Skinwalker - E.F. v. Hainwald - E-Book
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E.F. v. Hainwald

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Beschreibung

»Realität ist doch nur eine veraltete Tradition.« Der kalte Krieg fand niemals ein Ende – hinter einer freiheitlichen Fassade schwelten weiter Ideologien, Misstrauen und Machthunger. Rakus Interesse an der Welt begrenzt sich auf kaum mehr als die Nahrungsaufnahme, schließlich bietet das virtuelle Holonet das bessere Leben. Doch als seine Gefühle zu seinem digitalen Freund Noa immer stärker werden, will er ihm einen Körper verschaffen - einen aus Fleisch und Blut. In dem von der rücksichtslosen Gesellschaft gebrochenen Lenn findet er einen willigen Menschen, der bereit ist, seine Identität im Austausch für ein gutes Leben aufzugeben. Allerdings stellt sich schon bald die Frage, wer von den Dreien der eigentliche Nutznießer dieser Vereinbarung ist ...

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#1

 

Zeit schien stets darauf aus zu sein, uns zu verhöhnen. Wenn man sie genau im Auge behielt, dann dehnten sich Sekunden zu Ewigkeiten oder Stunden verwandelten sich in viel zu kurze Augenblicke – je nachdem, welchen Wert sie gerade hatten. Zeit machte sich rar, wenn sie wichtig war, und stand im Überfluss zur Verfügung, sobald man sie nicht benötigte.

Raku bestach sie, wo er nur konnte, und erschlich sich kostbare Momente, indem er Sonderschichten im Büro schob, um sie bezahlen zu können. Dennoch reichte sie niemals aus. Erst recht nicht jetzt. Immer wieder huschten seine Augen zu seinem Begleiter neben ihm.

Noas Finger spielten mit dem Kaffeebehälter. Seine große Hand ließ den Becher beinahe verschwinden. Ein Armband aus vielfarbigem Stoff wand sich um sein Gelenk und verbarg einen der silbernen Ringe, die jemanden wie ihn an Armen, Beinen und Brustkorb umschlossen. Er bemerkte Rakus Blick, prostete ihm zu und hob das Getränk an seine Lippen, um einen Schluck zu nehmen.

Schon diese kleine Bewegung wollte Raku um den Verstand bringen. Sein Magen schlug Purzelbäume, seine Waden kribbelten und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er war schon unzählige Male mit Noa spazieren gewesen. Warum warf es ihn ausgerechnet heute so aus der Bahn?

Er brauchte einfach mehr Zeit!

Vermutlich genau deswegen.

»Als du gesagt hast, dass du mich heute auf diese Weise treffen möchtest, hätte ich nicht erwartet, dass du mit mir durch die Innenstadt spazierst. So viele Leute.« Noa hob spielerisch einen Mundwinkel und deutete mit einer Handbewegung auf die unzähligen Touristen, die sich durch die Läden wälzten.

Die breite Allee war gesäumt von hohen Ahornbäumen. Die Sonne glitzerte auf den in einer leichten Brise wehenden Blättern, der Duft von Köstlichkeiten in den Snack-Wägen wehte zu den beiden herüber und das Lachen der Menschen umgab sie wie ein Mantel aus Glückseligkeit. Ihre Gesichter waren voller Lebendigkeit, während sie den Moment genossen. Dieser Ort vibrierte vor Sorglosigkeit, war allerdings alles andere als geeignet für das, was Raku vorhatte zu tun. Aber genau deswegen, hatte er ihn dafür ausgewählt.

»Ich …«

Raku blickte auf seine Schuhe, rollte die Zehen ein und presste fest die Lippen aufeinander. Seine Ohren wurden heiß und die Handflächen feucht. Noa war nah und fern zugleich – das wusste er selbst ebenfalls ganz genau. Warum quälte er ihn dann noch so? Er hob seinen Blick und schaute seinem Begleiter in das Gesicht. In den Augen, ebenso blau wie seine eigenen, fand er jedoch keinen Hohn, sondern nur ehrliche Freude über den Moment.

Das war so typisch für ihn.

Genau das warf Raku regelmäßig aus der Bahn.

Jetzt spucks schon aus, mahnte er sich, drehte sich ganz zu Noa und stand stramm wie ein Zinnsoldat. Ein Überbleibsel des Höflichkeits-Drills aus seinem Elternhaus.

»Wir sind hier, weil ich beweisen will, dass ich es ernst meine«, antwortete er im schnellen Ton eines Soldaten, der auf die Anweisungen seines Offiziers reagierte. Dann wirbelte nach vorne und stakste weiter die Straße entlang, als hätte er starre Gelenke.

Noa hob seine dunklen Augenbrauen. Verwirrung huschte über seine etwas zu symmetrischen Gesichtszüge. Er kannte Raku in und auswendig, das war schließlich sein Job. Aber heute konnte er keine logische Schlussfolgerung finden, die sein seltsames Verhalten erklärte.

Schweigend liefen die beiden weiter. Raku wischte eilig mit dem Finger über seinem Kaffeebecher durch die Luft. Die Bezeichnungen der Geschmacksrichtungen scrollten ein paar Zentimeter über dem Deckel durch die Luft. Er tippte mit dem Zeigefinger gegen Pistazie, setzte den Becher an seine Lippen und kippte das Getränk hinter in seine Kehle, als wäre es hochprozentiger Schnaps, um sich Mut anzutrinken.

»Zwei Minuten«, säuselte leise eine Stimme in sein Gehör.

Raku zuckte erschrocken zusammen, verschluckte sich und begann heftig zu husten. Noa eilte aus Reflex zu ihm, klopfte auf seinen Rücken und schüttelte nur milde lächelnd den Kopf.

»Ich glaube, der Bodytalk war keine gute Idee«, meinte er.

Die Berührung zwischen den Schulterblättern überwand die unsichtbare Barriere, die in Rakus Vorstellung herrschte, und ließ ihn erschaudern. Sein glühender Blick suchte Noas. Der zog irritiert die Hand zurück, wühlte fahrig in seinem wirren, braunen Haar und seufzte. Er hatte eine Grenze überschritten.

Mir bleibt keine Zeit mehr! Rakus Gedanken überschlugen sich.

Es lag kaum mehr als eine Fußlänge zwischen ihnen. Seine Schulter berührte beinahe Noas Brust und seine Nähe schien sich durch den Stoff seiner Kleidung zu brennen. Seine Muskeln spannten sich schmerzlich an. Raku wusste, dass Noa niemals von selbst auf ihn zukommen würde und es allein an ihm lag, etwas zu unternehmen.

»Eine Minute«, plapperte erneut die fremde Stimme direkt in Rakus Gehör. Die Worte der Zeitansage verursachten drückende Übelkeit in seinem Bauch.

Neunundfünfzig.

Rakus Geist zählte unerbittlich die viel zu kurzen Sekunden. Sein Blick bohrte sich in den von Noa.

Achtundfünfzig.

Der bewegte sich keinen Millimeter weg. Er öffnete leicht seine Lippen und wollte scheinbar etwas sagen, schloss ihn jedoch wieder.

Siebenundfünfzig.

Rakus Blick heftete sich an Noas Mund. Er schluckte schwer.

Sechsundfünfzig.

Noas Blick schweifte seitlich auf den Boden. Er wollte Abstand nehmen.

Fünfundfünfzig.

Der Kaffeebecher knirschte, als sich Rakus Faust ruckartig fest darum schloss. Das heiße Getränk verbrühte ihm die Finger und tropfte auf den Asphalt. Er spürte es kaum.

Vierundfünfzig. Scheiße!

Als er seine Schulter senkte, sich zur Seite beugte und das Kinn reckte, trafen die warmen Lippen Noas auf seine.

Es war, als hätte ihn ein Blitzschlag getroffen.

Rakus Knie wurden weich, sein Herz schien sich kaum entscheiden zu können, ob es lieber stehen bleiben oder seine Rippen brechen wollte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und die Lider zusammengepresst, als würde er erwarten, von einem Bus überrollt zu werden.

Noch nie hatte er sich so hilflos gefühlt.

Doch als er spürte, dass sich Noa nicht abwandte, sondern ihm sanft Gegendruck gab und sich das Gefühl dieser Berührung intensivierte, begann sein ganzer Körper vor Glück zu zittern.

Doch plötzlich war da nichts mehr.

Kein heißer Kaffee an Rakus Hand.

Kein harter Asphalt unter seinen Sohlen.

Kein ziehender Wind im Haar.

Kein warmer Noa.

Stattdessen machte sich eine unbequeme Liege unter ihm bemerkbar. Der leicht beißende Duft von Desinfektionsmittel, das den Geruch alter Körperflüssigkeiten nicht ganz übertünchen konnte, kroch in seine Nase und ließ Rakus Augen tränen. Sein Körper wurde von allen Seiten leicht gepresst und das summende Geräusch der Geräte umhüllte ihn wie ein alter Mantel.

»Verdammter Mist«, nuschelte Raku mit rauer Stimme durch das Mundstück der Beatmungsmechanik, das seine Mundhöhle ausfüllte.

»Die gebuchte Zeit für Bodytalk ist abgelaufen. Bitte verlassen Sie die Kabine«, berichtete die digitale Stimme, die ihn bereits im Holonet an das nahende Ende der Dienstleistung erinnert hatte.

Raku seufzte. Der enge Anzug schnürte ihm jedoch derart den Brustkorb ein, dass es mehr wie ein Wimmern klang. Vielleicht war es das sogar. Er schob die VR-Brille auf die Stirn, zog den Tubus aus seinem Mund und richtete sich auf. Die Anschlüsse, die den reizübertragenden Anzug mit Energie versorgten, klickten leise, als sie sich automatisiert lösten. Raku stemmte sich ächzend mit den Ellbogen nach oben, öffnete den Reißverschluss vor seiner Brust und zog ihn bis zum Bauch hinab.

Seine blasse Haut war schweißnass. Atmungsaktiv waren die Dinger nicht. Das hatte allerdings technische Gründe, denn die körpereigene, salzige Flüssigkeit leitete die Reize des Anzugs direkt in seine Nervenbahnen. Außerdem gab es ein integriertes Zirkulationssystem, damit man Stunden im Bodytalk verbringen konnte, ohne etwas zu sich nehmen zu müssen – zumindest, wenn man es sich leisten konnte. Diese Art von Holonet war höllisch teuer.

Er legte die Hände vor sein Gesicht und atmete schwer. Warum hatte er nicht eher reagiert? Wieso hatte er nicht ein paar Minuten mehr gebucht? Was würde Noa nun von ihm denken?

»Danke für diesen überraschenden … Moment«, sprach eine ihm wohlbekannte, tiefe Stimme.

Raku richtete seinen Oberkörper ruckartig auf. Noa stand neben der Liege. Er fuhr sich mit dem Daumen abwesend über seine Unterlippe und blickte an ihm vorbei, als wäre er nicht ganz bei sich. Raku wollte etwas erwidern, doch der verträumte Blick aus Noas Augen gab ihm endgültige Sicherheit.

Raku war wirklich in ihn verliebt. Bis über beide Ohren.

Und Noa hatte ihn nicht von sich gestoßen.

Das hätte definitiv schlechter laufen können.

»Bitte verlassen Sie die Kabine, in wenigen Minuten wird die automatische Desinfizierung gestartet«, mahnte die automatische Stimme und zerstörte den innigen Moment.

Raku zuckte zusammen, blickte unwillkürlich entschuldigend nach oben zu der nicht vorhandenen Sprecherin und schob eilig den Anzug von seinen Schultern. Seine schweißnass glänzende Haut dampfte in dem klimatisierten Raum. Er rutschte von der Liege, packte das technische Kleidungsstück mit beiden Händen und wollte es schon von seinen Hüften schieben, als ihm plötzlich wieder bewusst wurde, dass Noa vor ihm stand. Er hob langsam den Blick und blinzelte ein paar Mal erschrocken, bevor nun auch seine realen Ohren rot anliefen.

Noa stopfte die Hände in die Taschen seiner bunt gemusterten Hose und schmunzelte.

»Ich muss leider los – du weißt ja: die Arbeit. Bis bald und melde dich, wenn du mich wiedersehen möchtest«, verabschiedete er sich, als würde nicht der Mann, der ihn eben noch einfach so geküsst hatte, fast nackt und nassgeschwitzt vor ihm sitzen.

Womit er technisch gesehen auch recht hatte.

Denn auf einmal war Noa einfach weg.

Raku starrte auf die Stelle, an der sich sein Freund gerade eben noch befunden hatte – nein, an dem er ihn gerade noch gesehen hatte. Und obwohl Noa niemals wirklich physisch hier gewesen war, so reichte sein Abbild jedoch, um diesen trostlosen Ort für Raku mit Leben zu erfüllen.

Er schüttelte heftig den Kopf, um wieder klar zu werden. Ihm wurde leicht schwindelig. Die Nachwirkungen des Bodytalks waren verwirrend für die Wahrnehmung des menschlichen Gehirns. Raku schob den Anzug seine Schenkel hinab, warf ihn in die Desinfektionsbox, trocknete sich flüchtig mit einem Handtuch ab und stand schon nach kurzer Zeit in seiner schwarzen Anzughose und einem nachtblauen Hemd in der Kabine. Während er flüchtig die Falten mit den Händen glättete, wanderte sein Blick über die vulgären Schmierereien an den Wänden der Bodytalk-Kabine, die teilweise die Sicherheitshinweise überdeckten.

Holos fummeln besser als Finger stand neben den Desinfektionsanweisungen. Geil wär', wenn du schön wärst umrahmte den stählernen Bezahlautomaten. Armes Würstchen/Fötzchen mit eindeutigen Skizzen diverser Geschlechtsorgane zeugte von der Gleichstellung der biologischen Geschlechter im Kreise idiotischer Kackbratzen.

Es gab keine Farben in diesem Raum, nur kaltes Metall und weißen Kunststoff. Rakus Hautfarbe wirkte seltsam deplatziert – zu lebendig.

Dieser Ort war öde, leer und viel zu real.

 

 

Die Hauptstraße glich der im Holonet. Unzählige Geschäfte säumten die Bürgersteige, hohe Ahornbäume mit dicken Stämmen und saftigen Kronen spendeten wohltuenden Schatten, der Himmel leuchtete in strahlendem Cyan. Etwas fehlte jedoch.

Menschen.

Die Straßen waren wie leergefegt, obwohl die Temperaturen frühlingshaft warm waren. Die wenigen Personen, die Raku entgegenkamen, waren gut gekleidet und die Frisuren geprägt von stilvoller Lässigkeit. Doch ihre Vielfalt fehlte ebenso, wie das ausgelassene Lachen, welches online so mitreißend gewesen war.

Die breiten Straßen und hohen Gebäude mit ihren polierten Glasfassaden wirkten wie die perfekten Küchen in einem Möbelverkaufshaus – nagelneu, gepflegt und leblos. So wie die Passanten, deren Blicke einander auswichen, als würde direkter Augenkontakt ihre dunkelsten Geheimnisse offenbaren.

Auch Raku starrte auf den Asphalt, über den er mit glänzenden, schwarzen Schuhen hinwegeilte. Obwohl er vor wenigen Minuten noch in dem beengenden Bodytalk-Anzug herumgelegen hatte, saßen seine kurz geschnittenen Haare tadellos und schimmerten in seidigem Pechschwarz. Sein Hemd war faltenfrei, die Hose mit symmetrischen Bügelfalten versehen. Heutzutage gab es keinen Grund mehr, nicht perfekt zu sein.

Es durfte ihn nicht geben.

Als Raku endlich aus dem Lift, dessen vier Seiten auf jeder Etage jeweils in einer schmalen Tür mündeten, direkt in seine Wohnung trat, atmete er auf. Mit einem Klicken schloss er sich hinter ihm und seine angespannten Schultern sackten leicht nach vorne.

»Daheim«, stöhnte er mit einer Mischung aus Erleichterung und Abscheu.