Simón Bolívar. Befreier Südamerikas - Michael Zeuske - E-Book

Simón Bolívar. Befreier Südamerikas E-Book

Michael Zeuske

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Beschreibung

In Lateinamerika ist Simón Bolívar politisches Idol und Symbolfigur. Bis heute leben die Legenden über ihn weiter, ist er Thema staatstragender Reden, Stoff für Kunst und Literatur. Michael Zeuske untersucht die reale Person Simón Bolívars sowie die Dimensionen seines Kultes und Mythos. Er korrigiert die Geschichtsschreibung zum »Befreier Südamerikas« am Beispiel Alexander von Humboldts und beweist eindrucksvoll, dass das legendenumwobene Treffen zwischen dem Libertador und dem deutschen Naturforscher niemals stattgefunden haben konnte. » ERSTENS: AMERIKA IST UNREGIERBAR FÜR UNS; ZWEITENS: DER, DER DER REVOLUTION DIENT, PFLÜGT IM MEER.« SIMÓN BOLÍVAR

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Michael Zeuske

SimónBolívar.

Befreier Südamerikas

Geschichte und Mythos

Rotbuch Verlag

Zu diesem Buch

»Ende 1804, viel mit Bolívar verkehrt«, soll sich der 85-jährige Alexander von Humboldt erinnert haben. Da war Simón Bolívar bereits ein Vierteljahrhundert tot. Allerdings war ihm der deutsche Naturforscher damals wohl eher zufällig begegnet – wenn überhaupt. Diese und andere Mythen ranken sich auch über 200 Jahre nach der Befreiung Latein­amerikas um den Libertador, der bis heute als politische Ikone verehrt wird.

Michael Zeuske beleuchtet den Menschen Simón Bolívar und die unterschiedlichen Versionen seines Mythos. Die Botschaft, die sich damit verbindet, ist simpel: Es ist die große Erzählung vom Helden Simón Bolívar, der zwischen 1819 und 1825 durch Mut und Entschlossenheit die spanischen Kolonien in Amerika, von Panama bis Peru, aus der kolonialen Knechtschaft Spaniens gerissen und einen ganzen Kontinent befreit hat. Es ist die große Staatsgeschichte Bolívars und der Bolívar-Mythen.

»Über die traditionelle National- und Politikgeschichtsschreibung hinweg versucht Michael Zeuske, den Nebenschauplätzen der Geschichte Raum zu geben.« taz

ISBN 978–3–86789-607-8

1. Auflage

© 2011 by Rotbuch Verlag, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Umschlagabbildung: bridgemanart.com

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

Rotbuch Verlag GmbH

Alexanderstraße 1

10178 Berlin

Tel. 01805 / 30 99 99

(0,14 Euro/Min., Mobil max. 0,42 Euro/Min.)

www.rotbuch.de

»Dem obersten Chefdem unvergleichlichen HeldenSchrecken Iberiens und Ruhm seines Vaterlandes,dem unbesiegten KriegerGeißel der Tyrannen und Schützer der Menschen,dem Genius des Unternehmens,Ernst in der Gegnerschaft und bescheiden in der Erhöhungundimmer großSimón BolívarBefreier, Präsident und Armeegeneral derRepublik Kolumbien«

Zeugnis der Verehrung Bolívars

»Von Miranda erdacht, von Bolívar organisiert.«

Frei nach Miquel Izard

»Die Abschaffung der Sklaverei war der Schlüssel zur spanisch-amerikanischen Unabhängigkeit.«

Hugh Thomas

Inhalt

Einleitung: Dimensionen des Bolívar-Mythos

I. Historische Grundlagen: Konstruktionen einer Nation

Eliten ohne Nation und ohne Mythos

Nationsdiskurse, Sklavenrevolution und Kastengesellschaft

Caudillos und Bolívar-Wiedergänger: Staatsexperimente des 19. Jahrhunderts

Konservativer und revolutionärer Bolívar im »Zeitalter der Extreme«

II. Simón Bolívar: Mensch und Mythos

Die glorreiche Familie Bolívar

Auf den Spuren der Ahnen

Das Vermögen der Bolívars

Konservativ-romantischer Bolívar-Mythos

Vom ›marxistischen‹ zum ›demokratischen Bolívar‹ und zurück

III. Exkurs: »Humboldt und Bolívar« – Über ein Gespräch, das nie stattfand

Statt einer Konklusion: der ›chavistische Bolívar‹

Arbeiten von Michael Zeuske über Bolívar, Humboldt, Miranda und die Independencia

Anmerkungen

Einleitung: Dimensionen des Bolívar-Mythos

Simón Bolívar ist ein Held. Bis heute ranken sich um ihn Legenden und Geschichten, er ist Gegenstand von Diskursen, Bildern1 und Architektur, Stoff für Literatur und Film, Thema politischer Reden und Botschaften. Der Bolívar-Mythos und Bolívar-Kult sind vor allem in Venezuela und Teilen Kolumbiens sowie Ekuadors eine Art ritualisierter Zivilreligion, die sich in monumentalen Erzählungen ausspricht und in Bildern und Statuen in Erscheinung tritt.

Am Anfang dieses bolivarianismo (Bolivarianismus oder Bolivarismus) genannten Phänomens steht das gesprochene und geschriebene Wort: Bolívars Reden und Ansprachen (discursos), Schriften (escritos), Dokumente (documentos), Dekrete (decretos), Briefe (cartas), Präsidentenbotschaften (mensajes) und Proklamationen (proclamaciones) bilden mehrere große Archivsammlungen (colecciones). Es sind dies keine Archive im klassischen Sinn, sondern Textausgaben, deren erste zwischen 1826 und 1829 publiziert wurde und die über 30 Bände umfassen können.2 Aber es sind mehr als Doku­mentsammlungen. Es sind gewissermaßen tragbare Archive im Sinne einer staatlichen Institutionalisierung des Mythos.

Im engeren Einzugsbereich des Bolivarismus, dem nörd­lichen Südamerika und der Karibik, existierte und existiert aber auch eine vielleicht noch viel stärkere, vibrierende Kultur der Oralität und der körperlichen Performanz. Bis heute stehen Texte, mündliche Überlieferung, performative Rede sowie Gestik in einem engen und sehr produktiven Zusammenhang. Eine der wichtigsten Grundlagen, wenn nicht überhaupt die bedeutendste, ist deshalb die verschriftlichte direkte Rede oder das scheinbar simple Gespräch zweier Protagonisten, welches aus einer realen oder vor allem von Literaten als ›authentisch‹ nachempfundenen Redesituation in Schrift überführt worden ist. Indem die Texte und Archive Bolívars verbreitet werden, gehen die Redesituationen auch wieder neu in Oralität ein und bringen immer neue Konstellationen des Mythos hervor.

Bolívars Marmorfigur findet sich als Denkmal in allen Winkeln Venezuelas und in fast allen Hauptstädten dieser Welt.3 In Wien und London gibt es längst jeweils eines und bald auch in Bonn oder Berlin (wo an der Bibliothek des ehemaligen Ibero-Amerikanischen Instituts bereits eine ziemlich hässliche Statue Bolívars zu finden ist). Natürlich hat die einzige atlantische Stadt Deutschlands ihren Bolívar: im Bolívarpark in Hamburg-Harvestehude. Am südlichen Eingang des Central Parks in New York steht ein gigantischer Bolívar als Reiterdenkmal.

Der Bolívar-Kult, im Gegensatz zum narrativen, oralen und diskursiven sowie visuellen Mythos, besteht im Wesentlichen aus ritualisierten Handlungen, die zunächst dazu dienten, den Staat zu begründen. Heute werden sie legitimierend als eine Art profanes Institutionen-Theater zu den Staats-, Nati­ons-, Bildungs-, Kranzniederlegungs-, Sport- und Armee­feiern ausgeführt. Auch sonstige Rituale vor Bolívar-Statuen und -Büsten, das heißt an Erinnerungsorten, etwa zu Kongressen und internationalen Begegnungen, gehören in diesen Themenkreis.4 Konkrete historische Handlungen und Rituale des Bolívar-Kultes sind sehr wenig untersucht. Selbst der Urvater der vene­zolanischen Bolívar-Forschung, Germán Carrera Damas, hat in seinem Buch El culto a Bolívar (Der Bolívar-Kult)5 eigent­lich den Bolívar-Mythos analysiert.6

Hinter dem nationalistischen Mythos und Kult mit Bolívar-Archiven und Marmordenkmalen verbirgt sich noch weitaus mehr. Für Ausländer kaum sichtbar, ruht der universelle und kosmopolitische Mythen- und Kultkomplex auf einer sehr breiten, meist über orale Medien (Performanz, Gesten, Erzählungen, Lieder, Märchen) vermittelten Basis in den ländlich geprägten Kulturen Venezuelas und Kolumbiens. Der ›Volks-Bolívar‹ ist vor allem seit dem Ende der Páez-Zeit (um 1848) und der Enttäuschung der breiten Bevölkerung über die Ergebnisse der Bürgerkriege im Übergang zwischen Kolonialzeit und Nationalzeit in der Independencia entstanden. Diese Independencia unter Bolívar, im weiteren Sinne mit ›Unabhängigkeitsbewegung‹ übersetzt, fand zwischen 1810 und 1830 statt. Allerdings löste der Bruch mit Spanien Konflikte um Gleichheit, Freiheit, Republik und Staatsbürgerstatus aus, die oft bis in die 1880er Jahre reichten.7

Der ›Volks-Bolívar‹ legitimierte die Proteste und Kämpfe gegen die erneuerte Herrschaft der Latifundien- und Sklavenhalter-Oligarchien, die schon seit 1815 (unter dem spanischen General Pablo Morillo) sowie vor allem zwischen 1821 und 1830 versuchten, die alte Ordnung mit oder ohne äußeren Kolo­nialismus zu konsolidieren. Am deutlichsten wurde diese konservative Rekonstruktion von dem venezolanischen Bauerngeneral Ezequiel Zamora (1817–1860) und während der vielen Rebellionen in den Llanos-Ebenen an den Nord- und Westufern des Orinoko im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgefordert. Der Protest ist am deutlichsten fassbar in der audio­phonen Kultur der Llanos (Erzählungen und Lieder) sowie vielleicht im naiv-figürlichen Kunsthandwerk (Altäre und Figuren der María-Lionza-Religion8) oder in den oralen Versionen der Geschichte der Independencia und Bolívars (die erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts verschriftlicht wurden).9

Auch in den lokalen Literaturen spielt der Mythos eine wichtige Rolle.10 Der Bolívar-Mythos hat in knapp zweihundert Jahren mehrere Stilumformungen erlebt, von Empire über Romantik, Kostumbrismus, Positivismus, Marxismus und Mo­derne bis hin zur Postmoderne – der Mythos des Mythos.11

Die Botschaft, die sich mit der politischen Ikone Bolívar und seinem Mythos verbindet, ist relativ simpel: Es ist die große Erzählung vom Helden, von einem außergewöhn­lichen Individuum, dem Libertador Simón Bolívar, der zwischen 1819 und 1825 durch Mut und Entschlossenheit die spanischen Kolonien in Amerika, von Panama im Norden bis Peru im Süden, aus der kolonialen Knechtschaft Spaniens gerissen und faktisch einen ganzen Kontinent, Südamerika, befreit hat. Dabei war er so edel und hat druckreif so viele gute und große Ideen geäußert, dass er bis heute ein unerreichtes Vorbild ist und seine Ideen eigentlich nur verwirklicht werden müssten. So wird Bolívar gerade heute, unter Hugo Chávez, als Vorbild der kontinentalen Vereinigung der Länder des Südens gegen »den Norden« gepriesen. Bolívar hatte auch wirklich geglaubt, er könne Großkolumbien, einen Staat aus den heutigen Gebieten Panamas, Ekuadors, Kolumbiens und Venezuelas (die damals allesamt noch größer als heute waren), der zwischen 1819 und 1830 existierte, zum »Herzen der Welt« machen. Das ist die große Staatsgeschichte Bolívars und der Bolívar-Mythen.

Der mulattische Bolívar nach einem Gemälde von Alfredo Rodríguez (Original 1816 Haiti)

Die oralen Versionen des Mythos heben vor allem den Bolívar des Kampfes für Gleichheit, Agrarreformen und gegen Sklaverei hervor, meist indem sie einen eher farbigen Bolívar kreieren und sich dabei auf afrovenezolanische Ahninnen Bolívars berufen. Der mulattische Bolívar mit einem deutlich dunkelhäutigen Gesicht und krausem Haar ist auch Merkmal der Darstellung als Altarfigur im María-Lionza-Kult. Eine andere Version des Kultes sieht Bolívar in indianischer Tradition des rebellischen und kriegerischen Kaziken Guaicaipuro.12

Den Staatsmythos Bolívar haben Mitkämpfer Bolívars, sein Adjutant Daniel F. O’Leary, Memoirenschreiber, Historiker und Soziologen geschaffen – im Zusammenspiel mit der mythenbildenden Kraft der Volksfantasie, die den Bolívar der Gleichheit und der Sklavenbefreiung schuf. Dazwischen bewegt sich der Bolívar der Intellektuellen und Literaten, sozusagen zwischen Teresa de la Parra und Gabriel García Márquez.

Spätestens seit den 200. Jahresfeierlichkeiten der Independencia 2010 schwappt der Staatsmythos Bolívar auch in hohen Wellen auf die Fernsehbildschirme und Feuilleton-Seiten euro­päischer Medien. Endlich begann das Interesse auch in Deutschland zu steigen, zumal der Libertador seit Jahren systematisch zu dem Symbol eines neuen linken Selbstbewusstseins Lateinamerikas aufgebaut worden ist.13 Deshalb habe ich mich entschlossen, nicht einen ›neuen Bolívar‹ oder eine Geschichte der Kolonialkrise und der Unabhängigkeitsbewegungen ›ohne Bolívar‹ zu schreiben (Letztere steht dringend aus, ist aber sehr schwer zu bewältigen), sondern den Bolívar-Mythos im Rahmen seines Wirkungsfeldes, der Geschichte Venezuelas und des nördlichen Südamerika, einschließlich der Karibik, zu erklären. Es geht um die Wirkungsmacht des Mythos, aber auch um seine wirkliche Geschichte und um die reale Herkunft der Protagonisten.

In Lateinamerika sind Mythen, auch der Bolívar-Mythos, mit sehr dynamischen Prozessen verbunden und haben histo­rische Wurzeln und reale Hintergründe, die in Europa entweder überhaupt nicht bekannt sind oder oft übersehen werden. Der Mythos ist nicht per se schlecht oder unwissenschaftlich. Ganz im Gegenteil, in ihren Entwicklungszusammenhängen und Legitimierungsabsichten sind Mythen schlicht historische Phänomene, die, um es mit Michel Foucault zu sagen, auf Diskursserien mit realen Entstehungsbedingungen, Dispositiven und Aussagen zurückgeführt werden können.

Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen. Allen, aber auch wirklich jedem, der sich in Deutschland mit Simón Bolívar und der Unabhängigkeit Spanisch-Amerikas beschäftigt, fällt zuerst das Stichwort ›Humboldt und Bolívar‹ ein. Nach dieser Eingebung tritt meist ein Denk-Automatismus ein: War Humboldt nicht ein genialer, sozusagen schon zur damaligen Zeit global denkender Super-Wissenschaftler? Und hat dieser Genius nicht mit dem Helden Bolívar geredet? Existieren nicht sogar Bilder und Skizzen vom Treffen beider Heroen im Paris des Jahres 1804 oder auf dem Vesuv im Jahr 1805? Dann muss Humboldt Simón Bolívar die Idee, den Kampf um das hehre Ziel der Unabhängigkeit, doch eingeflüstert haben!

Dieser Mythos leitet sich allerdings nicht allein davon her, dass Deutsche sich gern als das Volk der Dichter und Denker fühlen. Er lässt sich vor allem auf den extremen Legitimierungsbedarf der nach 1830 entstandenen Staaten des ehemaligen spanischen Amerika zurückführen. Für die Legitimierung der Eliten der neuen Staaten war es äußerst notwendig, ein wenig vom wissenschaftlichen Glanz Alexander von Humboldts auf die Regierenden scheinen zu lassen, die während der Bürgerkriege der Unabhängigkeitszeit um 1830 ausnahmslos versuchten, eine staatliche Ordnung zu schaffen, die nur notdürftig übertünchte, dass es sich um Rekonstruktionen der alten kolonialen Wirtschafts- und Sozialordnungen handelte. In Wahrheit hat sich Humboldt für einen Simón Bolívar, der, übertrieben gesprochen, vor 1810 eine Art männliche Paris Hilton gewesen ist, kaum interessiert. Simón Bolívar war 1804 ein lebensmüder Jungmillionär und ein Schürzenjäger par excellence aus einer fernen exotischen Kolonie, der keinen Literarischen Salon ausließ, in Erschöpfungs­phasen die Coffee-Table-Books der angesagten philosophes konsumierte und Anfang 1805 so lebenssatt war, dass er aus therapeutischen Gründen zu Fuß nach Rom und Neapel laufen musste. Für den Bolívar-Mythos ist dieser flatterhafte, übernervöse und zugleich etwas tumbe junge Bolívar ein Held, der noch nicht weiß, was in ihm steckt. Die Begegnung zwischen ­Bolívar und Humboldt 1804 in Paris steht im Rang eines Erweckungs­erlebnisses. Alle Aussagen über das Treffen der beiden Männer basieren auf Erinnerungen des über 80-jährigen Humboldt, der anlässlich eines Besuches von Daniel F. O’Leary 1853 in Berlin aus der Erinnerung gesagt haben soll, dass er 1804 »viel mit Bolívar verkehrt«14 habe. Das ist eine klassische Konstruktion ex post, weil um 1850 alle, auch Hum­boldt, den frühen Bolívar-Mythos kannten. Bolívar selbst war, wie es sich für einen tragischen Helden gehört, 1830 in Santa Marta auf dem Weg ins Exil gestorben. Er ist nur 47 Jahre alt geworden.

In Lateinamerika erfüllte diese Prämisse – ›Humboldt erweckt Bolívar‹ –, wie bereits angedeutet, eine wichtige Funktion für die Legitimierung der neuen republikanischen Ordnung unter der Herrschaft einheimischer Eliten, die sich gern mit ihren engen Beziehungen zum weltbekannten Wissenschaftler Humboldt und zum ›modernen‹ Europa brüsteten. Dabei war Lateinamerika in der Politik mit seiner Staatsform ›Republik‹ viel fortschrittlicher als die monarchischen Staaten Europas, obwohl die republikanischen Staaten des ehemaligen Spanisch-Amerika meist von sozial und wirtschaftlich extrem konservativen Eliten geführt wurden. Am deutlichsten offenbart sich dieser Konservatismus in Lateinamerika an der Schlüsselfrage Sklaverei: Zwischen 1815 und 1819 waren vieler­orts Ansätze zur Abschaffung der Sklaverei gemacht worden, um zu verhindern, dass Sklaven zur Rekrutierungs­reserve der feindlichen Armeen15 wurden. Nach 1820 wurden jedoch – von Ausnahmen wie Mexiko und Chile abgesehen – die alten Verhältnisse verschleiert wiederhergestellt, eben weil im Raum des Bolívar-Mythos meist Sklavenhalter und Planta­genbesitzer die Regierung übernommen hatten. Die Abschaffung der Sklaverei wurde dann in den Kämpfen des 19. Jahrhunderts bis etwa 1860 (auf Kuba und in Brasilien erst 1886 und 1888) ausgefochten. Dabei erwiesen sich wiederum die zwischen 1820 und 1830 etablierten neuen Staatsformen als extrem wichtig. Da die lokalen Eliten in ihren Rebellionen um Autonomie auf die Republik setzen mussten, ermöglichte die neue Staatsform einen Republikanismus von unten und den relativ offenen politischen Kampf um Gleichheit, Freiheit und Demo­kratie.16

Von deutscher Seite sind die Konstruktionen zu »Simón Bolívar und Alexander von Humboldt«17 meist aus wissenschaftlichem Interesse entstanden und aus diplomatischen oder ideologischen Gründen zum Aufbau einer südamerikanischen Dimension des Humboldt-Mythos genutzt worden.18

Historiker haben zur Analyse der Mythen-Konstruktion seit einigen Jahrzehnten verschiedene Methoden entwickelt. Zum Beispiel die der Dekonstruktion von Mythen, Texten und Diskursen. Diese Methode hat allerdings den Nachteil, dass sie meist nur auf der Ebene von Texten, Bildern und Denkmalen verbleibt – oft handeln ganze Bücher nur über einen Text, eine Person oder ein Bild.19 Eine andere, meines Erachtens zukunftsträchtigere Methode ist es, Mythen als wichtige historische Phänomene der Ideen- und Diskursgeschichte (im Sinne Foucaults) anzuerkennen und ihre Entstehungsbedingungen, ihre reale Herkunft und ihre Funktion zu beleuchten. Die Analyse sollte eine historische sein. Sie sollte also beachten, dass Mythen soziale, strukturelle, wirtschaft­liche und politische Ursachen haben und Funktionen in der realen Geschichte ausüben. Auf dieser Basis können dann die geistigen, kulturellen, medialen und künstlerischen Elemente untersucht werden. Über die historische Anerkennung hinaus erscheint es mir methodisch wichtig, die Mythen an eine Art anthropologischer Mikro- und Sozialgeschichte rückzubinden. Das bedeutet, Mythen sind gekoppelt an life histories, an Menschen, die wirklich einmal gelebt haben und die die Mikrostrukturen bevölkern und so die Makrostrukturen (der Kontinent Südamerika, Karibik, Atlantik, Europa–Amerika, der ›Westen‹) mit individuellen Handlungen füllen.

Mit dieser Methode des religare (Rückbindens) von medialen Prozessen an die soziale Realität will ich im Folgenden aus der Perspektive des ›gelebten Lebens‹ Simón José Antonio de la Santísima Trinidad Bolívar y Palacios (1783–1830) eine Interpretation der Geschichte der Independencia geben. Vor allem soll es um die Geschichte Venezuelas, aber auch des nördlichen Südamerikas gehen und um die Frage, warum in den Ländern des Bolívar-Mythos bis heute nie eine soziale Revolution stattgefunden hat – weder unter reaktionärem Vorzeichen, wie etwa die konservative Revolution, die zur Heraus­bildung der Zuckerwirtschaft und Massensklaverei auf Kuba führte, noch unter revolutionär-demokratischen Voraussetzungen.

Um ein Ergebnis vorwegzunehmen: zu den Hauptschuldigen gehört Simón Bolívar selbst, einerseits in seiner Rolle als militärischer Jakobiner, andererseits als die Verkörperung der Kontinuität der alten Kolonialeliten – trotz oder gerade wegen seines militärischen Radikalismus und seiner scharfsinnigen Erkenntnis der Probleme seiner Zeit. Im Besonderen aber hat der konservative Bolívar-Mythos und mit ihm der von den jeweils herrschenden Eliten seit zirka 1870 entwickelte massive Bolívar-Kult geholfen, eine tiefgreifende soziale Umwälzung zu verhindern. Im Übrigen macht dieser Umstand alle Spielarten des Bolívar-Mythos ambivalent.20

Bei der Untersuchung zu ›Simón Bolívar. Geschichte und Mythos‹ will ich davon absehen, den Libertador stellvertretend für die politischen und sozialen Prozesse der Independencia zu nehmen, wie es in vielen Arbeiten über die Un­abhängigkeitsbewegung und Bolívar üblich ist. Vielmehr soll endlich einmal eine kritische Geschichte der Krise des Kolonialstaats und der Kriege von 1810 bis 1870 um die neue Staatlichkeit entstehen. Daneben will ich den Menschen Simón Bolívar als Individuum analysieren, wie es auch der Bolívar-Mythos zu tun vorgibt. Meine Betrachtungen sind allerdings nicht aus der Luft gegriffen, sondern tun sich auf aus den beiden Zentralperspektiven der Konstruktion einer Nation sowie der Geschichte der Sklaven, Llaneros und anderer großer Gruppen von Unterdrückten der Kolonialzeit, wie die Pardos, die die Masse der farbigen Bevölkerung bildeten. Ihre Nachkommen prägen auch das Bild des heutigen Venezuela.

In der Krise des spanischen Imperiums und des Kolonialis­mus in der Folge der atlantischen Revolutionen (1775–1850) wurden vor allem Pardos zu Akteuren langanhaltender Bürgerkriege. Es besteht eine enge Verbindung zwischen der Geschichte der Independencia und der Geschichte der Sklavinnen und Sklaven, auch wenn die Eliten ihrer Zeit und ein Großteil der heutigen Historiographie das Problem von Sklaverei und Independencia eher herunterspielt. Die Kontrolle über die Sklaven und über den Teil der Bevölkerung, der Sklavinnen und Sklaven unter seinen Vorfahren hatte, war einer der wichtigsten Antriebe der Unabhängigkeitsbe­wegung der kreolischen Eliten, wie es bereits Humboldt um 1800 sehr luzide beobachtet hat.21

Im Buch zitierte anderssprachige Texte stehen in der Regel in deutscher Übersetzung und sind in der Originalsprache in der Fußnote zu finden. Ich habe ganz bewusst nicht darauf verzichtet, alle Zitate und schriftlichen Quellen sowie ihre Spuren in der Text-Archäologie in einem umfangreichen Fußnotenapparat zu belegen. Jede Leserin und jeder Leser kann sich durch Kenntnisnahme der dort nachgewiesenen Werke davon überzeugen, welche Wege Mythos-Konstruktionen nehmen. Sie zeugen davon, dass historische Forschung spannender ist als jeder Krimi.

Leipzig, Wien, Caracas, Havanna, Murcia, Köln und Liblar, Ende 2008 bis Juni 2011

I. Historische Grundlagen: Konstruktionen einer Nation

Unter einer Nation versteht man gemeinhin die Gemeinschaft eines Volkes mit homogenen Merkmalen (Sprache, Tradition, Kultur, Geschichte etc.) in einem Territorium. Eine offene Interpretation betont die Veränderungsmöglichkeiten in einem politischen Raum, in dem Gruppen zusammenleben, die auch über unterschiedliche Merkmale verfügen. Letzteres trifft eher auf Venezuela zu, indem Conquista als Teilprozess einer frühen Globalisierung, Kolonisierung und Revolutionen zur Entwicklung einer Nation beigetragen haben.22

Vor den 1860er Jahren hat es wohl nirgends auf der Welt Eliten gegeben, die die Idiosynkrasien einer Gemeinschaft wirklich in praktische Innenpolitik umgemünzt hätten. Sicherlich kann man diskutieren, ob es einzelne Ansätze, wie verhältnismäßig klar definierte Territorien, relativ homogene Untertanen und gemeinsame Kulturelemente, nicht schon in kleinen Monarchien des Mittelalters oder der frühen Neuzeit gegeben hat. Zu nennen wären in Europa etwa Portugal, Kastilien, Dänemark oder England. Die angestrebte Homogenität, die immer mehr Ideal als Wirklichkeit war, ist aber durch die europäische Kolonialexpansion und die Globalisierung, die mit der Geschichte dieser frühneuzeitlichen ›Nationen‹ verbunden waren, recht schnell wieder aus dem Blick geraten. Großstaaten, die zur Reichsbildung tendierten, wie das Heilige Römische Reich, Frankreich, Polen-Litauen oder später Russland, und die aus Expansionen hervorgegangenen Kolonialreiche haben erst spät das vereinheitlichende Potenzial von ›Nation‹ entdeckt. Wenn sie die frühe Neuzeit überhaupt als politisches Territorium überstanden. Beim anderen Ex­trem, kleineren Staatsgebilden oder Stadtstaaten, die meist Handelskommunen waren, spielten ›Nation‹ oder ›Nationalismus‹ ebenfalls nur eine geringe Rolle. Entscheidender ­waren Translokalität und Nepotismus der Eliten, so dass Reichtum und Macht mehr zählten als irgendeine reale oder ima­ginierte Gemeinsamkeit.

In der westlichen Hemisphäre und speziell in Europa wird heute noch angenommen, dass Staat als Territorialgefäß für spätere Nationen faktisch ein Exportprodukt Europas ge­wesen sei.23 Das gilt möglicherweise für einen ideologischen Begriff von Nation, für den Staat als Organisationsform von Herrschaft und Macht aber nur in sehr begrenztem Maße. In den Regionen Afrikas, Amerikas und Asiens, dort vor allem auf arabisch-persisch-islamischem Gebiet und in China, waren, oft lange vor den europäischen Entwicklungen, Staaten und Imperien entstanden. Allerdings waren dies keine als Nation konfigurierten Gemeinschaften.

Eliten ohne Nation und ohne Mythos

Die Frage der Nationsentwicklung stellt sich anders in Weltgegenden, in denen sich vor 1500 noch keine Staatenbildung und die Institutionalisierung von Herrschaft nur rudimentär vollzogen hatten. Das war vor allem an den amerikanischen Atlantikküsten Nord- und Südamerikas sowie in der Karibik der Fall. Als geohistorischer Raum wird dieses Gebiet heute oft Gran Caribe genannt, das heißt die Großen und Kleinen Antillen, alle anderen Inselgruppen sowie alle Küsten zwischen St. Augustine im Norden und Santo Tomás de Guayana im Süden (oftmals auch noch die ›wilde Küste‹ der Guayanas bis zur Orinoko-Mündung, in einigen Fällen sogar bis zur Amazonas-Mündung). Hier trafen die iberischen Kapitäne bei ihren Fahrten auf der Suche nach Handelsgütern, Edelmetallen und Luxuswaren zuerst auf Inseln, die von vielen Völkern, Stämmen und Gruppen zweier Großkulturen besiedelt waren: den Aruak und den Kariben. Nur bei den Taíno, Inselaruak mit Zentrum auf einer Insel, die Kolumbus La Española nannte (heute Haiti und Dominikanische Republik), gab es bereits eine in einer bestimmten Erbfolge und Territorialität institutionalisierte Herrschaft von Kaziken. Da die Taínos von Bohio (La Española) feststellen mussten, dass die Fremden wiederkamen (zweite Expedition von Kolumbus), schlossen sie Allianzen mit Kolumbus und seinen andalusischen und kastilischen Mannschaften. Das bedeutete im Umkehrschluss, alle Feinde der neuen Allianzpartner waren nahezu auto­matisch Feinde der Kastilier. Es existierte eine Reihe weiterer Konflikte und Verbindungen, die die Geschichte dieser Gemeinschaften strukturiert hatten und noch in der beginnenden Kolonialgeschichte beeinflussten.

Zuerst die Konflikte. Die Taínos mit ihren Kazikentümern hatten sich im Laufe des Mittelalters, von Osten (über die Kleinen Antillen) und von Westen (über die mittelamerikanischen Küsten) kommend, auf den Großen Antillen angesiedelt. Um 1500 waren sie mit kriegerischen Angriffen von Kanumannschaften der Kariben konfrontiert. Eine ganze Reihe von Taíno-Kaziken hatte sich deshalb mit den Spaniern arrangiert, auch aus Angst vor den wilden Kariben-Kriegern. Schon in frühen Schriften von Kolumbus und der Spanier wurden die Kariben so in bis heute wirksamen Schreckensbildern als Menschenfresser dargestellt.24 Damals diente diese Stilisierung vor allem der Begründung, warum bestimmte Gruppen von Indios trotz Verbotes der Krone als neue Untertanen versklavt werden konnten.

Das führt uns zu den Verbindungen. Sowohl Taínos wie auch Kariben hatten auf Basis seegängiger Kanus Handelsnetzwerke im karibischen Raum aufgebaut. Vor allem Salz, Farbstoffe, aber auch Kriegsgefangene (Sklaven) wurden auf diesem Weg ausgetauscht. Die Spanier nutzten dies von Anfang an für ihre Zwecke.

Kurz nach Ankunft der Spanier brach die ›demografische Katastrophe‹ über die Indios herein. Freund und Feind fielen den mit dem europäischen Vieh eingeschleppten Krankheiten zum Opfer. Die neuen Lebens- und Arbeitsweisen taten ein Übriges. Die Gemeinschaft der Taínos bekam als Erstes die Folgen europäischer Kolonialexpansion und die entfesselte Gewalt der Conquista zu spüren. Auf La Española setzte sich die Siedlungskolonisation mit Zwangsarbeit (Repartimiento, Encomienda), neuen kirchlichen und staatlichen Institutionen sowie Sklaverei (Naboría) durch. Die Insel wurde für rund 30 Jahre zum Zentrum der iberischen Kolonisation in dem Gebiet, das ab 1507 auf manchen Weltkarten in ptolemäischer Tradition mit dem Kunstwort ›Amerika‹ bezeichnet wurde. Als die Spanier, zuerst Dominikanermönche wie Montesino und Las Casas, den Skandal der Vernichtung der Taínos um 1510 öffentlich machten, kam das heutige Venezuela ins Spiel.

Im Gegensatz zu der isla (Insel) La Hispaniola, auf der die Spanier saßen, bezeichnete man die riesige Landmasse im Süden und Südwesten, wo die andalusischen Kapitäne und italischen Geldgeber eine Passage nach Indien suchten, als Tierra firme (Festland). Weil den Spaniern die Arbeitskräfte wegstarben, wurde der Teil der Tierra firme direkt im Süden von La Española zum Razziengebiet professioneller Sklavenjäger. Überdies hatten verbündete Indios (Guayqueriés) die Kolonisatoren von Perlenbänken am östlichen Rand des Landes um die Insel Cubagua in Kenntnis gesetzt. Zumindest räumlich befindet man sich damit in Regionen des heutigen Venezuela.

Die spanische Krone vergab den größeren Teil des heutigen Venezuela und ein Stück des heutigen Kolumbien einerseits an eine oberdeutsche Kaufmanns- und Bankiersfamilie (Welser 25), bei der sie verschuldet war. Andererseits versuchte sie vor allem die Küsten im Osten zu besiedeln, indem sie sie den Dominikanern als Missionsgebiet übertrug. Beide Bemühungen, sowohl die Welser-Ansiedlung (1528–1556) als auch der Missionsauftrag der Dominikaner, scheiterten am Konflikt zwischen Sklavenjägern und indianischen Völkern. Besonders die Kariben leisteten massiven gewaltsamen Widerstand. Die Stämme zogen sich von der Küste zurück, so dass die ersten Siedlungsversuche nur auf der Insel Cubagua im Osten und in Coro an der Nordküste des heutigen Venezuela gelangen.

Als in diesen Zentren iberischer Siedlung, zu der auch immer indianische Frauen und Sklaven gehörten, eine erste Generation von Nachkommen der europäischen Conquistadoren sowie der Indio-Frauen das Erwachsenenalter erreichte (um 1550/60), kam es erneut zur iberisch-mestizischen Expansion. Siedlungen in den Tälern der Küstenanden entstanden (Cara­cas), zusammen mit anderen Städten und Ortschaften, die die Andenverbindung nach Neugranada (heutiges Kolumbien) sichern sollten. Dort war um 1540 auf der Basis indianischer Herrschaftsformen ein reino, das Vizekönigreich Neugranada gegründet worden. Zentrum war der Ort Bacatá (Bogotá). Bald wurden, zunächst aufgrund der Massenplünderungen indianischer Gräber, Gold und andere Edelmetalle gefunden und nach Europa geschickt. Die Perlenbänke um Cubagua im Osten erschöpften sich, und die Gebiete des heutigen Venezuela und der Guayanas sanken auf den Rang von Kriegs- und Grenzperipherien herab. An ihnen bestand im Grunde nur noch imperiales Interesse, weil seit 1570 die Engländer – auch unter der Befehlsgewalt Walter Raleighs – auf die Guayanas als Grenzterritorium zwischen kastilischer und portugiesischer Kolonialsiedlung aufmerksam wurden. Ihnen folgten die Niederländer, die sich zunächst für die großen natür­lichen Araya-Salinen im Osten des heutigen Venezuelas interessierten.

Ehemalige Herrschaftsgebiete der Indios wurden als Provinzen zu Territorialeinheiten der spanischen Monarchie. In Wirklichkeit aus einzelnen schäbigen Siedlungen und frühen kleinen Städten mit ihren jeweiligen Hinterländern bestehend, wurde die koloniale Tierra firme zu einer Ansammlung schlecht verwalteter Provinzen, die untereinander kaum in Verbindung standen. Sechs der größeren Siedlungen erhielten Stadtrecht (ciudad) und wurden zu Zentren der Provinzverwaltung: Coro, Maracaibo, Caracas (mit seinem Reede­hafen La Guaira), Cumaná an den Küsten der Karibik oder kurz dahinter, Mérida zur Sicherung der Anden-Verbindung nach Neugranada und Santo Tomé de la Guayana zum Schutz der Orinoko-Mündung. Kirchenorganisation und Justizverwaltung wurden häufig zwischen Santo Domingo (auf La Española) und Bogotá (in Neugranada) hin- und hergeschoben, ebenso wie die administrative Zugehörigkeit einzelner Provinzen. Die Festungen der Karibikküste und am Orinoko waren ›Zuschussgebiete‹ (situados) des spanischen Reiches. Es gab also nicht einmal administrativ auch nur den Schatten eines Gemeinschaftsgefühls.

Dazu kamen weitere Spaltungen, die zum Teil bis heute wirksam sind. Die wenigen Familien der ersten Conquistadoren in den Städten, die sich durch Heiratspolitik exklusiv hielten, igelten sich in einem Kastensystem ein, in dem alle anderen, nach ›Blutmischung‹ Kategorisierten als casta bajas (niedere Kasten) galten – Indios, Schwarze und Farbige natürlich, aber auch ›arme Weiße‹ die vor allem von den kanarischen Inseln in die Städte der Karibikküste kamen. Venezuela war weiterhin Kriegs- und Razziengebiet für die Jagd auf Indios, vor allem im Osten, wo bitterer Hass zwischen Spaniern und Mestizen auf der einen Seite und den stolzen Kriegern (und ebenfalls Sklavenjägern) der Kariben auf der anderen Seite herrschte. Im Zentrum des heutigen Venezuela, hinter der Küstenkordillere, und in den riesigen Llanos-Ebenen bildeten sich riesige Herden geflohenen und halbwilden Viehs, vor allem Pferde, eine Art karibischer Mustangs, Rinder, Esel und Maultiere. Diese Grenzkultur war im Kern indianisch, zu der bald auch desertierte Soldaten sowie Ver­brecher aus den Provinzstädten und geflohene Negersklaven stießen. Sie beruhte auf dem von den Europäern nach Amerika verbrachten Großvieh sowie auf der Jagd auf halbwilde Tiere. Im Osten stießen englische sowie niederländische Kolo­nisten in die Grenzräume zwischen portugiesischen und spanischen Kolonialgebieten vor und gingen Allianzen mit den Karibenstämmen ein.

Im Grunde dienten die Provinzen auf dem Territorium des heutigen Venezuela allein der Sicherung eines einzigen Hafens im heutigen Kolumbien – Cartagena de Indias, 1532 gegründet. Cartagena wurde im sich herausbildenden Flotten-Monopolhandel Spaniens, den sogenannten Flotas y Galeones, neben der komplizierten Isthmus-Verbindung Portobello-Panamá, einer der Haupthäfen Südamerikas für den Export von Edelmetallen und den Import afrikanischer Sklaven. Die Städte Venezuelas bekamen von den jährlichen Flotten höchstens einmal im Jahr ein Schiff zu sehen. Meist fand über mehrere Jahre hinweg überhaupt kein offizieller Austausch mit dem Mutterland statt. Die Siedler verlegten sich auf Schmuggel, Korsarentum sowie Grenz- und Razzienökonomien (entradas), die vor allem dem illegalen Einfangen von Indio-Sklaven galten. Die an sich peripheren Provinzen lagen allerdings im Zentrum der Atlantikfassade Südamerikas und profitierten vom transatlantischen Sklavenhandel. Es spielte keine Rolle, ob die Sklavenhändler und -schiffskapitäne mit oder ohne Lizenz einer Krone fuhren. Sie mussten sich, wenn sie von Westafrika nach Amerika zu den Gold­exporthäfen (wie Cartagena) wollten, vom Cabo São Roque, dem östlichsten Punkt des heutigen Brasilien, an der über 4000 Kilometer langen Atlantikfassade Südamerikas nach Norden bewegen. Dort lagen auch die venezolanischen Städte Cumaná, Caracas/La Guaira, Coro und Maracaibo.