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Trotz der Teilung verloren sich die entstehenden zwei deutschen Gesellschaften nicht aus den Augen. Das Bewusstsein blieb, Teil desselben Landes zu sein, ungeachtet der unterschiedlichen Entwicklungswege. Mit dem Blick auf Klassenstrukturen, Geschlechterbeziehungen, Familie, Kindheit und Jugend, Konsumoptionen und die Entstehung von zivilgesellschaftlichen Bewegungen rückt Gunilla Budde Parallelen und Berührungspunkte in den Fokus. Bei allem Bemühen, sich als ein Teil Deutschlands selbst zu genügen und sich vom anderen zu distanzieren: Als Referenz- und Konkurrenzrahmen war man sich stets nah. Neben sozialen und strukturellen Entwicklungen gilt das Interesse in diesem Band auch den persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen.
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Seitenzahl: 548
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Geteilte Geschichte
Deutschland 1945–2000
Herausgegeben von Hermann Wentker und Michael Schwartz
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Die Autorin
Prof. Dr. Gunilla Budde ist Professorin für Deutsche und Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des europäischen Bürgertums, Familiengeschichte und deutsch-deutsche Zeitgeschichte.
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Umschlagabbildung: Berlin, 23. August 1961 – eine Frau winkt Freunden auf der anderen Seite der Mauer zu (Foto: picture alliance / AP).
1. Auflage 2023
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-033236-2
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-033237-9
epub: ISBN 978-3-17-033238-6
Prolog
Einleitung
1 Gesellschaften in Bewegung
1.1 Flucht und Vertreibung
1.2 Flucht vor der Vergangenheit
1.3 Klassengesellschaft in Bewegung
2 Gleichberechtigte Gesellschaften
2.1 Bildung für alle?
2.2 Schule und Hochschule
2.3 Emanzipierte Gesellschaften?
3 Familiengesellschaften
3.1 Familiendiskurse und Familienideale
3.2 Familienrecht und Familienpolitik
3.3 Familiengründung und Familienleben
3.4 Familienverantwortung
4 Junge Gesellschaften
4.1 Kindheit
4.2 Jugend
5 Konsumgesellschaften
5.1 Mangel und Wunder
5.2 Konsumwellen
5.3 Westpakete – Ostpakete
5.4 Wohnen
5.5 Freizeit und Reisen
5.6 Orte des Erwerbs
6 Zivilgesellschaften
6.1 Friedensbewegte Gesellschaften
6.2 Umweltbewegte Gesellschaften
6.3 Frauenbewegte Gesellschaften
Schluss oder Von der Entzauberung mancher Mythen
Epilog
Anmerkungen
Quellen und Literatur
Literatur
Gedruckte Quellen
Interviews
Abbildungsnachweis
Personenregister
Manchmal fiel eine deutsche-deutsche Liebe buchstäblich in den Schoß. Ein Zettelchen, darauf Name und Adresse eines jungen Mannes aus Jena, flatterte im Spätsommer 1956 von der Empore des Festsaals auf die junge Diakonieschwester Gertrud Beckemeyer herab. Wenige Tage zuvor hatte sie den Zug nach Frankfurt am Main bestiegen.1 Der evangelische Kirchentag war das Ziel. Alle Reisenden des Sonderzuges aus Oldenburg waren aufgeräumter Stimmung, beschwingt von der Atempause vom Alltag und in Erwartung eines anregenden Austausches mit Gleichgesinnten und Gleichgestimmten.
Für die 1935 geborene Oldenburgerin öffneten die Tage in der Mainmetropole ganz neue Horizonte. Denn die Familienverhältnisse, aus denen sie kam, waren alles andere als einfach: eine blutjunge Mutter, ein aus kleinsten Verhältnissen stammender Vater, der wenige Jahre nach der Heirat in den Krieg ziehen musste und zum Glück bereits im September 1945 wieder auf der Schwelle des Frauenhaushaltes im Oldenburger Arbeiterviertel Osternburg stand. Hier an der Heimatfront hatte großmütterliche und mütterliche Frauenpower allen Unbilden der Zeit die Stirn geboten. Diese Kraft der Frauen, unerwartet und unverbrüchlich, gab der kleinen Gertrud früh Rückenwind für ihren Zukunftsweg. Aber auch andere halfen dabei. Nachdem ein Lehrer der sehr guten Schülerin alle Hoffnung auf eine andere Berufsoption als die der Fabrikarbeiterin auszureden versucht hatte, öffnete eine Lehrerin ihr das Tor zur Ausbildung als Krankenschwester.
Nun also saß sie im Zug nach Frankfurt, voller Erwartungen. Die zumeist jungen Männer und Frauen, die zum Kirchentag aufbrachen, einte ein gemeinsamer Wertehimmel und der in Anbetracht ihrer Geschichte erstaunliche Einklang von Zukunftshoffnung. Dabei stimmten die Vorwehen des 6. Evangelischen Kirchentages alles andere als optimistisch. In der Bundesrepublik war eine hitzige Debatte um die Einführung der Wehrpflicht entbrannt. Die DDR heizte diese Diskussionen in Kalter-Kriegs-Manier noch auf. »Lasst Euch versöhnen mit Gott«, lautete als bewusster Kontrapunkt die Kirchentagslosung. Mehr als 100.000 Gäste strömten zum Eröffnungsgottesdienst auf den noch stark von den Spuren des Krieges gezeichneten Römerberg. Schon in seinem Grußwort lenkte Kirchentagspräsident Martin Niemöller die Aufmerksamkeit auf das Leitthema des Miteinanders: die deutsche Teilung. Und auf den Willen, sie zu überwinden. Vor allem den »Gästen« aus dem Osten, so seine Botschaft, wolle man zeigen, »daß wir nicht voneinander lassen wollen«.2
Am Abschlussabend kam man noch einmal zusammen, um gemeinsam zu beten, zu singen und Adressen zu tauschen. An eben dem Abend erhielt Gertrud die Zettelbotschaft »von oben«. Es war der Theologiestudent Klaus Gallas, der seine Adresse von der Empore heruntersegeln ließ. Er wünschte sich Briefe der jungen Frau, die er von oben beobachtet hatte. »Jena, weißt Du, das ist Ostzone, da musst zu hinschreiben, die drüben freuen sich doch«, wurde Gertrud nach ihrer Rückkehr bedrängt. Und sie selbst hatte noch die Worte des Kirchentagspräsidenten im Ohr. Zeigen, dass man nicht voneinander lassen will. Also schrieb sie ihren ersten Brief an Klaus Gallas nach Jena. Und er schrieb »einen beschwingten Brief« zurück. Erzählte »vom Theater und der Kantorei und von seinem Professor, der einen Ruf ausgeschlagen hat nach Bonn«.3 Unzählige Briefe von beiden Seiten folgten. Zunächst tauschte man sich aus über die Erlebnisse in Frankfurt, dann erzählte man sich seine Geschichte, schließlich sinnierte man über die Zukunft. Ob es eine gemeinsame Zukunft werden würde, war zu der Zeit noch offen. Gertrud zumindest hatte noch gar kein »Bild« von dem angehenden Pfarrer, der ihr Brief für Brief mehr sein Herz öffnete. Vier Jahre lange gingen immer längere und innigere Briefe hin und her, dann fasste sich Klaus Gallas ein Herz und lud Gertrud 1960 nach Jena ein. »Jedenfalls war ich ganz gespannt, wie die ›Ostzone‹ aussieht, alle laufen mit grauen Gesichtern? Es gab ein Plakat in Oldenburg: ›Hunger in der Zone.‹ Das weiß ich noch.« Doch der Empfang war überaus herzlich. Und zu essen gab es auch. »Das war alles so berauschend für mich. Er führte mich durch Jena. Hegel, Matthias Claudius, das war noch das alte Jena«. Auch zu den Proben für die Kantorei begleitete sie ihn. Auf dem Programm standen Die Sieben Worte Jesu von Heinrich Schütz.
»Die große Stadtkirche Sank Michaelis, Karfreitag Abends, rappelvoll. Zu meinem Erstaunen stand er im schwarzen Anzug am Altar und sang das Tenorsolo. Dann stellte er mich den andern vor, der eine Professor hat mir sogar einen Handkuss gegeben, ich dachte ›Kinder!‹. Jedenfalls sind wir dann auf ’nen Berg gestiegen, auf den Landgrafen, Romantik pur. Die Bäume rauschten, die Blumen haben geduftet, da kamen noch die Glockenschläge, Jena nur wenig beleuchtet. Wir hielten uns an den Händen und dann [Pause]. Dann sind wir als Verlobte wieder zu Tal gestiegen.«4
Sommer 1962. Seit einem Jahr stand die Mauer. Trotzdem war es, wie viele um Gertrud herum unkten, »nicht vorbei mit dem Popen da in der Ostzone«. Im Sommer 1962, mittlerweile hatte Klaus Gallas seine erste Pfarrstelle, zog Gertrud Gallas ins thüringische Gumperda. Doch bevor es zur Trauung ging, fuhren Klaus und Gertrud noch zum Bischofssitz auf den Eisenacher Pflugensberg. »Wir sind angemeldet bei Bischof Mitzenheim«, eröffnete Klaus Gallas seiner verdutzten Braut. »Ich tapfer mit ihm da hoch. Und da kommt er auf mich zu, beide Arme zum Willkommensgruß mir entgegengestreckt und sagt: ›Ich begrüße Sie als Thüringer Pfarrfrau!‹«.5 Anschließend ging es weiter nach Jena zu den Schwiegereltern zum Abendessen.
»Und es war ja Hochsommer, und es dunkelte, und da sind wir beide ins Paradies [Name des Jenaer Volksparks] gegangen. Da wir im Halbdunkeln, und dann schwirrten tausende von Glühwürmchen durch den Park, die Sterne kamen, dann auch noch zu allem Überfluss der halbe Mond. Und da hatte ich so ein Geborgenheitsgefühl, der geliebte Mann an der Seite, das war so schön, was scherte mich da noch der Westen. Nun konnte das Leben ja beginnen.«6
Am 18. Juli wurde erst einmal Hochzeit gefeiert und der junge Vikar und seine hübsche Frau aus dem Westen lockten das Dorf zur Begrüßung auf die Straße.
»Abends sind Klaus und ich in voller Montur, ich in Kranz und Schleier, und er, ohah, sind wir nach Gumperda gefahren, waren gegen 11 Uhr so da, da stand das Dorf um die Kirche rum und ums Pfarrhaus, um den jungen Pfarrer samt Braut zu begrüßen. Dann haben sie gesungen, und dann hat Klaus mich auf Händen die Treppe hochgetragen und dann haben sie geklatscht. ›Und nun haben wir unsere junge Pfarrfrau, und auch noch aus dem Westen, wie kann sie nur?!‹«7
Nun begann ein gemeinsames Leben als schnell wachsende Pfarrfamilie in der Nähe von Weimar. 1963 wurde Sohn Christoph geboren, 1965 folgten die Tochter Annekathrein, 1967 Elisabeth und 1971 der jüngste Sohn Friedemann. Eine deutsch-deutsche Geschichte unter ganz besonderen Vorzeichen die gleichwohl immer wieder Ähnlichkeiten, Unterschiede und Verquickungen beider deutscher Gesellschaften wie unter einem Brennglas vor Augen führt. Eine deutsch-deutsche Geschichte, auf die sich der Blick dieses Buches immer wieder richten wird, nahm ihren Anfang.
Abb. 1: Gertrud und Klaus Gallas bei Ihrer Hochzeit, Jena, 18. Juli 1962.
Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte lebten und erlebten auch die beiden deutschen Gesellschaften nach 1945. Nach Selbstverständnis und Fremdwahrnehmung präsentierten und stilisierten sie sich zwischen 1949 und 1989 als Kontrastgesellschaften par excellence. Auf der einen Seite die Bundesrepublik, anti-totalitär fundiert und westorientiert, als demokratisch-pluralistische Gesellschaft mit offenen, gestaltbaren Strukturen, einer zunehmend diskussionsfreudigen Öffentlichkeit als Korrektiv und einer wachsenden Tendenz zur Individualisierung. Auf der anderen Seite die DDR, gegründet auf den Mythos des Antifaschismus und in enger Abhängigkeit von diktatorischen Vorgaben der Sowjetunion und der SED mit einer fehlenden kritischen Öffentlichkeit und einer weitgehend beschnittenen Autonomie gesellschaftlicher Entwicklung, doch auch mit etlichen Spielräumen für Eigen-Sinn1 und Grenzen der Diktatur. Ebenso wie die bundesrepublikanische Gesellschaft mit einem bleibend hohen Grad sozialer Ungleichheit weit entfernt war von einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (Helmut Schelsky), zeigte sich die DDR als eine Gesellschaft mit zumindest anfänglich hoher sozialer Mobilität, einem verlockenden Egalitätsversprechen, mehr oder weniger erfolgreichen Versuchen der Gegenprivilegierung und mit ihrem Gleichberechtigungsanspruch letztlich doch keineswegs als klassenlose Gesellschaft.
Doch war die westliche Gesellschaft wirklich durchgängig hochdynamisch und die östliche bald stillgestellt? Solche vermeintlichen Gewissheiten gilt es zu hinterfragen ebenso wie Mythen zu entzaubern. Bei allen Divergenzen und Kontrasten zwischen der Bundesrepublik und der DDR sprechen eine Reihe von Aspekten dafür, die reale wie mentale Verflechtung beider deutscher Teilstaaten ernst zu nehmen und mehr oder minder bewusste Analogien und Annäherungen zu berücksichtigen. Bei allen Versuchen, sich als deutscher Teilstaat selbst genug zu sein, verlor man sich nie aus den Augen, war sich, trotz allen Bemühens um Distanz, stets nah: als Referenz- und Konkurrenzrahmen, der die jeweils eigene Entwicklung immer auch im Spiegel des Anderen sah und reflektierte. Dass man, obgleich dies vor allem von Seiten der Sowjetunion kaum goutiert wurde, es sich nicht verbieten ließ, stets den Blick auf das andere Deutschland zu richten, zeugt von einer grenzenlosen Verbundenheit. Offenbar ging das Bewusstsein, Teil desselben Landes zu sein, ungeachtet auseinanderlaufender Entwicklungswege, nie verloren. »Keiner konnte vom anderen absehen, auch wenn er es wollte«,2 und dieses Nicht-ohneeinander-Sein-Können nährt die Vermutung, dass »unter der ideologischen Kruste sich das Zusammengehörigkeitsgefühl konserviert hatte«.3 Alle gesellschaftlichen Entwicklungen, Veränderungen und Umbrüche, die sich im Laufe der vierzigjährigen Trennung abzeichneten, wären ohne das stete Bewusstsein des jeweils anderen nicht oder zumindest anders verlaufen.
Dieses Buch schaut auf Ähnlichkeiten und Unterschiede des Umgangs mit den Herausforderungen des Neubeginns und seinen bewegten Gesellschaften und stellt die Frage, ob und wie man sich der gemeinsamen nationalsozialistischen Geschichte stellte. Es betrachtet den klassenspezifischen Bauplan beider Gesellschaften und bleibende und neue soziale Ungleichheiten. Es geht der Frage nach, welche Rolle Bildungs- und Geschlechtergerechtigkeit spielte und wie sie sich auf den Zuschnitt der Gesellschaft auswirkte. Welche Analogien und Differenzen wiesen ost- und westdeutsche Familienideale und Familienwirklichkeiten auf, welche Bedeutung gab man den nachwachsenden Generationen und wie lebte man als Kind und Jugendlicher in der DDR und der Bundesrepublik? Und schließlich geht dieses Buch Konsumoptionen und Konsumpraktiken nach, um abschließend Chancen und Spielräume für zivilgesellschaftliches Engagement auszuloten.
Der Blick auf beide deutsche Gesellschaften wird neben einem sozial- und kulturgeschichtlichen Ansatz auch von einer konsequent geschlechter- und verflechtungsgeschichtlichen Perspektive geleitet. Überdies ist es ein besonderes Anliegen, auch zeitgenössischen Erfahrungen und Wahrnehmungen möglichst nahezukommen und Erwartungen und Gefühlen von Menschen hüben und drüben nachzuspüren. Entsprechend breit aufgestellt ist die Quellenbasis: Neben zeitgenössischen Publikationen und Zeitungsartikeln, Kinofilmen und Fernsehsendungen, Romanen und Popsongs, Biographien und Autobiographien werden sich nicht nur die Interviews mit Gertrud Gallas als roter Faden durch das Buch ziehen, sondern überdies eine Reihe weiterer Zeitzeugen zu Wort kommen.
Das Augenmerk konsequent auf beide deutsche Staaten zu lenken, ist nicht völlig neu. Als erster stellte sich Christoph Kleßmann mit seinem Buch Die doppelte Staatsgründung bereits sieben Jahre vor dem Mauerfall dieser Herausforderung.4 In den 1990er Jahren setzte sehr bald ein Boom der DDR-Forschung ein, international aufgestellt und mit ansehnlichen Resultaten. Auch die Geschichtsschreibung zur Bundesrepublik, die lange nach 1945 stark politikgeschichtlich orientiert war, bekam in diesem Zeitraum sozial- und kulturhistorischen Aufwind, doch die Vielfalt an Spezialstudien, die mittlerweile für die DDR vorliegen, ist hier längst noch nicht erreicht.
Publikationen, die stärkeres Gewicht auf die Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte beider deutscher Staaten legen, hing häufig der Vorwurf nach, die Geschichte von ihrem Ende her zu schreiben und dadurch von vorneherein die DDR als »Fußnote der Geschichte« (Hans-Ulrich Wehler) zu »verzwergen« (Arnulf Baring) und ostdeutsche Entwicklungen als zumindest defizitär zu klassifizieren.5 Es mit »zwei ganz verschiedenen Geschichten« zu tun zu haben, »einer mit Zukunft, einer ohne Zukunft«, war die prononcierte Ausgangs- und Endperspektive der ersten großen Parallelgeschichte von Peter Graf Kielmansegg aus dem Jahr 2000.6 Die Aufmerksamkeit auch auf Spielräume, Eigen-Sinn und Widerstände in der ostdeutschen Gesellschaft zu lenken, war dagegen ein Appell von Richard Bessel und Ralph Jessen bereits 1996, dem nicht zuletzt Mary Fulbrook wiederholt folgte, indem sie der Frage nachging, ob auch in der »eingezäunten Diktatur« der DDR »ein ganz normales Leben« möglich war.7 Erst jüngst ist es mit der beeindruckenden Studie von Petra Weber gelungen, die häufig asymmetrische wie hierarchisierende Betrachtungsweise konsequent zu durchbrechen.8
Letztlich stellt sich aber doch die Frage, ob wirklich beide deutsche Seiten gleichermaßen regelmäßig ihren Blick in die jeweils andere Himmelsrichtung richteten. Nicht zuletzt das Westfernsehen, ein bis 1989 nicht zu unterschätzender Faktor im deutsch-deutschen Alltag, hat diese Schieflage allabendlich aufs Neue hergestellt. Während beide deutsche Staaten unverwandt sich miteinander verglichen, sich voneinander distanzierten oder den Kontakt suchten und pflegten, schienen weite Teile der bundesrepublikanischen Gesellschaft zunehmend indifferent gegenüber ostdeutschen Entwicklungen geworden zu sein. Zumindest in der wahrnehmungs- und erfahrungsgeschichtlichen Perspektive wuchs ein Ost-West-Gefälle des gegenseitigen Interesses, das mit der Ostpolitik der Wiederannäherung dann auch im Westen wieder aufflackerte und sich gegen Ende der 1970er Jahre – die Biermann-Ausbürgerung war ein Schlüsselereignis – nicht zuletzt auch auf die westdeutsche Jugend übertrug. War die Jugend in puncto Musik längst auf gleicher Wellenlänge, galt dies erst recht für die geteilte Leidenschaft für den Einsatz für Frieden und Umwelt. Und schließlich, so paradox es klingt, hat man sich auch häufig gegenseitig gutgetan, auch ohne es zu wollen. Der Systemwettbewerb hielt die deutsch-deutsche Gesellschaft in Bewegung.
Der Weg ostwärts, den Gertrud Beckemeyer einschlug, war ein eher seltener. Nach 1945 machten sich fast 12 Millionen Deutsche auf in Richtung Westen. Sie waren auf der Flucht, wurden vertrieben oder hofften einfach auf ein besseres Leben. Sowohl für die Neubürgerinnen und Neubürger als auch für die Alteingesessenen bedeutete das ungeheure Herausforderungen, denn beide deutsche Staaten blieben noch weit bis in die 1950er Jahre hinein vom Krieg gezeichnet. Die Städte lagen in Trümmern, Teile der Industrie waren von Demontagen der Siegermächte betroffen, es fehlte an Wohnraum und an Vielem des täglichen Bedarfs.
Abb. 2: DDR-Flüchtlinge warten im Aufnahmelager Marienfelde in West-Berlin auf ihre Registrierung, Juli 1961.
Eine Flucht anderer Art war in beiden Teilen Deutschlands im Umgang mit der gemeinsamen Vergangenheit beobachtbar. Nicht nur der Tod, sondern auch die Verdrängung der dunklen Geschichte war ein »Meister aus Deutschland« (Paul Celan). Im Osten wies man allein dem Westen die Verantwortung zu, im Westen zog man sich lange auf die eigene Opferrolle zurück. Nur zögerlich regte sich der Wunsch nach Aufklärung und die Bereitschaft, der Wahrheit ins Auge zu blicken.
In Bewegung geriet auch die Statik der Gesellschaftsstruktur auf beiden Seiten. Die ostdeutsche Gesellschaft erfuhr eine Umlenkung zusätzlich auch »von oben«, in der westdeutschen Gesellschaft verschoben sich die Positionen vor allem im Zuge von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Prozessen. Unterschiedliche Vorstellungen und Wertungen der gesellschaftlichen »Klassen« prägten das Gesellschaftsgefüge. Gewollte und ungewollte Dynamiken hielten sich mit Beharrungskräften die Waage.
Äußerst ungleich war die Hypothek, die nach Ende des Krieges auf Ost- und Westdeutschland lastete. Dies betraf nicht nur die Wirtschaft, die im Osten noch mehr am Boden lag und durch die sowjetischen Reparationsforderungen weiter gebeutelt blieb, sondern auch die Belastungen durch die Flüchtlinge und Vertriebenen, die man in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) beschönigend »Umsiedler« nannte. 12,5 Millionen suchten Zuflucht in den vier Besatzungszonen. Während sich auf die drei Westzonen rund 6 Millionen verteilten, mussten in der SBZ 4 Millionen ohne Hab und Gut von vorn anfangen. In Mecklenburg-Vorpommern lag ihr Anteil 1947 sogar bei 40 Prozent. Vor allem alte Menschen, Frauen und Kinder waren darunter. Bis 1949 wuchs die Zahl der Geflüchteten und Vertriebenen in den Westzonen auf 7,3, in der SBZ auf 4,3 Millionen, wovon allerdings 1,3 Millionen sehr bald weiter Richtung Westen zogen.1
Es war eine menschliche Tragödie großen Ausmaßes. Doch dass sie Folge eines von Deutschland entfesselten Krieges war, wurde im Westen in den ersten Jahren selten offen ausgesprochen. Im Osten tat man dies sehr wohl, immer mit Verweis auf die eigene Unschuld, doch auch hier setzte man auf eine möglichst reibungslose Integration und Assimilation der Ankömmlinge. Im Osten versuchte man mit der Bodenreform und Zuweisung von Neubauernstellen für einen kleinen Teil der »Umsiedler«, eine neue Lebensgrundlage zu bieten, was sich häufig allerdings als leeres Versprechen entpuppte. Zu klein war die zugeteilte Landfläche, zu schlecht die Ausstattung mit Vieh und Gerätschaften. Bereits 1946 und damit deutlich früher als im Westen konnten die Neubürgerinnen und Neubürger eine einmalige »Umsiedlerunterstützung« beantragen, die 300 Mark für Erwachsene und 100 Mark für Kinder betrug. Auf staatliche Unterstützung waren auch die Vertriebenen im Westen angewiesen. In Schleswig-Holstein, wo sie 33 Prozent der Bevölkerung ausmachten, und in Niedersachsen, wo ihr Anteil bei 27,2 Prozent lag, waren 1946 57,5 respektive 41,3 Prozent aller Arbeitslosen Flüchtlinge und Vertriebene.2 Wer Arbeit hatte, war selten im erlernten Beruf tätig, zur Fluchterfahrung gesellte sich häufig die Abstiegserfahrung. Vom Herrn zum Knecht zu werden oder sich als Hausgehilfin über Wasser halten zu müssen, obwohl man das Lehrerinnenexamen in der Tasche hatte, gehörten zu den üblichen Flüchtlingserfahrungen.
Die Erinnerungen, wie man sich aufgenommen fühlte, differieren stark. Im Nachhinein ist immer wieder von einer geglückten Integration gesprochen worden, die es auf lange Sicht auch war. Doch willkommen fühlten sich die meisten zunächst selten. Vor Ort blieben Vorurteile, Distanz und Konflikte zwischen den Neuankömmlingen und den Alteingesessenen, die sich nur sehr langsam verflüchtigten – mit tiefreichenden emotionalen und mentalen Folgen, nicht zuletzt für die Kinder.
»Ich litt vor allem unter der Bedrücktheit meiner Mutter. Weil wir im Zuge der Wohnraumbewirtschaftung als ›Einquartierte‹ oder ›Evakuierte‹ in das Dorf kamen, hatte sie ständig das Gefühl, wir würden anderen Leuten Raum wegnehmen, wir könnten stören oder auffallen. Wir benahmen uns so still und unauffällig wie möglich, so, als wären wir gar nicht da.«3
Das Sich-unsichtbar-Machen, nur nicht anecken und auffallen, wurde zur anerzogenen Haltung, die viele Flüchtlingskinder annahmen. Das galt für die Schulzeit wie im Arbeitsleben. Doch Hab und Gut zu verlieren, bedeutete nicht den Verlust von Habitus und sozialem und kulturellem Kapital. Dass die Menschen, die alles verloren hatten, sich besonders arbeitsam und aufstiegswillig zeigten, sich in besonderem Maße durch die vermeintlich typisch »deutsche Tüchtigkeit« auszeichneten, erleichterte letztlich im Laufe der 1950er Jahre das Ankommen in der neuen westdeutschen Gesellschaft. Dank des Vermögens, sich über Hindernisse hinwegzusetzen, und des Willens, sich durchzusetzen, erreichten so manche Frauen und Männer, die hatten fliehen müssen, Spitzenpositionen in Politik, Wirtschaft und Kultur, wurden Landrat, Manager oder Chefredakteurin einer großen Wochenzeitung. Es spricht viel dafür, dass bei allem Verlustschmerz, der viele von ihnen nie ganz losließ, die Geflüchteten dem Westen und Osten letztlich einen »gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsschub« bescherten. Was zunächst wie eine kaum zu meisternde Herausforderung für die beiden jungen Staaten erschien, sollte sich später als Bereicherung erweisen. In Stadt und Land kam es zu »einer Aufmischung alter Strukturen«.4 Kulturell führte es zu einer konfessionellen Durchmischung, zu neuen Bräuchen, Speise- und Feiergewohnheiten, Liedern und Sprachmelodien und auf lange Sicht zum Zugewinn an Toleranz gegenüber den Anderen.
Auch wenn die Flüchtlinge und Vertriebenen viel Kraft und Engagement aufbrachten, um in der Bundesrepublik zu reüssieren, hielten viele von ihnen noch lange, bestärkt durch die Vertriebenenverbände, an der Hoffnung auf Rückkehr in die alte Heimat fest. Noch 1962 gaben bei Meinungsumfragen 52 Prozent der Vertriebenen in Westdeutschland an, irgendwann in die alte Heimat zurück zu wollen. In der DDR, wo die Sehnsucht nicht durch kollektive Erinnerungsverbände genährt werden durfte, waren es 1965 immerhin noch 22 Prozent.5 Von staatlicher Seite war hier die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze bereits am 6. Juli 1950 vollzogen worden, eigentlich Signal für die 3,2 Millionen Vertriebenen in der DDR, jegliche Rückkehrhoffnung fahren zu lassen. Der SED-Staat tat die alarmierenden Umfrageergebnisse als Ergebnis der Hetze der westdeutschen Vertriebenenverbände ab und bot alles auf, um jegliche Ansätze von landmannschaftlichen Treffen zu verhindern. Auch hier gelang die Integration der Flüchtlinge und Vertriebene ins Arbeitsleben zunächst nur langsam. 1950 hatten weniger als die Hälfte der 3,2 Millionen »Umsiedler« eine Arbeitsstelle gefunden. Das »Umsiedlergesetz« vom September 1950 gewährte ihnen eine eher schmal bemessene Unterstützung, ähnlich wie das »Soforthilfegesetz« in der Bundesrepublik. Aus den DDR-Statistiken verschwanden die »Umsiedler« schon bald, ihre Unzufriedenheit allerdings blieb. Viele hegten aufgrund traumatischer Erfahrungen einen tiefsitzenden Antikommunismus, manche sogar regelrechten Russenhass, der sich schlecht mit der Staatsideologie der verordneten Deutsch-Sowjetischen Freundschaft (DSF) vertrug. Überdies machten auch die Neuigkeiten aus dem Westen von dem am 14. August 1952 verabschiedeten »Lastenausgleichsgesetz« schnell die Runde und wurden Ansporn zum erneuten Aufbruch. Bis Anfang 1961 packten rund 900.000 ihre Siebensachen, um ihr Glück in der Bundesrepublik zu finden.6 Sicherlich brachte der Lastenausgleich existenzielle Hilfen und Rückenwind für einen Neuanfang. Allerdings brauchte es angesichts des schleichenden bürokratischen Prozesses zwischen Antragstellung und Bewilligung einen langen Atem. Die Hauptentschädigungen setzten erst ab 1957 ein, um dann vor allem in den 1960er Jahren wirklich zu greifen. Doch nicht für alle: 27 Prozent der Anträge wurden abschlägig beschieden. Bei den Alteingesessenen schürten die Entschädigungszahlungen auch eine langlebige Neid-Unkultur in der bundesrepublikanischen Gesellschaft.7
Deutlich aufgeschlossener hingegen zeigte man sich gegenüber den »Brüdern und Schwestern«, die sich im Laufe der 1950er Jahre in Wellen fluchtartig von Ostdeutschland nach Westdeutschland bewegten. Im Jahr 1955 stieg die Sogkraft in den Westen und die Zahl der DDR-Flüchtlinge auf die Rekordhöhe von 331.000. Nach einem kurzen Rückgang infolge des von der Sowjetunion 1952 verordneten »Neuen Kurses« hielt sich die Zahl bis Ende der 1950er Jahre bei rund 165.000 pro Jahr. Bis zum Mauerbau 1961 hatten sich fast 3 Millionen DDR-Bürgerinnen und -Bürger, darunter fast ein Drittel von Vertriebenen, für ein Leben im anderen Teil Deutschlands entschieden.8 Ein keineswegs einfacher Schritt, vor allem seit 1957 »Republikflucht« unter Strafe stand und Sippenhaft für die Zurückbleibenden drohte. Erstaunlicherweise hatte die DDR in den ersten Jahren die massenhafte Abwanderung ihrer Bürger relativ gelassen hingenommen. Noch im August des Jahres 1952 wurde die Hauptabteilung Pass- und Meldewesen angewiesen, jede Übersiedlung in die Bundesrepublik zu genehmigen, »wenn der DDR ein Vorteil daraus entsteht«. Offenbar hoffte man, politisch illoyale Störenfriede loszuwerden, und überdies bei der drückenden Wohnungsnot und Lebensmittelknappheit auf Entlastung. Doch als sich immer mehr Menschen auf den Weg nach Westen machten, drehte sich der Wind. Nun wurden gezielt Informelle Mitarbeiter (IM) angeworben, die an Nahtstellen zur Flucht saßen: Postboten, Taxifahrerinnen, Fahrkartenverkäufer oder Bankangestellte schienen besonders prädestiniert, Fluchtabsichten ihrer Kundschaft zu erahnen.
Die Motive der Flucht waren vielfältig, die Wellen folgten nicht nur der politischen Großwetterlage. Familienzusammenführungen, politische Unzufriedenheit, bleibende Versorgungsknappheit, Freiheitsdrang, Deklassierung und Enteignung konnten Gründe für die Abwanderungen sein, häufig mengten sich mehrere Ursachen zusammen. Und langsam merkte der SED-Staat, welche schmerzlichen Lücken die Geflüchteten hinterließen. So häuften sich Fälle, dass ostdeutsche Unternehmer nach Flucht und Neugründung des Betriebes im Westen große Teile der alten Stammbelegschaft nachholten. Vor allem Selbstständige, darunter viele Bauern, denen ihr Land genommen worden war, und generell Andersdenkende kehrten der DDR den Rücken. Viele waren noch sehr jung, die meisten bestens ausgebildet. Und ein großer Teil hatte überdies Verwandtschaft im Westen, die beim Ankommen half.
Überzeugt davon, das bessere Deutschland aufzubauen, unbelastet und der »Zukunft zugewandt«, wie es die ostdeutsche Hymne von Johannes R. Becher und Hanns Eisler inbrünstig beschwor, verstand die DDR-Regierung es ganz und gar nicht, warum so viele ihr den Rücken kehrten. Die dunkle Geschichte lastete man ausschließlich der westlichen Seite an und rückte die Abgrenzung von der nationalsozialistischen Vergangenheit in den Mittelpunkt des politisch-ideologischen Selbstverständnisses.9 Im Westen hatten laut OMGUS-Umfrage 1946 noch gut 60 Prozent der Deutschen eine Mitschuld am NS-Regime eingeräumt und nicht verneint, dass der Mord an Millionen von Menschen von Deutschen zu verantworten war. Auch eine Entnazifizierung hielt die Mehrheit der Westdeutschen anfänglich noch für richtig und nötig. Auf den »Weißen Listen« der Westalliierte war verzeichnet, wer gegen die NS-Diktatur gekämpft oder sich ihr verweigert hatte.10 Mit diesen Gegnern des NS-Regimes wollte man gemeinsam den Neuanfang wagen. Doch gegenüber den Hunderttausenden, die ihre Stellungen und Ämter räumen mussten, nachdem sie den 131 Positionen umfassenden Fragebogen ausgefüllt hatten und der Grad ihrer Verstrickung festgestellt worden war, war das eine verschwindend kleine Minderheit. 6,5 Millionen der Deutschen in Ost und West waren Mitglieder der NSDAP gewesen.
Nach Gründung der beiden deutschen Staaten wurde der Nationalsozialismus zum gemeinsamen negativen Bezugspunkt mit allerdings sehr unterschiedlicher Stoßrichtung. Der Gründungsmythos des Antifaschismus, der – schaut man auf die »Männer der ersten Stunde« der DDR – nicht ganz haltlos war, enthob die ostdeutsche Gesellschaft weitgehend der Verantwortung für die Vergangenheit. Schließlich saßen mit Walter Ulbricht und anderen Genossen vielfach ehemalige Widerstandskämpfer und Verfolgte des Nationalsozialismus in der Regierung. Anklagend zeigte man dagegen mit dem Finger auf Bonn. Zwar gehörte auch Konrad Adenauer zu den Verfolgten des NS-Regimes, doch in seiner Entourage fanden sich, was die DDR medial breit ausschlachtete, Politiker, die eine exponierte Rolle im NS-Regime gespielt hatten. Und generell, gleichsam als Folge einer zwar anfangs konsequenten, später in die Hände deutscher Verwaltungsbeamter gelegten Entnazifizierung, galt zwar, dass die große Mehrheit der NS-Größen keine Karriere mehr machen konnte, für die »mittlere Garnitur« traf dies aber weit weniger zu.
Die zumindest in den ersten Jahren weitaus konsequentere Entnazifizierung, erst später vom Pragmatismus gemildert, hatte in der DDR in vielen Bereichen zu einem Austausch alter »Eliten« geführt, der einen Neuanfang unter neuen Vorzeichen versprach. Andere Gesellschaftskreise, denen vorher der Zugang zu attraktiven Positionen verwehrt war, rückten nun in die erste Reihe. In der Bundesrepublik hüllte man sich dagegen in einen Mantel des Schweigens, auch wenn allgemein bekannt war, dass viele »Persilscheine« erschlichen worden waren und die weiße Weste so mancher Richter, Studienrätinnen, Staatsbeamter und Ärztinnen voller Flecken war. Den Vorwurf der »Kollektivschuld«, der nicht nur aus dem Osten kam, wies das Gros der westdeutschen Bevölkerung weit von sich. Auch in Westdeutschland tat man sich lange Zeit schwer damit, den Blick von den jeweils »eigenen« Opfern zu lösen und den Weg frei zu machen für eine unvoreingenommene Sicht auf die grausamen Ursachen und Folgen des Krieges. Viel eher gefiel man sich in der Rolle der von einer kleinen Verbrecherclique verführten und ausgenutzten Opfergesellschaft.
Dennoch kann von einem völligen »Beschweigen« (Hermann Lübbe) der Vergangenheit zumindest in Teilen der Öffentlichkeit in der ersten Stunde der beiden deutschen Staaten nicht die Rede sein.11 Zumindest unmittelbar nach Kriegsende gab es unter den Intellektuellen in Ost und West die Bereitschaft, die Geschichte des Nationalsozialismus ohne Abstriche aufzudecken. Immerhin schrieb Alexander Abusch vom Irrweg einer [!] Nation und nahm damit das gemeinsame Erbe an, jedoch um gleichzeitig für die DDR das Ende aller Irrwege zu beanspruchen. Zeitgleich erschien Friedrich Meineckes vielbeachtetes Buch Die deutsche Katastrophe. Diese kritischen Auseinandersetzungen von zwei hochrangigen Geistesgrößen in Ost und West stimmten bei ihrem Ringen um eine Erklärung des Nationalsozialismus zumindest in einem Punkt überein: Es sei Zeit für den Abschied von einem lange als positiv gedeuteten »deutschen Sonderweg« in die Moderne. Einig war man sich auch, dass der preußische Militarismus ein »gerüttelt Maß Schuld« an der »deutschen Katastrophe« trage. Während Abusch getreu der Parteidoktrin dem »Bündnis des Großbürgertums mit der feudalen Reaktion« die Hauptverantwortung zuschob, betonte auch Meinecke die »Mitverantwortung und Schuld des deutschen Bürgertums«.12 Beide Bücher verkauften sich gut, fanden aber nur eine bildungsbürgerlich geprägte Leserschaft. Gleiches galt auch für die veröffentlichte Vorlesung Die Schuldfrage des weltweit respektierten Philosophen Karl Jaspers. Alle drei Werke wurden zum Teil sogar als entlastend gelesen, aber die breite Öffentlichkeit erreichten sie kaum.
Das gelang eher Theaterstücken und Kinofilmen. Obschon in West- und Ostdeutschland das Repertoire der Schauspielhäuser vor allem aus dem Klassikerschatz schöpfte, schafften es auch Gegenwartstücke auf die Bühnen. Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür zeigt mit dem obdachlosen Unteroffizier Beckmann das Schicksal eines Kriegsheimkehrers, das vielen aus der Seele sprach. In der DDR sah man hingegen davon ab, es dem Publikum zu präsentieren. Zu sehr war das Stück von einer Stimmung der Ausweglosigkeit gezeichnet, als dass es zu dem ostentativen Aufbauoptimismus gepasst hätte. Auch vor der Inszenierung von Carl Zuckmayers Des Teufels General aus dem Jahr 1947 scheute man zurück, während es im Westen zum erfolgreichsten Nachkriegsdrama avancierte. Mit dem durch und durch positiv gezeichneten Fliegergeneral Harras wurde dem westdeutschen Publikum die Figur eines reuigen und sympathischen Mitläufers vorgeführt, was dem Stück einen ostdeutschen Verriss als »Blankoscheck zur moralischen Entschuldigung nazistischer Würdenträger« eintrug.13
Im Kino war es zunächst die SBZ, die das Thema der Kriegsschuld auf die Leinwand brachte. Wolfgang Staudtes Film Die Mörder sind unter uns aus dem Jahr 1946 erzählt die Geschichte eines Kriegsverbrechers, der nach dem Krieg als erfolgreicher Fabrikant weiter Karriere macht. Im Westen wurde der Film erst ein Jahr später mit deutlich weniger Publikumsresonanz gezeigt. Ähnliches galt für Staudtes Film Der Untertan, der 1951 kongenial zur Romanvorlage von Heinrich Mann die buckelnde Obrigkeitshörigkeit als deutsche Mentalität karikierte. Das bundesrepublikanische Publikum konnte ihn in gekürzter Version erst sechs Jahre später genießen. Eine Überhöhung der Arbeiter und der Sozialdemokratie auf der einen Seite und eine übermäßige Überzeichnung der Unternehmer und konservativen Kräfte, lautete der Vorwurf der Kritiker. Der Spiegel nannte ihn nach seiner Premiere in Ost-Berlin ein »Paradebeispiel ostzonaler Filmpolitik« und sah in ihm eine Stimmungsmache in der »westlichen Welt […] gegen Deutschland«. Dass gerade die DDR sich filmisch über die deutsche Untertanenmentalität amüsierte, wertete man als verlogene Hybris, habe es doch im Kaiserreich keinen solch unfreien Untertanen gegeben, wie die DDR ihn tagtäglich neu hervorbringe.14
Bei der Mehrheit der westdeutschen Filme in den 1950er Jahren handelte es sich um idyllische Heimatfilme, die eher einen Eskapismus beförderten, als dass sie einer ernsten Auseinandersetzung den Weg bereiteten. Schon 15 Jahre bevor Alexander und Margarete Mitscherlich den Deutschen die Unfähigkeit zu trauern ins Stammbuch schrieben, bekümmerte die 42-jährige Philosophin Hannah Arendt bei ihrem Besuch in Deutschland im Jahr 1950, das sie als Jüdin fünfzehn Jahre zuvor verlassen musste, die »Weigerung zu trauern«, die sie bei ihren Streifzügen durch die deutschen Trümmerlandschaften wahrnahm.
»Inmitten der Ruinen schreiben die Deutschen einander Ansichtskarten von den Kirchen und Marktplätzen, den öffentlichen Gebäuden und Brücken, die es gar nicht mehr gibt. Und die Gleichgültigkeit, mit der sie sich durch die Trümmer bewegen, findet ihre genaue Entsprechung darin, daß niemand um die Toten trauert. […] Dieser allgemeine Gefühlsmangel, auf jeden Fall aber die offensichtliche Herzlosigkeit, die manchmal mit billiger Rührseligkeit kaschiert wird, ist jedoch nur das auffälligste äußerliche Symptom einer tief verwurzelten, hartnäckigen und gelegentlich brutalen Weigerung, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen und sich damit abzufinden.«15
Die »Flucht vor der Wirklichkeit«, die Arendt beobachtete, war auch die »Flucht vor der Verantwortung«.16
Doch es gab auch zaghafte Annäherungen der Auseinandersetzung. Mitte der 1950er Jahre kannten neben den Erwachsenen auch viele Kinder und Jugendliche den Namen einer anderen jungen, in Bergen-Belsen ermordeten Jüdin. Auf beiden Seiten des »Eisernen Vorhangs« wurde Anne Frank zum Symbol für das millionenfache jüdische Leid.17 1950 war das Buch, mit Fotos von Anne und dem als Versteck dienenden Hinterhaus in der Amsterdamer Prinsengracht illustriert, erstmals in Westdeutschland erschienen. 1955 folgte die Taschenbuchausgabe im Fischer-Verlag. In der DDR verhinderte zunächst Annes Vater Otto Frank ein Erscheinen. Angebote aus der »Ostzone« lehnte der überzeugte Anti-Kommunist, der lange mit dem Manuskript hausieren gehen musste, wiederholt ab. Schließlich stimmte Frank den Verhandlungen mit dem Union-Verlag als Parteiverlag der ostdeutschen Christdemokraten zu. Geplant war eine Hardcover-Version mit einer Auflagenhöhe von 10.000 Exemplaren, die dann im Herbst 1957 auch in den Buchhandlungen des Ostens für 7 Mark zu kaufen war. Bis 1961 wurden insgesamt 121.000 Exemplare ausgeliefert. Seit den 1960er Jahren begannen vor allem Schulen und Kindergärten in der DDR, sich mit Anne Franks Namen zu schmücken, ein Trend, der bis zum Ende des SED-Staates anhielt. 1981 war vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend (FDJ) eine »Namensträgerbewegung« ins Leben gerufen worden. Unter der Rubrik »Namen ausländischer Persönlichkeiten« war auch die in Frankfurt am Main geborene Anne Frank aufgeführt. Otto Frank erreichten immer wieder Briefe von Schülerinnen und Schülern, die ihn argwöhnen ließen, dass sie das Tagebuch nur aus den wenigen Zitatschnipseln aus ihren Schulbüchern kannten. Das Schicksal der jungen Anne berührte die häufig sehr junge Leserschaft in West und Ost, das Leiden der jüdischen Mitbürgerinnen und -bürger hatte ein Gesicht bekommen. Trotzdem, Vater Frank hatte es befürchtet, scheute man in der DDR nicht davor zurück, ihre Geschichte für propagandistische Zwecke zu missbrauchen. Eine DEFA-Dokumentation mit dem irreführenden Titel Ein Tagebuch für AnneFrank wurde am 26. Februar 1959 im Fernsehen der DDR ausgestrahlt. Die Presse hüben wie drüben überschlug sich. Zwei Tage nach der Ausstrahlung hieß es im Neuen Deutschland: Der »DEFA-Dokumentarfilm zeigt die faschistischen Judenmörder unter den Fittichen des Adenauer-Regimes«. Die Welt konterte mit der Schlagzeile »Zonenpropaganda mit Anne Frank«18 und die westdeutsche Wochenzeitschrift Die Zeit widmete dem Film eine ausführliche Rezension, in der es hieß:
»Im Bilde erscheinen die Leidensstationen Anne Franks, unterbrochen immer wieder von ergreifenden Ein- und Überblendungen ihres Gesichts, untermalt von wirkungsvoller Musik. Der Film verbindet damit die brennende Frage nach den Schuldigen. Hier beginnen die propagandistischen Tricks […]. Wieder versucht man, mit diesem Film den Eindruck zu erwecken, als hätte die Bundesrepublik allein das Erbe Hitlers angetreten und Nazideutschland damit an der Elbe aufgehört.«19
Zwar säßen, so endete selbstkritisch die Kritik, noch Leute »auf Plätzen […], auf die sie nicht gehören«, doch sie seien »keine Macht« im Staate. Einige und nicht Wenige allerdings schon. Erst Ende der 1950er Jahre war die Zeit gekommen, das leidige Thema auf westdeutsche Kinoleinwände zu projizieren. Kurt Hoffmanns Komödie Wir Wunderkinder nahm den von der DDR immer wieder aufgedeckten Skandal einer ungebrochenen Karrierekontinuität von der NS-Zeit bis in die Bundesrepublik in die Mangel. Bei der Beerdigungsszene des NS-Verbrechers und Wirtschaftsmoguls versammeln sich scharenweise »Zylinder« im doppelten Sinn des Wortes vor der Friedhofsmauer und dem Grab. »Verschiedene seines Schlages leben weiter«, lautete das mahnende Schlusswort, das Wolfgang Neuss als Bänkelsänger anstimmte.
Eine Wende nicht nur in der justiziellen, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung der Verbrechen des Nationalsozialismus brachten seit Ende der 1950er Jahre eine Reihe von Prozessen gegen NS-Täter, die nun großes Publikumsinteresse weckten. Den Auftakt machte der »Ulmer Einsatzgruppen Prozess« am 28. April 1958.20 Er war der erste große Prozess gegen NS-Täter unter deutscher Regie und richtete sich gegen zehn Angehörige der Gestapo und der Ordnungspolizei, denen vorgeworfen wurde, 5.502 jüdische Männer, Frauen und Kinder im litauisch-deutschen Grenzgebiet bei Tilsit ermordet zu haben. Die Angeklagten waren nach dem Krieg in ein wohlsituiertes Leben zurückgekehrt. Obwohl die Staatsanwaltschaft auf die hohe Eigeninitiative bei den Mordaktionen verwies und für mehrere ehemalige SS-Führer eine lebenslange Strafe gefordert hatte, wurden die Angeklagten nur als »Gehilfen« der Mordmaschinerie verurteilt. Alle Medien berichteten ausführlich über den Prozessverlauf. Etliche Schlagzeilen wie »Das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte«, »In Ulm steht eine ganze Epoche vor Gericht« und »Endlich kam die Wahrheit an den Tag« brachten nun gänzlich andere Töne als noch beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess 13 Jahre zuvor, wo noch von selbstgerechter »Siegerjustiz« die Rede gewesen war. Der Prozess von Ulm markierte eine Zäsur im Umgang der bundesdeutschen Justiz mit nationalsozialistischen Gewaltverbrechern. Zugleich trug er erstmalig das Thema der Shoah an die Öffentlichkeit. Nun offenbarte sich in aller Schonungslosigkeit, dass ein Großteil der Massenverbrechen bislang nicht untersucht und geahndet worden war. Die Mörder sind unter uns hieß Staudtes Film, der Prozess brachte eben dies zutage. An die Stelle des Schlussstrichappells trat nun die Erwartung der Aufdeckung. Blankes Entsetzen lösten die aufgedeckten Massenmorde der »ganz normalen Männer« aus. Nun zeigte eine große Mehrheit die Bereitschaft, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, und die Formel von der »Bewältigung der Vergangenheit« kam auf. Dass Teile der bundesdeutschen Führungsköpfe, wie es die DDR immer wieder anprangerte, in den Chefetagen thronten statt hinter Schloss und Riegel zu sitzen, wurde nun auch im Westen skandalisiert.
Jetzt schien auch die Zeit reif für eine Initiative des Präses der Synode der Kirchenprovinz Sachsen. Erneut brachte Lothar Kreyssig auf der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland im April des Jahres 1958 die Idee für die »Aktion Sühnezeichen« in die Diskussion und fand zwar nicht allgemeine, aber ausreichende Unterstützung für einen bis zum Mauerbau gesamtdeutschen Jugendfreiwilligendienst. Obschon Kreyssig daran gelegen war, junge Deutsche in alle Länder zu schicken, die Opfer des NS-Terrors geworden waren, beschränkte sich der Arbeitseinsatz vornehmlich auf Kibbuzaufenthalte in Israel. Der Einsatz war explizit, wie der Name es sagte, als Sühneleistung und Schuldanerkennung deklariert. Auch wenn die »Aktion Sühnezeichen« weiterhin in der Kritik stand, zeigte der rege Zulauf, dass viele Jugendliche und ihre Eltern vor der Konfrontation mit den Opfern und ihren Angehörigen nicht mehr zurückscheuten.21
Auch weitere Prozesse bestärkten den Wunsch der westdeutschen Öffentlichkeit nach Diskussion und Offenlegung der NS-Vergangenheit. 1961 stand Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht und in den ab 1963 in Frankfurt am Main laufenden »Auschwitzprozessen« kamen die grauenhaften Verbrechen in den Konzentrationslagern, häufig mit Überlebenden als Zeuginnen und Zeugen, ans Licht der Öffentlichkeit. Als Konsequenz der Prozesse und der Erkenntnis von noch tausend ungeklärten Fällen wurde die Einrichtung der »Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« mit Sitz in Ludwigsburg eingerichtet. Wieder war es Wolfgang Staudte, der sich des Themas der Verstrickung westdeutscher Justiz in nationalsozialistische Verbrechen annahm und in seinem Film Rosen für den Staatsanwalt vorführte. Auf Seiten der DDR wurden erneut Listen veröffentlicht, auf denen Richter und Staatsanwälte aufgeführt waren, die schon in der NS-Zeit tätig waren und in der Bundesrepublik ihre Karrieren ungehindert fortsetzten. Auch wenn dies von westdeutscher Seite als Ostpropaganda abgetan wurde, schaute man nun auch hier genauer hin und begann mit Nachforschungen. Westdeutsche Listen, die das Gleiche für die DDR nachwiesen, kursierten. Unter dem Titel Ehemalige Nationalsozialisten in Pankows Diensten wurden rund 300 Personen gelistet, die als ehemalige NSDAP-Mitglieder auch in der DDR weiter auf hochrangigen Posten saßen.22 Das Ping-Pong-Spiel gegenseitiger Schuldzuweisungen hörte nicht auf.
Die Medien nahmen das wachsende Interesse nach Aufklärung und Aufarbeitung wahr und suchten nach Antworten. Von Oktober 1960 bis Mai 1961 wurde im Westfernsehen eine vierzehnteilige Dokumentation über das »Dritte Reich« gezeigt, die fast 60 Prozent der bundesrepublikanischen Zuschauer einschalteten. Betroffen registrierte man, wie wenig Kinder und Jugendliche über die NS-Diktatur wussten. Die Gründung der »Bundeszentrale für politische Bildung« im Jahr 1963 sollte mit kostenfreien Materialien für Aufklärung sorgen. In den Curricula der Schulen räumte man dem »Nationalsozialismus« deutlich mehr Platz ein, die westdeutschen Schulbücher wurden gründlich überarbeitet, während in den ostdeutschen Pendants das Narrativ unangetastet blieb, das die NS-Verbrechen nahezu ausschließlich in Zusammenhang mit kapitalistischen Großunternehmen stellte.
1979 erschütterte die bundesrepublikanische Öffentlichkeit die US-amerikanische Fernsehserie Holocaust. Zur besten Sendezeit, allerdings nur in den dritten Programmen, wurden die vier Teile vom 22. bis 25. Januar ausgestrahlt. Das unsagbare Leid der jüdischen Arztfamilie Weiss rüttelte auf und brach in vielen Familien das fast dreißigjährige Schweigen. Die Resonanz war überwältigend, die Einschaltquoten erreichten fast 40 Prozent. Zwar kritisierten Journalisten und Historiker die Machart als »Seifenoper«, worauf die Fernsehverantwortlichen die Kritik aufgriffen und die Fiktion einbetteten in Begleitdokumentationen und Expertenrunden. »Das Volk ist aufgewühlt, betroffen und plötzlich von großem Wissensdurst erfüllt«, schrieb Marion Gräfin Dönhoff, Chefredakteurin der Zeit, hörbar selbst betroffen. Die Bild Zeitung überzog die Emotionalität und titelte nach Ausstrahlung der ersten Folge in gewohnter Manier mit Großbuchstaben und Blick auf den Bundespräsidenten: »Scheel weinte«. Bei aller wissenschaftlichen Kritik an der Serie analysierte sie nicht Geschichte, sie machte Geschichte.23 Großmütter begannen zerknirscht, über verlorene jüdische Freundinnen zu erzählen, Väter erinnerten sich an antisemitische Ausfälle von Lehrern. Auch wenn in einigen Familien weiterhin beredtes Schweigen herrschte: Viele Zeitzeugen erinnern sich, dass in ihren Familien die Geschichte der Familie Weiss einen tiefsitzenden Erinnerungsknoten löste und den Impuls gab, auch über die eigene Familiengeschichte der Jahre zwischen 1933 und 1945 zu sprechen.
Die DDR hingegen distanzierte sich entschieden von der Serie. Man unterstellte der US-amerikanischen Produktion ausschließlich kommerzielle Motive. Überdies vermisste man wie immer den Verweis auf das Finanzkapital als Schuldtragenden. Von einem »gesamtdeutschen Nachkriegsversäumnis« hieß es in der Zeitschrift Film und Fernsehen, könne keine Rede sein. Anders als die Bundesrepublik habe die DDR keine Nachhilfe in Vergangenheitsbewältigung nötig. Erich Honecker verwies kurz nach der Holocaust-Ausstrahlung auf ostdeutsche Filme, die sich weit früher des Themas angenommen hätten. Prompt wurden in einer Retrospektive eben diese Filme gezeigt. Dazu gehörte der Film Ehe im Schatten, der die Geschichte eines Schauspielerpaares im »Dritten Reich« erzählt. Der Mann wird gezwungen, sich von seiner jüdischen Partnerin zu trennen. Als er dies ablehnt, droht man ihm mit Einsatz an der Front und seiner Frau mit Deportation. Aus Verzweiflung wählen sie den gemeinsamen Freitod. Der Film feierte als einziger DEFA-Film in allen vier Berliner Sektoren am 3. Oktober 1947 Premiere. Auch 1979 fand er ein großes Publikum, das es sich aber nicht nehmen ließ, auch die Serie Holocaust zu verfolgen, zumindest wo man die dritten Programme des Westfernsehens empfangen konnte. Dass das Drama auch hier tiefe Betroffenheit auslöste, entnahmen Journalisten des Stern ihren Befragungen von ostdeutschen Zuschauern. Ähnlich wie in Westdeutschland gab der Vierteiler den Impuls für Familiengespräche. Das bestätigen auch Mehrgenerationen-Interviews mit Ost- und Westdeutschen, die in den späten 1990er Jahre geführt wurden. Opa war kein Nazi, lautete nahezu einhellig der deutsch-deutsche, häufig Heldensagen schaffende Befund des emotionalisierten Familiengedächtnisses.24
Auch das öffentliche Gedenken an die Opfer des Krieges in der DDR war hochgradig selektiv und fokussiert auf den kommunistischen Widerstand. Indem man eine Hierarchie zwischen den »Kämpfern gegen den Faschismus« und den »Opfern des Faschismus« schuf und den eigenen Staat zum Sachwalter des Antifaschismus heroisierte, lehnte man bis in die 1970er Jahre hinein Entschädigungs- und Wiedergutmachungszahlungen an jüdische Überlebende ab. Eben diese waren es dann vor allem, die auch den Blick auf die antisemitischen Verfolgungen einklagten. Seit 1947 vertrat die »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes« (VVN), ein gesamtdeutscher Verband, die Interessen der Opfergruppen. Ein eigener Verlag gab Erinnerungen von Überlebenden heraus und schuf damit eine Wissensbasis über die Shoah.25 Als 1958 die »Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald« eröffnet wurde, die mit ihrem Mahnmal die »kommunistische Heilserzählung« in Stein meißelte, regte sich Widerstand. Vor allem aus Künstlerkreisen kam Kritik an der Marginalisierung der jüdischen Opfer. In seinem Vorwort zu einer Sammlung von Berichten zur Shoah in Polen schrieb der jüdische Schriftsteller und Präsident der Akademie der Künste Arnold Zweig: »Unter den 21 Fahnen der Völker, welche sich auf dem Ettersberg zusammenfanden, […] fehlte die Fahne mit dem uralten Emblem des Davidsterns, welches die Opfer des faschistischen Terrors vertreten hätte.«26 Auch in der Auseinandersetzung mit der Shoah in der DDR markierte das Jahr 1953 eine Zäsur. Die VVN wurde zwangsaufgelöst. Bereits in der UdSSR und der Tschechoslowakei laufende Verfolgungen von jüdischen Parteimitgliedern fanden jetzt auch in Ostdeutschland statt. Nahezu alle Vorsitzenden und etwa die Hälfte der Mitglieder der Jüdischen Gemeinden flohen aus der DDR. Doch die verbliebenen Jüdinnen und Juden, die häufig im Exil eine bewusste Entscheidung für die DDR getroffen hatten, versuchten immer wieder, die lange Tradition jüdischer Kultur in der ostdeutschen Gesellschaft wachzuhalten. Doch sie blieben weitgehend unter sich. Ostdeutsche Verlage wie »Volk & Welt«, »Aufbau« und »Reclam« betätigten sich als Vermittler, in dem sie Werke jüdischer Autorinnen und Autoren verlegten. Arnold Zweig unterstützte die Drucklegungen von jüdischen Freunden, die Malerin Lea Grundig bestückte zahlreiche Ausstellungen mit Werken zur Shoah und die Sängerin Lin Jaldati brachte jiddische Lieder und Kultur einem größeren Publikum nahe. Doch das waren Einzelkämpfer und ihre Aktionen nur Schlaglichter, die nicht kaschieren konnten, dass in der breiten Öffentlichkeit das Thema nicht erwünscht war. Alle Gedenkstätten, die im Laufe der 1950er Jahre eingeweiht wurden, lenkten die Erinnerungen primär auf den kommunistischen Widerstand.
Während die Prozesse der 1950er Jahre in der Bundesrepublik als Weckruf wirkten und die Rücktritte der NS-belasteten Bundesminister Theodor Oberländer und Hans Krüger 1960 und 1964 einen Wandel der gesellschaftlichen Haltung indizierten, forderten die 68er nicht als Erste aber lautstarker und drängender weitere Aufklärung. Ende der 1960er Jahre verstand sich der frischgebackene Kanzler Willy Brandt, selbst ehemaliger Widerstandskämpfer, als »Kanzler eines befreiten Deutschlands«, und dies bereits 15 Jahre bevor Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum Gedenken des 40-jährigen Kriegsendes den 8. Mai auch zum »Tag der Befreiung« deklarierte. Mit seinem Kniefall vor dem Mahnmal für die Opfer des Aufstands des Warschauer Ghettos bekundete Brandt am 7. Dezember 1970 Scham und Reue für die Verbrechen der Deutschen während des Nationalsozialismus. Nicht zuletzt damit gewann er auch auf ostdeutscher Seite eine wachsende, vor allem jugendliche Anhängerschaft, die jetzt, befragt nach Vorbildern, häufig den westdeutschen Kanzler nannten. Auch wenn die Reaktion der westdeutschen Bevölkerung gespalten war, wurde die Geste als beispielhaft für den Umgang der Westdeutschen mit ihrer Vergangenheit gelobt.27
Die 1980er Jahre sind in der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur gekennzeichnet durch viele öffentliche Debatten, große Geschichtsausstellungen wie »Preußen – Versuch einer Bilanz« 1981 im West-Berliner Martin-Gropius-Bau, aber auch zahlreichen Geschichtsbewegungen »von unten«. Im Westen brach ein regelrechter Geschichtsboom aus, beflügelt von den »Geschichtswerkstätten«, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Städte wie Oldenburg initiierten gemeinsam mit Schulen »Erinnerungsgänge«. Aber auch »von oben« kamen Initiativen, um der bundesrepublikanischen Gesellschaft Geschichte näher zu bringen. Bundeskanzler Helmut Kohl holte seine lange umstrittenen Pläne für ein »Deutsches Historisches Museum« und ein Bonner »Haus der Geschichte« aus der Schublade und rief Expertenrunden zur weiteren Planung zusammen. Nun war ein deutlich differenzierteres Bewusstsein von der NS-Vergangenheit ganz ohne Kalte-Kriegs-Projektionen erkennbar, das nahezu alle Opfergruppen in den Blick zu nehmen versuchte.28 In der DDR war dieser Trend am ehesten in Diskussionszirkeln unter dem Dach der Kirche erkennbar, wo Jugendliche die Darstellung der NS-Vergangenheit in ihren Schulbüchern hinterfragten und Anne Franks Tagebuch zur Gänze lasen. Von offizieller Seite hielt sich in der DDR bis zu ihrem Ende die dezidierte Abgrenzung von der nationalsozialistischen Vergangenheit. Es ging vor allem um die Legitimation des eigenen Systems als das überlegene, da historisch unbelastete. Mit der repetitiven Meistererzählung des Antifaschismus, die den Faschismus als »extremste Form des Kapitalismus« deutete, sollte sich die Mehrheit der DDR-Bürgerinnen und -Bürger nicht als Erben des »Dritten Reiches« und die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht als Teil ihrer Geschichte sehen. Reaktionen auf Anne Frank und die Holocaust-Serie zeigten indes, dass nicht alle dieser staatlichen Verordnung folgten.
Obschon der Klassenbegriff für moderne Gesellschaften wenig passgerecht erscheint, gab es sowohl in Ostdeutschland als auch in Westdeutschland weiterhin die Gesellschaft strukturierende klassenspezifische Merkmale und Unterschiede. Soziale Ungleichheiten blieben, verfestigten und verschoben sich. Differenzen nach Habitus, Verteilung von Ressourcen, Teilhabe an kulturellen Angeboten, Zugang zum Bildungssystem, Wahl der Heiratskreise und Wohnquartiere sowie Gestaltungsoptionen des Privatlebens kennzeichneten beide Gesellschaften, auch wenn der DDR-Staat weit früher und stärker für sich in Anspruch nahm, hier lenkend eingreifen zu können, was ihm im Bereich der Bildung ein Stück weit gelang, im Bereich des Privaten deutlich weniger. Beide Gesellschaften zeigten sich einerseits als hochgradig dynamisch und in Bewegung, andererseits wirkten überkommende Kräfte der Beharrung und »Inseln der Tradition« blieben bestehen.29
Da im gesellschaftlichen Wandlungsprozess »Inseln der Tradition« blieben und leicht auch zu »Inseln der Resistenz« werden konnten,30 betrachtete die DDR sie als vordringlich auszuräumendes Hindernis, um dem »Arbeiter- und Bauernstaat« den Weg zu ebnen. Die »Brechung des bürgerlichen Bildungsmonopols« und die parallel dazu verlaufende Gegenprivilegierung bislang bildungsferner gesellschaftlicher Schichten gehörte zu den früh in Angriff genommenen Projekten staatlicher Umgestaltung. Um gleichzeitig die Arbeiterschaft – die Bauern blieben eher im Schatten – als herrschende Klasse zu inthronisieren, brauchte man Paradearbeiter als strahlendes Vorbild und Aushängeschild der Leistungsbereitschaft. Dazu wurde ein Heer von »Helden der Arbeit« und auch ein deutlich kleinerer Stoßtrupp von »Heldinnen« in frühen Kampagnen zu Ikonen der sozialistischen Idee stilisiert und mit der inflationär verliehenen Auszeichnung »Verdienter Arbeiter des Volkes« honoriert. Abgekupfert hatte man die Idee von der sowjetischen Stachanow-Bewegung, die innerbetrieblichen Wettbewerb um Normerfüllung und -übererfüllung zum Maßstab setzte. Zum Helden und zur Heldin wurde man, indem man vorgegebene Arbeitsnormen weit übererfüllte und damit gleichzeitig den Wettbewerb unter der Kollegenschaft anstachelte. Nicht zuletzt deshalb bedurfte es großer Überredungskünste, um am 13. Oktober 1948 den Bergmann Adolf Hennecke und wenig später die Weberin Frieda Hockauf als Paradearbeiter zu gewinnen, denn sie verkörperten noch mehr Anstrengungen und ehrgeizige Planerfüllung und riefen damit neben Bewunderung auch Neid und Ächtung hervor.31 Die Erfindung des Ehrentitels verhalf dem SED-Staat dazu, die Masse der Arbeiter auf die »historische Bühne« zu holen und mit einem Glorienschein zu umgeben.32 Denn bei der Gründung der beiden deutschen Staaten war die Zeit des stolzen Proletariers, wie er Ende des 19. Jahrhunderts geboren wurde, längst vorbei.
Das galt erst recht für Westdeutschland und dies umso mehr, weil man sich bewusst absetzen wollte von der Arbeiterverklärung jenseits des Eisernen Vorhangs.33 Selbst wenn die Arbeitnehmerschaft der jungen Bundesrepublik erst nach und nach von der aufziehenden Hochkonjunktur profitierte, bewirkte ein früher Anstieg der Reallöhne eine deutliche Verbesserung der Lebenslage und erzeugte zunehmende Zuversicht, dass es bergauf gehe. Immerhin stiegen die Löhne zwischen 1950 und 1973 um das Vierfache. »Nie« waren »so viele deutsche Erwerbstätige in derart kurzer Zeit so vergleichsweise wohlhabend geworden.«34 Doch obschon ihr Einkommen stieg, erreichten ungelernte Arbeiter, die ein Drittel der Arbeiterschaft ausmachten, nur etwas mehr als 70 Prozent des Durchschnittseinkommens. Allerdings blieb von nun an die Angst vor Arbeitslosigkeit über Jahrzehnte ein Problem nur noch weniger Menschen und die Arbeitszeit verkürzte sich von einer anfangs 48-Stunden-Woche auf 40 Stunden, verteilt auf fünf Tage. Betraf dies die Arbeiterschaft als Ganze, war die Schwelle zwischen Facharbeitern und Ungelernten deutlich höher geworden. Immerhin waren seit den 1970er Jahren 55 Prozent der Arbeiter Facharbeiter, auch wenn sie nur 82 Prozent des Durchschnittseinkommens verdienten. Doch das Gefühl sozialer Sicherheit und die Aussicht, immer mehr an den offerierten Konsumoptionen teilhaben zu können, ließ immer größere Teile der Arbeitnehmerschaft mental und real »Abschied von der Proletarität« (Josef Mooser) nehmen: Facharbeiter fühlten sich aufgrund der Qualifikation und Lohnhöhe eher als Angehörige des Mittelstands, manche oder zumindest ihre Kinder wechselten wirklich von der Arbeiterklasse in die Angestelltenschaft.35 Waren 1955 70 Prozent der Söhne in derselben sozialen Schicht wie ihre Väter verblieben, galt das 1969 nur noch für 56 Prozent, mit sinkender Tendenz.36
Doch bei allen wahrgenommenen Verbesserungen blieb die Arbeiterexistenz hüben wie drüben verknüpft mit körperlicher Arbeit, die schwer, laut, schmutzig und gefährlich war. Die im Westen erstarkten Gewerkschaften hatten wenig Möglichkeiten, auf die Arbeitsplatzsicherheit wirklich einzuwirken; immerhin handelten sie Tarifverträge und Einkommenssteigerungen aus. Und auf der Basis des Betriebsverfassungsgesetzes von 1969/1972 setzte sukzessive eine Humanisierung der Arbeit ein. Zu schweren Arbeitskämpfen kam es jetzt nur, wenn die neuen Maßnahmen, die im Arbeitsrecht, in Mitbestimmungsverfügungen und Betriebsverfassungen zur Verfügung gestellt wurden, nicht mehr als Instrumentarien reichten, um die Tarifpartner an einen Tisch zu bringen. Zur Hochphase des »Wirtschaftswunders« hatte die westdeutsche Arbeiterschaft neben einer relativen Arbeitsplatzsicherheit nun so viel Geld in der Lohntüte, dass sich viele sogar ein Eigenheim und einen Pkw leisten konnten und sich damit erst recht dem Mittelstand zugehörig fühlten, auch wenn sie in der Einkaufsschlange weiterhin hinten standen. Immerhin konnten selbst die unteren Lohngruppen um 1960 fast 9 Prozent ihres Einkommens auf die hohe Kante legen. Das Sparvolumen wuchs mit weiteren Einkommenssteigerungen. Auch die dynamische Rente, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und die flexible Altersgrenze führten zu einer Annäherung mit der Angestelltenschaft; die »Kragenlinie«, benannt nach der blauen Arbeitskluft der Arbeiterschaft und dem weißen Oberhemd der Angestellten, war jetzt eher hellblau und verlor an Kontur. Um diese Annäherung auch sprachlich zu fassen, schrieb und sprach man nun in der Regel von der »Arbeitnehmerschaft«.
In Ostdeutschland behandelte man die Angestellten eher als zweitklassige Arbeiter, ohne ihnen eine besondere, öffentlich gefeierte Funktion für den Aufbau des Sozialismus zuzuerkennen. Stattdessen ordnete man sie in die uferlos große Kategorie der »Erwerbstätigen« ein. Seit den 1960er Jahren kamen »Angestellte« im DDR-offiziellen Sprachgebrauch und Zahlenwerk nicht mehr gesondert vor und fanden sich in der Sammelrubrik »Arbeiter und Angestellte« wieder.37 Doch diese statistische Gleichstellung widersprach Stellung und Ansehen der ostdeutschen Angestelltenschaft. Häufig lag ihr Gehalt unter den Arbeiterlöhnen, als angepasste »rote Socken« und »Kaffee trinkende Nichtstuer« kämpften sie fortdauernd mit einem schlechten Image.38 Ging es allerdings um Jubelquoten, die den Sieg der arbeitenden Klasse feiern sollten, wurden sie gerne wieder bei den Arbeitern und Arbeiterinnen mitgezählt. Überhaupt wurde der Definitionsspielraum der »Arbeiterklasse« im Laufe der Jahre immer flexibler.
Dass demgegenüber die Angestelltenschaft in der Bundesrepublik wuchs und gedieh, hing mit dem ständigen Ausbau des Dienstleistungssektors zusammen. Sank der Anteil der Arbeiterinnen und Arbeiter unter den Erwerbstätigen zwischen 1960 und 1980 um fast 50 Prozent, stieg der der Angestellten und Beamten von 28,1 auf 45,7 Prozent. Dabei machte die Zahl der weiblichen Angestellten seit den 1970er Jahren mehr als die Hälfte der Gesamtzahl aus. 1990 zog die westdeutsche Angestelltenschaft mit 42 Prozent zahlenmäßig an der Arbeiterschaft mit 38,5 Prozent vorbei.39 Dass sich im Westen der einst große Unterschied zwischen Arbeiter- und Angestelltenschaft immer mehr abschliff, zeigte sich seit den 1970er Jahren auch darin, dass Angestellte jetzt immer weniger an ihrer eigenen Gewerkschaft, der »Deutschen Angestellten-Gewerkschaft« (DAG) festhielten, sondern sich in deutlich größerer Zahl dem »Deutschen Gewerkschaftsbund« (DGB) anschlossen.40
Erst seit den 1970er Jahren, dann aber in raschem Tempo, nahm auch in der DDR die Zahl der Angestellten im Verwaltungsapparat des Staates, der SED und den Massenorganisationen zu. Zwar umfasste offiziellen Angaben zufolge die »Arbeiterklasse« 88,3 Prozent der Bevölkerung und damit nahezu die gesamte Arbeitnehmerschaft der DDR. Nach ungeschönten Statistiken betrug der Anteil der Arbeiterinnen und Arbeiter allerdings 1981 nur 54,4 Prozent der Beschäftigten, wovon 31,7 Prozent in der Produktion und 22,7 Prozent in den breit definierten »anderen Arbeiterberufen«, darunter auch die Angestellten, tätig waren.41 Gegen Ende der DDR machten männliche und weibliche Angestellte 17 Prozent aller Erwerbstätigen aus, wobei die Zahl deutlich höher gelegen hätte, wenn man auch die Angestellten mit Hoch- und Fachhochschulabschluss mitgezählt hätte, deren Zahl stark anwuchs, die jetzt aber in den Statistiken zur »Intelligenz« gezählt wurden.42 Als operative Dienstklasse konnte die Angestelltenschaft nun auch Privilegien wie Dienstwagen, Zugang zu Westwaren und Neubauwohnungen oder den Status des Reisekaders genießen.43 Doch das Ansehen wuchs damit nicht, weiterhin standen sie im Schatten der Arbeiterschaft, die mit immer mehr Lohn und Lob über ihre Leistungsfähigkeit überschüttet wurde.
Dem SED-Staat ging es vor allem darum, die Arbeit und den Arbeitsplatz zum Daseinsmittelpunkt werden zu lassen. Zur Hand gehen sollte dem Staat dabei der »Freie Deutsche Gewerkschaftsbund« (FDGB), der vor allem als Transmissionsriemen und Handlanger des Staates diente und dessen Vorgaben durchzusetzen hatte. Als Gewerkschaftsersatz traten eher die kleinen Betriebsarbeitsgruppen, die »Brigaden« auf, denen eine Vielzahl von Funktionen übertragen wurden. Sie vermittelten Schutz und Sicherheit, waren Ansprechpartner bei großen Sorgen und kleinen Nöten. Zur Kehrseite dieser Fürsorge gehörte aber auch, dass sie weit in das Privatleben der Arbeiterschaft vordrangen und soziale Kontrolle übten. Unangemeldet standen Kollegen bei Krankgemeldeten vor der Tür oder wurden als Vermittlerinnen bei Ehekrisen vorbeigeschickt. Diese Eindringtiefe der Brigaden in die Familiensphäre ließ die Trennung zwischen Arbeit und Privatleben verschwimmen. Ungeachtet dessen überwiegt in Erinnerungen von Arbeiterinnen und Arbeitern das Positive. Brigaden boten soziale Sicherheit, Geborgenheit, schöne Feiern und häufig auch Freundschaften.
Für eine positive Grundstimmung in der ostdeutschen Arbeiterschaft sorgte auch das Tempo der sozialen Aufstiegsmobilität in den ersten zwei Dekaden. Abertausende, die vordem nicht im Traum daran gedacht hatten, rückten auf Posten und Positionen in den oberen Karriererängen vor. Die Gegenprivilegierung war ein Geschenk an die Generation, die in den 1950er Jahren ihre Ausbildung durchlief. In weiten Teilen konterte sie mit der erwarteten Dankbarkeit und Loyalität, was dem jungen Staat einen kraftvollen Legitimationsschub bescherte. Soziale Aufstiegschancen gehörten »zu den wichtigsten Merkmalen der Arbeitergeschichte« des ersten Jahrzehnts der DDR.44
Abb. 3: Brigaden feiern im Kulturhaus des VEB Bergmann-Borsig, Berlin, 3. Oktober 1959.
Weitere Erleichterungen kamen hinzu. Ein Jahr später als die Bundesrepublik, die im April 1966 die Fünf-Tage-Arbeitswoche einführte und damit die Wochenarbeitszeit auf 45 Stunden senkte, zog auch Ostdeutschland nach, wobei hier die Arbeitnehmer allerdings auf vier Feiertage – 8. Mai als Tag der Befreiung, Ostermontag, Christi Himmelfahrt und den Buß- und Bettag – verzichten mussten. Damit wuchs die arbeitsfreie Zeit außerhalb der Betriebe, aber parallel dazu wuchs sie auch am Arbeitsplatz, weil der Fortgang des Arbeitsprozesses immer wieder durch fehlendes Material und Desorganisation ausgebremst wurde. »Mit der Sorge um den Arbeitsplatz«, den es in der DDR nicht gab, »verflog auch der Arbeitseifer umso mehr, je weniger der überkommene Facharbeiterstolz Anhaltspunkte vorfand, sich zu betätigen.«45 Die Maschinen waren häufig von vorgestern, der Materialfluss stockte, die Werkzeuge waren verschlissen und die Verwaltungen behäbig und lustlos. Arbeitsstolz konnten unter solchen Umständen nur noch fiktive Roman- und Film-»Helden der Arbeit« wie der aufmüpfige Brigadier Balla im DEFA-Film Spur der Steine aus dem Jahr 1965 aufbringen. Ein paradoxes Nebeneinander von Leistungsdruck und Langeweile bestimmte zunehmend den Arbeitsalltag in der DDR. Es war ein allseits bekanntes Phänomen, das immer wieder mit bitterem Spott persifliert wurde. »Kommt ein Westbesucher ins Carl-Zeiss-Werk Jena«, erzählt Gertrud Gallas einen beliebten Witz, »da schieben vier Arbeiter ein sehr kleines, sehr leichtes Wägelchen vor sich her. ›Warum schieben hier vier Arbeiter?‹, fragt der erstaunte Gast. ›Ach nur deshalb, weil der fünfte im Urlaub ist.‹«46 Dass häufig maßlos überbesetzte Brigaden oft untätig herumstanden oder Arbeiterinnen mitten am Tag den Arbeitsplatz verließen, wenn Gerüchte über begehrte Warenlieferungen im »Konsum« kursierten, verweist auf ein eigen-sinniges betriebliches Eigenleben.
Doch wie auch in der Bundesrepublik und ungeachtet der wirtschaftlichen Probleme stieg der ostdeutsche Durchschnittlohn stetig. 1949 betrug das durchschnittliche Bruttoeinkommen 295 Mark, 1970 waren es 792 Mark und 1988 schließlich 1.280 Mark. Auch Arbeiterinnen profitierten von diesen Lohnsteigerungen, auch wenn sie ebenso wie in der Bundesrepublik durchschnittlich 30 Prozent weniger in der Lohntüte fanden.47 Diese Diskriminierung weiblicher Arbeit blieb lange Zeit, zumindest wenn man rein quantitative Maßstäbe anlegt, die einzige Gemeinsamkeit. Denn in Ostdeutschland brauchte man die Frauen früh zur ideologischen Stärkung des Gleichberechtigungsanspruchs, viel mehr noch für die Stärkung des Arbeitsmarkts. So waren in der DDR in den 1950er Jahren schon mehr als die Hälfte der Frauen erwerbstätig, 1980 bereits über 80 Prozent und im letzten Jahr der DDR sogar 92,4 Prozent.48 In Westdeutschland, wo weit länger das male-breadwinner-model als Leitbild galt, hatten die Frauen mit gesellschaftlichen Vorbehalten zu kämpfen, vor allem wenn sie Mütter waren. Deren Anteil unter den Arbeiterinnen blieb zwischen 1950 und 1980 immer auf dem relativ niedrigem Niveau zwischen knapp 25 und gut 29 Prozent. In Angestelltenberufe drangen Frauen in der Bundesrepublik früh vor. Hier kletterte ihr Anteil in den drei Dekaden von 31 Prozent auf 63,4 Prozent.49 Um die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes, um den sich ihre Ostschwestern nicht zu sorgen brauchten, mussten sie deutlich mehr bangen als ihre männlichen Kollegen. In den 1970er und 1980er Jahren lag ihre Arbeitslosenquote um 30 Prozent höher als bei den Männern.
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