So bin ich eben - Juliette Gréco - E-Book

So bin ich eben E-Book

Juliette Gréco

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Beschreibung

Die Grande Dame des französischen Chansons erzählt ihr Leben

Juliette Grécos Leben ist ein Roman. Als sie 16 ist, werden ihre Mutter, ein Mitglied der Résistance, und ihre Schwester ins KZ deportiert. Juliette kommt »nur« in ein Frauengefängnis. Alle drei überleben. Nach dem Krieg geht sie nach Paris. Sie wird Schauspielerin. Im Café de Flore trifft sie auf die Dichter und Philosophen von Saint-Germain: Boris Vian, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir. Sie begegnet Charlie Parker und Miles Davis. Mit ihnen lernt sie wieder zu lachen. Sartre animiert sie zum Singen, schreibt ihr erstes Chanson. Jacques Prévert, Françoise Sagan, Jacques Brel, Charles Aznavour, Serge Gainsbourg, alle erliegen ihrem Charme und lieben ihren Look – ganz in Schwarz mit blassem Teint und Pagenkopf. Die Stil-Ikone der Existenzialisten ist geboren. Die Gréco tourt durch Europa und die USA. Sie dreht Filme in Hollywood. Sie hat ein ausschweifendes Liebesleben und bleibt doch immer ihrer ersten Liebe treu: dem Chanson.

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Seitenzahl: 252

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Juliette Gréco

SO BIN ICH EBEN

Erinnerungen einer Unbezähmbaren

Aus dem Französischenvon Herbert Fell

Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Je suis faite comme ça« bei Flammarion, Paris.

Die Bücher der Edition Elke Heidenreich erscheinenim C. Bertelsmann Verlag, einem Unternehmender Verlagsgruppe Random House.

1. Auflage© der deutschen Erstausgabe 2012 by Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH© der Originalausgabe 2012 by Flammarion, ParisSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-08959-7

www.edition-elke-heidenreich.de

Wenn meine Augen zu sehr leuchtenVon dem Salz, das man auf meine Wunden streut,Dann färbt das Vergessene die seinen schwarz,Die Vergangenheit ist überall,Und aus dem Tiefsten meines SelbstHallt ein Kinderlachen wider.

»L’ENFANT SECRET«,1975

Ein schreckliches Kind

Im Versteck

Wie klein ich bin.

Ich bin erst vier oder fünf Jahre alt. Obwohl unsere Mutter uns verlassen hat, bin ich nicht traurig. Ich habe auch keine Angst, denn meine Schwester Charlotte ist bei mir. Ihre Gegenwart gibt mir Sicherheit, mehr brauche ich nicht.

Wagemutig kundschafte ich jeden Winkel im Haus meiner Großeltern aus. Ein großer Garten umgibt den schönen bürgerlichen Wohnsitz in der Nähe von Bordeaux. Eine Freitreppe führt zu seinem Eingang.

Ich kenne alle Zimmer des Hauses, die ich wie eine Katze durchstreife. Und weil es mir Spaß macht, krieche ich unter den massiven Holztisch im Speisezimmer, wo niemand mich sehen kann. Ich klettere ins Buffet, und die Finsternis, die mich da umfängt, flößt mir einen Heidenrespekt ein. Die Hausangestellten in der Waschküche beobachte ich aus einem sicheren Schlupfwinkel; im Schuppen, wo sich alte Möbel, Stühle und Korbsessel stapeln, verstecke ich mich. Gern verberge ich mich im Weinkeller, um den Duft des feuchten Holzes einzuatmen.

Mein Bär, der eine Bärin ist, die ich Oursine getauft habe, begleitet mich. Oursine ist die ideale Weggefährtin. Wie oft habe ich meine Freundin schon repariert; wie oft schon musste ich dieses kleine Wesen, das mir fast überall Gesellschaft leistet, mit der Nähnadel traktieren.

Sobald die Angestellten mit ihrer Arbeit fertig sind und das Haus bereits zu schlafen scheint, schleiche ich mich in die Küche und drehe vorsichtig am Schlüssel des großen Vorratsschranks, denn es gilt, meine Gier nach Leckereien zu befriedigen. Ich mopse mir ein paar Kekse, tauche mit der Hand in das Glas mit den getrockneten Trauben und lasse meinen Zeigefinger in die offenen Marmeladentöpfe gleiten. Ein kleines Spiel, das mir große Freude bereitet.

Ich bin kein sehr artiges Kind, aber von froher, heiterer Wesensart; eine Einzelgängerin, die gerne träumt. Und zugegebenermaßen, ich kann ganz schön störrisch sein. Ich will, dass man mich in Ruhe lässt; Zwang ist mir verhasst.

Wenn die Lust mich packt, rase ich in den Park. Aus Blütenblättern versuche ich dann, einen Zaubertrank zu destillieren. Leise und unauffällig gehe ich dabei zur Sache.

»Was soll aus ihr werden? Sie ist eigensinnig, man muss ihr Kontra geben!« So Großmutters mahnende Worte.

Sie hält mich für ein trauriges, in sich gekehrtes Mädchen … vielleicht auch für einen Dummkopf.

Mit meiner großen Schwester Charlotte stecke ich unter einer Decke, bei ihr blühe ich auf. Für sie tanze ich und denke mir Choreografien aus. Umherzuwirbeln, die Arme wie Flügel auszubreiten und dabei den Raum und die Luft zu spüren, das mag ich. Ich lache und vergesse dabei. Nur mein Körper spricht – und das gefällt mir: schweigen und ihn allein alles sagen lassen. Charlotte mimt gern meinen Manager, sie korrigiert mich, manchmal etwas arg streng. Denn so manchen Fehler ahndet sie mit einem Klaps, mit dem ich nicht gerechnet habe.

Meine frühe Kindheit ist weder sehr glücklich noch sehr unglücklich. Ich wachse ohne die Liebe der Mutter und ohne Vater auf. Das große Haus ist wie eine Burg für mich. Meine Mutter hat meine Schwester und mich ganz einfach in die Obhut alter Menschen gegeben, unserer Großeltern.

Unsere Großmutter mit ihrer starken Persönlichkeit und unser Großvater mit seiner sanften Zurückhaltung begleiten uns durchs Leben.

Heute Abend gehen sie in die Oper. Mit meinem kleinen Kopf luge ich durch die halb offene Tür des Zimmers meiner Großmutter. Ich sehe ihr zu, wie sie den Schmuck auswählt, der ihrem schwarzen Kleid Glanz verleihen soll.

Leicht beugt sie sich vor dem ovalen Spiegel der Frisierkommode nach vorn. Das Möbelstück stammt aus dem 18. Jahrhundert, seine Deckplatte ist aus Parischem Marmor. Meine Großmutter steckt sich Perlohrringe an, dann eine diamantene Spange, die ihr Dekolleté auf dezente Weise verschönert. Die Haare hat sie hochgesteckt. Sie ist eine stolze Erscheinung. So und mit guter Laune wird sie den Mann, den sie so sehr liebt, heute Abend begleiten.

Meine Erinnerung an dieses Paar wird für alle Zeiten eine helle, zu Herzen gehende sein. Die beiden lieben sich innig, immerzu necken sie sich. Die unmäßige Strenge seiner Frau gegenüber dem Dienstpersonal nimmt Großvater dabei ohne Widerspruch hin. Ich sehe, wie Großmutter weiße Handschuhe überzieht, mit den Fingern über die Möbel streift und nach dem Zimmermädchen ruft: »Mademoiselle, kommen Sie bitte!« Die behandschuhten Finger, an denen Staub klebt, streckt sie der Armen entgegen, sie reckt das Kinn, und mit einem nicht enden wollenden Blick, der mich nahezu erstarren lässt, sieht sie das Mädchen fragend an.

Einmal hat sie eine Hausangestellte hinausgeworfen. Bevor sie aber gehen konnte, musste sie noch die Freitreppe schrubben. Eifersucht hatte diesen Wutausbruch provoziert. Denn mein Großvater hat den klaren mintfarbenen Augen dieses wunderbaren Geschöpfs von siebzehn Jahren nicht widerstehen können. Er hatte es gewagt, sie im Garten anzusprechen. Um die Angelegenheit aus der Welt zu schaffen, lud er Großmama ins Theater ein, danach ging er mit ihr soupieren, die beiden tranken Champagner und aßen Gänseleberpastete. Bei der Rückkehr nach Hause hatte sich die Lage entspannt.

Die täglichen Mahlzeiten verlaufen fast immer gleich. Großvater macht das Zeichen des Kreuzes auf dem Brotrücken. Wir Kinder sitzen mit den Großeltern an einem Tisch. Mit zunehmendem Alter wollen sie immer früher zu Abend essen.

Zurzeit wird um halb sieben oder sieben aufgetragen. Wir Kinder dürfen bei Tisch nicht reden. Großmutter hingegen drangsaliert Großvater mit tausend Fragen.

Sie ist wirklich merkwürdig. Sie bestimmt gerne und redet viel. Und er darf meistens nur antworten. Er, ein angesehener Architekt bei der Stadt Bordeaux, kapituliert in Gegenwart seiner Gattin und gibt den Ruhigen und Schweigsamen. Manchmal aber wird er aufmüpfig, meist in Form eines feinen Scherzes.

Ich habe eine solche Szene wie gewöhnlich von einem Versteck aus beobachtet. Meine Großmutter hatte eine gute Freundin, die Merdiane hieß, und sie sagte: »Meine Freundin Merdiane kommt heute zum Tee.«

Darauf mein Großvater nur: »Dann vergesst nicht, die Fenster zu öffnen.«

Ein andermal saßen wir bei Tisch. Sie sagte zu ihm: »Mein Lieber, haben Sie Ihre neuen Hemden schon anprobiert?« – »Ja, ja, meine Süße, ich habe sie anprobiert.« Dann sagte er lange nichts mehr. Meine Schwester und ich waren gespannt, wie es weiterging. Schließlich kam: »Sehen Sie, von da bis da, da friere ich.« Dabei zeigte er auf den kurzen Abstand zwischen Handgelenk und Manschette, also etwa einen Zentimeter.

War es nur ein Scherz, oder steckte auch Pampigkeit dahinter? Ich habe es nie erfahren. Aber seltsam war es schon.

Von Generation zu Generation

In meiner Familie vererben die Frauen der nächsten Generation ihren Vornamen – und als Zugabe ihren starken Charakter. Und wenn dann korsisches Blut beigemischt wird … dann kommt jemand wie ich dabei heraus.

Meine Urgroßmutter Maria Luisa war sehr früh Witwe geworden. Ihre Erbschaft war beträchtlich, wie später auch die ihrer einzigen Tochter, meine Großmutter Charlotte.

Ob sich das Schicksal diese Abfolge von unabhängigen Frauen hat einfallen lassen? Vielleicht.

Meine Urgroßmutter war eine verwegene Reiterin, sie liebte den Stierkampf und führte ein freies und glückliches Leben. Ihre Tochter – sie war bezaubernd mit ihren großen smaragdfarbenen Augen und den feinen Gesichtszügen – war erst fünfzehn, als ein weit gereister Gentleman und Politiker um ihre Hand anhielt.

Maria Luisa hatte grundsätzlich nichts dagegen. Da das Mädchen aber noch sehr kindlich war, bat sie ihn zu warten, bis sie eine Frau geworden wäre.

Für den gut aussehenden Freier war es kein Problem, dieser Bitte zu entsprechen. Zur Hochzeit schenkte er seiner jungen Gattin eine Puppe von der Größe eines dreijährigen Mädchens. Puppengeschirr, Schühchen, Spielsachen, ja eine komplette Aussteuer für das Puppenkind wurden sorgfältig in Schränkchen verstaut, die nicht größer waren als es. Eine Zauberwelt in Miniatur. Und um seine Frau noch mehr zu beglücken, lässt er ein Gewächshaus mit exotischen Vögeln bauen, und sie steht davor und beobachtet die Tiere mit Staunen.

Die Jahreszeiten gehen ins Land, und die verliebte Charlotte schlüpft jeden Abend zu ihrem Mann unter die Bettdecke.

Harmonisch frönt das Paar seinen Leidenschaften. Aber dann beschließt er, ihr Paris zu zeigen.

Nach einer Mahlzeit zu zweit im besten Fischrestaurant der Hauptstadt stirbt er an einer Lebensmittelvergiftung. Charlotte, die gerade mal siebzehn ist, überlebt. Aber sie ist Witwe. Niedergeschlagen kehrt sie zu ihrer Mutter zurück.

Die Jahre der Trauer vergehen, doch niemand vermag ihr Herz zu trösten, bis sie einem Mann begegnet, dreißig Jahre alt, von Beruf Architekt. Maria Luisa mag seinen intelligenten Blick und seine große Statur.

Er ist nicht reich, scheint aber kultiviert zu sein, was sie überzeugt. Eine Sache jedoch stört sie. »Wie kann man nur einen Mann mit so großen Füßen heiraten?«, brummelt sie. Aber schließlich wird sie ihn und seine großen Füße akzeptieren.

Auch Charlotte hat einen unabhängigen Charakter, aber weder besitzt sie Maria Luisas Eigensinn noch ihr Ungestüm. Niemals würde sie es wagen, sich ins Gras zu setzen und vor ihrem Diener die Strümpfe herunterzupellen, während der in Verehrung für seine Herrin darauf wartet, ihr die Füße massieren zu dürfen. Nie würde Charlotte sich die Freiheiten ihrer Mutter herausnehmen. Sie ist sich ihres gesellschaftlichen Rangs bewusst.

Ihren Besitz führt sie wie ein Wirtschaftsunternehmen, mit den Hausangestellten pflegt sie keine persönlichen Beziehungen. Sie straft sie mit Missachtung, ganz einfach. In ihren Augen gehören sie einer niederen Rasse an, sie interessiert sich nur für Menschen ihres Schlages, aus ihrer Kaste.

Als elegante Frau von Welt trägt Charlotte winters wie sommers einen Hut; sie hat ihre Hunde gern, vier Pekinesen und einen grauen russischen Windhund. Sie mag Diners und Abendgesellschaften, zu denen sie wichtige Freunde aus der Region einlädt wie ihren Nachbarn François Mauriac. Der zukünftige Literaturnobelpreisträger unterhält sich mit ihrem Mann gern über Architektur und Literatur.

Charlotte wird mit ihrem zweiten Mann nur ein Kind haben: meine Mutter Juliette.

Auf dem Familiensitz, umgeben von Weinbergen, wächst das Einzelkind auf. Juliette begeistert sich für Pferde und wird eine gute Reiterin. Sie erhält eine einfache und liebevolle Erziehung, mit all den Abstrichen, die man bei dem strengen katholischen Bürgertum von Bordeaux in jenen Tagen vornehmen muss.

Sehr bald beginnt der Teenager davon zu träumen, die enge Familienwelt zu verlassen und Kurse an der Akademie der Schönen Künste in Paris zu belegen. Aber in der bürgerlichen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts schickt es sich für eine junge Frau nicht, allein in Paris zu leben.

Doch Juliette zieht es mit aller Macht nach Paris, die Eltern geben schließlich stillschweigend ihr Einverständnis. Allerdings gibt ihr weiteres Schicksal den Vorurteilen recht.

Einige Monate später lernt sie in Paris Gérald Gréco kennen, einen Polizisten aus Korsika, der dreißig Jahre älter ist als sie. Der kleine, aber gut aussehende und äußerst elegante Mann verführt sie mit seinen goldbraunen Augen; er will sie heiraten.

Die beiden ziehen zusammen, Juliette studiert weiter an der Kunstschule, doch die Ernüchterung folgt auf dem Fuß. Der Polizist Gréco wird nach Ferney-Voltaire versetzt, einen kleinen Ort nicht weit vom Genfer See. Das Paar muss Paris verlassen.

Ein paar Monate nach ihrem Umzug kommt ein Mädchen zur Welt: Charlotte, meine ältere Schwester. Zwei Jahre später wird Kommissar Gréco nach Montpellier versetzt. Dort kommt am 7. Februar 1927 eine zweite Tochter zur Welt. Das ist eine zu viel.

Ich bin also die nicht erwünschte kleine Schwester, das überflüssige zweite Mädchen, die Nachkommin, die es nicht gebraucht hätte. Mein Vater hatte auf einen Jungen gehofft.

Drei Jahre voller Gewalt und der Entfremdung folgen, bis meine Mutter ihren Mann verlässt; mit einem Kind unter jedem Arm und einem großen Koffer, der die wichtigste Habe enthält, flieht sie in die Unabhängigkeit.

Sie kehrt zu ihren Eltern zurück, bleibt einige Zeit auf dem Familiensitz, sammelt neue Kräfte und beschließt, nach Paris zurückzukehren.

Sie geht alleine weg, ohne ihre Töchter.

An einem Frühjahrsmorgen herrscht im Haus meiner Großeltern große Aufregung. Die Hausangestellten müssen alle Türen und Fensterläden im Erdgeschoss verschließen. Wir Kinder dürfen das Haus nicht verlassen. »Ihr geht heute nicht in die Schule. Euer Vater will euch mitnehmen!«, sagt die Großmutter.

Voller Spannung wird der Feind erwartet. Ich entdecke ihn durch einen Spalt in einem Fensterladen. Mein Erzeuger flößt mir Angst ein. Großvater bezieht an der Türschwelle Stellung, er fuchtelt mit seinem Spazierstock bedrohlich herum und geifert meinen Vater theatralisch an: »Verschwinden Sie, Sie Schuft!«

Und ich lache, ich kann nicht anders. Mein Großvater schwingt seinen Spazierstock wie ein Schwert und nimmt mit ruckartigen Bewegungen die Verfolgung des Verjagten auf.

Ein Jahr später stellt unser Vater wieder einen Antrag. Er möchte uns in den Ferien für vierzehn Tage nach Montpellier mitnehmen. Diesmal haben unsere Großeltern nichts dagegen; Vater hat mit einer Klage gedroht.

An einem schönen Morgen im Juli läutet es. Großvater öffnet, sein Gesicht verkrampft sich. Kurz begrüßt er meinen Vater, der zu dem Anlass einen hellen Anzug trägt; dazu hat er passende Schuhe an den Füßen und Pomade im Haar. »Guten Tag, Monsieur«, sage ich zaghaft mit meinen sieben Jahren und bin so auch nicht gesprächiger als mein Großvater. Auch Charlotte begrüßt ihn nur mit einem einfachen »Guten Tag«. Wir sind reisefertig; jede hat ihren Koffer, den Pullover haben wir über den Arm gelegt.

»Dann schöne Ferien, meine Kinder«, sagt Großvater mit ruhiger Stimme und mühsam unterdrücktem Zorn.

Meine Schwester nimmt vorn Platz, ich verkrieche mich auf die Rückbank des Wagens, direkt neben die Tür. Während der Fahrt sagt niemand ein Wort.

Ich kann mich weder an besonders bewegende Wiedersehen mit meinem Vater erinnern noch sind mir bestimmte Augenblicke im Gedächtnis geblieben. Nur an einen Tag erinnere ich mich: Meine Schwester sitzt vorn im Auto, und ich klebe wie gewöhnlich hinten an der Tür. Auf engen, kurvenreichen Wegen fahren wir zum Meeresstrand. Plötzlich öffnet sich der Riegel des Türgriffs neben mir, und ich kippe mit meinem ganzen Gewicht aus dem Wagen und kullere in eine Grube mit welkem Gras. Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich wieder bei mir bin.

Wie ein zerzaustes Tier sehe ich aus. Ich strecke alle meine Glieder und schüttle sie. Vorsichtig stehe ich auf und schaue zur Straße. So weit das Auge reicht, rechts und links von ihr abgeerntete Getreidefelder; überall nur Strohballen und nirgends ein Wagen oder gar eine lebendige Seele.

Ich setze mich auf die Böschung und warte geduldig. Erst am Strand bemerken meine Schwester und mein Vater meine Abwesenheit. Die Wagentür hatte sich automatisch wieder geschlossen. Sofort kehren sie um. Müde vom Warten, bin ich inzwischen aufgestanden und gehe gemächlich die Straße entlang, ihnen entgegen.

Einmal am Strand, haben wir Kinder unseren Spaß. Wir rennen durch den Sand, aber Vater interessiert sich nicht für uns. Er hat nur den Fechtwettkampf im Kopf, den er organisieren und übrigens auch gewinnen wird. Da ich nicht schwimmen kann, darf ich nicht ins Wasser. Aber leichtsinnigerweise wage ich mich hinein und verliere das Gleichgewicht. Ich gerate in Panik und schreie. Ein Schwimmer kommt mir zu Hilfe, während mein Vater, in Anzug und Krawatte, mir hinterher erklärt, er habe seine brandneuen Schuhe nicht ruinieren wollen.

Ich hatte große Angst gehabt.

Seit diesem Tag ist mein Verhältnis zum Wasser ein eher zurückhaltendes. Seltsamerweise habe ich keine weiteren Erinnerungen an diese Ferien.

Jahre gehen ins Land, ohne dass sich an der Beziehung zu meinem Vater etwas ändert.

1952 schreibt die Journalistin Anne-Marie Cazalis für die Zeitschrift Elle einen Artikel über mich. Um ihrer Reportage mehr emotionale Tiefe zu geben, organisiert sie während einer Tournee ein Treffen mit meinem Vater in Nizza, wo er jetzt wohnt. Wir posieren. Ich bewahre die Fassung. Der Fotograf Georges Dudognon fotografiert das Ganze.

Gérald Gréco, der jetzt ein alter Mann ist, lächelt. Die Journalistin ist zufrieden, sie hat einen Coup gelandet. Ich bin wie gelähmt; dieses sinnlose, unfruchtbare Treffen erzeugt nur Leere in mir. Ich habe diesem Mann, den ich nie richtig kennengelernt habe, nichts zu sagen.

Der Vater, den ich in mir trage, der mich viel zu früh verlassen hat und der mir heute noch fehlt – das ist mein Großvater. Dieser gute alte Herr hat mich beschützt, er war zärtlich zu mir, er hat mich geliebt.

Unsere recht strenge religiöse Erziehung hat er durch seine menschliche Wärme, sein Verständnis und seine väterliche Fürsorge erträglich gemacht.

Ich war mir immer ziemlich sicher, dass er mein Schweigen versteht; dass er die Worte hört, die ich nicht ausspreche. Wie gerne bin ich an seiner Seite gegangen und habe meine Hand in seiner großen vergraben. Dieses Schweigen, das Großmutter als eine Art Protest empfand, hat uns geeint.

Wenn ich die Augen schließe, kann ich sogar das Holz seines Bleistifts riechen, den er mit seinem Taschenmesser gespitzt hat. Licht durchflutet sein Arbeitszimmer, die Sonnenstrahlen brechen sich auf dem Holzfußboden, und der Architekt selbst sitzt auf seinem hohen Schemel; er lässt die Reißschiene über den Zeichentisch gleiten und zieht geheimnisvolle Striche. Von Zeit zu Zeit richtet er sich auf, hebt den Kopf und steckt den Bleistift hinters Ohr; er scheint zu sinnieren. Bis er wieder nach dem Stift greift, um weiterzuzeichnen.

Überall stapeln sich Pauspapierrollen, Zeichenmappen und Pinsel. Zwei Leinen sind durch den Raum gespannt, an denen Skizzen mit Holzklammern befestigt sind.

Ich erinnere mich an Situationen, bei denen ich mich wie ein Mäuschen nicht zeigte, Pläne und Zeichnungen heimlich betrachtete und das Risiko genoss, dabei entdeckt zu werden.

Mein Großvater ist in einem Krankenhausbett gestorben. Am Abend zuvor haben wir ihn besucht. Er hat mir den Kopf gestreichelt und sich herzlich verabschiedet.

Als die Sonne aufging, war er tot.

»Großvater ist tot«, sagte Charlotte zu mir.

Ich brachte kein Wort heraus, bewegte mich nicht von der Stelle. Dann wollte ich die Realität durch Beschwörung überlisten. Ich bin aus dem Haus gestürzt und habe mich mit den Knien auf den Kies der Allee geworfen. »So werde ich für ihn Buße tun, bis er wiederkommt.«

Ich kniete, bis es blutete. Genützt hat es nichts.

Ich erinnere mich an das Gefühl von Hass, das mich überfiel, als die Familie mich zwang, seinen leblosen Körper zu küssen. Ich akzeptierte seinen Tod nicht. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte man mich verraten.

Warum haben diese Leute mir meinen Großvater weggenommen? Ich fühlte mich allein, so allein.

Jetzt verstehe ich, dass nach seinem Tod nichts mehr sein konnte wie vorher. Das war das Ende meiner Unschuld und der Beginn einer großen Einsamkeit und Leere, die niemand füllen konnte.

Adieu, Kindheit

Seit dem Tod des Großvaters sind die Tage traurig.

Licht fällt an diesem Sommernachmittag durch die Jalousien. Die Stille ist erdrückend. Ich schaue Großmutter an, die im Sessel sitzt und ein Taschentuch stickt. Sie bemerkt mich noch nicht einmal. Sie ist nicht glücklich. Wir beide sind allein – die Hausangestellten haben heute am Sonntag frei, und meine Schwester ist auf einem Fest bei einer Klassenkameradin. Plötzlich fällt Großmutter aus dem Sessel. Ich stürze zu ihr, ihr Gesicht ist aschfahl, die Augen sind geschlossen. Wie kann ich diesen Körper wiederbeleben? Da kommt mir jenes Ritual in den Sinn, das die Großeltern jeden Monat zu ihrer Regeneration veranstaltet haben. Man setzt Blutegel hinter die Ohren, die Tiere beißen sich mit ihren spitzen Zähnen durch die Haut, pumpen sich mit Blut voll, bevor sie dann von selbst abfallen. Jetzt muss man sie nur noch in das Glas zurücklegen, aus dem man sie geholt hat, damit sie sich entleeren.

Ich greife nach der Stickschere vom Arbeitstisch, halte sie mit meinen kleinen Fingern fest und versetze Großmutter mit einem Stoß einen Stich ins Ohrläppchen. Blut strömt heraus, sie zuckt ordentlich zusammen. Ich stehe wieder auf, renne los, jage die Treppe hinunter, um bei einem Nachbarn Hilfe zu holen.

Als Großmutter aufwacht, ist sie nicht mehr klar bei Verstand. Dieser Vorfall hat sie für immer verändert.

Sie ist augenscheinlich nicht mehr dieselbe, sie hat die Orientierung in ihrem Leben verloren. Großvater hat ihren Verstand mitgenommen.

Sie versinkt im Wahnsinn, zu jeder Stunde ruft sie nach ihrem Mann. Uns erkennt sie nicht mehr, nackt wandelt sie durchs Haus. Mich als Kind schockiert das maßlos. Nie habe ich mir Großmutter nackt vorgestellt – und jetzt das, vor meinen Augen!

Alles geht sehr schnell, unsere Mutter kommt zurück, um die Situation in den Griff zu bekommen. In dem Haus können wir Kinder nicht länger leben, und Großmutter kann nicht mehr allein sein. Meine Mutter beschließt, die Möbel zu verkaufen, die Hausangestellten zu entlassen und uns drei nach Paris mitzunehmen. Alle Fensterläden des schönen Hauses werden geschlossen.

Heute Abend ist der Bahnhof unser trauriges Ziel. Der Zug nach Paris steht schon auf dem Bahnsteig. Langsam geht unsere Großmutter an der Seite ihrer Tochter. Ich steige mit meinem Bären unter dem Arm wortlos in den Zug und hefte mich an die Fersen von Charlotte; schließlich setze ich mich neben sie auf eine kalte Bank.

Oursine drücke ich fest an mich. Mutter ist unsere Führerin. Wir folgen ihr. Ein neues Kapitel beginnt.

Nach ein paar Monaten, die sehr schwierig waren, kommt Großmutter in ein Altersheim. Dort wird sie bald sterben.

Eine einseitige Liebe

Wir sind wieder Teil ihres Lebens. Und damit kommt unsere Mutter nicht zurecht.

Sie kennt uns nicht. Liebevoll kann sie schon sein, aber auch ungeschickt. Wir sind mit in ihre Wohnung in Saint-Germain-des-Prés gezogen.

Charlotte und ich teilen uns ein großes Zimmer; aber die Spiele und das Lachen sind verschwunden. Ich vermisse die Gerüche des großen Hauses, den Duft des gewachsten und gebohnerten Holzes; und ich vermisse die Freude am morgendlichen Tau in unserem Garten.

1936 kämpft meine Mutter an der Seite von Léon Blum für die Volksfront-Regierung. Sie lernt den Historiker Élie Faure kennen; der Intellektuelle, der durch sein monumentales Werk Geschichte der Kunst bekannt wurde, wird in der gesamten Kulturwelt geschätzt. Er ist ein Mann der Linken. Er unterstützt die spanischen Republikaner und steht der kommunistischen Partei nahe.

Manchmal nimmt Mutter mich zu ihm mit. Zu diesem ruhigen Mann, der mich vorurteilsfrei betrachtet und der so warmherzig ist, dass es ihm sogar gelingt, mein Schweigen zu brechen, meinem Mund ein paar Worte zu entlocken. Élie Faure ist es auch gewesen, der bald schon mein Vergnügen am klassischen Tanz vorausgeahnt hat. Meine Mutter und er waren bis zu seinem Tod 1937 enge Freunde. Er wurde vierundsechzig Jahre alt.

Leider konnte er das Büchlein meiner Mutter nicht mehr in Händen halten. Visages hieß ihr Essay über die Schönheit, der in einem neuen Verlag erschien, der bald Bankrott machte. Das Buch hat sie unter dem Pseudonym Élise Gaubry veröffentlicht; der Nachname ist eine Verballhornung des Namens des ersten Mannes ihrer Mutter, und Élise ist die weibliche Form des Vornamens ihres Freundes Élie Faure.

Das Buch ist eine Reflexion über die Schönheit des weiblichen Gesichts und enthält auch kosmetische Ratschläge.

Unternehmungslustig wie sie zu der Zeit ist, macht sie aus einem Teil ihrer Wohnung einen Kosmetiksalon.

Mit ihrem widersprüchlichen Charakter – sie ist resolut und gleichzeitig empfindsam – durchmisst sie das Leben wie eine Kriegerin.

Meine Mutter war ein Wunschkind, geliebt und umsorgt. Ihrer glücklichen Kindheit verdankt sie ihre Kraft. Ihre starke Persönlichkeit und ihren Mut hat sie von ihrer Großmutter Maria Luisa geerbt. Der Wind der Freiheit umweht sie. Aber sie selbst vergisst, die empfangene Zuneigung weiterzugeben. Ihre eigenen Kinder stören sie. Ich bin ein Betriebsunfall.

Wenn mein sanftmütiges Gesicht und meine fragenden Augen ihren Blick suchen, treibe ich sie zur Weißglut. »Du bist die Frucht einer Vergewaltigung«, sagt sie mir in einem Anfall von Zorn. Und ich frage mich mit meinem kindlichen Gemüt, auf welchen Bäumen solche Früchte wachsen …

Manchmal stellt sie meine Vorstellungskraft mit einer schrecklichen Behauptung auf die Probe: »Du bist ein Findelkind!«

Wo wurde ich gefunden und wann?, frage ich mich und leide.

Je weniger ich geliebt werde, desto mehr schotte ich mich ab. Ich bin schweigsam und unberechenbar geworden. Manchmal suche ich sogar die Gefahr.

So beschließe ich an einem schönen Frühlingstag, eine Hofrunde auf dem Sims des fünften Stockwerks zu drehen. Der ist so schmal, dass ich kaum einen Fuß vor den anderen setzen kann; ganz dicht an der Hausmauer blicke ich in den Abgrund. Das Entsetzen und der Zorn meiner Mutter, als ich nach Beendigung meiner Runde durch ihr Bürofenster wieder hineinklettere, überraschen mich sehr.

Ich bin ein schreckliches Kind.

Mir ist es gelungen, dass Lehrer, wie sie für katholische Einrichtungen typisch sind, mich nie länger als drei Monate unterrichten wollten. Gegen mein Schweigen und meinen finsteren, glühenden, fragenden Blick waren die Erwachsenen machtlos; entweder verwiesen sie mich von der Schule, oder sie ließen sich von meiner Erziehung entbinden. »Nichts interessiert sie. Sie sagt kein Wort, selbst ein Nicken wäre zu viel verlangt. Frech schaut sie einem ins Gesicht.« In diesen Chor stimmten alle meine Lehrer ein.

Aber ich war frei. Das Gefühl der Freiheit erfüllte das kleine Wesen, das ich war. Von niemandem ließ ich mich beeinflussen. Daran werden sich auch die Schwestern und Schülerinnen des katholischen Internats in Montauban im Südwesten Frankreichs erinnern, in das mich meine Mutter im Herbst 1939 schickte; weit weg von ihr und ihren Liebesgeschichten.

Ein Kreuzgang, eine Kapelle, ein wunderbarer Park und die luftigen Gebäude des Internats – die Schönheit des Ortes besänftigt mich.

Die Blumen sind herrlich, es duftet. Ich lege mich ins Gras, kreuze die Arme und warte auf Gott, dass er wie versprochen zu mir kommt. Ich liebe dieses mystische Gefühl. Ich rede mit niemandem. Am Morgen und am Abend wasche ich mich unter meinem Nachthemd. Meine Kameradinnen halten mich für ein bisschen verrückt und anders. Das ist gut so, denn ich bin lieber allein.

Dennoch werden mich meine Zimmergenossinnen in Erinnerung behalten. Denn, von der Schwester Oberin auf ihr Büro bestellt, enthülle ich bei offenem Fenster mit lauter und fester Stimme etwas, was meine Mitschülerinnen nie wagen würden zu verraten.

Die Nachtaufsicht, eine Schwester mit großen Augen und schwarzem Haar, das von silbernen Strähnen durchzogen ist, und mit Brüsten, die sich ihrer Abgeflachtheit schämen, glitt mit ihren langen, zartgliedrigen Händen unter unsere Laken und Nachthemden. Ich gehörte auch zu ihren Opfern.

Eine solche Schule funktioniert aber nur, wenn man diese Dinge verschweigt. Ich wurde also vom Internat verwiesen. Meine Mutter stand mir selbstverständlich nicht bei, es gab kein Wort des Trostes. Ich war gerade mal zwölf Jahre alt.

Die ganze Kindheit habe ich um ihre Aufmerksamkeit gekämpft; sie hat mich nicht angesehen. Es war eine einseitige Liebe. Ich war ja nur ein Kind, das den Blick seiner Mutter sucht.

Für die Frau, die sie war, hatte ich immer Respekt; aber keinen für die Mutter, die sie nicht war. Sie war meistens abwesend, trotzdem faszinierte sie mich.

Nach dem Tod ihrer Eltern übernimmt sie, nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen, wieder unsere Erziehung. Sie gewährt Charlotte, die eine hervorragende Schülerin ist, eine lange Schulausbildung und schreibt mich in einer Ballettschule ein. So hilft sie mir, meinen eigenen Weg zu finden. Auch akrobatischen Tanz darf ich lernen. Bald schon meldet sie mich für die Aufnahmeprüfung an der Oper an. Ich werde angenommen und bin überglücklich.

Im September 1938 darf ich in der Klasse von Mademoiselle Cesbron anfangen. Die kleinen Ballettratten der Oper, in ihren Tutus und rosafarbenen Strumpfhosen, die sie voller Stolz tragen, müssen, um in ihren Ballettsaal zu gelangen, eine Wendeltreppe hochsteigen, die auf einen ausgebauten Dachboden führt. Am Ende der Treppe gibt es ein Rundfenster, durch das man – wie wunderbar – direkt in den Himmel von Paris blicken kann.

Als ich zum ersten Mal den Ballettsaal betrete, habe ich nur Augen für die Ballettstange, die den ganzen Raum umgibt. Ein prickelndes Gefühl überfällt mich. Ein Wunder passiert, ein Traum wird wahr.

Beharrlich und mit Fleiß stürze ich mich in den nächsten Monaten in die schwierigen Übungen des klassischen Tanzes. Endlich kann ich mich ausdrücken – und zwar mit dem Körper.

Der Krieg aber wird mich für immer von der Oper trennen.

Die Seelenverwandte

Die Bekanntschaft mit A. S. wird ihr Leben durcheinanderbringen.

Und meines auch.

Meine Mutter findet in dieser Frau nicht nur eine Verbündete, die beiden sind seelenverwandt. Beim Petit Parisien lernen sie sich kennen. Meine Mutter hat der Zeitung ihre Mitarbeit angeboten; schreiben kann sie nämlich sehr schön.

A. S. engagiert neue Mitarbeiter und arbeitet sie ein. Sie lebt allein und hat auch zwei Kinder. Ein Mädchen in meinem Alter und einen älteren Sohn.

Die beiden Frauen verlieben sich leidenschaftlich ineinander.

Für die Sommerferien 1938 mieten sie zusammen ein großes Haus im Périgord.

Auf mehreren Hektar Land erstrecken sich Obstgärten und Wiesen, es gibt kleine Teiche, die von Pappeln umsäumt werden. Und das altehrwürdige Haus ist großartig. Gerne verliere ich mich in seinen Zimmerfluchten, in den Räumen mit ihren hohen Decken.

Ich erforsche jeden Winkel des Hauses und seiner Nebengebäude; der Dachboden ist oft mein Ziel, wo ich Schränke und Überseekoffer öffne, mir die alten Kleider mit Spitzenbesatz überziehe und mir verkleidet eine neue Welt erschaffe.

Es macht mir Spaß, in den Obstgärten spazieren zu gehen, die weißen Nektarinen zu probieren und Insekten und Vögel zu beobachten. Hier bin ich vor meiner Mutter fast sicher.

Und in dem riesigen Haus sucht und findet mich auch niemand.

Das fröhliche Lachen der beiden Frauen erfüllt das Haus; meine Mutter macht das Leben mit A. S. offenbar sehr glücklich. Mir aber schnürt sich jedes Mal das Herz zusammen, und mein Atem stockt, wenn ich die zwei laut lachen höre. Also schnell auf mein Fahrrad und weg.

Diesmal biege ich zu schnell in eine Kurve ein, ich rutsche auf dem Splitt aus, und während ich hinfalle, verheddert sich die Fahrradbremse in meinem Oberschenkel. Ich schürfe mir die Haut auf und verletze eine Arterie. Mehr schlecht als recht stoppe ich mit einem Finger den Blutfluss aus der Wunde und mache mich auf den Weg zurück zum Haus. Vor dem Personaleingang falle ich erneut vom Rad, lande auf der Erde und werde ohnmächtig.

Noch benommen vom Schmerz und meinem Ohnmachtsanfall, höre ich die Stimme meiner Mutter: »Sie spielt nur Theater!«

Der Schmerz nur gespielt? Die Ohnmacht nur gespielt? Warum ist sie so kaltherzig zu mir?

Der Arzt vernäht meine Wunde und sagt: »Das hätte schlimm ausgehen können, du hast Glück gehabt!«