Sizilien - Siegfried Obermeier - E-Book
SONDERANGEBOT

Sizilien E-Book

Siegfried Obermeier

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Geist einer einzigartigen Insel: Der opulente historische Roman »Sizilien« von Siegfried Obermeier jetzt als eBook bei dotbooks. Farbenprächtig und mit epischem Atem erzählt Siegfried Obermeier den Aufstieg und Fall der »Königin der Inseln«, die Brennglas für die größten Sternstunden der europäischen Geschichte war: Da ist die Dichterin Sappho, die in der Verbannung in Syrakus ein neues Leben beginnen muss … Oder der heldenhafte Gotenkrieger Hildebrand, der für seinen König Sizilien befrieden soll – und hier die Liebe findet. Auch den Papst Urban verschlägt es auf die wildromantische Insel, wo er einen schicksalhaften Plan schmiedet, der die Welt verändern wird – der Gedanke an die »Befreiung« Jerusalems von den Muslimen … Unwissentlich tritt der große Richard Löwenherz einhundert Jahre später in seine Fußstapfen, als er seinen Kreuzzug ins Heilige Land von Messina aus beginnt. All diesen Spuren spürt schließlich auch Goethe nach, als seine Italienreise ihn in das wilde Land im Schatten des Ätna führt – ein Land, das er nie wieder vergessen wird … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Das prachtvolle Historien-Highlight »Sizilien« von Siegfried Obermeier erweckt die bewegte Geschichte der Mittelmeerinsel zum Leben – Fans von Edward Rutherfurd und Ken Follett werden begeistert sein! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 969

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

Farbenprächtig und mit epischem Atem erzählt Siegfried Obermeier den Aufstieg und Fall der »Königin der Inseln«, die Brennglas für die größten Sternstunden der europäischen Geschichte war: Da ist die Dichterin Sappho, die in der Verbannung in Syrakus ein neues Leben beginnen muss … Oder der heldenhafte Gotenkrieger Hildebrand, der für seinen König Sizilien befrieden soll – und hier die Liebe findet. Auch den Papst Urban verschlägt es auf die wildromantische Insel, wo er einen schicksalhaften Plan schmiedet, der die Welt verändern wird – der Gedanke an die »Befreiung« Jerusalems von den Muslimen … Unwissentlich tritt der große Richard Löwenherz einhundert Jahre später in seine Fußstapfen, als er seinen Kreuzzug ins Heilige Land von Messina aus beginnt. All diesen Spuren spürt schließlich auch Goethe nach, als seine Italienreise ihn in das wilde Land im Schatten des Ätna führt – ein Land, das er nie wieder vergessen wird …

Über den Autor:

Siegfried Obermeier (1936–2011) war ein preisgekrönter Roman- und Sachbuchautor, der über Jahrzehnte zu den erfolgreichsten deutschen Autoren historischer Romane zählte. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Bei dotbooks veröffentlichte Siegfried Obermeier die historischen Romane »Der Baumeister des Pharaos«, »Die freien Söhne Roms«, »Der Botschafter des Kaisers«, »Blut und Gloria: Das spanische Jahrhundert«, »Die Kaiserin von Rom«, »Salomo und die Königin von Saba«, »Das Spiel der Kurtisanen«, »Der Auftrag des Medicus« und »Die Hexenwaage« sowie die großen Romanbiographien »Sappho, Dichterin einer neuen Zeit«, »Mozart, Komponist des Himmels« und »Judas – Der letzte Apostel«. Weitere Titel sind in Vorbereitung.

***

eBook-Neuausgabe April 2023

Dieses Buch erschien bereits 1989 unter dem Titel »Im Schatten des Feuerbergs« bei List

Copyright © der Originalausgabe 1989 by Siegfried Obermeier

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/RODINA OLENA und eines Gemäldes von Carl Rottmann »Taormina«

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)

ISBN 978-3-98690-609-2

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Sizilien. Der Roman einer Insel« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Siegfried Obermeier

Sizilien

Der Roman einer Insel

dotbooks.

Prolog

Dieser Roman der Insel Sizilien setzt im Neolithikum, also in der Jungsteinzeit ein. Was aber war zuvor? Kann man den Wissenschaftlern Glauben schenken, die Sizilien mit Afrika verbunden sahen, und ihre Thesen damit stützen, daß Saharapflanzen auf der Insel zu finden sind? Mischen wir uns nicht in diesen Gelehrtenstreit; jedenfalls war Sizilien im Quartär bereits von Nordafrika getrennt, weil unter den Fossilien aus dieser Zeit keine der spezifisch afrikanischen Tierarten zu finden ist.

Irgendwann einmal war Sizilien mit dem italienischen Festland verbunden. Der Einbruch der Straße von Messina machte es zur Insel, zur begehrten Frucht, die verlockend in der Umschlingung des ionischen und tyrrhenischen Meeres lag und die Raublust so ziemlich aller Eroberer anregte, die im Laufe von drei Jahrtausenden die Gestade des Mittelmeers unsicher machten. Sizilien, dreimal so groß wie Kreta und etwas größer als Sardinien, wurde zum historischen Zankapfel schlechthin, nach dem jeder die Hand ausstreckte, den aber nur wenige für längere Zeit halten konnten. Warum blieb dem fast gleich großen Sardinien ein ähnliches Schicksal erspart? Diese Frage ist leicht zu beantworten. Zum einen machte die ideale geographische Lage und die Bodenbeschaffenheit Sizilien unglaublich fruchtbar und ließ es zu einem der wichtigsten Kornlieferanten werden. Zum anderen lockte Siziliens strategische Bedeutung als Stützpunkt und Vorposten nach Nord, Süd und Ost. Für das antike Griechenland und Byzanz war es das Tor zum Westen und für Rom die Pforte nach Süden und Osten, während die mit Wüsten reich gesegneten islamischen Völker in ihm eines der von Allah den Gläubigen verheißenen Paradiese sahen – mit süßen Quellen und üppigen Ernten.

Wir in die Küsten des Mittelmeeres verliebten Nordländer können es kaum glauben, was der Schriftsteller und geborene Sizilianer Leonardo Sciascia in einem Interview trocken anmerkt: »Die Küste ist schön, aber sie sagt mir nicht viel ... Ich glaube, im Grunde hegen wir Sizilianer immer noch eine tiefe Abneigung gegen das Meer. Wie könnten Insulaner etwas lieben, das zu nichts anderem taugt, als ihnen Auswanderer zu entführen und Invasoren zu bringen?«

Das leuchtet ein, und die Geschichte bestätigt es. Aber Siziliens Vergangenheit ist dadurch zu einem bunten Teppich geworden, in dessen Gewebe viele Völker ihre Muster gestickt und den sie wieder und wieder mit Blut befleckt haben.

Dieses Buch soll nicht nur unterhalten und informieren, es soll auch dazu anregen, den heißen, sonnendurchglühten, von Lava verbrannten, von Erdbeben erschütterten und von fremden Herren ausgepreßten Boden dieser wunderbaren Insel zu erforschen, die Eigenart ihrer Menschen zu begreifen und sie – Volk und Insel – lieben und verstehen zu lernen.

Die Feuergöttin

Kapitel 1

Ein hilfloser Zorn erfüllte ihn, drohte fast seine Brust zu sprengen. Doch er hatte sich nichts anmerken lassen, denn das wäre für die Alte nur wieder ein Anlaß gewesen, auf ihm herumzuhacken, ihn bloßzustellen vor den anderen. Aber er mußte sich Luft machen, mußte loswerden, was ihm den Bauch beschwerte, wie eine zu üppige, schwer verdauliche Mahlzeit.

Ako nahm den Weg zur Großen Schlucht über die Abkürzung, die nur er kannte. Das war ein sehr steiler Pfad, gefährlich für jeden, der nicht Bescheid wußte. Wie ein flüchtender Hirsch brach er durch die Büsche, die Zweige peitschten seine nackten Beine, dornige Ranken fuhren ihm über Gesicht und Arme, doch er achtete nicht darauf, der Zorn ließ ihn gefühllos und unvorsichtig werden. Einmal trat er auf einen Stein, der unter seinem flüchtigen Tritt wegrollte, so daß Ako den Halt verlor und auf den Rücken fiel. Gedankenschnell griff er nach dem Zweig einer jungen Kastanie und bewahrte sich so vor einem gefährlichen Abgleiten.

Was war geschehen? Der Sturz hatte ihn ernüchtert, Ako richtete sich auf und suchte einen bequemeren Platz zum Sitzen. Von drunten rauschten die Wasser der Großen Schlucht, ihr Ton beruhigte ihn und gab ihm die Kraft, den Verlauf des heutigen Tages noch einmal in aller Ruhe zu überdenken. Es fiel ihm freilich nicht leicht, Ako war jung und heißblütig, doch als Jäger hatte er von Kind an lernen müssen, mit Geduld und Bedacht an eine Aufgabe heranzugehen. Hätte er diese Eigenschaften nicht, so wäre ein schlechter Jäger aus ihm geworden, und die Alte hätte ihm eine andere Aufgabe zugedacht. Sie würde es auch jetzt noch gerne tun, doch die Sippe konnte auf einen geübten und fast immer erfolgreichen Beutemacher nicht verzichten. Die Alte durfte sich zwar viel herausnehmen – und sie tat es auch –, doch nicht einmal sie wagte es, einem so geschickten Fährtenleser eine Tätigkeit zu untersagen, die für die Sippe wichtig und nützlich war.

»Das kann sie nicht«, dachte Ako, und es machte ihn zufrieden, daß es so war. Was aber war geschehen? Tagelang hatten die prallen dunklen Wolken wie schwere Gewichte am Feuerberg gehangen, von grellen Blitzen zerschnitten und von schrecklichen Donnerschlägen gebeutelt, dann hatten sie herausgeschüttet, was an Wasser in ihnen steckte. Kein Wetter zum Jagen, jeder wußte das. Nur die Alte schien es nicht zu wissen.

»Was hockst du noch immer hier?« bellte ihre heisere böse Stimme, und sie fuchtelte erregt mit ihren dicken wabbeligen Armen herum. Unförmig fett war sie in den letzten Jahren geworden, Una, die gefürchtete Sippenführerin, der sich alle beugten, ob jung oder alt, Frauen und Männer, Jäger und Handwerker, Mütter und junge Mädchen.

In der weiten dunklen Basalthöhle flammte nahe am Eingang ein Feuer, dessen Rauch die schwere feuchte Luft am Abziehen hinderte, so daß allen die Augen tränten und bellender Husten sich an den Wänden der Höhle brach.

Mat, der Führer der Jäger, fand endlich den Mut, auf Unas ständige Quengelei angemessen zu antworten. Er tat es behutsam und mit der Absicht, die Alte zu besänftigen.

»Verzeih, Ehrwürdige, wenn ich für meine Jäger spreche. Wir verstehen deine Ungeduld – es fehlt an Fleisch, es fehlt an den so nötigen Opfergaben für die Feuergöttin Itina, deine dir – und dies zu unserer aller Glück – so wohlgewogene Freundin. Aber verstehe auch uns. Bei einem solchen Wetter verkriechen sich die Tiere, und wenn wir eines aufstöbern, ist es gereizt und angriffslustig. Wir sollten nicht leichtsinnig unser Leben aufs Spiel setzen, denn«, und nun hob sich Mats Stimme, wurde stolz und eine Spur herrisch, »unser Stamm wird untergehen, wenn einige der Jäger nicht mehr zurückkehren. Du weißt das natürlich – alle wissen es –, und ich möchte dich in aller Ehrfurcht bitten, es nicht zu vergessen. Niemals!«

Una hockte wie eine fette Kröte am Feuer, in einen Berg Felle gehüllt. Sie hob ihr unförmiges, in Fleischwülste gebettetes Gesicht und blickte mit halbgeschlossenen Augen auf Mat, der sich – von seiner eigenen Kühnheit erschreckt – zusammenduckte, als gelte es einem Schlag auszuweichen.

Una achtete den Anführer der Jäger, aber sie mochte ihn nicht. Sie mochte überhaupt keinen Mann, wie tüchtig und wichtig er auch sei. Ihre Liebe galt Eli, der einzigen überlebenden Tochter, die sie zielstrebig und umsichtig zu ihrer Nachfolgerin heranzog. Den anderen Frauen des Stammes begegnete sie mit herrischer Nachsicht, und jede konnte auf ihr Verständnis, auf ihre Hilfe hoffen. Bei den Männern war das nicht unbedingt der Fall. Nach den Gebräuchen der Sippe waren sie alle eingebunden in ihre Rechte und Pflichten. Wer sich dem nicht beugen wollte, mußte gehen, wurde ausgestoßen. Ein jeder fürchtete das, denn dies bedeutete Einsamkeit, Gefahr, Tod. Und deshalb duckte sich Mat vor der Antwort Unas, der Ehrwürdigen, der Mächtigen.

Lange schwieg sie, lange sah sie ihn an, mit halbgeschlossenen Lidern, nichts regte sich in ihrem massigen Gesicht. In der Höhle hielten alle den Atem an, nur das leise Knistern des Feuers war zu vernehmen.

Ako blickte auf Lin, die Sanfte, die inmitten der Frauen und Mädchen hinter der Alten saß. Vergeblich suchte er ihren Blick, doch sie hatte den Kopf gesenkt, und ihre langen dunklen Haare fielen nach vorne und verhüllten ihr Gesicht. Ihr zartes Gesicht, die schmalen Schultern, der schlanke Nacken, die kleinen mädchenhaften Brüste, ihre runden Hüften, die kräftigen, wenn auch etwas dünnen Beine – wie liebte er das alles, wie sehnte er sich danach, sie neben sich auf dem Lager zu haben, ihren Körper zu fühlen, zu liebkosen ...

Alle zuckten zusammen, als Unas heisere Stimme ertönte: »Gut gesprochen, Mat, gesprochen wie ein Jäger. Nun aber rede ich, höre genau zu! Itina, die Feuergöttin, meine mächtige Freundin, ist unzufrieden. Ja, spitzt nur eure Ohren, denn es geht euch alle an! Ihr Feueratem bedroht uns, sie lechzt nach Opfern, will Blut! Sie zufriedenzustellen ist unsere Aufgabe, unsere Pflicht, denn sie ist mächtiger als Mensch und Tier. Habt ihr den Feuerberg in den letzten Tagen genau beobachtet? Ich habe es getan, es ist meine Aufgabe, es genauer zu tun als alle anderen. Der Zorn – ja, hört es nur! –, der Zorn hat Itinas Atem verstärkt, es quillt Rauch aus ihrem Schoß, ich fürchte, dabei wird es nicht bleiben.«

Unas Stimme nahm einen prophetischen Tonfall an, als sie monoton weitersprach: »Itina wird ihren Schoß öffnen und ihr Feuerblut verströmen! Ihr wißt es! Tod und Verderben wird meine schreckliche Freundin gebären, eine feurige Flut, weil das kühle sänftigende Blut der Opfertiere ihr fehlt. Ich habe es erlebt, und ich sage euch, alles ist besser als das! Sie ist meine, ist unsere Freundin, doch nur solange wir sie nähren und zufriedenstellen. Und da erhebt Mat seine Stimme und redet sich auf das schlechte Wetter hinaus! Ich warne euch! Ja, ich warne euch als eure Führerin, denn auf mir ruht die Verantwortung. Auf mir allein!«

Ein zaghaftes Aufatmen ging durch die Höhle, als Unas schreckliche Stimme verstummte. Es war nicht zum ersten Mal, daß sie eine solche Warnung vernahmen, doch niemals verfehlte sie ihre Wirkung. Auch nicht auf Mat, auch nicht auf Ako. Und Mat ordnete an, daß sie am nächsten Morgen aufbrechen würden zur Jagd – bei jedem Wetter.

Am Morgen aber hatten die Wolken sich verzogen, ihr Bauch war leer, das Wasser versiegt.

Da regte sich in Ako der Widerspruch. Mußte denn die Alte immer recht behalten? Ihm wäre es lieber gewesen, es hätte weitergeregnet und die Jagd wäre gefährlich, erfolglos, für manchen sogar tödlich gewesen. Nur um Una zu zeigen, was sie mit ihrem Gerede angerichtet hatte, um sie ins Unrecht zu setzen. Freilich ein sinnloser Wunsch. Ako wußte es. Die Alte war niemals im Unrecht, ihr Wort bedeutete Befehl, Gesetz, Unabänderliches.

Doch an diesem Morgen ging die Sonne strahlend auf, die grünen, von schwarzen Lavaströmen durchäderten Hügel dampften im Sog der Wärme, und die Jäger waren froh gestimmt. Auch Ako gab sich dieser Stimmung hin, prüfte seinen Bogen, zählte die Pfeile, befühlte die Steinkeule und das Messer in seinem Gürtel und griff nach dem kurzen schweren Speer aus Hartholz.

Lins Vater war der Steinschläger der Sippe, und er mochte Ako. Keiner konnte den Hartstein besser spalten als er, und Ako erhielt von ihm die besten Stücke. Doch auf ihn kam es nicht an, er besaß nicht die Macht, Ako mit Lin zu verbinden. Das konnte nur Una. Sie aber würde es nicht tun, jetzt nicht mehr.

Ako seufzte und lauschte dem Ton des Wassers in der Großen Schlucht. Es fiel ihm schwer, diesen Tag zu Ende zu denken. Doch er mußte es tun, er mußte es! Eigentlich hätte er stolz sein können auf diese Zeit einer erfolgreichen, fast mühelosen Jagd – froh und stolz! Sie hatten sich in dem waldreichen Gebiet auf der Mittagseite des Feuerbergs zerstreut, und Ako nahm die Spur eines Bären auf. Sie war leicht zu verfolgen, denn dieses Tier hinterließ so unübersehbare Zeichen, daß es einem erfahrenen Jäger nicht schwerfiel, ihnen zu folgen. Dort war ein schöner Abdruck seiner Tatze in der noch feuchten Erde zu sehen, da wies ein zerfetzter Feigenbaum auf die Nahrungssuche des Leckermauls. Es war ein Spiel, diesen Spuren zu folgen, ein fröhliches, wenn auch nicht ungefährliches Spiel. Aus der Tiefe der Abdrücke schloß Ako, daß es ein junges Tier sein müsse, eines, das noch sorglos war und nicht das durch Erfahrung erworbene Mißtrauen der alten, ungemein schlauen Bären besaß.

Lautlos folgte Ako weiter der Spur, bis er ihn plötzlich vor sich sah, den Höhlenbären mit seinem braunen Pelz, der sich so gut für das Winterlager eignete. Und das gute Fleisch! Was schmeckte schon besser als lange am Feuer geschmorte Bärentatzen oder die halbrohe, noch blutige Leber? Auch die guten und ausgiebigen Schinken waren nicht zu verachten. Von einer einzigen dieser mächtigen Keulen wurden vier ausgewachsene Männer satt.

Der Bär saß auf einem erhöhten Steinkegel, der mit niedrigen Sträuchern bewachsen war. Mit seinen Pranken wühlte und schnupperte er darin herum, auf der Suche nach etwas Freßbarem. Ein schönes Ziel für einen Pfeil, überlegte Ako, doch er wußte nur zu gut, wie gefährlich es war, einen Bären mit dem Bogen erlegen zu wollen. Denn es gab nur drei Stellen, wo der Bär durch einen Pfeil tödlich verwundbar war: durch das Auge ins Gehirn – aber wer traf aus dieser Entfernung schon ins Auge? –, durch den Hals in die Luftröhre oder eben gleich ins Herz, aber auch nur, wenn der Bär sich aufrichtete und ein gutes Ziel bot.

Ako mußte darüber keine langen Überlegungen anstellen – so etwas wußte ein Jäger ganz einfach. Es war ein junges Tier, wie er vermutet hatte, und die stellten sich nur zum Kampf, wenn es keinen Ausweg mehr gab. Der Steinkegel fiel nach allen Seiten steil ab; es gab nur einen schmalen Zugang von der Morgenseite her, und genau von dort mußte Ako sich nähern, um den einzigen Fluchtweg abzuschneiden. Vorsichtig nahm er Bogen und Köcher ab und legte sie auf den Boden. Mit dem Speer in der Rechten und dem langen Steinmesser in der Linken näherte er sich geduckt dem Kegel, kroch langsam wie ein Reptil den schmalen Pfad hinauf, ohne den Bären aus den Augen zu lassen. Der schien nun ein Geräusch gehört zu haben; er richtete sich auf und lauschte. Diesen Augenblick nutzte Ako, einen besseren würde es nicht geben.

Er richtete sich auf und schleuderte seinen Speer auf die Brust des Bären. Die Entfernung war zu groß, um genau zu treffen, und der ins Herz gezielte Wurf traf in die Lunge. Der Bär stieß ein hohes schmerzliches Brummen aus, das dem Schrei eines Kindes ähnelte, und versuchte ungeschickt den Speer abzustreifen. Doch der steckte fest. Der Bär begann zu husten, helles schaumiges Blut quoll ihm aus dem Maul. Er blickte sich gehetzt um, doch da waren nur Abgründe, und so stürzte er auf Ako los, den Feind, der ihm den Weg in die Freiheit versperrte. Ako ließ das erregt schnaufende Tier nahe herankommen, wich den herumwirbelnden Pranken aus, warf sich herum und stieß dem Bären das Steinmesser in den wolligen Nacken, von unten nach oben, um das Gehirn zu treffen. Wie vom Blitz gefällt fiel das Tier zu Boden und wäre beinahe noch in die Tiefe gestürzt, hätte nicht eine kleine Krüppelkiefer den Sturz verhindert. Ako zerrte den noch zuckenden Körper auf sicheren Grund und riß den Speer heraus. Ein träger Schwall Blut quoll aus der Wunde, doch es kam nichts nach, der Bär war tot.

Es war unter den Jägern der Brauch, den Tag der Jagd abzuschließen, wenn ein größeres Tier erlegt war. Das Jagdglück nämlich war ein kostbares und zerbrechliches Ding, und für Ako wäre es ein Frevel gewesen, es an diesem Tag noch einmal in Anspruch zu nehmen. Er sandte einen dankbaren Blick hinauf zur Feuergöttin, deren heißer Atem aus der Spitze des Berges wölkte und sich in einem langen Wolkenstreifen über das Meer hin verlor. Ako war niemals am Ufer gewesen; seine Welt waren die Hügel und Wälder um den Feuerberg, und ihm oder den anderen wäre es nicht in den Sinn gekommen, dieses fremde Gebiet zu erkunden. Dort lebten andere Stämme und Sippen, redeten mit fremder Zunge, folgten anderen Bräuchen, verehrten vielleicht andere Götter.

Ako zog ein Bambuspfeifchen aus dem Gürtel und blies eine bestimmte Tonfolge, von der nur seine Jagdgenossen wußten, was sie bedeutete. Sie forderte die am nächsten Jagenden auf, beim Wegschaffen einer schweren Beute behilflich zu sein. Ako blies mehrmals in sein Pfeifchen, um danach angestrengt zu lauschen. Endlich ertönte die Antwort, ein ferner dünner Ton, dem Ako in regelmäßigen Abständen Bescheid gab.

Ja, das war eine glückliche Jagd gewesen, und jeder wußte, daß es nicht immer so gut ausging. Es gab keinen unter ihnen, der nicht am ganzen Körper mit Kratz- und Bißnarben übersät war. Ako konnte mit einer tiefen Narbe am linken Schenkel aufwarten; da hatte sich ein sterbender Berglöwe verbissen. Seine rechte Wade hatte ein wütender Eber durchbohrt, beide Schultern waren von Prankenhieben zerfetzt. Bisher waren es zum Glück nur Haut- und Fleischwunden gewesen, doch wehe dem Jäger, der schwere Knochenverletzungen davontrug! Untauglich zur Jagd fand Una für ihn eine niedere und demütigende Arbeit; auch Mat konnte dann nichts mehr für ihn tun. Der Betroffene mußte bis zu seinem Lebensende Holz zerkleinern, stinkende Felle gerben, oder – und das war noch ein Glück – er durfte in den Wäldern Pilze und Beeren sammeln.

Ako ballte die Faust, wenn er daran dachte. Da war es schon besser, sich in die Große Schlucht zu stürzen. So konnte man hoffen, ins Reich der Jäger einzugehen, wo man für ewige Zeiten auf sonnigen Fluren und in schattigen Wäldern dem Wild nachspürte, um die Beute dann mit Jagdgenossen zu verzehren. Alle glaubten sie an dieses glückliche Jenseits, und eine Una hatte darin keinen Platz.

»Für die Alte gibt es darin keinen Platz! « wiederholte Ako laut, und ein leises Echo brach sich in der Schlucht. Obwohl er es kannte, schauderte es ihn doch jedesmal vor dieser fernen Stimme, der Stimme seines unsichtbaren Schattens, seines zweiten Ichs. Dieser körperlose Zwillingsbruder begleitete ihn bis zum Ende, und er war es, der nach Akos Tod in der anderen Welt ein sorgloses Jägerleben genießen durfte. Una versuchte ihnen zwar einzureden, daß dies nur der Fall sei, wenn sie der Feuergöttin Itina reichlich und regelmäßig opferte, aber die meisten Jäger glaubten nicht daran. Sie nahmen es zwar hin, daß in diesem Leben die Macht zwischen der Feuergöttin Itina und der alten Una aufgeteilt war, aber danach – danach waren sie endlich freie Jäger, und weder Itina noch Una hatten Gewalt über sie.

Ako sprang auf, um weiter in die Große Schlucht hinaufzuklettern, doch sein Zorn hatte sich gelegt, der Stein in der Brust war leichter geworden, wenn auch nicht verschwunden.

Hier half kein Zorn, hier half kein Widerstand, der Alten mußte mit Klugheit und Zurückhaltung begegnet werden, nur so war sie zu besiegen. Besiegen? Nein, das war nicht das rechte Wort. Eine Una konnte nicht besiegt, sie konnte bestenfalls getäuscht, irregeführt, betrogen werden. Was Ako nur zu denken, niemals auszusprechen wagte, war dies: Er mußte mit Lin wegziehen aus Unas und der Feuergöttin Machtbereich.

Daß sie dazu bereit war, wußte er seit einigen Tagen. Bei einer der ganz seltenen Gelegenheiten, da sie ungestört miteinander reden konnten, hatte Ako sie gefragt: »Möchtest du nachts neben mir liegen, meine Kinder austragen, hingehen, wo ich hingehe?«

Lin hatte ihn nur zärtlich mit ihren nußbraunen Augen angesehen und stumm genickt. Sie war eine der vielen Enkelinnen der Alten, doch sie hielt zu ihm, Ako, dem Jäger. Mit dem Spürsinn der Sippenführerin hatte Una längst herausgefunden, daß Ako und Lin sich mochten, aber sie dachte nicht daran, diese Verbindung gutzuheißen. Dieser junge Bursche war ihr zu aufsässig, er neigte zum Widerstand und zur Verweigerung des Gehorsams. Wenn er nicht zahmer wurde, mußte sie härtere Maßnahmen ergreifen.

Kapitel 2

Nein, Ako war keineswegs zahmer geworden. Nachdem er den Bären erlegt und mit Hilfe seiner Jagdgenossen vor die Höhle geschafft hatte, erschien Eli, die älteste Tochter der Sippenführerin. Sie war noch dicker als ihre Mutter und bewegte nur unwillig ihren schweren, trägen Körper. Ako verbeugte sich.

»Teile der ehrwürdigen Mutter mit, daß Ako einen Bären erlegt hat und ihr die Beute – überbringt.«

Er hätte sagen müssen »zu Füßen legt«, doch sein Stolz verbot es ihm. Eli nickte nur mürrisch und watschelte ächzend in das Dunkel der Höhle zurück. Una ließ lange auf sich warten, das gebot ihre Würde, doch sie allein entschied über die Verteilung der Beute, und niemand konnte sagen, daß sie ihr Amt mißbrauchte. Ihre Gerechtigkeit wurde von allen gerühmt, wenn auch nicht jeder in der Sippe mit den großen Opfergaben einverstanden war, die sie der Feuergöttin Itina zukommen ließ. Vor allem die Jäger nicht, was auch verständlich war, denn sie setzten ihr Leben ein, um die Sippe mit Fleisch zu versorgen.

Als Una aus der Höhle trat, verneigten die Jäger sich tief. Daß sich Ako als erster wieder aufrichtete, entging ihr keineswegs, auch wenn sie ins grelle Sonnenlicht blinzelte und so tat, als sehe sie es nicht.

»Ich höre, Itina hat euch Jagdglück verliehen, was habt ihr erlegt?«

Ako trat vor: »Ich habe diesen schönen Höhlenbären getötet und bringe ihn dir, Ehrwürdige, zur gerechten Verteilung.«

Una runzelte die Stirn.

»Warum erwähnst du das? Bin ich nicht bekannt für meine Gerechtigkeit? Alle scheinen das zu wissen und anzuerkennen, nur du nicht, Ako. Ja, es ist ein schönes Tier, jung und fett. Da wird die Göttin sich freuen! Wir haben sie sehr lange warten lassen, viel zu lange. Wo sind die anderen?«

»Die jagen noch «, sagte Ako.

»Dann säumt nicht länger, ihr Männer! Geht wieder an die Arbeit, wir brauchen mehr, viel mehr! «

Ako blieb stehen und blickte die Alte erstaunt an.

»Aber du kennst doch den alten Jägerbrauch, Ehrwürdige. Wer ein großes Tier erlegt hat, für den ist die Jagd zu Ende. Es ist ungehörig, an einem Tag das Glück zweimal herauszufordern. Kein Jäger tut das!«

»Was ungehörig ist, entscheide ich!« krächzte die Alte böse. »Ihr habt tagelang nicht gejagt und somit auch kein Glück beansprucht. So könnt ihr heute nachholen, was ihr versäumt habt.«

»Wir kehren zurück«, sagten Akos Jagdgenossen eilfertig, doch sie zögerten noch, um abzuwarten, ob er sich ihnen anschließen würde.

»Ich bleibe! « sagte Ako fest, »geht ihr nur zu den anderen, ich wünsche euch so viel Glück wie ich es hatte.«

»Du gehst also nicht?« fragte Una zornig.

»Nein, Ehrwürdige, ich gehe nicht. Warum soll ich ohne Not einen alten Brauch verletzen?«

»Ohne Not, ohne Not!« keifte die Alte, hob ihren fetten Arm und wies auf den Feuerberg.

»Da! Schau hinauf! Itina schnaubt vor Wut! Heute nacht hat sie im Traum zu mir gesprochen, daß sie den feurigen Strom schikken wird, falls sie nicht bald – sehr bald! – die gebührenden Opfer erhält. Sie wird ihren schrecklichen Schoß öffnen und Feuer gebären!«

»Mag sein«, sagte Ako, »doch wenn die anderen Jäger zurück sind, wird es viel Beute geben, und die Göttin wird ihren gebührenden Anteil erhalten.«

Una wackelte erregt mit ihrem Kopf.

»Ihren gebührenden Anteil ... Was verstehst du davon, was habt ihr Männer mit diesen Dingen zu schaffen?«

»Doch recht viel«, meinte Ako mit leisem Spott. »Wir erlegen das Wild, bringen es dir vor die Höhle, und junge Männer sind es, die es zum Haus der Göttin tragen. Warst du jemals oben, wo deine Freundin Itina haust?«

»Das geht dich nichts an, Ako. Du wirst frech, und ich mag das nicht. Es ist unter meiner Würde, mich mit dir zu streiten. Ich erteile dir den folgenden Befehl: Du wirst dich morgen, noch vor Sonnenaufgang mit zwei Gehilfen auf den Weg zur Wohnung der Göttin machen, um ihr die besten Teile der Beute zu opfern, also Herz, Leber, Kopf, Tatzen und Hinterkeulen des Bären. Ihr werdet der Herrlichen die Segenswünsche Unas überbringen und sie demütig um Verzeihung bitten.«

Unas herrische befehlsgewohnte Stimme hatte Ako nicht eingeschüchtert. »Um Verzeihung wofür?« fragte er kurz.

Die Alte, schon dabei, in die Höhle zurückzugehen, wandte sich unwillig um.

»Wofür?« wiederholte sie höhnisch. »Für euer langes Säumen natürlich, du Dummkopf! Es ist schon schlimm, daß man euch Männer immer alles genau erklären muß – wie den Kindern!«

Una verschwand und ließ einen zornerfüllten Ako zurück, der ihr den Tod an den Hals wünschte.

Und nun saß er hier, über der Großen Schlucht, und versuchte, mit seinem Zorn, seiner Empörung fertig zu werden. Wollte er Lin nicht verlieren, so blieb ihm nichts anderes übrig, als morgen den langen beschwerlichen Weg zum Gipfel emporzusteigen, beladen mit den besten Stücken des von ihm erlegten Bären. Üblicherweise sandte Una nur kräftige Knaben hinauf, die noch keinen Bart hatten und deren Stimme noch nicht umgeschlagen war. Ausgewachsene Männer, so meinte sie, würden die Göttin nur beleidigen mit ihren wüsten Bärten, den rauhen Stimmen und dem Bocksgeruch.

Ako mußte lachen, wenn er an diese Worte dachte. Als ob sie nicht selber stinken würde, die alte fette Una, die schon in ihren Fellen verfaulte. Aber dieser trägen Kröte war jeder Schritt zuviel, sie würde schon nach wenigen Schritten tot umfallen. Ako erfreute sich an diesem Gedanken und sprach ihn mehrmals laut aus: »Tot umfallen! Tot umfallen!«

Und das erleichterte ihn ungemein. Fröhlich sprang er die letzten Schritte hinab und stand am Ufer des schmalen Flusses, der sich seit Urzeiten seinen Weg durch den Fels erkämpft hatte. Er kauerte sich nieder und bewunderte wie stets die seltsamen Steinschichtungen, die hoch in den Himmel ragten und an gebündelte Felle erinnerten, oder an die Streifen von Dörrfleisch, die vor der Wohnhöhle zum Trocknen aufgehängt waren. Vögel nisteten in den steilen Felswänden, kreisten in der düsteren, vom Rauschen des Wassers erfüllten Schlucht.

Von dieser Stelle aus war der Feuerberg nicht zu sehen, hier war die Feuergöttin ausgeschlossen, hier endete ihre Macht. Gerade darum liebte Ako diesen Ort, hier fühlte er sich frei und unbeobachtet, es war seine Zuflucht, Itinas Feueratem und Unas herrische heisere Stimme drangen nicht in diesen Bereich. Freilich, es war keine Zuflucht für immer, sondern nur für kurze Zeit, und bald mußte er wieder hinauf, wo Una und Itina, die großen Mütter, das Geschick der Sippe bestimmten.

In der Großen Schlucht hatte Ako so manche Entscheidung getroffen, und jetzt verstärkte sich in ihm der Entschluß, von hier wegzugehen, Itinas tödlichem Atem zu entfliehen und woanders ein neues, freies und unbedrohtes Leben zu beginnen – mit Lin, der sanften braunäugigen Lin.

Ako kletterte den steilen Weg wieder hinauf und erreichte die Höhle gerade, als seine Genossen von der Jagd zurückkehrten. Auch für sie war es ein erfolgreicher Tag gewesen. Sie schleppten einen Hirsch, etliche Wildziegen, Kaninchen und Vögel herbei, und bald stand die ganze Sippe bewundernd und lobend vor der reichen Beute.

Ako versuchte, in Lins Nähe zu gelangen, ohne Unas oder Elis Aufmerksamkeit zu erregen. Doch niemand schien auf ihn zu achten, und als er hinter Lin stand, flüsterte er ihr zu:

»Bald ist es soweit! Bist du bereit wegzugehen?«

Lin rührte sich nicht, gab nicht zu erkennen, ob sie seine Worte verstanden hatte. Er berührte leicht ihre runde warme Hüfte und fühlte, wie sie den Druck erwiderte. Ihre Zustimmung erfüllte ihn mit Freude und Stolz. Gerne hätte er seinen Triumph laut verkündet, doch er zwang sich zu Ruhe und Bedachtsamkeit. Nur nichts anmerken lassen! Wenn die Alte mißtrauisch wurde, konnte sie alles zunichte machen.

Langsam entfernte sich Ako von Lin und mischte sich unter seine Jagdgenossen. Wenig später entdeckte ihn dort Unas mißtrauischer Blick, und die Alte dachte zufrieden: Dich werde ich auch noch zähmen, Jäger Ako, du wirst mir aus der Hand fressen wie die anderen, verlaß dich drauf!

Bei der ersten Morgendämmerung brachen sie auf, Ako und seine beiden Begleiter. Er kannte den Weg, denn es war gar nicht lange her, da mußte er, der hellstimmige und bartlose Knabe, mit Gleichaltrigen die Opfergaben hinaufschleppen. Daß er nun als erwachsener Mann selber hinaufgehen und der Göttin die eigene Beute darbringen mußte, war eine beispiellose Demütigung. Doch er tat es für Lin, für sie spielte er den Gehorsamen, um die Alte zu täuschen – aber er spielte ihn nur.

Als die Sonne aufging, hatten sie schon ein gutes Stück Weg zurückgelegt. Das Morgenlicht umfing die Gipfelkrater mit einem goldenen Schein. Ako blieb stehen, legte seine Last ab und blickte hinauf. Die anderen taten es ihm gerne nach, denn die Opfergaben waren schwer, und den beiden taten schon die Muskeln weh, doch das hätten sie vor dem Älteren nie zugegeben.

Ako blickte lange auf den in Stößen hervorquellenden Rauch – Una nannte es den ›Atem der Göttin‹ –, doch ihm schien, als hätte sich etwas verändert.

»Fällt euch nichts auf?« fragte er seine Begleiter und wies auf den Gipfel.

»Es ist – der Rauch ist stärker geworden ...«, sagte der eine zögernd.

»Nicht nur stärker«, sagte Ako, »auch anders. Sonst war er ruhig und regelmäßig, jetzt kommt er in Stößen, als sei Itina außer Atem geraten.«

»Oder zornig?« meinte der andere.

»Zornig? Mag sein. Ich aber glaube, sie will uns warnen. Sie will damit sagen: kommt nicht näher, ihr betretet meinen Bereich.«

»Una sagt, sie mag erwachsene Männer nicht.«

»Warum schickt sie dann mich hinauf?« brummte Ako und faßte einen Plan. Er wartete, bis die beiden zwanzig Schritte voraus waren und ließ dann in aller Stille das als Wegzehrung mitgenommene Dörrfleisch in eine Schlucht fallen.

Sie hatten jetzt das baumlose Gebiet erreicht, das zunehmend von schwarzen Lavaströmen bedeckt war, deren mächtige Brokken sich manchmal zu wunderlichen Gebilden türmten. Da gab es die seltsamsten Gestalten von Menschen, Tieren und Pflanzen: bucklige Greise, aufgerissene Wolfsrachen, verkrüppelte Bäume. Das war eine unheimliche Welt aus schwarzem Stein, von der schrecklichen Itina geschaffene Wesen, um Eindringlinge abzuschrecken. Zudem wurde der Weg immer schwieriger. Doch Ako gönnte den beiden keine Ruhe. Sie taumelten unter ihrer Last vor ihm her und keuchten wie alte Eber. Da stolperte der eine, fiel hin, und Ako lief sofort hinzu und half ihm auf.

»Die Sonne steht schon fast auf Mittag, wir machen eine Rast und essen etwas.«

»Ich bin nur vor Hunger hingefallen«, versuchte der Gestürzte zu scherzen.

»Das Dörrfleisch ist weg!« rief Ako entsetzt. »Ich trug es hier am Gürtel –«, er sah sich hilflos um, »und muß es irgendwann verloren haben.«

Ako wußte, wie hungrig die beiden nach dem langen anstrengenden Weg waren, und gerade das wollte er ausnützen.

»Immerhin ist der Wasserschlauch noch da«, sagte er fröhlich und löste die Lederschnur am Verschluß der Ziegenhaut.

»Aber ich habe Hunger!« quengelte der eine, und der andere gab zu bedenken:

»Wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns, und zurück müssen wir schließlich auch ...«

»Da hast du wohl recht«, sagte Ako, »und deshalb meine ich, wir sollten uns etwas von dem Bären einverleiben. Vielleicht hat uns die Göttin das Dörrfleisch genommen, weil sie es kosten möchte? Sammelt ein wenig dürres Gesträuch, dann braten wir uns die Tatzen.«

Die beiden folgten ohne Widerspruch, ihr Hunger war zu groß. Zwar war es schwierig, hier noch etwas Brennbares zu finden, aber da und dort stand ein verdörrter Strauch oder eine ausgetrocknete Pflanze. Ako suchte ein windstilles Plätzchen, doch es kostete lange, mühevolle Versuche, bis er mit seinem Feuerstein den Zunder zum Glimmen brachte. Sie legten die Bärentatzen zwischen zwei Lavabrocken, aber das dürre Gesträuch brannte schnell nieder, und so verzehrten sie das Fleisch, hungrig wie sie waren, halb roh. Satt waren sie allerdings nicht, und so holte Ako noch die Leber hervor und teilte sie mit seinem Steinmesser auf.

»Die muß nicht gebraten werden, die schmeckt auch so.«

Die anderen nickten und verschlangen begeistert das blutige Fleisch.

»Wenn das Una wüßte!« sagte einer der Burschen nachdenklich.

Ako zuckte die Schultern.

»Wenn ihr den Mund haltet, wird sie es nie erfahren. Für die Göttin bleibt auch so noch genug: der Kopf, das Herz und die Hinterkeulen. Um die ist es besonders schade ...«

»Wie meinst du das?«

»Überlegt doch einmal. Früher hat es hier vermutlich keine Menschen gegeben, und wer hat Itina da gefüttert? Glaubt ihr vielleicht, das Wild ist freiwillig in den Krater gesprungen? Ich vermute, die Göttin braucht unsere Gaben nicht, sie kommt auch so zurecht.«

»Una wird schon wissen, was sie tut.«

Es lag Ako auf der Zunge zu sagen, bist du da so sicher, als ein seltsames dumpfes Grollen sie aufhorchen ließ. Sie blickten zum Gipfel und sahen, daß der ausgestoßene Rauch mit Feuer vermischt war, sahen eine rotglühende Masse aus dem Krater quellen.

»Die Göttin zürnt uns!« rief der ältere Bursche entsetzt und sprang auf. »Wir haben verzehrt, was ihr gehört, und nun speit sie Feuer, um uns zu strafen.«

»Sie hat auch früher Feuer gespien, hat mir mein Vater erzählt. Jedenfalls müssen wir umkehren, und zwar sehr schnell. Wir lassen die Opfergaben einfach liegen; wenn sie will, kann die Göttin sie holen.«

Die Burschen fügten sich stumm und machten sich eilig an den Abstieg.

»Paßt gut auf!« rief Ako ihnen nach, »hinunter ist es gefährlicher als hinauf!«

Er trank noch einen letzten Schluck, band den leeren Schlauch an seinen Gürtel und folgte seinen Begleitern.

Das Grollen vom Gipfel hatte sich verstärkt, der Krater warf große dunkle Brocken aus, der ganze Feuerberg schien jetzt leise zu beben. Ako holte die Burschen schnell ein. Die beiden hatten alle Vorsicht vergessen, sie sprangen und stolperten vorwärts, als sei Itina in eigener Person hinter ihnen her. Der Untergrund bestand jetzt aus körniger Lava, die bei jedem Schritt knirschte und sehr leicht unter den Füßen wegsackte. Es dauerte nicht lange und der Jüngere glitt aus, rutschte schreiend auf einen Abhang zu, krallte seine Hände verzweifelt in den Boden, doch da war nichts, kein Strauch, keine Pflanze, die ihm hätten Halt geben können. Vor Todesangst brüllend verschwand er in der Tiefe. Ako war stehengeblieben und blickte auf den anderen, der – starr vor Entsetzen – seinem Gefährten nachschaute.

»Jetzt hat die Göttin etwas Lebendiges«, sagte Ako, »jedenfalls kann sie zufrieden sein.«

»Wir hätten es nicht tun dürfen«, wimmerte der Bursche mit hoher weinerlicher Stimme, »wir haben Itina betrogen, und nun straft sie uns. Wäre nur Una hier, sie würde wissen, was zu tun ist, nur Una könnte uns retten! Wir müssen ihr alles sagen, dürfen nichts verschweigen, sonst straft Itina die ganze Sippe. Nur Una kann uns retten!«

Ako betrachtete ihn schweigend. Dieser Knabe war imstande und würde sich an den stinkenden Fellen der Alten ausweinen. Er ging auf ihn zu und sagte:

»Jetzt beruhige dich wieder! So etwas geschieht nun einmal, ich hoffe, du bist nun doppelt so vorsichtig. Hier ist es besonders gefährlich, wir werden uns an der Hand halten.«

Ako ergriff die Hand des immer noch zitternden Jungen und sagte: »Laß uns nachsehen, vielleicht können wir deinem Freund noch helfen.«

Er zog den Widerstrebenden mit sich, bis sie in die Nähe des Abgrunds kamen und versetzte ihm dann einen kräftigen Stoß. Der Bursche warf die Arme hoch, griff in die Luft und stürzte mit einem hellen Schrei kopfüber in die Schlucht.

»Es ging nicht anders«, sagte Ako leise, doch er fühlte kein Bedauern. Das war immer noch besser, als von einem Berglöwen zerfleischt oder von einem Nashorn aufgespießt zu werden – oder im Feueratem Itinas zugrunde zu gehen.

Es dämmerte schon, als Ako die Höhle erreichte und die ganze Sippe vor dem Eingang versammelt fand.

»Ako!« hörte er schon von weitem Unas heisere Stimme. Eine Gasse öffnete sich, und während er vor die Sippenführerin trat, sah er sich um und fragte:

»Sind meine Begleiter schon zurück? Ich sehe sie nicht ...«

»Ich dachte, sie kämen mit dir.«

»Nein, ehrwürdige Mutter. Als der Feuerberg – als Itina ihren rotglühenden Atem ausstieß, warfen sie ihre Last weg und ergriffen die Flucht. Ich dachte, sie seien längst zurück.«

»Was hast du mit den Opfergaben gemacht?«

»Ich weihte sie Itina und warf sie in eine Schlucht. Wegen des austretenden Feuerstroms konnte ich ohne Gefahr nicht mehr höhersteigen.«

Ako beobachtete die Alte genau und sah sie zum ersten Mal ratlos. Sie blickte hilfesuchend auf ihre Tochter, wackelte mit dem Kopf, hob ihre fetten Arme und sagte: »Ich weiß nicht, ob Itina dieses Opfer annimmt, und ob ihr Zorn bald ein Ende findet. Da! Schaut hinauf zu ihrem Wohnsitz – alles steht in Flammen.«

Inzwischen war es Nacht geworden, und die Hänge unterhalb des Gipfels waren von feurigen Strähnen geädert, die sich vielfach verzweigten und den Berg in ein glühendes Netz hüllten. Es regte sich kein Lüftchen, Büsche und Bäume standen wie erstarrt vor dem kommenden Unheil.

»Wir sollten den Ort hier verlassen, Itinas Zorn gefährdet uns alle.«

Ako sprach diese Worte ruhig und ohne Erregung, als mache er nur einen harmlosen Vorschlag. Daraufhin wurde es still wie in einer Grabeshöhle. Ako blickte auf Una.

»Verlassen?« wiederholte sie fassungslos, »einfach weggehen von hier, wo die Mütter und Urmütter unserer Sippe gelebt haben, wo die Gräber unserer Vorfahren sind? Wie denkst du dir das, Jäger Ako?«

»Da mußt du deine Freundin Itina fragen, ehrwürdige Mutter. Sie ist es, die uns vertreibt.«

»Sie vertreibt uns nicht!« sagte Una streng, »sie warnt uns nur!«

»Noch vor Morgengrauen wird der Feuerstrom unsere Höhle erreicht haben«, sagte Ako und trat zu den anderen zurück.

Sollte er sich mit der halsstarrigen, unbelehrbaren Alten herumstreiten? Es war nur eine Vermutung, die er aussprach, Una zum Trotz, doch er glaubte an das, was er sagte. Die Zeit war zu kostbar, er wollte leben, er wollte frei sein, er wollte Lin mit sich nehmen.

Nun redeten auf einmal alle durcheinander, bis Una Ruhe gebot.

»Wir bleiben hier!« rief sie laut, »die Feuergöttin will uns nur ein Zeichen geben. Es wird nichts geschehen, ich verspreche es euch!«

Ako hielt Ausschau nach Lin, und als er sie entdeckt hatte, drängte er sich zu ihr durch. Er packte ihre Hand und zog sie fort: »Es ist höchste Zeit«, sagte er, »bald wird der Feuerstrom uns einschließen, und dann gibt es kein Entkommen mehr. Una will nicht glauben, was geschieht, und wer ihr gehorcht, wählt den Tod.«

»Ich wollte zuerst nicht mit dir kommen«, sagte Lin, »wollte mich nicht schon jetzt von der Sippe trennen. Jetzt aber tue ich es, weil ich spüre, daß du stärker bist als Una – und vielleicht auch klüger.«

»Ich bin nicht klüger, aber ich traue meinen Augen. Was ich heute oben am Berg gesehen habe, war so schrecklich, daß meine Begleiter schreiend die Flucht ergriffen. Von hier sieht es harmlos aus, aber schau dir die erstarrten Lavaströme ringsum an! Einst haben sie dieses Gebiet erreicht, auch unsere Höhle besteht aus erstarrter Lava. Was damals geschah, kann jederzeit wieder geschehen. Die Fischer von der Küste, die bei uns manchmal ihren Fang gegen Fleisch tauschen, berichten von Feuerströmen, die zur Zeit ihrer Vorväter sogar das Meer erreicht haben. Die Göttin Itina schläft niemals, und wir Menschen werden immer ihrer Laune ausgeliefert sein. Ich will mit dir in einem Gebiet leben, wo sie keine Macht hat, wo wir und unsere Kinder sicher sind.«

»Das will ich auch! « sagte Lin entschlossen, und in ihren Augen spiegelte sich der rötliche Schein des Feuerstroms.

»Warte hier auf mich!« sagte Ako. Er nutzte die Verwirrung, holte Bogen und Speer aus dem Bezirk der Jäger und begegnete dabei Mat.

»Was hast du vor, was willst du tun?«

»Weg von hier, was sonst? Glaubst du, ich will mit der Alten zugrunde gehen? Die dummen Geschichten von der Feuergöttin, mit der sie befreundet sein soll, glaube ich schon lange nicht mehr. Verlasse diesen Ort, Mat, so schnell es geht! Du wirst mir für diesen Rat dankbar sein.«

Mat war der tüchtigste Jäger der Sippe und führte sie an, doch jetzt wußte er nicht mehr, wem er glauben und was er tun sollte. Ako ließ den Zögernden stehen und ging zu Lin zurück.

»Wir müssen warten, bis es Tag wird, aber inzwischen bringe ich dich an einen sicheren Ort.«

Ako hatte bei den erstarrten Lavaströmen die Beobachtung gemacht, daß sie sich verhielten wie das Wasser. Sie wichen jedem größeren Hindernis aus, teilten sich vor steil aufragenden Felsen und Hügeln, folgten den Taleinschnitten. Einen solchen, mit Kiefern bewachsenen Felskegel kannte Ako von seinen Jagdzügen, und in der vom Feuerschein erhellten Nacht fand er leicht den Weg. Dort kauerten sie sich nieder und konnten das Nahen des Feuerstroms beobachten. Jedes Hindernis mußte seiner Gewalt weichen, Büsche und Bäume neigten sich vor seinem Ansturm, die harzigen Kiefern flammten bei seiner Berührung auf, brannten wie Fackeln, brachen und verschwanden im feurigen Strom. Schließlich erreichte der glühende Fluß die Höhle von Unas Sippe, türmte sich funkensprühend vor ihr auf, füllte und durchdrang sie, floß zu beiden Seiten weiter und wälzte alles nieder, was aufrecht stand.

So mancher, der Unas Vorhersage mißtraut hatte, konnte sich retten, doch die meisten gingen in der Höhle mit ihr zugrunde oder fanden auf einer zu späten Flucht keinen Ausweg mehr und wurden vom Feuerstrom eingeschlossen.

Lin und Ako zogen in vielen Tagesreisen nach Süden, bis sie eine grüne und wildreiche Ebene in der Nähe des Meeres erreichten. Hier stießen sie auf Siedler, die nicht in Höhlen, sondern in steinernen Rundhütten lebten, Nutzpflanzen anbauten und zahme Tiere hielten. Diese Menschen begegneten den Neuankömmlingen freundlich und aufgeschlossen. Ako, der geschickte Jäger, war ihnen sehr willkommen, und mit seiner Beute konnte er eintauschen, was ihm und Lin zum Leben fehlte. Von hier war der Feuerberg nur bei ganz klarem Wetter in der Ferne zu erkennen, doch niemand beachtete ihn; für diese Menschen hatte er keine Bedeutung.

Akos Frau, die sanfte Lin, gebar ihm sieben Kinder, von denen zwei das Erwachsenenalter erreichten. Sie und ihre Nachkommen lebten viele Generationen in der grünen fruchtbaren Ebene und mischten sich mit den ständig zuströmenden Neusiedlern aus dem Osten, die nach langer kühner Seefahrt die sizilischen Ufer erreichten.

Die Flucht des Daidalos

Kapitel 1

Da war ihm ja ein kostbarer Vogel ins Netz gegangen! Der König war allein; er gestattete sich ein zufriedenes Händereiben und grinste wie ein Händler, der einen Kunden aufs Kreuz gelegt hatte.

König Minos von Kreta war beim Volk beliebt, denn er war gerecht und sorgte dafür, daß die Unfreien und Besitzlosen nicht zu sehr unterdrückt wurden. So lange er ohne Leibwache durch die Menge auf den Markt gehen konnte, saß er sicher auf dem Thron und brauchte die Macht der alten und einflußreichen Familien nicht zu fürchten. Die waren keineswegs davon beeindruckt, daß er sein Geschlecht von Zeus und der Prinzessin Europa herleitete. Wenn dies bei großen Empfängen mit seinen Titeln verkündet wurde, machten diese Herren nur steinerne Gesichter, und Minos konnte sich denken, was sie sich hinter seinem Rücken zuflüsterten: ›Das kann jeder behaupten! Zeus ist schließlich der Vater der ganzen Menschheit ...‹. Den König störte das nicht. Er hatte überall seine Getreuen und war fest davon überzeugt, daß ihm bereits die Vorbereitungen zu einer Verschwörung nicht verborgen bleiben konnten.

Er klatschte kräftig in die Hände.

»Ist Daidalos gut untergebracht? Hat er alles, was er braucht?«

»Ja, Herr, ihm wurden die besten Gästezimmer gerichtet, die nach Norden, die so schön kühl sind, mit dem Blick aufs Meer, und ...«

»Ja, ja, ist schon gut! Verschwinde jetzt, und laß mir einen Krug Wein bringen – einen jungen, hörst du!«

Die alten schweren Weine trank der König nur am Abend beim Symposion; untertags – wenn überhaupt – bevorzugte er die jungen leichten. Jetzt war ihm nach Wein zumute, und als er den ersten Becher getrunken hatte, ließ er sich das Gespräch mit Daidalos noch einmal durch den Kopf gehen.

Ein vornehmer Fremder bitte um sein Gehör, hatte es am Morgen geheißen. Doch so geborgen sich der König auf dem Marktplatz seiner Hauptstadt fühlte, so mißtrauisch war er Fremden gegenüber. So umgab die Leibwache seinen Thron, als er den Gast empfing.

»Daidalos aus Athen, Sohn des Metion? Der berühmte Daidalos? « fragte der König verblüfft, als der Gast sich vorgestellt hatte.

Der eher unscheinbare, schlanke und mittelgroße Mann – er mochte um die dreißig sein – lächelte fein.

»Du beschämst mich, Herr. Daß mein Name über Athen hinausgedrungen ist, wußte ich nicht. Der Areopag in meiner Heimatstadt hat mich zum Tode verurteilt – so sehr schätzt man mich dort. Mir gelang die Flucht, und nun bin ich hier.«

»Zum Tode verurteilt?« fragte Minos verwundert. »Den fähigsten Bildhauer, Baumeister und Erfinder in ganz Hellas will man hinrichten? Bringt einen Hocker für Meister Daidalos!«

Der verbeugte sich und nahm Platz. Mit einem Wink scheuchte Minos die Leibwache und einige Höflinge hinaus.

»Wenn du mir davon berichten willst, wirst du es lieber ohne Zeugen tun wollen.«

»Du hast meine Gedanken erraten, Erhabener, und ich möchte dir gleich zu Anfang sagen, daß ich nicht ohne Schuld bin.«

Minos hob die Hände.

»Wer von uns ist das?«

»Du mußt wissen, daß ich mich stets bemüht habe, meine Kunst weiterzugeben, an Schüler zu vermitteln, was mir durch die Gnade der Götter zuteil wurde. Was gibt es Schöneres für den Meister, als zu wissen, daß begabte Schüler sein Werk fortführen?«

Da Daidalos schwieg, vermutete Minos, daß die Frage nicht nur rhetorisch gemeint war.

»Gewiß, gewiß – das ist bei den Königen nicht anders. Jeder will sein Werk durch Söhne oder Nachfolger fortgeführt sehen.«

»Nun, bei mir war es kein Sohn – Ikaros ist dafür zu klein –, sondern mein Neffe Talos, den ich mit Fug und Recht als meinen begabtesten Schüler bezeichnen konnte. Begabt, aber leider auch eitel – sehr eitel. Der Junge wollte mich in allem übertreffen, ruhte und rastete nicht und gab schließlich einige meiner Erfindungen als eigene aus. Ein Beispiel nur: Ich benutzte damals den Kiefer eines Sägefisches, um Holz in kleine Stücke zu schneiden. Schon lange hatte ich mir vorgenommen, dieses Werkzeug in Eisen nachzubauen, fand aber nie die Zeit dazu. Talos tat dies hinter meinem Rücken und gab sich als Erfinder dieses Schneideinstruments aus. Ich ließ ihm die Freude, schließlich war er mein Schwestersohn. Doch er trieb es immer bunter, und ich stand am Ende als einer da, der von seinem Schüler zu lernen hat, ja, von ihm übertroffen wird. Dabei – und das versichere ich dir reinen Herzens – hatte er alle Anregungen mir zu verdanken. Als er etwa die Töpferscheibe um einiges verbesserte, tat er es nach einer Zeichnung, die er in meiner Werkstatt fand. So kam eben der Tag, den ich, wenn es ginge, am liebsten aus meinem Leben tilgen möchte.

Talos und ich arbeiteten auf der Akropolis an der Ausbesserung des Athena-Tempels, als der Junge mich plötzlich anschaute und sagte: ›Wenn ich es recht bedenke, kann ich schon jetzt mehr als du!‹ Kein Meister braucht sich so etwas von seinem Schüler anzuhören, doch ich beherrschte mich und fragte: Woraus schließt du das? Der Junge schaute mich spöttisch an – er hatte noch ein richtiges Milchgesicht – und sagte: Hinter deinem Rücken lachen sie schon über dich. Du arbeitest lange und umständlich, hast keine neuen Einfälle, wendest mehr Zeit auf, etwaigen Fehlern nachzuspüren, als Neues zu schaffen – schau dich doch um! Von den acht neuen Statuen hast du drei gemacht, während ich schon bei der fünften bin.‹

›Dafür sehen sie auch entsprechend aus!‹ sagte ich zornig und stieß Talos beiseite, um mein Maßband aufzuheben, das hinter ihm lag. Ich wollte ihm durch Nachmessen beweisen, wie sehr er sich vertan hatte, doch ich vergaß, daß wir nicht am Boden standen, sondern auf einem hohen Gerüst. Durch meinen Stoß kam Talos ins Wanken, ich wollte ihn noch stützen, festhalten, doch da stürzte er schon kopfüber hinab. Er war sofort tot.

Vor dem Areopag beteuerte ich meine Unschuld, doch niemand glaubte mir. Dabei hätte ich meine rechte Hand gegeben, um Talos wieder lebendig zu machen, doch wem das Schicksal den Lebensfaden abschneidet, der muß ins Schattenreich. Ich sollte für diesen Unfall mit dem Leben büßen, aber da spielte ich nicht mit! Du glaubst mir doch, daß ich kein Mörder bin?«

König Minos glaubte ihm kein Wort; er traute es dem Daidalos ohne weiteres zu, aus Eifersucht seinen begabten Neffen beseitigt zu haben. Außerdem hielt er die meisten Athener ohnehin für Lügner. Seit sein Sohn Androgeos in Attika unter verdächtigen Umständen gestorben war, mochte er sie noch weniger. Ihre Feinde waren seine Freunde, und er beschloß, dem Daidalos zu glauben.

»Du – ein Mörder? Künstler können keiner Fliege etwas zuleide tun, das weiß doch jeder. Die Athener hätten besser dran getan, deinen Worten zu glauben. Sie haben in dir einen großen Schatz verloren.«

Daidalos kam noch immer nicht von dem Gedanken los.

»Einen Unschuldigen zu verurteilen! Ich schwöre dir bei allem, was mir heilig ist, daß ich Talos’ Tod nicht gewollt habe!«

Da Daidalos nichts heilig war, konnte er diesen Schwur leichten Herzens leisten. Er glaubte nicht an die Götter, er glaubte nur an seine eigene Kraft, an sein Talent. Diese sah er als göttlich an – das Göttliche lag in ihm begründet, den Olymp hielt er für eine fromme Lüge.

»Die Athener würden dich gerne zurückhaben? Eine Belohnung wird ausgesetzt sein ...?«

Minos sagte das ganz harmlos, doch er beobachtete seinen Gast genau. In den scharfen, etwas unsteten Augen des Daidalos blitzte ein Zornesfunke auf, der gleich wieder erlosch.

»Kann sein«, sagte er ruhig, »doch hier bin ich sicher, und da du mich einen Schatz nanntest, so bitte ich dich, mich gut zu bewachen. Dafür lege ich dir mein Können, mein Wissen, meine Fähigkeiten zu Füßen. Verfüge darüber!«

Minos lächelte hintersinnig.

»Das werde ich, mein Lieber, das werde ich.«

In den folgenden Monaten bereiste Daidalos das Reich des Königs Minos, die Insel Kreta, lernte Städte wie Amnisos, Kydonia, Lyktos, Felaia und Malia kennen und eignete sich sehr schnell die Landessprache an, ein seltsam altertümliches, schwer verständliches Dorisch.

Daidalos schlug vor, die Befestigungsanlagen der Hauptstadt Knossos zu verstärken, die von einem Erdbeben schwer beschädigt waren, doch Minos winkte ab.

»Wir sind hier nicht auf Hellas mit seinem ewigen Hader. Kreta liegt zu abseits, hier hat es niemals Kriege gegeben, und wenn ein fremdes Schiff anlegt, kannst du gewiß sein, daß sie mit uns nur Geschäfte machen wollen. Krieg ist hier kein Thema, mein Lieber. Die alten Befestigungsanlagen stammen aus einer Zeit innerer Zwiste, doch damit ist es vorbei. Das Volk liebt mich, mein Thron steht fest. Du wirst auch so genügend zu tun haben. Unsere Bauern und Handwerker benützen Werkzeuge wie vor tausend Jahren – schau sie dir an und laß dir dazu etwas Neues einfallen.«

Daidalos verneigte sich und wandte sich zum Gehen, doch der König hielt ihn zurück.

»Da ist noch etwas, mein Freund, eine sehr heikle Sache ...«

»Wenn ich dir dabei helfen kann ...?«

Minos, ein schwerer großer Mann, der den Freuden der Tafel sehr zugeneigt war und bei dem die Weinkrüge niemals trocken wurden, seufzte und ließ sich ächzend auf einem Sessel nieder.

»Du kennst Pasiphae, meine Gemahlin? Natürlich kennst du sie ... Sie war mir immer eine gute Frau, hat mir Söhne und Töchter geboren ... Nun, Androgeos ist bei den verdammten Athenern ums Leben gekommen, das weißt du ja. Ich habe sie bekriegt und besiegt, sie zahlen mir einen jährlichen Tribut – nicht der Rede wert übrigens –, also ... Was wollte ich eigentlich sagen?«

»Du sprachst von einer heiklen Sache, mein König, doch sie will offenbar nicht so recht ans Licht. Willst du ein andermal darüber reden?«

Minos gab sich einen Ruck.

»Ich muß es dir sagen, Daidalos. Du bist kein Kreter, bist neutral, bist klug, vielleicht kannst du mir raten. Vor zwölf Jahren hat Pasiphae mir ein Kind, einen Sohn geboren, von dem bis heute nur seine taubstummen Wächter wissen, daß es ihn gibt. Ein Kind, sagte ich, einen Sohn ... Doch das ist nicht die volle Wahrheit, in Wirklichkeit ist es ein Ungeheuer, ein Dämon ... Die Götter haben uns da einen Streich gespielt, mir und Pasiphae, und ich habe den Fehler gemacht, die Mißgeburt nicht gleich töten zu lassen. Ich hätte es tun sollen! Es ist eine Art Hydrocephalos, der Kopf war schon bei dem Dreijährigen so groß wie bei einem Kalb. Zudem ist er oben an beiden Seiten gebuckelt, als würden dort Hörner herauswachsen. Und erst die Augen! In ihnen lauert alle Bosheit dieser Welt. Er hat schon vier seiner Wächter getötet – sie mit bloßen Händen erwürgt, ihnen den Hals aufgebissen und ihr Blut getrunken. Nun, da er zwölf geworden ist, wird keiner mehr mit ihm fertig. Er besitzt die Stärke von drei Männern, verschmäht alles Gekochte, Gebratene und Gewürzte – ist mehr Tier als Mensch.«

»Hast du ihm einen Namen gegeben?«

»Nein, dieses Unglückswesen ist namenlos geblieben. Ich glaube, es wäre an der Zeit, es töten zu lassen. Aber Pasiphae liebt ihn! Kannst du dir das vorstellen – sie liebt dieses Ungeheuer! Dabei hat er ihr fast den Leib zerrissen, als sie ihn gebar. Schon während der Schwangerschaft klagte sie dauernd über Schmerzen und Unwohlsein, hatte schreckliche Träume ... Trotzdem habe ich mich entschlossen, das Scheusal töten zu lassen. Es ist namenlos, hat eigentlich nie existiert. Vorher aber sollst du es sehen.«

Nur von einem stummen Leibwächter begleitet stiegen sie hinab in ein tiefes Verlies. Der große offene Kerker war durch ein mächtiges Eisengitter geschützt. Aus einem schrägen Lichtschacht kam genügend Helligkeit, um deutlich zu erkennen, was hinter den Gitterstäben schnaubend hin und her lief.

»Ich kann keine Fackeln anzünden lassen, denn er fürchtet das Feuer und verkriecht sich dann sofort.«

Aus dem Raum kam ein Geruch nach Raubtier, nach Kot und Urin. Der König winkte Daidalos näher heran.

»Du mußt etwa eine Elle Abstand halten. Er ist tückisch wie eine Schlange.«

Als seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah Daidalos in aller Deutlichkeit, was sich hinter dem Gitter bewegte. Als das Wesen die Besucher bemerkte, blieb es stehen und trat schwankend näher. Das Scheusal war am ganzen Körper behaart, Arme und Beine waren kurz und krumm geraten, doch sie barsten vor Muskeln. Das voll ausgebildete Geschlecht hing herab wie eine schwere Frucht, halb vom zottigen Fell bedeckt, viel zu groß für einen Zwölfjährigen. Dann der Kopf, dieser schreckliche Kopf. An ihm war nichts Menschliches. Über den dicken Wulstlippen saß eine breite aufgestülpte Nase, eher eine ständig witternde Tierschnauze. Die kleinen tückischen Augen standen etwas seitlich und darüber wölbte sich der mächtige Schädel, hoch und kantig, von struppigen, in die Stirne fallenden Haaren bedeckt. Wie der König es geschildert hatte, ragten an der Schädeldecke zwei daumendicke Beulen heraus, so als müßten später Hörner durchbrechen.

Daidalos schauderte es. Er blickte das Wesen lange an und dachte: bei diesem Anblick möchte man fast wieder an den Olymp glauben, denn die Bosheit, ein solches Untier zu schaffen, können sich nur die Götter leisten.

»Wozu rätst du mir? Soll ich ihn töten lassen?«

Wie ein Blitz kam die Erkenntnis über Daidalos, daß sogar dieses Wesen zu etwas nütze sei.

»Nein«, sagte er ruhig, »dazu rate ich dir nicht. Das da ist weder Mensch noch Tier – mache es zu einem Gott!«

Minos wich erschreckt zurück.

»Du lästerst, Daidalos. Wie sollte das geschehen, und welchen Sinn hätte es?«

»Hier kann ich nicht reden – der Gestank, die schlechte Luft ...«

»Verzeih, mein Freund, begeben wir uns wieder in angenehmere Gefilde.«

Als sie in den Privaträumen des Königs vor einem Krug Wein saßen, entwickelte Daidalos seinen Plan.

»Du bist zwar beim Volk beliebt, mein König, doch den Reichen und Mächtigen bist du ein Dorn im Auge. Das ist kein Geheimnis, jeder weiß es. Noch hältst du sie im Zaum, noch beugen sie ihre Rücken. Doch beim geringsten Anzeichen einer Schwäche werden sie versuchen, dich vom Thron zu stoßen –«

Minos hob die Hand, um etwas zu sagen, doch Daidalos redete weiter.

»Ich sagte versuchen, mein König, und das ist vom Gelingen noch weit entfernt. Du bist ein Mensch, du bist sterblich. Wir werden deinen Sohn als mächtiges halbgöttliches Ungeheuer in einen Tempel sperren, er wird deinen Thron schützen und stützen, und einmal im Jahr wirst du ihm ein paar Menschen opfern. Am besten Söhne und Töchter aus den ersten Familien – zum Wohl des ganzen Landes. Sie werden dich fürchten, die Reichen und Mächtigen, das übrige Volk jedoch wird dich anbeten – mehr noch als bisher. Über den Halbgott läßt du verbreiten, daß Zeus deiner Frau seine Geburt im Traum prophezeit, ihr aber zwölf Jahre Schweigen auferlegt hat. Danach soll das göttliche Tier – oder der tierische Gott – zur Verehrung freigegeben werden. Doch er muß einen Namen haben ...«

Minos hatte sich die Vorschläge genau angehört und dachte bei sich: An Schlauheit und Tücke sind die Athener nicht leicht zu übertreffen. Dann sagte er:

»Der Kopf ähnelt dem eines Kalbes oder Widders. Was schlägst du vor?«

»Vielleicht Minotauros? Der Stier des Minos, das heilige und schreckliche Wesen, das Kreta vor seinen Feinden beschützt.«

»Minotauros ... Nun, das klingt nicht schlecht. Nur gefällt mir nicht, daß du ihm einen Tempel bauen willst. Man kann ihn doch nicht wie Zeus oder Apoll behandeln. Ich sehe schon, wie unser Göttervater die Stirn runzelt ...«

»Da hast du recht, mein König. Was dem Zeus erlaubt ist, steht noch lange nicht dem Minotauros zu. Ich habe auch nicht an einen Tempel im üblichen Sinn gedacht – mehr an ein Freigehege, eine Kultstätte, die den Halbgott sicher einschließt und ihn zugleich der Verehrung des Volkes preisgibt. Sie müssen ihn nicht sehen, sie sollen aber wissen: Dort hinter diesen Mauern ist ein heiliger Ort, nämlich die Wohnung des Minotauros. Es wird übrigens nicht schaden, wenn sie ihn von Zeit zu Zeit brüllen hören.«

Minos schmunzelte.

»Das wird er gewiß tun. Ich bin mit deinen Vorschlägen einverstanden, mein Freund. Errichte dem Minotauros eine Wohnung.«

Daidalos aber baute eine Art Labyrinth, ein Gehege mit Erdwällen, Mauern, Buschwerk und Bäumen, auf einem Hügel bei Knossos, und er baute es so, daß der Minotauros genügend Freiraum zum Leben hatte, doch niemals daraus entfliehen konnte. Der einzige Zugang zu dem Labyrinth lag verborgen in einer Höhle und wurde Tag und Nacht bewacht.