Slawa und seine Frauen - Felix Stephan - E-Book

Slawa und seine Frauen E-Book

Felix Stephan

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"1962 studierte meine Großmutter in Leningrad. Sie ging eine Beziehung mit einem ukrainischen Juden ein und wurde schwanger, mit meiner Mutter. Als die Eltern ihres Freundes erfuhren, dass ihr Sohn keine 17 Jahre nach dem Holocaust eine Deutsche geschwängert hatte, musste er die Stadt verlassen und nach Hause zurückkehren. Die beiden haben sich daraufhin nie wiedergesehen." Felix Stephan stammt aus einer ostdeutschen Familie, in der Parteitreue wichtiger war als persönliche Befindlichkeiten. So fand seine Mutter als Teenager heraus, dass ihr Vater nicht ihr Erzeuger war, aber erst als 51-Jährige tritt sie zusammen mit ihrem Sohn die Reise zum unbekannten Vater, Slawa Fahlbush, an. In der Westukraine angekommen, werden sie von der Familie des bereits verstorbenen Slawas mit offenen Armen empfangen. Und die neue jüdisch-ukrainische Verwandtschaft scheut weder Zeit noch Kosten, den einstigen Charmeur und erfolgreichen Psychiater Slawa im besten Licht zu zeichnen. Etwas zu perfekt für den Geschmack des ostdeutschen Enkels, der sich sein eigenes Urteil bilden möchte und Onkel Sanja in Israel aufsucht, um zu erfahren, wer sein Großvater wirklich war.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 256

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Felix Stephan

Slawa und seine Frauen

Das zweifelhafte Leben meines Großvaters

Knaur e-books

Über dieses Buch

»1962 studierte meine Großmutter in Leningrad. Sie ging eine Beziehung mit einem ukrainischen Juden ein und wurde schwanger, mit meiner Mutter. Als die Eltern ihres Freundes erfuhren, dass ihr Sohn keine 17 Jahre nach dem Holocaust eine Deutsche geschwängert hatte, musste er die Stadt verlassen und nach Hause zurückkehren. Die beiden haben sich daraufhin nie wiedergesehen.«

Felix Stephan stammt aus einer ostdeutschen Familie, in der Disziplin und Prinzipientreue wichtiger waren als persönliche Befindlichkeiten. So fand seine Mutter als Teenager heraus, dass ihr Vater nicht ihr Erzeuger war, aber erst als 51-Jährige tritt sie zusammen mit ihrem Sohn die Reise zum unbekannten Vater, Slawa Fahlbush, an. In der Westukraine angekommen, werden sie von der Familie des bereits verstorbenen Slawas mit offenen Armen empfangen. Und die neue jüdisch-ukrainische Verwandtschaft scheut weder Zeit noch Kosten, den einstigen Charmeur und erfolgreichen Psychiater Slawa im besten Licht zu zeichnen. Etwas zu perfekt für den Geschmack des ostdeutschen Enkels, der sich sein eigenes Urteil bilden möchte und Sanja, Slawas Sohn, in Israel besucht.

Inhaltsübersicht

MottoTeil einsDie erste Nachricht aus [...]Am nächsten Morgen schickten [...]Am nächsten Abend besuchten [...]Sofija Iwowna war eine [...]Am letzten Tag gab [...]Wir warteten mit der [...]Teil zweiDie Wochen vor unserer [...]Auf dem Heimweg kamen [...]In dem Jahr, das [...]Wie im letzten Jahr [...]Das Bild von Wjatscheslaw [...]Die SechzigerjahreDie SiebzigerjahreDie AchtzigerjahreDie Wohnung, in der [...]Teil dreiWas für eine Art [...]Die Autobahn, die Haifa [...]Ich hatte an diesem [...]Kostja lebte in einem [...]
[home]

»Do you want to make God laugh?

Tell him your plans.«

Sanja Falbusch

[home]

Teil eins

Die erste Nachricht aus der Ukraine erreichte uns am 1. Mai 2015. Wir saßen gerade in der Kellerbar des »Cliff Hotels« auf Rügen und feierten die Goldene Hochzeit meiner Großeltern in großer Runde. Weil im »Cliff Hotel« früher ausschließlich Kader der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands Urlaub machen durften, nennen es die älteren Inselbewohner bis heute umstandslos das »Stasi-Hotel«. Ich glaube, dass meine Großeltern auch deshalb in diesem Hotel ihre Goldene Hochzeit feierten, weil sie in der DDR selbst zur Parteielite gehörten und den Kommunismus bis heute auf eine tiefe, ehrliche Art vermissen. Hoffnungslos sind sie allerdings keinesfalls: Meine Großeltern sind der Auffassung, dass der internationale Sozialismus zurzeit nur eine Pause eingelegt hat, um sich neu aufzustellen und bald mit neuer Kraft zurückzukehren. An den Aufstieg Chinas knüpfen meine Großeltern große Erwartungen.

Als die Sowjetunion zusammengebrochen ist, haben meine Großeltern unter anderem das Privileg verloren, in den Westen zu fliegen, wann immer ihnen danach war. Heute können sie zwar immer noch in den Westen fliegen, aber es ist natürlich nicht mehr dasselbe. Sie verfügten auch deshalb über diese Reisefreiheit, weil die Regierung nicht einen Moment fürchten musste, dass sie möglicherweise nicht zurückkämen, schließlich gab es im Westen nirgendwo einen Staat, der ihnen auch nur annähernd den Rang eingeräumt hätte, den sie in der DDR genossen. In der Ahnenlinie meiner Großeltern tummeln sich kommunistische Widerstandskämpfer, die im nationalsozialistischen Deutschland noch Flugblätter verteilt haben, als die Sozialdemokraten schon lange nicht mehr zu sehen waren, und dafür in Konzentrationslagern gefoltert und getötet wurden. Aufrechte, sozialistische Aktivisten der ersten Stunde. Das galt nirgendwo auf der Welt so viel wie genau hier. Nach einer Tante meiner Großmutter war in der DDR eine Schule benannt, und der Legende nach soll sie Rosa Luxemburg persönlich getroffen haben. Auf dem Friedhof der Sozialisten liegt ihr Grab jedenfalls nur verbürgte dreizehn Meter von Rosa Luxemburgs Grab entfernt. Ich bin da gewesen, ich habe es selbst nachgezählt. Meine Großeltern waren nicht einfach Bürger der DDR. Für sie war die Existenz dieses Staates ein historischer Triumph.

Beim Mittagessen hatte mein Onkel feierlich unser gemeinsames Geschenk überreicht: eine viertägige Reise nach St. Petersburg. Mit den Kindern. Der erste gemeinsame Familienurlaub seit über dreißig Jahren. In die Stadt, in der sich meine Großeltern kennengelernt hatten, als sie noch Leningrad hieß. Es war ein gelungenes Geschenk. Die Übergabe leitete mein Onkel mit einer Rede ein, in der er die Stationen ihrer Ehe aufzählte und dann sagte: »Das muss man auch erst mal machen, würde ich sagen.«

Für öffentliche Reden ist in meiner Familie niemand besonders begabt, trotzdem werden immer welche gehalten, was ich mir nur so erklären kann, dass sich meine Familie gern an Protokolle hält. Seit meinen Großeltern ihr Land abhandengekommen war, hielten sie ihre offiziellen Empfänge gewissermaßen im Privatleben ab. Unsere Familienfeste erinnern deshalb immer ein wenig an Sitzungen des Zentralkomitees und verlaufen nach einem festen Schema: Meine Großeltern mieten einen völlig überdimensionierten Raum in einem bekannten ostdeutschen Hotel, die Familie versammelt sich um einen Tisch, der so groß ist, dass die Stühle einen Meter voneinander entfernt stehen, und ein männliches Familienmitglied hält eine ungelenke Ansprache. Dann werden die jüngsten Einschulungen, Abiturnoten, Promotionen und Beförderungen verkündet, und meine Großtante lässt Zeitungsausschnitte rumgehen, die sie in den vorangegangenen Wochen entdeckt, ausgeschnitten und in Klarsichtfolien abgeheftet hat und in denen es meistens um lokale Neuigkeiten aus Eisenhüttenstadt geht. Um seine Verbundenheit mit der Arbeiterklasse zur Schau zu stellen, lobt mein Großvater die Kellner den ganzen Abend so theatralisch, dass sie sich zweifellos fragen, ob er sich über sie lustig macht.

Zum Abendessen gingen wir in den Keller, wo es außer einem Tischkicker und einer Kegelbahn eine traditionelle Bierkneipe gab. Auf dem Esstisch stand bergeweise rohes Fleisch, das wir auf heißen Platten selbst braten sollten, wobei sich dichter Rauch entwickelte, der nirgendwohin abziehen konnte, weil wir ja in einer Kellerbar waren und es nur winzig kleine Fenster gab, die sich nicht öffnen ließen. Die Idee, hier unten Teppanyaki anzubieten, kam mir zutiefst ostdeutsch vor und machte mir sofort gute Laune. Wegen des Rauchs standen uns den ganzen Abend Tränen in den Augen, und um das Brennen auf der Netzhaut auszuhalten, tranken wir relativ viel, sodass wir ungewöhnlich offenherzige Gespräche führten. Das jedenfalls war in etwa die Lage, als auf dem Telefon meiner Mutter die erste Nachricht aus der Ukraine eintraf.

 

Als meine Mutter fünfzehn Jahre alt war, suchte sie aus einem vagen Verdacht heraus im Schreibtisch ihrer Eltern nach ihrer Geburtsurkunde. Dabei fand sie heraus, dass der Mann, der sich bis dahin als ihr Vater ausgegeben hatte und dessen Goldene Hochzeit wir gerade feierten, nicht wirklich ihr Vater war. In Wahrheit war sie das Ergebnis einer kurzen Beziehung, die ihre Mutter als ostdeutsche Medizinstudentin in Leningrad mit einem ukrainischen Juden namens Wjatscheslaw Falbusch hatte. Noch bevor meine Mutter zur Welt kam, ging die Beziehung allerdings in die Brüche, Wjatscheslaw Falbusch lernte seine Tochter nie kennen, und meine Großmutter fasste offenbar den Plan, die Geschichte für immer geheim zu halten. Wenig später lernte sie einen deutschen Studenten kennen und heiratete ihn, sobald es eben ging. Offiziell wollten die jungen Kommunisten zwar traditionell bürgerliche Vorstellungen von Familie, Ehe und der Rolle der Frau hinter sich lassen, in Wahrheit war es aber für eine alleinstehende Mutter auch dann nicht einfach, wenn sie eine Elite-Kommunistin war.

Mit ihrem Stiefvater kam meine Mutter schlecht aus. Sie stand ihre Jugend irgendwie durch, heiratete mit achtzehn den Jahrgangsbesten der Schule, weil ihre Eltern gegen diesen gelungenen jungen Mann nun wirklich nichts einwenden konnten, und zog zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu Hause aus. Mit zwanzig brachte sie mich zur Welt, mit zweiundzwanzig meine Schwester. Als sie sechsundzwanzig war, fiel die Mauer, und alle Vorstellungen darüber, wie ihr Leben verlaufen würde, waren für die Katz. So schnell und eifrig, wie sie konnte, eignete sie sich an, was man wissen musste, um im Westen zu überleben: Sie nahm bei einer Bank einen Kredit auf, kaufte ein renovierungsbedürftiges Haus am Stadtrand und flog für einen zweiwöchigen Roadtrip nach Kalifornien. Die Route führte von LA nach San Francisco, mit einem amerikanischen Mietwagen, von Hotel zu Hotel. Zwei Wochen lang fuhr sie auf dem Highway Number One nach Norden, eine Straße, von der der Reiseführer behauptete, es sei die schönste Straße der Welt, und sie war entschlossen, jeden Meter davon gnadenlos zu genießen. Links der azurblaue Pazifik, rechts die roten, steil aufsteigenden Santa Lucia Mountains.

Mit achtunddreißig ließ sie sich scheiden, mit dreiundvierzig zog sie nach Portugal, lebte drei Jahre in einer Wohnung am Atlantik und unterrichtete die Kinder neureicher Portugiesen an der Deutschen Schule, die ziemlich teuer war, aber nicht ganz so teuer wie die Englische Schule, wohin die alte Geldelite Portugals ihre Kinder schickte. Mit sechsundvierzig zog sie wieder zurück in die alte Ostberliner Vorstadtsiedlung. Sie renovierte das Haus und baute mehrmals den Garten um: Sie hob einen Teich aus, vergrößerte den Teich, schüttete den Teich wieder zu, entfernte das Hochbeet, fällte den Pflaumenbaum. Mit neunundvierzig wollte sie in die Berliner Innenstadt ziehen, von der mittlerweile die ganze Welt redete, und bot das Haus zum Verkauf an. Das Interesse junger Paare überraschte sie. Der Preis des Hauses stieg mit jedem Anruf.

Im Internet schaute sie sich Dreizimmerwohnungen an, die in den aufsteigenden Innenstadtbezirken Berlins lagen: Wohnungen mit Blick auf die Spree, mit zwei Balkonen, Fenstern bis zum Boden, mit Bars, Cafés, Kinos, Theatern direkt vor der Tür. Als sie die ersten Interessenten durch das Haus führte, sagte eine junge Frau: »Man sieht dem Haus an, wie viel Liebe und Arbeit Sie hier reingesteckt haben. Erlauben Sie die Frage, aber: Wieso wollen Sie es verkaufen?« Meine Mutter stellte fest, dass sie auf diese Frage keine Antwort geben konnte, die sie selbst überzeugt hätte, brachte die Hausführung mit großer Gastfreundlichkeit zu Ende und löschte die Anzeige.

 

Dass sie in all den Jahrzehnten nicht auf die Idee kam, ihren Vater ausfindig zu machen, hatte verschiedene Gründe: Zum einen hatte ihre Mutter erzählt, dass Wjatscheslaw Falbusch ein charakterloser Mann war, der sich nicht eine Sekunde um seine Tochter bemüht hatte. Er habe sie nie besucht, nie geschrieben, und Geld habe sie auch nie gesehen, weshalb meine Mutter froh sein solle, ihm nie begegnet zu sein. Viel entscheidender war allerdings, dass meine Mutter in ihrem ganzen Leben kein einziges persönliches Gespräch mit ihrer Mutter geführt hatte, dieses Gespräch aber unverzichtbar war, wenn sie mehr über ihren Vater herausfinden wollte. Schon der Gedanke daran war ihr so unangenehm, dass sie Magenkrämpfe bekam und sich jahrzehntelang vor einer Aussprache drückte.

Der Frankfurter Philosoph Franz Rosenzweig hat einmal sinngemäß geschrieben, dass ein Gespräch nur dann etwas bedeutet, wenn es unvorhersehbar verläuft und man selbst nicht weiß, was man sagen wird, weshalb zum Beispiel Platons Dialoge lediglich prätentiöse Aufsätze seien. Wenn meine Mutter mit ihrer Mutter sprach, verliefen die Gespräche immer nach dem gleichen Schema, und sie tun es im Grunde bis heute: Meine Großmutter lässt durchblicken, dass sie den Beruf der Lehrerin nicht für einen besonders anspruchsvollen Beruf hält und dass meine Mutter alle Anlagen gehabt hätte, aus ihrem Leben mehr zu machen. Meine Mutter versucht ihr anhand anschaulicher Beispiele zu vermitteln, dass es keinen Absolutheitsanspruch auf persönliches Glück gibt und nun einmal nicht jeder darauf aus sei, in eine willkürlich definierte Führungsebene aufzusteigen, nur weil er es theoretisch könnte. Viele ehemals erfolgreiche Manager seien zum Beispiel als Imker oder Landschaftsmaler zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich glücklich. Meine Großmutter stimmt der Idee allgemein zu und erkennt an, dass philosophische Bemerkungen wie diese einen gewissen Konversationswert haben. Nach einer kurzen Pause erzählt sie dann spontan und ohne erkennbaren Bezug zum bisherigen Gesprächsverlauf Anekdoten aus dem Leben der erwachsenen Kinder anderer, die es zu Geschäftsführern, Chirurgen oder Anwälten gebracht haben. Meine Mutter hört sich diese Geschichten über Beförderungen und Jahresgehälter und Aktienpakete aufmerksam an und versucht währenddessen herauszufinden, was sie mit ihrer konkreten Situation oder dem vorangegangenen Gespräch zu tun haben. Immer wieder aufs Neue stellt sie erst auf dem Heimweg fest, dass diese Beispiele in erster Linie die Enttäuschung zum Ausdruck bringen sollen, die meine Großmutter der Lebensführung meiner Mutter gegenüber nun einmal empfindet, die sie aber nicht offen ansprechen kann, ohne eine Eskalation zu riskieren, die möglicherweise dazu führt, dass ihre Tochter ein weiteres Mal den Kontakt abbricht.

Zwei Jahre hatte meine Mutter nicht mit ihren Eltern gesprochen. Als der Mann und die Kinder ausgezogen waren und sie allein in dem achtzig Jahre alten Haus mit wackeliger Elektrik und durchweichtem Dach saß und zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich, wirklich unabhängig war, entschloss sie sich, auch die letzte Verbindung zu ihrem bisherigen Dasein als fremdbestimmte Ehefrau, Mutter und Tochter zu kappen: Sie informierte ihre Eltern, dass sie keinen weiteren Kontakt wünsche und dass sie Bescheid geben werde, sollte sich daran jemals etwas ändern.

Nach Ablauf dieser zwei Jahre behandelten meine Großeltern meine Mutter zwar noch immer nicht wie eine Erwachsene, aber immerhin gingen sie sehr viel vorsichtiger mit ihr um: Sie machten sich nicht mehr ganz so ungeniert über ihren Traum lustig, die Welt im direkten Gespräch zu verbessern, schüttelten über ihren Kleidungsstil (Pullover, Jeans, keine Absätze) nicht mehr ganz so offen die Köpfe und hielten ihr nicht mehr ganz so direkt vor, wie unverantwortlich es gewesen war, dass sie ihre Kinder anhand gemeinsamer Abmachungen erzogen und auf Disziplinarmaßnahmen weitgehend verzichtet hatte. An der unerschütterlichen, demütigenden Selbstgewissheit meiner Großeltern hatte sich zwar nicht das Geringste geändert, aber sie brachten nach der Machtdemonstration meiner Mutter immerhin die Höflichkeit auf, ihre Seite der Geschichte anzuhören.

»Aber das sollte doch selbstverständlich sein«, sagte ich am Telefon zu meiner Mutter, als sie darüber nachdachte, die Kontaktsperre aufzuheben. »Wenn du ihnen etwas als Pluspunkt anrechnest, das eigentlich normales menschliches Verhalten sein sollte, machst du es ihnen viel zu einfach.«

»Für sie ist das nicht selbstverständlich.«

»Du lässt sie zu billig davonkommen. Du dürftest die Sanktionen erst aufheben, wenn sie sich wirklich und gründlich mit sich selbst auseinandergesetzt haben.«

»Sie leben in ihrer eigenen Welt. Wir werden sie nicht mehr ändern.«

»Sie haben es nicht verdient, dass du sie in Schutz nimmst. Das haben sie für dich nie getan.«

»Wenn wir von normalen Leuten sprechen würden, hättest du mit allem recht. Wir sprechen aber von meinen Eltern.«

Nachdem die Bedingungen für einen Waffenstillstand für beide Seiten akzeptabel waren, nahmen meine Mutter und ihre Eltern wieder diplomatische Beziehungen auf. Der Frieden war allerdings fragil und basiert bis heute darauf, dass ein Verhandlungspaket unangetastet bleibt, in dem sich vier Jahrzehnte gegenseitige Verständnislosigkeit und unausgesprochene Vorwürfe verbergen. Es ist eine komplizierte Konstruktion, und es bedeutet für alle Beteiligte viel Disziplin, den ganzen Laden nicht in die Luft fliegen zu lassen. Aus diesem Grund klingen ihre Gespräche, wie sie es tun: Weil sie einander bis heute nicht sagen können, was sie eigentlich sagen wollen, reden meine Mutter und ihre Mutter vor allem in Gleichnissen und allgemeinen Beispielen miteinander.

 

Als sie einundfünfzig war, wies ich meine Mutter darauf hin, dass sie langsam anfangen müsste, ihren Vater zu suchen, wenn sie ihn noch kennenlernen wollte. Er musste bereits über siebzig sein. Das sah sie ein. Sie atmete tief durch, traf sich mit ihrer Mutter, führte das lange aufgeschobene Gespräch und fand dabei alles heraus, was uns für die Suche zur Verfügung stehen würde: dass man den Namen ihres Vaters auf Kyrillisch ВЯЧЕСЛАВ ФАЛЬБУШ buchstabierte und dass seine Familie wahrscheinlich in Uschgorod im Südwesten der Ukraine gelebt hatte, vielleicht aber auch in Moldawien. An mehr wollte sich meine Großmutter einfach nicht erinnern.

Wir konzentrierten unsere Suche auf Uschgorod. Ich arbeitete mittlerweile als Journalist, weshalb meine Mutter annahm, dass ich über besondere Recherchefähigkeiten verfügte, von deren Existenz normale Menschen nicht einmal eine Ahnung hatten. Allerdings war ich Kulturjournalist und verdiente mein Geld vor allem damit, über Bücher oder Filme zu schreiben. Alles, was man dazu wissen musste, war wiederum für jeden frei zugänglich in anderen Büchern und Filmen vermerkt. Weil ich meine Mutter nicht enttäuschen oder vielleicht auch einfach nicht zugeben wollte, dass ich in keine besonderen Geheimnisse eingeweiht war, schrieb ich ziellos E-Mails an Petersburger Universitäten, die ukrainische Botschaft und einen Rabbi in Uschgorod. Das alles führte zu nichts, also fragte ich Tim Neshitov, der im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung arbeitete, ob er mir helfen könnte. Ich wusste, dass Tim in St. Petersburg geboren wurde, und dachte, das sei immerhin ein Anfang. Tim Neshitov antwortete zwei Tage später: In einer russischen Datenbank habe er einen Wjatscheslaw Falbusch gefunden, der 1934 in Taschkent geboren worden und 1990 in Uschgorod gestorben war. Er habe eine Frau hinterlassen, Olga, und zwei Kinder, Ljudmila und Alexander. Der Name passte, das Geburtsjahr passte, die Stadt passte. Meine stümperhafte Recherchemethode schien gut zu funktionieren.

Weiter kamen wir trotzdem nicht. Und wenn wir ehrlich waren, konnte das Geburtsjahr nicht stimmen. Wenn er 1934 geboren worden war, hätte er Ende zwanzig sein müssen, als er meine Großmutter kennenlernte. Sie bestand aber darauf, dass er Anfang zwanzig, höchstens aber Mitte zwanzig war. Und wieso sollte er ausgerechnet in Taschkent zur Welt gekommen sein, um dann in Leningrad zu studieren und in Uschgorod zu sterben? Wenn wir genauer hinsahen, passte alles ganz knapp eigentlich doch nicht.

Meine Mutter erzählte ihrer russischen Kosmetikerin von der ganzen Geschichte, vermutlich aus demselben Grund, aus dem ich Tim Neshitov angesprochen hatte: weil sie Russin war. Vielleicht funktionierte das ja noch ein zweites Mal. Die Kosmetikerin machte meiner Mutter allerdings keine großen Hoffnungen: »Wahrscheinlich hat er nie von dir erzählt. Russische Männer erzählen so etwas nur, wenn sie sehr alt oder sehr betrunken sind.« Und wenn Tim recht hatte, war Wjatscheslaw Falbusch nicht alt geworden. Trotzdem bot sie an, im russischen Internet nach unseren Verwandten zu suchen.

Ein paar Tage später fand sie in einem sozialen Netzwerk, in dem man nach alten Klassenkameraden suchen konnte, eine Olga Falbusch, die über siebzig war und in Uschgorod lebte. Das musste die Witwe sein. Wie viele Menschen mit diesen Koordinaten konnte es schon geben? Uschgorod war eine kleine Stadt. Sie schrieb ihr eine Nachricht, in der sie ihr die wundersame Geschichte von ihrer Stammkundin erzählte, die auf der Suche nach einem gewissen Wjatscheslaw Falbusch sei. Sie, Olga, trage denselben Nachnamen, sie wisse also doch vielleicht Näheres.

Eine Weile passierte nichts. Olga antwortete erst am 1. Mai, während wir in der Kellerbar des Stasi-Hotels auf Rügen angetrunken bei der Goldenen Hochzeit saßen. Ihre Nachricht lautete: »Da bist du ja endlich. Dein Vater hat immer von dir gesprochen.«

Am nächsten Morgen schickten wir vorsichtig formulierte Nachrichten an Ljudmila und Alexander Falbusch, die nach der Lage der Dinge die Geschwister meiner Mutter sein mussten, und mieteten uns zwei Strandkörbe an der Ostsee. Während meine Mutter alle zwei Sekunden auf ihr Telefon schaute, las ich »Tage des Verlassenwerdens« von Elena Ferrante, von der es hieß, sie sei eine führende europäische Stilistin, die jahrzehntelang von der europäischen Literaturkritik ignoriert und auf unverzeihliche Weise um den Ruhm gebracht worden war, der ihr rechtmäßig zugestanden hätte. Erst jetzt, da sie in den USA berühmt wurde, schauten sich auch die europäischen Kritiker ihre Bücher noch einmal genauer an. Als meine Mutter das Buch sah, sagte sie, dass sie es auch zu Hause habe und dass es eines der Bücher gewesen sei, die sie sich nach der Scheidung zur Selbsttherapie gekauft habe, vor allem – oder eigentlich ausschließlich – wegen des Titels. Sie wisse aber nicht mehr, wie sie es fand.

Das Buch handelt von den sexuellen Selbstzweifeln einer italienischen Frau, die ungefähr fünfzig ist, als sie von ihrem Mann verlassen wird, und ihrem wütenden sexuellen Begehren. Nach der Scheidung verführt sie ihren stumpfsinnigen Nachbarn, um sich zu bestrafen, ein Abenteuer zu simulieren und ihren Marktwert zu testen, zu jeweils etwa gleichen Teilen. Aus dem Assoziationsraum dieses Romans hätte ich meine Mutter gern ferngehalten. So gut, wie ich ihn bis dahin gefunden hatte, gefiel er mir danach nie wieder.

 

Ljudmila antwortete als Erste: Sie schrieb, dass alles sehr aufregend sei, zumal es ja nicht jeden Tag vorkomme, dass man plötzlich eine neue Schwester habe. Sie schickte uns ein Foto von Wjatscheslaw Falbusch, auf dem er mir kein bisschen ähnelte, was uns ein bisschen enttäuschte, weil meine Großmutter immer behauptet hatte, ich sähe ihm zum Verwechseln ähnlich und dass sich sogar unsere Sprechweise gliche. Aber es war das erste Mal, dass meine Mutter ein Foto ihres Vaters sah, und deshalb redeten wir uns die Ähnlichkeit einfach ein. Meine Mutter hielt das Foto neben mein Gesicht und nickte zufrieden.

Als Nächstes schickte uns Ljudmila ein Foto mit stark gesättigten Farben, das während eines Familienurlaubs auf dem Land in den Achtzigern aufgenommen worden war. Auf dem Foto ist sie vielleicht zehn Jahre alt und sitzt neben ihrem Vater auf einer Bank. Dazu schrieb sie auf Englisch: »Hier ist noch ein Bild unseres Vaters. Er war genervt, weil ich mich drei Mal am Tag umgezogen habe. Eines Tages hat er all meine Sachen genommen, in ein Paket gesteckt und zurück nach Hause geschickt. Ich hatte nur noch das, was ich auf dem Foto anhabe. Das musste ich den Rest des Urlaubs jeden Tag tragen. Er war ein sehr witziger Mann.« Außerdem erfuhren wir, dass Wjatscheslaw Falbusch Psychiater war, aber die Seele eines Poeten hatte: Er schrieb Gedichte, spielte Theater und sang bei jeder Gelegenheit. Ständig hatte die Familie Gäste, ständig feierten sie Feste. Ihr Vater habe immer dafür gesorgt, dass er im Mittelpunkt stand und sich sämtliche Aufmerksamkeit auf ihn richtete. Er sei ein glänzender Unterhalter gewesen. Meine Mutter schienen diese Nachrichten zu deprimieren. »Was ist denn los?«, fragte ich. »Das hätte mein Leben sein können«, sagte sie.

Den Rest des Frühlings beschäftigte sich meine Mutter damit, das Bild, das sie von ihrem eigenen Leben, ihrer Identität, ihrer Herkunft hatte, anhand der frischen Informationen neu zusammenzusetzen. Sie war jetzt einen Hauch weniger deutsch, sondern neuerdings »in Deutschland aufgewachsen«. Sie hatte jetzt einen Vater namens Wjatscheslaw Falbusch, genannt Slawa, der ein ukrainischer Jude war, also im Grunde so etwas wie Joseph Roth persönlich, von dem meine Mutter sofort mehrere Bücher bestellte. Sie hatte eine Schwester namens Ljudmila, genannt Ljuda, die in Uschgorod vormittags in der Schule Englisch unterrichtete und nachmittags Privatstunden gab, weil sonst das Geld nicht reichte. Und sie hatte einen Bruder namens Alexander, genannt Sanja, gelegentlich auch Sascha, der der Ukraine schon vor Jahren den Rücken gekehrt hatte, weil er das Land für barbarisch und antisemitisch hielt. Sanja lebte jetzt als Teilzeitpsychiater und rechtskonservativer Israeli in Haifa. Sein Facebook-Profil war ganz dem Kampf gegen die muslimische Bedrohung gewidmet. Die ersten Worte, die er meiner Mutter schrieb, lauteten: »I’m your brother, I love you.«

Als Psychiater gab er sich nicht mit den augenfälligen Motivationen der Menschen zufrieden, sondern grub etwas tiefer und legte verborgene Geheimnisse frei. So hatte er schnell eine Erklärung dafür zur Hand, dass meine Mutter erst jetzt angefangen hatte, nach ihrem Vater zu suchen. Seiner Theorie zufolge waren wir Juden, die unbewusst dem Ruf des gelobten Landes folgten. Dieser Ruf sei im Laufe der Jahre immer lauter geworden, und jetzt seien wir an einem Punkt, an dem wir ihn nicht mehr überhören konnten. Etwas in uns antwortete, etwas in uns gab der unwiderstehlichen Anziehungskraft Israels nach. Unsere Suche nach Wjatscheslaw Falbusch sei in Wahrheit das Judentum, das in uns erwache. Unser eigentliches Ziel sei es, die israelische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Wenn wir bereit seien, diese Wirklichkeit anzuerkennen, sollten wir ihm einfach Bescheid sagen: Die israelische Botschaft führe eigens zu diesem Zweck routinemäßig DNA-Tests durch, und er könne jederzeit nach Berlin kommen, um sich etwas Blut abnehmen zu lassen. Das sei wirklich gar kein Problem.

 

Zwei Monate später fuhren wir zum ersten Mal nach Uschgorod. Uschgorod ist die erste ukrainische Stadt hinter der EU-Grenze, von Berlin aus fährt man tausendeinhundert Kilometer durch Polen und die Slowakei. Unsere Reisegruppe bestand aus meiner sehr nervösen Mutter, meiner Freundin Stéphanie und mir. Stéphanie wird seit ihrer Geburt von allen Steph genannt, hat blasse Haut, prachtvolle braune Locken und lebt in Paris-Belleville in einer kleinen Straße, die an französische Kleinstädte erinnert und in der sie sich sehr wohlfühlt, weil dort jeder jeden kennt: Es gibt einen chilenischen Restaurant-Besitzer, der rund um die Uhr arbeitet, einen senegalesischen Schneider, der ihr andauernd zweideutige Model-Angebote macht, eine amerikanische Designerin, deren Eltern kürzlich von Massachusetts nach Nebraska gezogen sind, weil man dort billiger golfen kann.

Außerdem stehen in Stephs Viertel an jeder Ecke chinesische Prostituierte über fünfzig. »Warum stehen hier ausschließlich chinesische Prostituierte über fünfzig?«, habe ich sie einmal auf dem Weg zu unserem Bäcker in der Rue Saint-Maur gefragt. »Ist das nicht ein etwas sehr spezieller Fetisch?« Sie konnte es auch nicht genau sagen.

Ihre Ferien verbringt Steph bei mir in Berlin, und in diesem Jahr bedeutete das, dass sie mit meiner Mutter und mir zwei lange Tagesreisen weit in den Osten fahren musste. Sie trug es, wie alles andere auch, mit Fassung. Sie studiert Philosophie an der Sorbonne, sie findet, dass die Theorie, romantische Liebe sei eine Kommunikationstechnik der Bourgeoisie, nur von einem Deutschen stammen kann, und seit sie in Paris lebt, spricht sie häufig davon, dass sie lieber an der Küste leben würde. Außerdem trägt sie jederzeit eine Flasche Wasser mit sich herum, wenn sie das Haus verlässt, als wolle sie sich für den Fall einer Entführung wappnen. Ich habe bis heute nicht herausgefunden, was es damit auf sich hat, aber die Flasche Wasser vergisst sie nie.

Vor unserer Reise war Steph tagelang damit beschäftigt, ihre besorgte französische Mutter zu beruhigen. Normalerweise verbrachte die Familie ihre Ferien in Saint-Jean-de-Luz, einer pastellfarbenen Stadt an der südfranzösischen Atlantikküste, friedvoll eingebettet zwischen den Pyrenäen und Biarritz. Jetzt wollte ihre Tochter den Sommerurlaub mit zwei zweifelhaften Ostdeutschen in einem Land verbringen, aus dem seit Monaten Zahlen gefallener Soldaten und Bilder von Rauchsäulen und ausgebrannten Flughäfen nach Frankreich schwappten.

»Wir fahren nicht in ein Kriegsgebiet«, sagte ich in einem Tonfall, als wäre der Gedanke völlig absurd. »Das Ding am Osten ist, dass die Länder unendlich riesig sind. Je weiter man nach Osten kommt, desto größer werden die Länder. Deshalb sind sie für die Deutschen in ihren kleinen Stuben so metaphysisch. Das sind ganz andere Dimensionen. Sag deiner Mutter, dass Uschgorod vom eigentlichen Kriegsgebiet genauso weit entfernt liegt wie von Paris.« Ich glaube, diese Strategie hat funktioniert, ich habe jedenfalls nichts weiter davon gehört.

Zwei Tage vor unserer Abreise meldeten die Nachrichtenagenturen dann allerdings Gefechte zwischen Soldaten der ukrainischen Regierung und Kämpfern der faschistischen Miliz »Rechter Sektor« direkt vor den Stadtgrenzen von Uschgorod. Die deutschen Abendnachrichten zeigten Bilder von ausgebrannten Autos und Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag und berichteten von drei Toten. Niemand schien allerdings zu wissen, worum es in diesem Gefecht überhaupt ging: Im Osten des Landes kämpften die Regierung und der Rechte Sektor Seite an Seite gegen die Russen. Meine Mutter rief mich an und warf die Frage auf, ob wir die Reise nicht besser absagen sollten. »Es war eine einzelne Schießerei an einer Straßenkreuzung irgendwo auf dem Land«, sagte ich. »Wenn wir schon da wären, hätten wir es wahrscheinlich gar nicht mitbekommen.«

In Wirklichkeit hatte ich längst beschlossen, über diese Geschichte ein Buch zu schreiben, und ein Element echter Gefahr kam mir ehrlich gesagt gar nicht ungelegen. Dass ich möglicherweise das Leben meiner Freundin und meiner Mutter für ein unausgegorenes Buchprojekt aufs Spiel setzte, führte ich mir zwar bewusst vor Augen, tröstete mich aber mit einer Ausrede, die in jenem Moment wasserdicht klang, an die ich mich aber schon jetzt nicht mehr genau erinnern kann. Stephs Mutter gegenüber erwähnten wir den Zwischenfall nicht.

 

Auf dem Weg zur polnischen Grenze fuhren wir an Eisenhüttenstadt vorbei, der Stadt, in der meine Mutter aufgewachsen ist. Eisenhüttenstadt ist heute eine unauffällige, sterbende ostdeutsche Kleinstadt, in der Männer mit Militärfrisuren trübsinnig an den Felgen ihrer gebrauchten BMWs herumschrauben. Das letzte Mal bin ich da gewesen, als der Kurator der Berlin Biennale in einem leer stehenden Laden in der Eisenhüttenstädter Innenstadt einen performativen Schüleraustausch organisiert hatte: Eine vierte Klasse aus Berlin-Neukölln und eine vierte Klasse aus Eisenhüttenstadt malten zusammen Kreidebilder auf den Boden, während Galeristen und Kunstwissenschaftler in Kaschmir-Strickjacken von Filippa K um sie herumstanden und Kulturjournalisten wie mir Interviews gaben, in denen es darum ging, dass soziale und ethnische Grenzen heute oft undurchlässiger sind als nationale. Die Kinder wären sich ohne dieses gemeinsame Happening schließlich nie im Leben begegnet, obwohl sie nur achtzig Kilometer voneinander entfernt wohnten. Das ist es, was Eisenhüttenstadt heute auszeichnet: Wenn Berliner Kuratoren einen Ort suchen, der von der Globalisierung vergessen wurde, gehen sie nach Eisenhüttenstadt.

In meiner Familie wird der Verfall der Stadt nicht erwähnt. Als meine Großeltern in den Sechzigern hier ihre Jobs antraten, war Eisenhüttenstadt noch das ehrgeizigste Projekt des deutschen Sozialismus. Die Stadt wurde komplett am Reißbrett entworfen und sollte die Strahlkraft jener Welt, auf die die Sozialisten hinarbeiteten, auf magische Weise auf seine Bewohner übertragen: Es gab großzügige, lichtdurchflutete Wohnungen für die Arbeiter, grüne Innenhöfe und breite Bürgersteige. An jeder Ecke standen Skulpturen von sozialistischen Bildhauern, die den Nationalsozialismus überlebt hatten, und man schrieb diesen Kunstwerken eine seelenbildende Kraft zu. An den wichtigsten Plätzen der Stadt standen nicht das Rathaus oder die Kirche, sondern das Krankenhaus und das Kino. Und in der Mitte dieser utopischen Stadt thronte das gigantische Stahlwerk, in das die Menschen jeden Morgen strömten, um gemeinsam die Zukunft aufzubauen.

 

Auch mein Großvater hatte sein Büro auf dem Gelände des Stahlwerks. Für ihn muss es eine glänzende, glückliche Zeit gewesen sein: Er hatte in Leningrad studiert, er war mit einer erfolgreichen Frau verheiratet, und sein Land vertraute ihm. Seine Wohnung war blitzsauber, das Auto neu und seine Stellung unangetastet. Er trug gute Anzüge und einen sowjetischen Professorentitel. Er war Anfang dreißig und saß von frühmorgens bis spätabends an seinem Schreibtisch, blickte über die Stadt und versuchte nicht daran zu denken, dass er eine vorlaute Tochter adoptiert hatte, die ihre Widerspenstigkeit nicht von ihm haben konnte, sondern nur von einem Mann, der, obwohl niemand jemals ein Wort über ihn verlor, immer noch viel zu viel Raum in seinem Leben einnahm.

Darüber, dass meine Mutter adoptiert war, dachte damals schon deshalb niemand ernsthaft nach, weil der Sozialismus wie keine andere Ideologie an die Formbarkeit des Menschen glaubte. Dieser Glaube war die Grundbedingung dafür, dass die große Rechnung aufging. Dass meine Mutter einen leiblichen Vater hatte, der in ihr auch dann fortlebte, wenn man nicht von ihm sprach, konnte in der Weltanschauung meiner Großeltern keine Rolle spielen. Ein Biologismus dieser Art hätte in Zweifel gezogen, was sich der Sozialismus im Kern vorgenommen hatte: die Neuerfindung des Menschen, den absoluten Neustart.