollte ich trotzdem wagen: Ich suchte betroffene Frauen (und Männer). Es folgten zwar nur wenige meinem Aufruf – kein Wunder, wenn man sich die oben genannten Reaktionen anderer ansieht –, aber es meldeten sich eben genau jene, an die ich gedacht hatte. Frauen, die offenbar die Ambivalenz ihrer schwierigen Entscheidung spürten, und die mir berichteten, dass es eine Zeit brauche, die eigene Mitte wiederzufinden. Frauen, die auch nach 20 Jahren noch wussten, dass es dieses Kind gegeben hatte und wie die Erfahrung des Abbruchs in ihrem Leben gewirkt hatte. Und Frauen, die fanden, dass ein Begleitbuch für ihre Situation längst überfällig war.

Sie alle hatten verstanden, was ich gemeint hatte, als ich mein Projekt mit der oben genannten Gedichtzeile zum Heilen überschrieb. Das Heilen nicht im eng medizinischen Sinne, sondern das Heilwerden sollte mein Ansatz sein. Nach und nach spürte ich, dass ich es nicht jedem würde recht machen können. Deshalb beschloss ich, mich der großen Gruppe jener zuzuwenden, die den geplanten oder bereits erlebten Abbruch gut in ihr Leben integrieren wollen – und die dabei ihr „unsichtbares Kind“ wahrnehmen.

Bezeichnungen für das unsichtbare Kind

Die eher altertümlich benannte „Leibesfrucht“, der „biologische Zellhaufen“, das „leblose Material“, das „Mordopfer“ – solcherart Bezeichnungen und die dahinter verborgenen Auffassungen standen mir im Weg. Ich merkte bald, dass ich mich im Minenfeld der Begrifflichkeiten wie auf rohen Eiern bewegte.

In der Begrifflichkeitsdebatte gab und gibt es offenbar keinen Konsens, aber es ist mir ein Anliegen, durch meine Wortwahl Respekt auszudrücken. Obwohl ich die oben genannten Begriffe für mich ausschloss, war mir klar, dass weder die Worte Embryo/Fötus noch Kind/Baby von einigen Personen als wertfrei wahrgenommen werden würden.

Für den Begriff „Kind“ im Sprachgebrauch meines Buches entschied ich mich in dem Wissen, dass es sich gegebenenfalls um einen nur kleinen Menschenkeim handelte, weil ich Folgendes betonen möchte:

Es geht im Fokus meines Buches letztlich nicht nur um einen körperlichen Eingriff, sondern auch um eine soziale Stellung des im Entstehen begriffenen Menschens innerhalb einer werdenden Familie. Darüber hinaus um die soziale Beziehung zwischen der Mutter und ihrem „Nachkommen“. In dieser Auffassung sind die unpersönlichen Bezeichnungen, die ich oben genannt habe, wie auch Embryo und Fötus nicht aussagekräftig genug.

Selbst im gemäßigten Sprachgebrauch zum eigentlichen Geschehen gab es Stolpersteine: Waren es Abtreibungen? Dieses Wort hatte die Gesellschaft gebrandmarkt. Waren es Unterbrechungen? Wohl kaum, da gab es ja nichts wiederaufzunehmen unter günstigeren Umständen. Waren es Schwangerschaftsabbrüche? Das wohl am ehesten.

Ich musste bei meiner Überzeugung bleiben. Diese spiegelt sich in der Sprache des Buches. All jene, die sich mir öffneten, sollten ihre eigene Sprache nutzen dürfen. So entstand letztlich eine Vielfalt der Begriffe.

Wie mit dem Ende anfangen?

Mir war es wichtig, dass im ersten Teil des Buches jede(r) Betroffene in ihrer/seiner persönlichen Lebenssicht und Sprachwelt zum Ausdruck kommt. Es gibt zwar Gemeinsamkeiten zwischen den von mir befragten Buch-TeilnehmerInnen, aber jede Geschichte ist einzigartig.

Die Vielzahl unterschiedlicher Aspekte und Sichtweisen zeigt, dass auch die Lebenswege mit einem Schwangerschaftsabbruch nicht verallgemeinert werden können. In den Erlebnisberichten haben sich die Teilnehmerinnen und der Teilnehmer in freiem Stil über ihren Verlust geäußert. Diese Aussagen wurden von mir zwar teilweise gekürzt, nicht jedoch inhaltlich überarbeitet.

Im Anschluss an die authentischen Berichte folgt das Buch gleichsam chronologisch dem Geschehen. Es beleuchtet zuerst den Entscheidungsprozess und begleitet sodann in der Situation des Abbruchs. Die möglichen Wirkungen nach dem Abbruch sollen aufgezeigt und der Einfluss anderer Menschen verdeutlicht werden. Dafür habe ich verschiedene Kapitel vorgesehen.

Im Grundsatz folge ich darin einer Perspektive für den bundesdeutschen Raum, die durch bestimmte rechtliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen definiert wird. An entscheidenden Stellen weise ich aber auch auf die Gegebenheiten in Österreich und der Schweiz hin.

Wesentlich in der Auseinandersetzung mit dem Geschehenen ist das Thema moralische „Schuld“, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Sich damit zu befassen ist eine grundlegende Voraussetzung für hilfreiche „Erinnerung und Heilung“.

Während die ersten Kapitel vorrangig – aber nicht ausschließlich – die Mutter im Blick haben, geht es im weiteren Verlauf des Buches um andere Menschen und Themen, die unmittelbar (Kapitel „Männer im Kontext des Schwangerschaftsabbruchs“, Seite →) oder mittelbar (Kapitel „Herkunftsfamilie“, Seite →, und „Mitmenschen“, Seite →) von einem Schwangerschaftsabbruch betroffen bzw. damit verknüpft sind.

In allen Kapiteln verwebe ich meinen Autorentext einerseits mit Fachinformationen aus anderen Publikationen, andererseits mit Zitaten der Betroffenen. Die Zitate sind den Interviewfragebögen der TeilnehmerInnen entnommen.

Die Blanko-Vorlage des Fragebogens ist im Anhang des Buches abgedruckt. Darin habe ich mich detaillierter als bei den Erlebnisberichten in halboffenen Fragestellungen nach bestimmten, mir wichtigen Aspekten rund um den Schwangerschaftsabbruch erkundigt.

Interviewpartner

Als ich überlegte, welche unterschiedlichen Erlebniswelten ich mit den Interviews abdecken könnte, entstand zunächst eine lange Liste. Darauf fanden sich alle nur erdenklichen Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch. Ich wollte zeigen, dass es nicht nur die wenigen, medial präsenten und stereotyp dargestellten Betroffenen gab.

Doch welche konkreten Gründe für einen Abbruch hatte ich zu erwarten? Meine Liste legte mir folgende mögliche, ohne spezielle Überlegungen zu Häufigkeit oder Ähnlichem gereihte Szenarien nahe:

partnerschaftliche Probleme

finanzielle Probleme

Druck von Außenstehenden zum Abbruch der Schwangerschaft

früher oder später Abbruch bei mit dem Leben von Kind oder/und Mutter nicht zu vereinbarender medizinischer Diagnose

früher oder später Abbruch bei ungünstiger medizinischer Diagnose (Krankheit oder Behinderung) für das Kind

Minderjährigkeit

als zu hoch wahrgenommene Kinderzahl in der Familie

Alleinstehende / Alleinerziehende

Verwendung von Abbrüchen als „Verhütungsmaßnahme“

kulturelle, religiöse oder ausländerrechtliche Probleme / Problemlagen

Reduktion von Mehrlingen

häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch sowie andere kriminologische Indikationen

Schnell bemerkte ich, dass es für Betroffene sehr schwer war, sich mir zu öffnen. Ich fand nicht so viele TeilnehmerInnen wie erhofft. Aber ich war dankbar für das, was mir jene erzählten, die mich an ihrem Erleben teilhaben ließen.

Nach mehr als eineinhalb Jahren intensiven Bemühens um Interviewpartner beschloss ich schweren Herzens, das Buch mit „nur“ 16 TeilnehmerInnen im Alter zwischen 22 und 57 Jahren zu gestalten.

Ein Ehepaar äußerte sich in je einem eigenen, voneinander unabhängigen Fragebogen, so dass wir hier zwei verschiedene Wahrnehmungen ein und desselben Abbruchsgeschehens erfahren.

Vorgehen

Die meisten Schwangerschaften wurden in den ersten zwölf Wochen aufgrund persönlicher Gründe abseits medizinischer oder kriminologischer Indikation abgebrochen.

Auch wenn es eine Pflichtberatung nur in Deutschland, nicht aber in Österreich und der Schweiz gibt, habe ich diese Abbrüche mit „Beratungsregel“ gekennzeichnet, weil die gesetzliche Formulierung ein Wortungetüm darstellt.

Etwas mehr als ein Drittel der Abbrüche folgte einer medizinischen Indikationsstellung, weit mehr als statistisch erwartbar (Statistik, 2014). Zwei Mütter ließen mehr als einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen.

Meine kleine Befragung erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Rückschlüsse, aber offenbar fällt es Eltern mit einem medizinisch begründeten Abbruch deutlich leichter, sich zu äußern, da hier gesellschaftlich eine höhere Akzeptanz für die Entscheidung zu erwarten ist.

Nichts kann die unmittelbare Stimme jener, die selbst einen Schwangerschaftsabbruch durchlebt haben, erreichen oder ersetzen. Wenn ich als Autorin auch alles getan habe, um mich achtsam und sorgfältig der Thematik zu nähern, so bleibe ich trotzdem Außenstehende.

In den umfangreichen Interviews konnte ich Antworten finden, die sowohl die offizielle gesamtdeutsche Statistik als auch die in einzelnen Beratungsstellen erhobenen Statistiken nur kurz oder aber überhaupt nicht abbilden können.

In diesem Sinne ist mein Buch für all jene gedacht, die bereit sind, sich verschiedenen Aspekten rund um den Abbruch zu öffnen, und die Stimmen jenseits statistischer Fallzahlen wahrnehmen möchten.

Ohne die einzelnen Erfahrungen zu bewerten, sind die nun folgenden Erlebnisberichte dem Alter nach geordnet.

Erlebnisberichte

„Ich glaube, ich habe Vieles gar nicht richtig realisiert.“

Kim, 22

Beruf: Studentin

1. Kind: Sohn/Tochter (*+ vor 4 Monaten), Schwangerschaftsabbruch (Curettage) in der 11. SSW (Beratungsregel)

Diese elf Wochen waren die schwierigsten und kräftezehrendsten in meinem Leben. Das ständige Erbrechen, die andauernde Müdigkeit, das ewige Lügen vor anderen und das Verleugnen vor einem selbst waren unheimlich anstrengend.

Vor der Schwangerschaft war immer klar, dass ein Kind nicht in Frage kommt. Eigentlich habe ich sogar immer gesagt, dass ich nie Kinder will. Meine Begründung war immer, dass es schon genug anstrengende Kinder – allein in meiner Stadt! – gibt und ich Angst habe, dass ausgerechnet ich es nicht hinbekomme und dann auch genau so ein Kind auf meine Mitmenschen loslassen muss.

Die Frauenärztin, die den Abbruch durchgeführt hat, hat mir vorher erklärt, mit welcher Methode es in der Praxis immer gemacht wird, und mir auch die Risiken genannt. Es wurde eine Absaugung und anschließend eine Ausschabung vorgenommen. Einige Wochen nach der Abtreibung habe ich mich im Internet darüber informiert und bin dabei auf eine Seite von Abtreibungsgegnern gestoßen, die die Methode des Absaugens sehr brutal beschrieben haben. Das zu lesen war schrecklich. Es quält mich. Ich glaube aber, dass jede andere Methode mich bei genauerer Information so quälen würde. Nach der Narkose habe ich mich zunächst noch etwas müde gefühlt, ansonsten aber gut. Ich war vor allem erleichtert, dass die ständige Übelkeit vorbei war. In den Wochen vor dem Abbruch habe ich mich täglich mehrfach übergeben, auch in der Nacht und am Morgen direkt vor dem Abbruch, und konnte kaum essen.

Jetzt, danach, hat sich mein Zutrauen darin, dass ich eine gute Mutter sein kann, geändert. Ich kann mir schon vorstellen, irgendwann ein Kind zu bekommen. Keine Ahnung wann und ob ich dann immer noch mit meinem jetzigen Freund zusammen bin. Nicht, dass ich mir jetzt sicher wäre, dass ich in der Lage wäre, ein Kind gut zu erziehen. Aber irgendwas in mir drin hat sich dazu anders eingestellt.

Mir war lange Zeit auch gar nicht klar, dass ich einen Verlust erlitten habe. Erst ein paar Wochen nach der Abtreibung, als ich das erste Mal urplötzlich weinen musste, habe ich gemerkt, dass ich das alles doch nicht so leicht wegstecke, wie ich immer gedacht habe.

Aber zurück: Ungefähr zwei Wochen, nachdem meine Regel ausgeblieben war, bin ich morgens aufgewacht und musste mich übergeben. Zu dem Zeitpunkt habe ich die Übelkeit aber noch auf das Essen vom Vortag geschoben. Als meine Regel ausgeblieben ist, habe ich mir natürlich schon Gedanken gemacht, aber das letzte Mal davor war sie auch schon zu spät gekommen. Die Übelkeit hielt allerdings an und irgendwann war der Gedanke an eine mögliche Schwangerschaft da, in meinem Hinterkopf. Ich wollte es aber einfach nicht wahrhaben.

Als ich bei der Frauenärztin war, die mir die Schwangerschaft bestätigt hat, hat sie auch gleich ein Ultraschallbild gemacht. Tatsächlich hatte ich vorher überlegt, wie es wohl für mich sein würde, das Baby zu sehen, und hatte ein mulmiges Gefühl dabei. In dem Moment war es aber dann nicht das Schlimmste.

Aber ich habe mir eigentlich von Beginn an immer gesagt, dass ich das Kind abtreiben werde. Ich war mir, schon bevor ich in der konkreten Situation war, immer sicher, wie ich reagieren und handeln würde, wenn ich während des Studiums schwanger würde. Natürlich habe ich aber auch darüber nachgedacht, wie es wohl wäre mit einem Kind. Es gab nie einen bestimmten Punkt, an dem ich sicher gesagt habe, dass ich abtreiben will, weil der Gedanke irgendwie schon immer in mir drin war. Trotzdem habe ich viel gezweifelt, und das hat mich selbst am allermeisten überrascht. In all der Zeit war ich aber vor allem eines, nämlich verzweifelt. Ein großes Problem war, dass ich mit niemandem reden wollte und konnte.

Meine Mutter hat mich begleitet. Sie ist extra dafür zu mir gekommen, denn ich wohne seit Studienbeginn ungefähr zwei Stunden von zu Hause entfernt. Sie ist dann auch den ganzen Tag bei mir geblieben. Wir haben aber nicht darüber geredet. Sie war einfach dabei und das war okay.

Dann hatte ich noch eine Freundin, der ich es eigentlich nicht erzählen wollte. Sie hat mich bedrängt und mir abgeraten und wollte mich überreden, das Kind zu behalten. Ich habe sie dafür wirklich gehasst und auch am Abend nach der Abtreibung, als sie angerufen hat, wollte ich nicht mit ihr reden. Ich bin ihr danach einige Zeit aus dem Weg gegangen.

Zwischen der Bestätigung, dass ich schwanger bin, und dem Abbruch lagen ungefähr eineinhalb Wochen. Ich glaube, ich habe Vieles gar nicht richtig realisiert.

„Dieses Mal hatte ich zu entscheiden. Diese Entscheidung schien mich zu zermürben.“

Mika, 29

Beruf: Lehrerin

1. Kind: Tochter (* vor 3 Jahren), sekundärer Kaiserschnitt in der 40. SSW

2. Kind: Sohn / Tochter (*+ vor 1 Monat), Schwangerschaftsabbruch (Curettage) in der 7. SSW (Beratungsregel)

Ich möchte gerne mit einem Brief an einen Freund – seinen Namen habe ich natürlich hier verändert – beginnen, den ich etwa zwei Wochen nach dem Schwangerschaftsabbruch auf die Frage, wie es mir geht und wie ich den Eingriff erlebt habe, geschrieben habe:

„Danke für Deine Email! Der Termin war vor nun fast 2 Wochen. Nachdem ich beim Frauenarzt die Tablette bekommen hatte, war die Entscheidung getroffen. Bis zum eigentlichen Eingriff waren es zwar noch vier Stunden, aber der Embryo war schon zu diesem Zeitpunkt beschädigt worden, da die Tablette den Muttermund stark öffnet. Ich musste danach in eine Tagesklinik, wo ich in einem furchtbar sterilen Wartezimmer mit allen möglichen Hüft- und Nasen-OPs wartete. Es waren schreckliche Stunden, in denen ich viel geweint habe. Ich dachte, ich bekäme die Möglichkeit, mich hinzulegen und die quasi letzte Zeit zu ‚zweit‘ in Ruhe beenden zu können. Dies war eine Täuschung. Dann ging es unter Vollnarkose weiter, ich habe noch mitbekommen, wie ich mich auf den OP-Stuhl gelegt habe, und der Narkosearzt hat mir das Zeugs ins Blut gespritzt. Dann bin ich im Aufwachraum aufgewacht. Ich habe mir das Ergebnis der Ausschabung mitgeben lassen. Ich habe vor der Narkose einer Krankenschwester gegenüber meinen Wunsch geäußert, woraufhin die Ärztin, die den Eingriff vornahm, zu mir kam. Ich musste da so ‘nen Wisch unterschreiben. Das ist an und für sich nicht üblich, dass der Frau der herausgenommene Embryo mitgegeben wird. Der Embryo wurde in ein kleines Plastikröhrchen gepackt, das mir nach dem Aufwachen aus der Narkose von einer Krankenschwester überreicht wurde. Sehr erstaunt war ich, wie genau man den Embryo erkannt hat. Jedes Bild aus der Fachliteratur hätte damit verglichen werden können und um was es sich handelte, war eindeutig. Dann wurde es mir mitgegeben. Ich habe das kleine Ding unter zwei Bäumen am Waldrand in der Nähe meines jetzigen Zuhauses ‚beerdigt‘. Ich habe wieder viel geweint. Das hilft, mit dem Schmerz und der Trauer umzugehen. Nun gehe ich, wann immer ich das Bedürfnis habe, zu diesen Bäumen und weine.

Die zwei Wochen der Entscheidung bis zum Eingriff waren die schlimmsten und traurigsten, an die ich mich erinnern kann. Der Tod meiner Omas und meiner Tante war auch sehr traurig und ein großer Verlust. Jedoch lag die Entscheidung nicht bei mir. Die Entscheidung des Endes (und jeder Anfang hat auch ein Ende) war bereits getroffen.

Doch dieses Mal hatte ich zu entscheiden. Diese Entscheidung schien mich zu zermürben. Dem Leben eine Chance zu geben, durch mich zu leben oder nicht. Ich weiß nicht, ob ich denke, dass es schon ein Leben war, bevor es geboren wird. Oder ob es erst im Moment der Geburt beginnt zu leben. Ich habe dem Leben das Leben genommen. Oder ich habe einem zukünftigen Leben die Möglichkeit verwehrt, zu leben.

Im Buddhismus beginnt das Leben bereits vor der Befruchtung. Ich habe dem kleinen Ding ein Leben in der Zukunft nicht ermöglicht. Und ich habe ihm viel Leid erspart. Aber ich habe ihm nicht die Möglichkeit gegeben, das Licht der Sonne und die Dunkelheit der Nacht zu erleben. Es wird nie die Wärme der Sonnenstrahlen spüren, weder den kalten Wind um die Nase noch den Regen auf den Wangen. Das tut weh. Aber ich darf nicht darüber nachdenken, was wäre wenn…

Vielleicht wäre es auch vor dem dritten Monat abgegangen. Das passiert in dieser Zeit noch recht häufig. Vielleicht hätte auch etwas anderes verhindert, dass es geboren wird. Es durfte nicht leben, aber es hat meiner Meinung nach auch noch nichts gespürt. Es konnte den Verlust nicht spüren, den ich erfahren habe. Es konnte noch nicht denken und sich keine Gedanken um seine Existenz machen.

Ich tröste mich damit, dass es nun ein Stück weit so ist, als wäre es nicht passiert. Und ich bin froh, dass es ungefähr in der siebenten Schwangerschaftswoche passiert ist. (Bis zur zwölften darf man einen Abbruch machen.) Und klar, je länger man wartet, desto weiter ist es entwickelt.

Ich fühle mich erleichtert, jetzt nach dem Eingriff, und ich weiß, dass es die für mich passende und vollkommen stimmige Entscheidung gewesen ist. Eine Grenze ist jetzt zwischen Jan und mir klar gezogen. Vielleicht musste dies passieren, dass das Verhältnis endlich geklärt ist, weil ich mir meiner Gefühle sehr sicher bin und für Jan keine Liebe empfinde. Dies habe ich oft geäußert, aber gelebt haben wir teils so, als wären wir zusammen. Aus Faulheit heraus. Weil Begierde da war und Lust. Und kein anderer Partner in Reichweite. Von außen betrachtet hat Gott (oder wie immer du es nennen magst) ein Zeichen gesendet. Ich war nicht fähig, meine Grenzen zu ziehen. Ich war mir sicher, mein Leben nicht mit Jan verbringen zu wollen. Und trotzdem habe ich immer wieder mit ihm geschlafen. Das ist nicht gut. Die Begierde und Lust haben es zugelassen. Aber mein Gefühl war trotzdem Abneigung, Unwohlsein. Dieses Gefühl habe ich übergangen. Ich dachte: Ja, ein weiteres Mal wird jetzt auch nicht schaden. Obwohl mein tiefstes Inneres laut ‚Stopp‘ schrie. Ich habe nicht gehört. Gott wusste nicht mehr weiter. Ich war manchmal auch sehr unglücklich mit meinem Leben, habe aber weitergemacht und hatte kaum Zeit wegen der Ausbildung, darüber nachzudenken oder auszuziehen. Dann ist es passiert.

Die Entscheidung war furchtbar. Aber eine Entscheidung für das Kind wäre auch eine kleine Entscheidung FÜR Jan gewesen. Und dies fühlt sich mehr als falsch an. Ich habe mit ihm alle denkbaren Möglichkeiten durchgesprochen. Dass ich mir nicht vorstellen kann, schwanger weiterhin mit ihm zusammenzuleben. Ich hätte mir auch nicht vorstellen können, nochmal eine Schwangerschaft an Jans Seite durchzumachen, zu sehr waren schon beim ersten Mal die Zweifel da. Die Gewissheit, dass ich ihn nicht liebe.

Im Vergleich zu vor drei Wochen, würde ich sagen, bin ich recht stabil. Ich fühle mich wieder wohl in meiner Haut und habe das Gefühl, wieder auf dem für mich bestimmten Weg zu gehen. Ich spüre, dass alles gut werden wird. Ich werde zu dem finden, was Gott für mich bestimmt hat. Vielleicht ist es keine Realität, aber der Glaube hilft mir, mit der Ungewissheit umzugehen. Ich bin nachdenklicher geworden. Ernster. Und ich glaube noch mehr daran, dass Dinge so geschehen, wie sie geschehen sollen, egal wie sehr ich mich anstrenge. Es ist wichtig, Energie in die Dinge zu stecken, die einem wichtig sind. But we do without doing and everything get‘s done. Aber manchmal ist es auch Zeit abzuwarten, nichts zu tun. Zu warten und zu glauben, dass einem das im Leben begegnen wird, was man sucht. Dass man ohne Anstrengung dorthin geleitet wird, wo man hingehört. Dass nicht ich alleine entscheide, gehe, suche, mache, tue. Sondern Es (was auch immer das sein mag: Arbeit, Freundin, Anerkennung, Erfüllung der Bedürfnisse, ein Dach über dem Kopf…) zu mir kommen wird. I deeply believe.

Zurzeit nehme ich meine Umwelt sehr bewusst wahr und versuche Gutes zu sehen bei dem, was ist. Mein Leben nach den vergangenen schwierigen Wochen auf das zu konzentrieren, was wichtig ist. Dass es anderen gut geht. Nicht bei dem Großen anfangen, sondern mit kleinen Schritten.

Ich wünsche Dir von Herzen, dass sich Deine Träume erfüllen und dass Du die Geduld hast, darauf zu warten.“

„Für mein jetziges Leben und mein jetziges Empfinden war und ist es die einzig richtige Entscheidung!“

Miette, 30

Beruf: Bürokauffrau, Verwalterin und Betreuerin in einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft für Menschen mit Behinderung

1. Kind: Sohn/Tochter (*+ vor 1 Monat), Schwangerschaftsabbruch (Curettage) in der 11. SSW (Beratungsregel)

Vor ein paar Jahren hatte ich mich dazu entschlossen, dass ich keine Kinder haben möchte. Ich war davon überzeugt, dass ich nicht in der Lage wäre, diese riesige Verantwortung für ein kleines, hilfloses Lebewesen zu übernehmen. Außerdem gibt es einfach keine zuverlässigen Männer auf dieser Welt. Allerdings war ich auch davon überzeugt, dass ich ganz sicher nicht in der Lage sein würde, eine Abtreibung vorzunehmen.

Als ich meinen Exfreund kennengelernt hatte, war es natürlich super, dass auch er keine Kinder bekommen wollte. Das war ein Irrglaube. Er wurde krank (Multiple Sklerose) und fing an, über den Sinn des Lebens nachzudenken. Da gehören dann wohl auch Kinder dazu! Ich tat es als Phase ab. Vor allem, als wir uns schon zum zweiten Mal getrennt hatten. Danach haben wir uns wieder blendend verstanden. Und landeten im Bett. Blöderweise hatte ich aufgehört zu verhüten, da wir nach dem Ende der Beziehung keinen Sex mehr hatten. Volltreffer!

Von der Schwangerschaft bekam ich erstmal nichts mit, denn da fing alles an, irgendwie stressig zu werden. Ich habe nur gemerkt, dass ich mich von allen zurückziehe: von meinem Exfreund, meiner besten Freundin, und so weiter. Ich konnte keinen Kaffee mehr trinken, Zigaretten habe ich auch noch kaum geraucht, meine Kollegen haben mich total überfordert und ich wusste nicht mehr, wo vorne und hinten ist vor lauter Arbeit. Und dann dieser Durst. Aber spezielle Gedanken habe ich mir keine gemacht. Kurz vor meinem Weihnachtsurlaub dann der Zusammenbruch – ich zum Arzt. Diagnose: psychovegetative Erschöpfung. Gut, jetzt hatte ich für mein komisches Gefühl ja auch endlich eine Erklärung! Von da an wurde es besser. Ein bisschen zumindest.

Weihnachten im Kreis meiner Familie, danach noch feiern mit vielen „alten“ Freunden und noch mehr Alkohol, was ein Spaß!

Nach Silvester musste ich dann direkt wieder arbeiten. Während der Arbeit habe ich dann mal in meinen Kalender geschaut. Wann hätte ich denn meine Periode bekommen müssen? Ok… nachgerechnet. Ich holte mir einen Test. Immer noch war ich felsenfest davon überzeugt, dass da nix sein kann. Aber der Test war positiv. Dann fing es an zu rattern in meinem Kopf. Wie soll ich das alles denn bloß alleine hinbekommen? Auf meinen Exfreund war ja kein Verlass.

Ich habe dann beschlossen, erst einmal einen Termin bei meinem Frauenarzt zu machen. Den bekam ich einige Tage später. Zu Hause hatte ich das Bedürfnis, meinem Ex Bescheid zu geben – warum sollte ich da alleine durch?! Erst hat er mir erklärt, er unterstützt mich in allem – aber dann hatte er wohl zu viel Zeit nachzudenken und fing plötzlich an, darüber zu spekulieren, wie es wäre, wenn er das Kind behalten würde. Ich war schockiert.

Beim Frauenarzt brach ich in Tränen aus – endlich. Ich hatte seit dem Schwangerschaftstest noch nicht geweint und bin eigentlich sehr nah am Wasser gebaut. Aber mein Arzt war toll. Wir haben lange über alle Optionen, Möglichkeiten, Eingriffsarten und Gefühle gesprochen. Ich bekam die Adresse von einer Beratungsstelle sowie von einem Arzt, der Abbrüche auch nach der zehnten Schwangerschaftswoche durchführt, denn so weit war ich bereits. Mir ging es einigermaßen besser, als ich beim Arzt rauskam – bis ich das Auto von meinem Ex dort stehen sah. Er schlug mir sogar vor, dass ich das Kind austrage, er sich darum kümmert und ich keinerlei Verpflichtungen habe. Ich konnte es nicht fassen. Wortlos ging ich weg und fuhr zu meiner Mutter. Dort konnte ich mich so richtig ausheulen und ganz offen über alles sprechen. Wir waren uns einig, dass der Abbruch das einzig Richtige ist.

„Zum Glück“ war ich die kommende Woche krankgeschrieben. Ich hatte mir zusätzlich zu dem Hormonschock noch einen Virusinfekt eingefangen. Aber das war für mich und meine Seele das Beste, was mir passieren konnte. Ich konnte mich komplett in mich reindenken und mir vorstellen, wie es wäre, dieses kleine Wunder auszutragen und es auf die Welt zu bringen! Immer wieder habe ich mir bewusst gemacht, was da in mir wächst.

Bei der Beratungsstelle hatte ich ein tolles, aufbauendes, aufwühlendes, ehrliches und sehr hilfreiches Gespräch mit der netten Dame dort. Danach habe ich direkt den Vortermin bei dem Arzt, der den Abbruch vornehmen sollte, gemacht. Dort war es wieder etwas „kühler“ vom Empfinden her, aber trotzdem waren alle sehr nett zu mir. Nach der Untersuchung und dem Vorgespräch fühlte ich mich dann gut: Ich ging nach Hause und schlief die erste Nacht seit zwei Wochen durch. Den Termin für den Abbruch hatte ich allerdings erst knapp eine Woche später, also musste ich wieder normal arbeiten gehen. Viele wollten wissen, wie es mir ging – das war sehr merkwürdig. Den Abbruch musste ich dann auch als „Zyste“ tarnen, da ich ja krankgeschrieben sein würde. Das war sehr unangenehm, aber ging eben nicht anders.

Am Tag des Abbruchs fühlte ich gar nichts. Ich war nur etwas aufgeregt, da ich nicht wusste, was auf mich zukommen würde. Meine Mama fuhr mich zu dem Arzt. Ich sollte im Aufwachraum warten. Dort kam ich mit einer anderen Frau ins Gespräch. Sie sagte, dass alles irgendwie so schnell vorbei war und sie das irgendwie gar nicht realisiert hatte.

Irgendwann wurde ich aufgerufen und hatte das Gespräch mit dem Arzt und dem Narkosearzt. Sie haben mir den Eingriff nochmal erklärt. Dann sollte ich meine Schuhe ausziehen und in den OP kommen. Dort musste ich mich untenrum ausziehen und auf die Liege legen. Die zwei Schwestern, die dabei waren, sind rumgewuselt und haben sich bei mir erkundigt, ob alles ok wäre. Ich stand wie neben mir und bekam Angst. Nicht vor der Entscheidung, nur vor dem Eingriff. Irgendwann war ich weg.

Als ich wach und einigermaßen klar war, bekam ich Tee und Kekse und fühlte mich wirklich erleichtert. Von dem Moment, als ich in den OP kam, bis ich aufgewacht bin, waren nur 25 Minuten vergangen. Nach dem Abschlussgespräch mit dem Arzt konnte meine Mama mich abholen. Zu Hause bei meiner Mutter angekommen, haben wir uns einen sehr gemütlichen Tag auf der Couch mit Tee und leckerem

Essen gemacht. Mir ging es wirklich gut. Körperlich wie seelisch.

Jetzt sind etwas mehr als zwei Wochen vergangen. Mir geht es mit meiner Entscheidung immer noch sehr, sehr gut. Mein Ex hat noch mehrfach gestresst und versucht, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Er hat mir vorgeworfen, dass ich ihm die letzte Chance genommen hätte, dass er auf natürlichem Wege Vater werden kann, und dass er gerne beim Abbruch dabei gewesen wäre – durch uns sei dieses Kind entstanden, also sollten wir es auch zusammen beenden.

Mittlerweile ist der Kontakt komplett abgebrochen und ich habe meine Ruhe. Ich genieße mein Leben wie in der Zeit, bevor ich ihn kennengelernt habe, und bin froh, dass ich tolle Menschen um mich habe, die mich verstehen, unterstützen und zu jeder Zeit für mich da sind.

Oft frage ich mich noch, wie es wohl sein wird, falls ich jemals jemanden finden sollte, mit dem ich doch Kinder haben möchte. Wie es sein wird, wenn ich eventuell wieder schwanger werde und wie ich dann mit der Umstellung des Körpers klarkomme. Davor habe ich etwas Angst.

Ich habe immer gesagt, dass das ein Privileg der Frauen ist, dass sie schwanger werden können, weil das wirklich ein Wunder ist, wozu der weibliche Körper fähig ist. Ich hatte die ersten Wochen der Schwangerschaft verpasst, und das finde ich traurig. Wenn ich den Anfang bewusster mitbekommen hätte, hätte ich mich dann vielleicht anders verhalten? Hätte ich mich dann für die Schwangerschaft entschieden? Ich weiß es nicht.

Ich weiß auch nicht, was in ein paar Jahren ist. Wenn die Wut auf meinen Ex vielleicht abgeklungen ist und alles „gar nicht mehr so schlimm“ ist… Aber für mein jetziges Leben und mein jetziges Empfinden war und ist es die einzig richtige Entscheidung!

„In Wirklichkeit lässt es dich nicht kalt.“

Marie, 31

Beruf: Stellvertretende Teamleiterin im Einzelhandel

1. Kind: Sohn/Tochter (*+ vor 1/2 Jahr), Emma / Levi-Finn, Schwangerschaftsabbruch (Curettage) in der 13. SSW (Beratungsregel)

Es ist schwer in Worte zu fassen, wie man den gewollten Verlust empfindet. Eigentlich weiß ich selbst nicht so recht, was ich empfinde. Es ist Trauer, es tut einem so unendlich leid gegenüber dem kleinen Lebewesen, das doch gar nichts für solch eine Entscheidung kann.

Es hat dein Leben noch gar nicht so sehr innerhalb der wenigen Wochen verändert, beinahe nur deine Zukunft. Und dennoch scheint alles so erdrückend und aussichtslos für einen selbst, wobei ein Anderer das alles gar nicht so dramatisch ansehen würde, weil er selbst nicht fühlt wie du. Vielleicht kann er es auch daher nicht nachvollziehen.

Man entscheidet sich also für einen Abbruch, denkt sich, danach ist alles wieder gut. In Wirklichkeit lässt es dich nicht kalt, du könntest dich den ganzen Tag einfach nur entschuldigen und um Verzeihung bitten. Du weißt nicht, wie dein Leben weitergehen soll, obwohl es doch vorher schon einfach lief. Man fühlt sich wie in einem Kasten ohne Ausweg, wobei doch sicher so Vieles offen steht – für einen Neuanfang oder für ein Weitermachen.

Ich habe mir einst gesagt, dass ich mit 30 Jahren mal Mami werden und spätestens dann eine kleine Familie gründen möchte. Eigentlich hätte es auch schon früher sein können, aber mein damaliger Partner wünschte sich noch kein Kind. Tatsächlich wurde ich mit 30 überraschend schwanger, ganz ungeplant und leider auch außerhalb einer festen Beziehung. Einerseits dachte ich an meine Gedanken zum Mamasein zurück, andererseits war es in dieser Situation ein Alptraum. Oder war es doch ein kleines Wunder aufgrund meines damaligen Wunsches?

Ich war hin- und hergerissen. Habe mich gefreut, Babysachen gekauft, so vieles recherchiert und geplant, wie ich es umsetzen möchte. Es ging mir von Tag zu Tag schlechter. Übelkeit, Kreislaufprobleme, Magen-Darm-Geschichten, Angst- und Panikzustände, Herzrasen, Alpträume.

Es hat eine Weile gedauert, bis ich es dem Vater sagen konnte. Er redete sich mit allen möglichen Erklärungen heraus; er könne keine Kinder zeugen, an dem besagten Datum wäre er nicht bei mir gewesen, Verhütung und seine Unfruchtbarkeit machten eine Schwangerschaft gar nicht möglich. Nun wusste ich, ich stehe alleine da. Einige Wochen später suchte ich erneut das Gespräch und er teilte mir mit, dass er meine Nummer längst gelöscht hatte und keinen Kontakt mehr wünschte. Ich wollte nicht, dass mein Kind ohne Kontakt zu seinem Papa aufwächst. Ich wollte nicht, dass es ungewollt war und sich vielleicht irgendwann Vorwürfe macht. Parallel brach durch die ganze Verantwortung auch für mich alles zusammen.

Nach einem Gespräch bei der Beratungsstelle war ich erst wieder positiv gestimmt, da es doch so viele Unterstützungen gibt. Aber andererseits wollte ich diese auch nicht annehmen müssen. Ich ließ mir einen „Notfallschein“ geben, dachte aber insgeheim, ich würde ihn nie verwenden, ich könne das nicht.

Als die Beschwerden, der innere Druck und die Anspannung sowie die eigenen Ansichten immer schlimmer wurden, vereinbarte ich doch einen Termin zum Abbruch. Ich hatte so Angst vor den körperlichen Beschwerden danach, wurde aber herzlichst behandelt. Die Beschwerden waren auch gar nicht der Rede wert; es war die Traurigkeit, die am Abend danach über einen hereinbrach, von welcher man nicht dachte, dass sie eintreffen wird. Man war doch kurz davor so stark und so sicher, dass es sein muss, damit all die Gedanken und Ängste ein Ende finden.

„Die erste Trauer und auch das innerliche Abschiednehmen von unserem Sohn erfolgte für uns bereits während der Tage zuvor.“

Alexandra, 34

Beruf: Dipl. Betriebswirtin

1. Kind: Sohn (* vor 4 Jahren), spontane Geburt in der 39. SSW

2. Kind: Sohn / Tochter (*+ vor 1 Jahr), Missed Abortion (Curettage) in der 9. SSW

3. Kind: Sohn (*+ vor 8 Monaten), Aurelio, Schwangerschaftsabbruch (kleine Geburt) in der 14. SSW (medizinische Indikation)

Ich freute mich sehr auf diese dritte Schwangerschaft, da ich sechs Monate zuvor eine Fehlgeburt hatte. Leider war ich nicht bei dem Frauenarzt, der mich in der Schwangerschaft mit meinem Sohn und der Fehlgeburt betreut hatte, sondern musste aufgrund eines Umzugs den Arzt wechseln und hatte wohl eher eine „Werbe-Expertin“ anstatt einer Gynäkologin erwischt. Sie akzeptierte bei der Erstuntersuchung zwar, dass ich keine größeren Zusatzleistungen wollte, aber den Feindiagnostik-Ultraschall machte sie mir dann doch sehr schmackhaft.

In der 12. Schwangerschaftswoche wurde mit einer nicht sachlichen und flapsigen Art Folgendes zu mir von der Gynäkologin während des Ultraschalls gesagt: „Mhm, da sind also die Beinknospen, ja und irgendwie ist die Größe eine Woche hinterher.“ Für mich hörte sich dies so an: “Also, Ihr Kind ist ein Krüppel und hat verkümmerte Gliedmaßen. Wumm!“ Dann wurde ich noch auf die auffällige Nackenfalte hingewiesen und ich solle mir einen Termin beim Pränataldiagnostiker geben lassen. – Letztendlich habe ich mich nie zuvor und nie wieder während des ganzen Verlaufs der Ereignisse so verletzt und unwürdig behandelt gefühlt.

Ich beschloss, einen Tag später bei einem anderen Gynäkologen, der mir als fachlich sehr kompetent empfohlen worden war, eine weitere Meinung einzuholen, da ich beim Pränataldiagnostiker erst vier Tage später einen Termin bekam. Diese Ultraschalluntersuchung verlief wesentlich feinfühliger. Es wurde mir erklärt, dass die Nackenfalte sehr groß sei, soweit er das beurteilen könne, und dass es sich wohl nicht nur um eine Trisomie 21 handeln würde. Es täte ihm leid und ich solle Schritt für Schritt vorgehen, da ich schon panische Angst vor einem (eventuell notwendigen) Abbruch hatte.

Vier Tage später haben wir dann das letzte Mal unseren Sohn (für meinen Mann war es erst das erste Mal) beim Pränataldiagnostiker gesehen. Das Herz schlug und er bewegte sich, aber er sah einfach nicht so aus, wie er hätte aussehen sollen. Wahrscheinlich war mir das klarer als meinem Mann. Ich bat um ein Bild von unserem Sohn, da ich noch nicht wusste, ob es das Letzte wäre, was mir von ihm bleiben würde. Die Entscheidung für den Abbruch war zu diesem Zeitpunkt auf meiner Seite schon so gut wie gefallen, da der Arzt uns das Krankheitsbild leider sehr gut erklären konnte und auch erwähnte, welche Chancen es gäbe beziehungsweise welche Art von Alternativen. Für mich war es die Wahl zwischen Pest und Cholera. Entweder nun einen Abbruch oder warten, bis das Kind von alleine verstirbt.

In meiner Verzweiflung rief ich die Hebamme an, welche die Nachbetreuung bei meinem Sohn gemacht hatte, und fragte sie um Rat. Sie vermittelte uns einen Kontakt zu einer Schwangerenkonfliktberatung und besprach zwei Tage später auch bei uns zu Hause mit uns die verschiedenen Möglichkeiten. Aber erstmal hatten wir den Termin bei der Schwangerenkonfliktberatung und konnten alles nochmals durchgehen. Uns wurde dabei auch klarer, welche Entscheidung wir treffen wollten. Dies war definitiv die größte „Unterstützung“, die wir in dieser Situation hatten.

Ebenfalls einen weiteren Tag darauf hatten wir ein Gespräch bei einer Humangenetikerin, zu der wir vom Pränataldiagnostiker geschickt worden waren. Sie bestätigte leider die Problematik der Erkrankung und erklärte uns zudem den genetischen Aspekt (vererbbare Krankheit).

Wir erbaten uns Bedenkzeit, ob wir einen Abbruch wünschten – wobei es kein Wunsch ist – oder ob wir einen anderen Weg gehen würden, da wir abends noch mit meiner Hebamme sprechen wollten. Nach dem abendlichen Gespräch festigte sich bei meinem Mann und mir die Entscheidung: „Ja, wir gehen den Weg des Abbruchs mit Einleitung.“ Die Hebamme half vor allem mir, den Mut zu haben, den Weg der eingeleiteten Geburt zu gehen, und sie konnte auch meinem Mann die Sicherheit vermitteln, dass „wir“ das schaffen.

Wir schliefen aber noch eine Nacht darüber, wägten auch nochmal das Für und Wider ab. Doch letztendlich teilten wir telefonisch der Humangenetikerin unsere Entscheidung mit und sie leitete alles Weitere in die Wege. Mittags um 12 rief ich dann in besagtem Krankenhaus an. Es war schon erschreckend auf der einen Seite, andererseits auch gut, dass irgendwie alles schon vorbereitet war. Es wurde uns ermöglicht, am selben Tag mit Mifegyne einzuleiten, so dass ich dann am Wochenende die eigentliche stille Geburt haben würde. Oder wir könnten eben noch warten. Sowohl vom leitenden Arzt wie auch von der Assistenzärztin, die mir sozusagen für die stille Geburt zugeteilt worden war, wurden wir ausführlich beraten und konnten auch unsere Wünsche bezüglich des Ablaufs einbringen.

Da in uns der Entschluss gereift war, entschieden wir uns für die sofortige Einleitung. Die erste Trauer und auch das innerliche Abschiednehmen von unserem Sohn erfolgte für uns bereits während der Tage zuvor, und ich wusste ja auch, dass ich noch zwei Tage Zeit haben würde, mich von meinem Sohn intensiv zu verabschieden.

Es erfolgte dann die Vorbereitung mit Mifegyne. Der Gedanke beim Schlucken der Tablette hat mir gereicht: „Das ist Sterbehilfe, was Du da tust. Sterbehilfe, wie Du es in Deinen inneren Werten und in Deinen Glaubensgrundsätzen vor Jahren abgelehnt hast, da Du der Überzeugung bist, dass die Palliativmedizin, wenn sie gut angewendet wird, aktive Sterbehilfe nicht mehr benötigt.“ Doch für meinen Sohn gab es keine Palliativmedizin. Anschließend gingen wir für einen Tag wieder nach Hause und nutzten den Abend und nächsten Tag, um uns weiterhin von unserem Kind zu verabschieden. Wir sagten ihm auch mehrmals, wie leid es uns täte, und baten Gott um Verzeihung für das, was wir gerade dabei waren zu tun.

Ich verbrachte bereits die Nacht vor der eigentlichen Einleitung im Krankenhaus, da ich befürchtete, dass es allein aufgrund der Tablette bereits zu einer „Fehlgeburt“ kommen könnte, da ich schon Unterleibskrämpfe hatte und es für eine eventuell spätere Obduktion unseres Kindes sehr wichtig war, dass unser Sohn möglichst „unversehrt“ geboren wurde. Wir hatten uns bereits vorab zu einer Obduktion entschlossen, da bei diesem konkreten Krankheitsbild die Art nur per Genanalyse plus zusätzlicher Obduktion geklärt werden konnte. Nach Einlegen des Cergem-Zäpfchens morgens dauerte es nur knapp drei Stunden, bis unser Sohn still geboren wurde. Ich veratmete in der Zeit davor die Wehen und mein Mann war bei mir. Die Schwestern hielt ich ständig auf dem Laufenden. Als ich dann erwähnte, dass das Kind bald kommen würde, waren die Schwestern, die ja nur sporadisch vorbeischauten, etwas unsicher. Sie holten dann die Ärztin, die aber sozusagen „zu spät“ kam. Eine junge Schwesternschülerin, die gerade noch so rechtzeitig dazukam, wusste sich selbst nicht zu helfen, und ich nahm einfach ihre Hand und dankte ihr, dass sie da war. Für meinen Mann und ich war es im Nachhinein die beste Form – dass wir allein unser Kind auf die Welt gebracht hatten.