So friedlich, das Meer - Brigitte Beil - E-Book

So friedlich, das Meer E-Book

Brigitte Beil

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Beschreibung

»Immer schön locker bleiben«, empfiehlt Ilaria Costa ihrer Tochter, als sie erfährt, dass Camilla eine Affäre mit einem verheirateten Mann hat. In Italien eine alltägliche Sache. Obwohl Camilla eigentlich nicht in die Rolle der Gespielin auf Zeit passt, lässt sie sich, kaum dass sie ihren Job bei einer renommierten Vicentiner Werbeagentur angetreten hat, auf eine prickelnde Liaison mit ihrem Chef ein. Ein Rausch, der jäh endet, als dieser sie schnöde abhalftert. Camilla kennt die Spielregeln, verwindet die massive Kränkung – vermeintlich. Jahre später, sie ist längst glücklich verheiratet, holt die Geschichte sie wieder ein. Und urplötzlich springt sie der Verdacht an, Gianni, ihr geliebter Mann, könnte das übliche Spiel ebenfalls betreiben ...

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»Immer schön locker bleiben«, empfiehlt Ilaria Costa ihrer Tochter, als sie erfährt, dass Camilla eine Affäre mit einem verheirateten Mann hat. In Italien eine alltägliche Sache. Obwohl Camilla eigentlich nicht in die Rolle der Gespielin auf Zeit passt, lässt sie sich, kaum dass sie ihren Job bei einer renommierten Vicentiner Werbeagentur angetreten hat, auf eine prickelnde Liaison mit ihrem Chef ein. Ein Rausch, der jäh endet, als dieser sie schnöde abhalftert. Camilla kennt die Spielregeln, verwindet die massive Kränkung – vermeintlich. Jahre später, sie ist längst glücklich verheiratet, holt die Geschichte sie wieder ein. Und urplötzlich springt sie der Verdacht an, Gianni, ihr geliebter Mann, könnte das übliche Spiel ebenfalls betreiben …

BRIGITTE BEIL, aufgewachsen in Münster, studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Publizistik und arbeitet als freie Journalistin und Buchautorin. Schwerpunkte ihrer zahlreichen Sachbücher, von denen mehrere in verschiedene Sprachen übersetzt wurden, sind soziale und psychologische Themen. Brigitte Beil hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in München. Nach »Maskal oder Das Ende der Regenzeit«, »Eiswinter« und »Ein Brief aus England« ist »So friedlich, das Meer« ihr vierter Roman.

BRIGITTE BEIL BEI BTBEiswinter. RomanEin Brief aus England. Roman

Brigitte Beil

So friedlich, das Meer

Roman

1. Auflage

Originalausgabe Mai 2015

Copyright © 2015 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Getty Images/Steve Satushek;

Shutterstock/Sue McDonald

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

UB · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-13097-8www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

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»Die Wahrheit ist immer unentwirrbar.«

(Javier Marias, Die sterblich Verliebten)

Kapitel 1

Dieser Duft. Manchmal frage ich mich, ob ohne ihn vielleicht alles ganz anders verlaufen wäre.

Wie ein Rausch überfiel er mich gleich an meinem ersten Arbeitstag, als ich im gläsernen Lift durch das Treppenhausauge der alten, aufwendig renovierten Stadtvilla nach oben, zu meinem Büro schwebte.

Ein Duft, der Frauen umhaut.

Klar, dass mir auf der Stelle ein Slogan durch den Kopf schoss, deshalb hatte man mich schließlich engagiert, als Junior-Texterin bei der Agenzia Paolo Bertolini, der renommiertesten Werbeagentur Vicenzas. Nicht schlecht für den Anfang. In der verspiegelten Rückwand des Aufzugs sah ich meine schnüffelnd gekrauste Nase. Exakt EmiliasNase, wie meine Mutter ständig betonte, viel zu groß undzu hakig für ein hübsches Frauengesicht. Eine Raubvogelnase. Und nun noch mit geblähten Nüstern! Lieber nicht hinschauen.

Zweiter Stock. Aussteigen. Hier hing nur ein undefinierbarer Mischmasch aus Gerüchen in der Luft, irgendwelche Parfums und Reinigungsmittel, keine Spur mehr von dem verführerischen Eau de Cologne. Meine Absätze klackerten den Flur entlang, vorbei an den weit geöffneten Türen noch leerer Büros. Hohe Räume, hohe Fenster, Stuckdecken über minimalistischem Mobiliar, im schräg hereinfallenden Licht der Morgensonne glänzten die schwarzweißen Rautenmuster der Marmorböden wie unter Wasser gesetzt. Irgendwo telefonierte jemand, aber zu sehen war kein Mensch.

Arbeitsbeginn sei um neun Uhr, hatte mir Carlo Tremante während eines ersten Rundgangs, bei dem ich auch einigen meiner künftigen Kollegen vorgestellt worden war, erklärt. Gesichter, Namen, die ich mir so schnell nicht hatte merken können. Mit den Zeiten schien man es nicht so genau zu nehmen. Oder war ich selbst zu früh? Ein Blick auf die Uhr: tatsächlich erst fünf vor neun. Der typische Übereifer des Anfängers. Schon kurz nach halb neun war ich aufgebrochen, um nach einem schnellen Caffè von meinem nur etwa zwei Kilometer entfernt gelegenen Elternhaus mit meinem hellblauen Fahrrad hierher in die Innenstadt zu fahren, vorsichtig die Pfützen umkurvend, in denen sich nach ausgiebigen Regengüssen der vergangenen Nacht jetzt die Frühlingssonne spiegelte. Bloß keine Dreckspritzer auf die neue sandfarbene Hose.

Das Büro, in dem ich arbeiten sollte, lag am linken hinteren Ende des Gangs und sah genauso puristisch aus wie die übrigen auf dieser Etage, nur hatte hier jemand die Holzläden vor den Fenstern geschlossen. Durch die Lamellen fiel mattes, gebrochenes Licht. Es dauerte einen Moment, bis ich mich im Halbdunkel zurechtfand und meinen Schreibtisch entdeckte, quer zu einem der doppelflügeligen Fenster stehend. Ich schob die Tastatur des Computers ein Stück zurück, legte Tasche und Schlüsselbund davor und schaute mich gerade nach einem Haken oder Kleiderständer um, an den ich meine Jacke hängen konnte, als ich bemerkte, dass noch jemand im Raum war. Ein paar Meter weiter links saß eine junge Frau am Schreibtisch, regungslos, den Kopf auf die Fäuste gestützt und schaute mir interessiert zu.

»Ciao, Camilla!« Plötzlich holte sie mit ihrem Drehsessel Schwung und landete nach zwei langen Hüpfern direkt vor meinen Füßen. »Super, dass es geklappt hat mit deinem Job hier.«

»Ciao.« Ich schüttelte die ausgestreckte Hand. Der Lippenstift grellrot, der knallenge Rock zwei Handbreit zu kurz, der Pulliausschnitt fast bis zum Bauchnabel, dazu wachteleigroße glitzernde Ohrgehänge. Sexy nach dem Muster der Girls aus Berlusconis Kommerz-Fernsehen. »Olivia, Stimmt’s?« Ich war froh, mich an den Namen zu erinnern, vor allem weil ich dafür mit einem breiten, herzlichen Lächeln bedacht wurde. Auf einmal sah das Feuerwehrrot gar nicht mehr so schlimm aus.

Olivia setzte sich auf eine Kante meines Schreibtisches und nickte mit schaukelnden Klunkern. »Livia, nenn mich Livia, das tun alle hier. Ich bin übrigens das kleinste Licht in unserem Büro. Praktikantin bei der strengen Ada.«

Ada Nardini, auch der Name fiel mir wieder ein. Die Art Directorin im Team.

»Klein sicher nur im Hinblick auf die Länge«, sagte ich augenzwinkernd. Tatsächlich reichte mir die stehende Livia knapp bis zur Schulter, machte aber einen äußerst pfiffigen Eindruck.

»Ach, glaubst du?« Livias grüner Blick blitzte um die Wette mit den Funkelsteinen in ihrem Ohrschmuck. »Wenigstens einer, der das merkt. Ei-ne meine ich natürlich. Weibliche Verstärkung ist immer gut, vor allem wenn man es mit Ada zu tun hat.«

»Wieso? Gibt’s Probleme mit ihr?«

Livias Dreiecksgesicht verzog sich zu einer skeptischen Grimasse. Beim Nachdenken schob sie ein paar Strähnen ihres langen braunen Haares hinter die Ohren. »Probleme vielleicht nicht direkt, aber manchmal finde ich sie ziemlich anstrengend, zu wenig flexibel oder sogar begriffsstutzig. Man muss ganz schön geschmeidig sein, um nicht mit ihr aneinanderzurasseln. Dagegen läuft die Zusammenarbeit mit Federica wie geschmiert.«

»Federica?« Ich hatte mich ebenfalls auf die Tischkante gesetzt, von der Seite schaute ich Livia fragend an.

»Federica Orsolini, unsere Senior-Texterin. Sie war vermutlich in einem Kundengespräch, als Carlo dich herumgeführt hat, darum hast du sie nicht kennengelernt. Ihr werdet prima miteinander auskommen. Überhaupt passt du sehr gut zu unserem Team.«

Das hatte Carlo am Ende des Vorstellungsgesprächs ebenfalls betont. Er war einer der beiden Kreativdirektoren der Agentur und benötigte zu meiner Verwunderung nur eine kurze Unterhaltung, um zu einer Entscheidung zu kommen. Anscheinend stimmte die Chemie, und offensichtlich gefiel ihm, was ich zu bieten hatte: erst vierundzwanzig Jahre alt, perfekt für ein betont junges Team; Psychologie-Studium, wenn auch nicht abgeschlossen, an der Mailänder Universität; dann, weil ich unschlüssig war, ein Volontariat beim Corriere della Sera, wobei ich meine Vorliebe für knapp gefasste Texte anstelle langer Abhandlungen entdeckt hatte; daraufhin Praktika bei zwei kleineren Agenturen in Bergamo und Verona, jeweils drei Monate lang; passable Kenntnisse in Englisch und Deutsch; Erfahrung mit dem Texten von Slogans, Headlines, Anzeigen und Verkaufsbroschüren; sicherer Umgang mit elektronischen Medien. Den sogenannten Copytest, sagte Carlo, mit dem normalerweise das einschlägige Talent eines Anwärters geprüft werde, halte er in meinem Fall für überflüssig. Er sei auch so überzeugt von meiner Kreativität und Wortgewandtheit.

Wortgewandtheit ! Bei diesem Ausdruck hatte ich mir nur mühsam ein Grinsen verkneifen können. Zuhause nannte man das ganz anders! Spitzzüngig, frech, anmaßend – das waren noch die netteren Attribute, die man mir dort verpasste, wenn ich blitzartig zielsichere Kommentare vom Stapel ließ oder Menschen und Situationen auf Anhieb mit einem einzigen Bild umriss. Meistens auch noch knackig und witzig genug, um die anderen gegen ihren Willen zum Lachen zu bringen. Unwahrscheinlich, dass sich am Familienurteil etwas ändern würde, obwohl ich gerade wegen dieser Manier den neuen Job bekommen hatte. Dafür waren die Rollen zu festgelegt.

Als Folie für meine eigene musste seit jeher Emilia herhalten, Emilia Angelasanto, die ominöse ältere Schwester meiner Mutter, deren Heirat mit einem – wie es hieß – bärenartigen Olivenbauern aus den Abruzzen und ihr anschließendes Verschwinden in einem abgelegenen Bergdorf auch zwanzig Jahre später noch für genügend Missbilligung in der Familie sorgte, um ihr jede Art von Untugend anzuhängen. Grobknochig sei sie gewesen – man sprach von Emilia immer nur in der Vergangenheitsform, obwohl sie nach wie vor jährlich eine Kiste mit hervorragendem Olivenöl schickte, abgefüllt in elegant etikettierten eckigen Flaschen, das selbstverständlich bloß verwendet wurde, weil man nichts verkommen lassen wollte. Auf alten Fotos überragte sie ihre Schwestern, darunter meine Mutter Ilaria, um etliche Zentimeter, was noch dadurch betont wurde, dass sie ihre dicken Haare auf der Mitte des Kopfes zu einem Wuschelpinsel zusammengefasst trug. Lockige dunkelblonde Haare, ganz anders als das glatte Schwarz der übrigen Familie. Und dann die markante Nase. Und der breite, auf sämtlichen Bildern fröhlich lachende Mund, dem anscheinend laufend irgendwelche bissigen Sprüche entschlüpften, sonst hätte es sicher nicht von klein auf, wenn ich eine vorlaute Bemerkung machte oder mich neugierig in die Gespräche der Erwachsenen einschaltete, geheißen: ganz Emilia.

Ganz – dazu trugen, als ich größer wurde, natürlich auch meine blonde Mähne, die ausgeprägte Nase und meine Länge bei. Mit etwas mehr als eins siebzig war ich Mamma deutlich über den Kopf gewachsen und sogar meinem Vater. Der schien allerdings, seit er einen Teil der Verantwortung für sein gut gehendes Schuhgeschäft nahe am Bahnhof einem Mitarbeiter übergeben hatte, zusehends zu schrumpfen.

Oder bildete ich mir das nur ein, weil ich so sehr wünschte, endlich dem familiären Regime zu entkommen und auf eigenen Füßen zu stehen? Bloß wie? Mit meinem nicht gerade üppigen Gehalt würde das nicht so bald zu machen sein, und eigentlich lebte es sich zuhause ja auch ganz bequem.

Schon in dritter Generation bewohnte die Costa-Familie das erste Stockwerk eines vornehmen Bürgerhauses in der Contrà San Marco nahe beim Parco Querini. Weitläufige, ständig abgedunkelte Räume mit Stuckrosetten unter den Decken, die Türrahmen reich verziert, massive dunkle Möbel – eine perfekte Kulisse für das stets etwas theatralische Gehabe meines Vaters, den ich, solange ich denken kann, niemals ungepflegt oder nachlässig gekleidet gesehen habe. Sein stahlgraues Haar war glatt zurückgebürstet, der noch immer schwarze Schnauzbart, den er, wie winzige dunkle Haarspitzen im Waschbecken unter dem Badezimmerspiegel verrieten, beinahe täglich eigenhändig zurechtstutzte, gab seinem Gesicht zusammen mit tiefschwarzen Augen und Brauen einen Ausdruck finsterer Entschlossenheit. Dazu die betont aufrechte Haltung und die sonore Stimme. Manchmal glaubte ich, das alles könnte reine Pose sein, um den Herrn des Hauses herauszukehren und von seiner quirligen Frau nicht komplett untergebuttert zu werden. Und ich stellte mir vor, aus dieser tadellosen Erscheinung spränge plötzlich der verstrubbelte, hemdsärmelige, übermütig lachende Typ hervor, der er, den Fotos auf dem Kaminsims nach, früher einmal gewesen sein musste. Die junge Frau neben ihm, dicht an seine Schulter geschmiegt, war unverkennbar meine Mutter, immer schon eine typisch italienische Schönheit und Objekt grenzenloser Bewunderung.

»Ilaria würde sich auch heute noch auf so einem Cover gut machen«, hatte kürzlich wieder Luisa, die zweite Schwester der Mutter, geschwärmt, während sie auf dem schwellenden Sofa in unserem Wohnzimmer die Amica, den Klassiker unter den italienischen Frauenmagazinen, durchblätterte.

Richtig. Die schmale, gerade Nase, der reizvolle Kontrast zwischen dunklem Haar und hellblauen Augen, unterstrichen durch bläulichen Schimmer auf den schweren Lidern, ein Teint wie Porzellan, der zum Lächeln geschwungene Mund, zarter Knochenbau und anmutige Bewegungen – tatsächlich hätte Ilaria mühelos mit professionellen Models konkurrieren können. Und sie wusste das auch.

Natürlich spürte ich die kritischen Blicke, wenn meine eigene Erscheinung an der meiner Mutter gemessen wurde. Keine Chance. Zu lang, zu blond, zu unpuppig. Eine Zeit lang hatte ich heftig damit gehadert, hatte die Schultern eingezogen, die Haare dunkel gefärbt und süß zu lispeln versucht, doch das machte die Sache, wie ich selbst feststellte, nur noch schlimmer.

Count your blessings – irgendwann war ich auf diesen Spruch gestoßen, der dazu ermutigte, auf die eigenen Gaben zu setzen. Ich wusste nicht mehr, wann und wo das gewesen war. Egal, wenn er nur half. Und das tat er. Der Spruch und ganz sicher auch mein Mailänder Freund Franco, der große Frauen sexy fand und oberflächliches Gesäusel nicht ausstehen konnte, versöhnten mich nach und nach mit meiner Eigenart.

Die Sache mit Franco war nach ein paar Monaten schmerzlos zu Ende gegangen, aber meine veränderte Selbsteinschätzung hielt sich weiterhin – meistens jedenfalls. Inzwischen mochte ich meine langen Beine, und es machte mir Spaß, mit gepfefferten Sprüchen dagegenzuhalten, wenn man mich zuhause unter Hinweis auf die legendäre Emilia zu traditioneller Fügsamkeit erziehen wollte. Vielleicht würde ich bald einmal in die Abruzzen fahren und die Tante samt Bärenmann in ihrem Bergdorf besuchen.

Aber im Moment war meine Aufmerksamkeit hier im Büro gefordert, denn die Kollegen begannen einzutrudeln. Vorneweg Carlo, lang, schlaksig, den Kopf seiner rechts neben ihm gehenden Begleiterin zugeneigt, wobei ihm die glatten braunen Haare fast bis in die Augen fielen. Ada Nardini an seiner Seite schaute konzentriert zu ihm auf und nickte mehrmals heftig. Die strenge Ada – zumindest was ihr Erscheinungsbild anging, hätte Livia sich nicht treffsicherer ausdrücken können. Kein aufmüpfiges Strähnchen in der lackschwarzen, zum Dutt gedrehten Ballerinenfrisur, die exakt gezupften Brauen wie zwei gebogene Warnzeichen auf der hohen Stirn, der Mund – breit und dünnlippig – in dezentem Rot bemalt, faltenfrei das schwarz-weiß gestreifte Hemd über einer schmalen Hose.

Adas eng zusammenstehende Augen blieben kurz an mir hängen, ein knappes Begrüßungsnicken, dann richteten sie sich auf Livia, die eilig von meiner Tischkante hopste und zu ihrem eigenen Arbeitsplatz lief.

»Also«, mit schnellen, energischen Schritten durchquerte Ada den Raum und blieb vor Livia stehen. »Am Layout für Belsanto müssen wir noch was tun. Die Farben sind mir zu trist, vielleicht nehmen wir auch eine andere Schrift, da muss einfach mehr Pepp rein. Probier mal, was dir einfällt.«

Ich gab mir zwar den Anschein der Geschäftigkeit, räumte meinen Schlüsselbund in eine leere Schublade, stellte meine Tasche auf den Boden und schaltete den Computer auf dem Schreibtisch ein, spitzte dabei aber die Ohren, um zu verfolgen, wie es zwischen diesem ungleichen Gespann weiterging. Schließlich war es nicht unwichtig zu wissen, in welchem Ton man hier miteinander redete.

»Hab ich schon, hab ich schon«, sagte Livia eifrig. »Vielleicht grün-weiß als Signal für Frische und statt der harten Candara lieber …«

Weiter ging es nicht mit der Lauscherei, denn Carlo kam auf mich zu, im Schlepptau eine verwegen bunte Gestalt. Colour Blocking, schoss es mir durch den Kopf. Kanariengelb, Avocadogrün, Bischofslila. Das Gesicht mit spöttischen Augen, umrahmt von einer kastanienroten Mähne.

»Darf ich vorstellen, Federica – Camilla. Ihr zwei kennt euch noch nicht. Rauft euch mal schön zusammen.« Ermunternd legte Carlo jeder von uns beiden kurz eine Hand auf die Schulter, dann klingelte sein telefonino, und er wandte sich ab und ging palavernd zur Tür hinaus.

»Bleib sitzen!« Ein Wink hinderte mich daran aufzustehen. Stattdessen hockte sich Federica auf die Schreibtischkante, die Hände in den Taschen ihrer Leinenhose vergraben, und musterte mich eingehend, völlig unbekümmert gegenüber irgendeinem Das-tut-man-nicht. Und ich schaute prüfend zurück. Offenbar waren wir beide ähnlich neugierig und unerschrocken.

»Gut, gut«, sagte Federica plötzlich mit vertraulichem Grinsen, »das wird klappen mit uns. Komm, fangen wir an.« Sie sprang auf ihre in Wildleder-Ballerinas steckenden Füße – hier war das Lila verortet! – und ging mir voraus zu ihrem Arbeitsplatz nahe bei der Tür.

Auf dem Computerbildschirm leuchtete das Logo der Agentur, eine Konstellation verschiedenfarbiger und unterschiedlich großer Dreiecke, die zusammen ein Quadrat bildeten. Vermutlich sollte es die Vielfalt der unter einem Dach angebotenen Leistungen symbolisieren, hatte ich gedacht, als ich es zum ersten Mal sah. Und die war nach dem, was ich bei Google herausfand, tatsächlich breit gefächert. Die größte inhabergeführte Agentur der Region, hieß es dort. Vor zehn Jahren von Paolo Bertolini gegründet. Lokaler Werbergott wurde er in einem Zitat des unlängst zurückgetretenen Bürgermeisters von Vicenza genannt. Nach mehreren Jahren der Arbeit für große Agenturen in London und New York in seine Heimat zurückgekehrt , weil der Veneto mit seiner hohen Dichte an erfolgreichen Unternehmen, etliche davon sogar weltweit marktführend, ihm hervorragende Chancen eröffnet habe.

Und er ist hier der King, mit tausend Kontakten, hatte ich beim Betrachten seines Porträts auf der Firmen-Website vor mich hin gemurmelt. Ein guter Typ. Nicht mehr ganz jung, wie ein paar Silberspuren in seinem dicken, dunklen Haar verrieten. Vielleicht Mitte bis Ende vierzig. Der Blick fest und selbstbewusst, um den Genießermund ein etwas rätselhaftes Lächeln. Charmant? Überheblich? Oder einfach nur zufrieden?

Dazu hätte er jedenfalls allen Grund, wenn man das Haus anschaute, in dem seine Agentur residierte. Ja, residierte, genau das richtige Wort, wie ich fand. Die Stadtvilla aus dem 17. Jahrhundert, ein prächtiger Bau mit elegant gegliederter Fassade, lag im Zentrum, an der Contrà Riale. Während der ersten Jahre hatte die Agentur nur die untere Etage genutzt. Inzwischen belegte die auf vierzig Leute angewachsene Mitarbeiterschar längst das gesamte Haus. Bertolini selbst habe sein Büro im obersten, dem dritten Stock, hatte mir irgendjemand erzählt. Bislang war ich ihm noch nicht begegnet.

»Komm, setz dich.« Federica saß vor ihrem Computer und zog einen Stuhl für mich heran. Sie tippte etwas auf der Tastatur und klickte etwas an. »Hier, das sind die Projekte, um die wir uns gemeinsam kümmern werden.«

In der nächsten halben Stunde machte sie ihre Junior-Partnerin mit den aktuellen Auftraggebern vertraut. Kunde, Branche, Zielvorstellung. Konzentriert schaute ich auf den Monitor. Wie auf Knopfdruck rauschten mir zu jedem Thema – ob Kosmetik, Rennräder oder Strandmode – Assoziationen durch den Kopf.

»Die Werbung jongliert mit Wünschen und Träumen«, hörte ich Federica sagen. »Es ist ein bisschen so, als würdest du die Welt neu erschaffen. Also lass deine Phantasie von der Kette.« Schwang da ein Schuss Ironie mit? Ein schneller Seitenblick brachte nichts zutage. Egal, der Job würde mir Spaß machen.

Am Donnerstagmorgen meiner zweiten Arbeitswoche, ich hatte gerade den Aufwärtsknopf im Lift gedrückt, und die Türen schnurrten schon aufeinander zu, wurde plötzlich ein Schuh in den Spalt geschoben, und ein Mann quetschte sich durch die schmale Öffnung.

»Scusi.« Vor dem Spiegel an der Rückwand schob er sein Leinensakko zurecht, das bei der Aktion verrutscht war, und fuhr sich durch die dichten, dunklen Locken. Links neben seinem Gesicht prangte ein schmieriger Fleck auf der glänzenden Fläche. Fett oder Gel von einem angelehnten Kopf. Sein leicht angewiderter Blick blieb kurz daran hängen und wanderte dann weiter zu mir, während ich ihm im Spiegel interessiert zuschaute.

Das war er, ganz eindeutig, das war der Typ mit dem Duft. Und außerdem war er Paolo Bertolini, der Agentur-Chef. Sein Gesicht hatte ich sofort erkannt, bloß war er größer und breitschultriger als in meiner Vorstellung. Er lächelte meinem Spiegelbild zu, freundlich, ein bisschen spöttisch, und drehte sich um.

»Gast hier oder neu bei uns?« Seine Stimme klang tief und kratzig.

GauloisesundWhiskey, spukte es mir durchs Hirn. »Neu«, sagte ich und erwiderte sein Lächeln, »im Team von Carlo Tremante.«

»Ah, gut. Willkommen, ich bin Paolo.« Offenbar ging er davon aus, dass ich wusste, wer er war. »Wie ist dein Name?« Er streckte mir seine Hand entgegen, eine feste, warme Hand.

»Camilla, Camilla Costa. Ich arbeite mit Federica zusammen.«

Warum hörte sich das so verhuscht an? Und wie kam er dazu, mich so eingehend zu mustern, in aller Ruhe, völlig ungeniert, Zoll für Zoll, von oben bis unten? Und weshalb, verdammt, fuhr der Lift so langsam, als wollte er nie ankommen?

Zweiter Stock, endlich. Wieder wurde ein Fuß in die Türöffnung gestellt. »Habt ihr nicht die Suntrec-Sache in Arbeit?«, fragte Bertolini und hielt dabei meinen Blick mit seinen Augen fest. »Sehr wichtiger Kunde. Ich glaube, ich sollte mal bei euch vorbeischauen.« Ein kurzes dunkles Aufblitzen, dann schloss sich die Tür, und der Lift fuhr weiter.

Der Duft! Den ganzen Lift hatte er ausgefüllt und blieb in meiner Nase hängen. Seit meinem Praktikum bei einer hauptsächlich mit Kosmetika befassten Agentur kannte ich mich mit Duftstoffen ein bisschen aus. Holz, Harz, Leder, ein Hauch Zitrone und eine Spur von Wald und Erde, typisch für Vetiver, das ätherische Öl aus den Tropen – ich wusste noch genau, welche Ingredienzien mir beim ersten Erschnuppern dieser speziellen Duftnote eingefallen waren. Und ich erinnerte mich auch an den Phantom-Mann, den ich mir spontan dazu gedacht hatte: unabhängig, nicht mehr ganz jung, ein bisschen wild, ein Typ, der Rotwein liebt und hitzige Debatten und vielleicht mit dem Motorrad in die Berge braust. Jetzt, nach der Begegnung im Lift, fügte ich der Geruchsnote noch etwas Rauchiges hinzu, wie Schwaden eines fernen Laubfeuers.

Ein markanter Duft, umwerfend sexy und trotzdem nicht aufdringlich.

Glich dieser Bertolini oder besser Paolo – alle duzten sich hier – dem Typ meiner Vorstellung?

Auf dem Weg den Flur entlang versuchte ich, mir Paolos Aussehen wieder vorzustellen. Hellbraunes Sakko, der Schuh im Türspalt unverkennbar ein Gucci-Mokassin, schwere Lider über dunklen Augen, dichter Lockenpelz auf dem Kopf, gut zwei handbreit größer als ich selbst. Und weiter? Komisch, obwohl mir sonst niemals ein Detail entging, musste ich in diesem Fall passen. Wenn mir überhaupt etwas zu seinem Gesicht einfiel, konnte das nur von dem Porträt auf der Website stammen. Und irgendwelche Attribute kamen mir schon gar nicht in den Sinn. Ich fühlte mich wie betäubt.

Vielleicht stimmte ja, was ich vor Monaten mal in einem Artikel über die Macht von Gerüchen gelesen hatte. Düfte, hatte ein Riechforscher darin behauptet, seien für unser Leben viel entscheidender, als wir gemeinhin annähmen. Sie beeinflussten unsere Erinnerungen, unsere Emotionen, unsere Stimmungen und Gelüste, sie könnten verführen und manipulieren. Unsere Nase bestimme, wen wir lieben und wen wir nicht riechen können. Gut möglich, dass manche Frauen auf Männer am ehesten mit der Nase reagieren, von mir selbst allerdings kannte ich das bislang nicht.

Was passierte hier mit mir? Weshalb war ich so irritiert? Lag es allein an diesem vertrackten Duft oder auch an Paolos abschätzenden Blicken? An seiner Art, mich eine gefühlte Ewigkeit lang zu fixieren? Hatte ich mich etwa einschüchtern lassen? Und wenn schon. Entschlossen streckte ich den Rücken. Albern, weiter über ihn nachzudenken, außerdem winkte Federica mit einer blauen Mappe. Wahrscheinlich neue Entwürfe für die Suntrec-Broschüre.

»Kommst du mit auf einen Caffè?« Gegen halb zwei tauchte Livia vor meinem Schreibtisch auf, schon abmarschbereit, ein buntgemustertes Tuch so um Hals und Schultern geschlungen, dass das glitzernde Logo auf ihrem pinkfarbenen T-Shirt noch gut zu sehen war. An besonders arbeitsreichen Tagen verbrachten wir, statt nach Hause zu fahren, inzwischen die verkürzte Mittagspause zusammen. Meistens in einer nur ein paar Ecken entfernten Bar an der Piazza dei Signori, erschwinglich und mit bester Sicht auf das vorbeiflanierende Volk. Heute schien die Sonne, es sollte warm werden, hatte das Radio angekündigt, über 20 Grad, sehr gut für Ende März. Mit etwas Beeilung würden wir vielleicht ein Tischchen im Freien ergattern, ehe Mengen von hungrigen Leuten sich überall breitmachten.

Auf gnadenlos hohen Absätzen schwang Livia ihren in Röhrenjeans verpackten Po Richtung Lift. Links, rechts, links, rechts. Im Takt ihrer Schritte wogten die mit Glitzersteinen gespickten strammen Rundungen auf und ab. Ich ging hinter ihr her und schaute fasziniert zu. Schon seit einiger Zeit hatte ich mich heimlich im Verdacht, eine veritable Po-Fetischistin zu werden. Angefeuert durch den momentanen Modetrend, jede Art von Hinterteil in hautenge Umhüllungen zu stopfen, war ich ganz ohne Absicht aufs Beobachten und Zuordnen verfallen. Mal entdeckte ich ein grinsendes Smiley, mal die Form schwankender, überreifer Birnen, mal trostloses Gehänge, die drallen, derben Batzen eines Ackergauls oder ein besonders knackiges Modell, das zum Reinkneifen reizte.

Livias Rückansicht gehörte zweifellos zu der letzten Kategorie und gefiel mir ausnehmend gut, wie überhaupt die ganze kleine Person. Livia konnte losschnattern wie angestochen, wenn irgendetwas sie begeisterte, war dabei aber immer treffsicher und originell, und klug genug, sofort den Mund zu halten, sobald Ada tadelnd eine Braue hochzog. Das kam, wie ich inzwischen bemerkt hatte, nicht gerade selten vor, weil Livia oft schon mit brillanten Ideen herausplatzte, während Ada noch brütend ins Nichts starrte. Manchmal fing ich ein verschmitztes Grinsen oder einen ironischen Seitenblick auf, mehr ließ sich Livia nicht anmerken. Clever. Wer will schon von seiner Praktikantin in den Schatten gestellt werden?

Geblendet durch die grelle Mittagssonne, wären wir beinahe gegen das Auto gelaufen, das direkt vor der Tür im Halteverbot parkte.

»Typisch!« Livia griff nach meinem Arm und lavierte mich um den kleinen, kompakten Wagen herum.

Ein schwarzer Fiat Abarth 500, wie ich im Vorbeigehen registrierte, der kultige Testosteronzwerg, 200 PS stark. »Klar«, nickte ich, »der traut sich alles.«

»Paolo? Aber immer!«

»Wieso Paolo?«, fragte ich erstaunt. »Ich meine doch den angeberischen Kugelblitz.«

»Eben, der gehört ihm. Der gehört Paolo. Kein Mensch sonst würde hier so unverschämt parken.«

»Dann sammelt er wohl ordentlich multe.«

»Ach was«, Livia lachte. »Paolo doch nicht! Der kennt jeden Polizisten im Zentrum, hier mal ein Caffè, da mal ein Weinchen, und schon läuft die Sache. Er gehört zu denen, die grundsätzlich in der zweiten Reihe parken und es genießen, wenn ein Hupkonzert losgeht.«

Giuseppe, der Kellner, spannte gerade die dunkelblauen Sonnenschirme auf. Er zog die Schultern hoch und machte eine ratlose Geste, als er uns kommen sah. Kein Tisch mehr frei. Doch im selben Moment gab eine ältere Frau von hinten links uns ein Zeichen, sie legte ein paar Münzen neben ihre leer getrunkene Tasse, knöpfte ihre braungemusterte Strickjacke zu und griff nach den Taschen und Tüten auf den nebenstehenden Stühlen. »Fliegender Wechsel!«, rief sie herüber und schlurfte schwerbepackt davon.

»Grazie mille.«

Rundherum die üblichen Verdächtigen. Drei junge Männer, offenkundig Bankangestellte, in etwas zu engen Business-Anzügen von der Stange. Ein Pulk lauter, skandinavischer Touristen, vom Rotwein schon leicht angesäuselt. Zwei Kinderwagen schuckelnde Mütter mit riesigen Sonnenbrillen. Dazwischen Einzelgänger, hinter Zeitungen verschanzt. Durch ein Gewirr von Beinen, Taschen und Rucksäcken schlängelten wir uns zu unserem Tischchen, dessen metallisch glänzende Oberfläche Giuseppe gerade von Caffè- und Aschespuren befreite. Er schob den Lappen unter das Schnürband seiner langen grünen Kellnerschürze.

»Na, meine Schönen, was darf es heute sein?« Sein Ton hätte nicht freundlicher sein können, wenn wir ein mehrgängiges Menu bestellt hätten, dabei wusste er genau, dass wir immer das Gleiche nahmen: je einen Caffè corretto, dazu ein Tramezzino, einmal mit Thunfisch – Livia –, einmal mit Schinken – Camilla.

Seit Tagen stritten wir darüber, ob Giuseppes Brauen gezupft waren. Zwei tadellose dunkle Sicheln über noch dunkleren Augen, die – auch das immer gleich – mit unverhohlener, flammender Bewunderung auf Livia ruhten, nein, eigentlich an ihr klebten, als wollten sie jedes Detail in sich aufsaugen. Und die Angebetete sonnte sich völlig ungeniert in seiner Begeisterung, klimperte mit den langen Wimpern, die je nach Outfit mal blau, mal grün oder sonst wie getuscht waren, warf die lange Mähne mit Schwung nach hinten, so dass ihre Ohrringe – heute fast untertassengroße Gold-Kreolen – aufblitzten, spitzte den Mund scheinbar sinnierend zu einem roten herzförmigen Schnütchen und zog ganz nebenbei das T-Shirt über ihrer ansehnlichen Oberweite glatt.

Ich schaute dem Spiel amüsiert zu und fragte mich zum wiederholten Mal, wieso Livia dermaßen anfällig für jede Art von männlichem Beifall sein konnte. Ob das verspätete Ausläufer der Pubertät waren? Ach was, doch nicht mehr mit zweiundzwanzig! Andererseits war ich, wie meine Mutter ständig anmerkte, immer schon viel zu spröde gewesen. Spröde – ein Wort, das klang wie ein Hornhauthobel. Aber vielleicht traf es ja genau den Punkt, vielleicht hatte ich deshalb so albern reagiert, als Paolo mich im Lift taxierte – weil ich zu spröde war.

Wenn mir wenigstens eine kecke Bemerkung eingefallen wäre. Idiota!

»Nächstes Jahr wird er übrigens fünfzig.« Zwischen zwei Tramezzino-Bissen trank Livia einen großen Schluck von dem Wasser, das der Kellner zum Caffèserviert hatte.

»Wer? Sag bloß Giuseppe?« Ich grinste sie herausfordernd an.

»So ein Quatsch, Paolo natürlich! Ich überlege gerade, wann ein Mann bei uns eigentlich erwachsen wird.«

Ich schob mir ein Stück Brot in den Mund und kniff skeptisch die Augen zusammen. »Frag doch lieber: ob! Und frag weiter, ob er dann eventuell aufhört, mit Falschparkerei und solchen Scherzen zu zeigen, was für ein toller Hecht er ist.«

»Niemals!« Abwehrend wedelte Livia mit der Hand. »Da mach dir mal keine Illusionen, zumindest wenn es um Paolo geht. So einer lässt das nie.«

»Du scheinst ihn ja gut zu kennen.« Als wäre ich überhaupt nicht neugierig, ließ ich meine Blicke über die Nachbartische schweifen und beobachtete mit gespieltem Interesse die vergeblichen Versuche einer Mutter, das Gesicht ihres brüllenden Sohnes von einer dicken Schicht Schokoladeneis zu befreien.

Und tatsächlich, es funktionierte. Zwar zögerte Livia einen Moment lang und lutschte dabei an ihrem Caffèlöffel wie an einem Himbeer-Lolly, doch dann ließ sich die Lust am Tratsch nicht länger im Zaum halten und auch der Stolz darauf, mit einem halben Jahr Vorsprung über eine Menge mehr Insiderwissen zu verfügen als die neue Kollegin. »Gut ist vielleicht übertrieben, aber man kriegt doch so einiges mit.« Sie spähte ein paar Mal in die Runde, um ungebetene Zuhörer auszuschließen, bevor sie – die Arme auf der Tischplatte gekreuzt – alles erzählte, was sie über den Chef wusste.

Paolo war verheiratet, lange schon. Seine Frau hieß Lorenza und musste sehr attraktiv sein. In der Agentur ließ sie sich allerdings nie blicken, aber Carlo und Ada und ein paar andere Mitarbeiter hatten die beiden mal irgendwo zusammen getroffen. Und es gab drei halbwüchsige Kinder, zwei Mädchen und einen Jungen zwischen neun und fünfzehn Jahren alt. Livia meinte sich zu erinnern, dass sie Florentina, Alice und Luca hießen. Wo genau er wohnte, wusste Livia nicht, doch in der Innenstadt konnte es nicht sein, weil er immer mit seinem kleinen Flitzer angebraust kam. Irgendwer hatte ihn angeblich mal in einem Porsche 911 gesehen. »Wohl für besondere Gelegenheiten«, meinte Livia. Das würde ja auch zu seinem Image passen, lässig, jugendlich, guter Stil. »Hast du seine Uhr gesehen? Eine Panerai, todschick und sündhaft teuer.«

»Ein Aufschneider also?«, fragte ich.

»Nicht direkt, eher in so einer verspielten Art. Ein Gockel, der immer ein bisschen belustigt zwinkert. Ich kenne das gut, mein Vater gehört auch zu der Sorte.«

»Wirklich? Was macht er denn, dein Vater?«

»Er betreibt ein paar Kinos in Mestre und sonst wo. Verdient ziemlich gut und kommt sich auch ziemlich toll vor. Aber neben Paolo wirkt er eher konservativ, fast bieder. Bei Paolo spürt man seine Geschichte, die Jahre in London und New York, als Typ ist er ein Großstädter, ein Kosmopolit, findest du nicht?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Ein Kosmopolit? Keine Ahnung, das kann ich nicht beurteilen. Stammt die Idee von dir?«

»Nein, das hab ich von Carlo. Der kennt ihn am besten, zumindest in unserem Team. Er hat ihm sogar einen eigenen Slogan verpasst: Du sollst nicht langweilen – vor allem nicht dich selbst!« Amüsiert zog Livia die Nase kraus. »Ganz schön punktgenau, was? Für alles offen, immer auf aktuellstem Stand, dauernd auf der Suche nach Neuem – das soll übrigens auch für seine Gespielinnen gelten.«

»Gespielinnen? Woher hast du das denn?«

»Von Bianca, seiner Assistentin. Es ist ihr mal so rausgerutscht, als wir abends zusammen im Lift nach unten fuhren. Sie muss ziemlich wütend auf ihn gewesen sein und zischte irgendwas durch die Zähne über die affigen Dinger, mit denen er herumzöge.« Livia strich sich die Haare hinter die Ohren. »Herrje, das hätte ich besser nicht erzählen sollen.« Etwas betreten blinzelte sie mich an. »Ich glaube, Bianca hat es sofort leid getan. Aber solche Sachen bleiben einem einfach im Kopf stecken.«

Eben, dachte ich, und jetzt stecken sie auch in meinem. Dabei gehen mich Paolos Frauengeschichten überhaupt nichts an.

»Ist das eine Nette?«, fragte ich schnell, um Livia aus ihrer Verlegenheit herauszuhelfen. »Vielleicht war sie ja nur ein bisschen eifersüchtig.«

Livia überlegte kurz. »Nett auf jeden Fall – aber eifersüchtig? Sie ist eine ganz normale, smarte Person, nicht hässlich, aber auch nicht besonders attraktiv. Vernünftig wirkt sie, wie man als Assistenz der Geschäftsführung sein sollte. Und es könnte sie schon nerven, wenn da immer wieder jemand ins Telefon säuselt und zuckersüß nach P-a-o-l-o fragt.« Gekonnt imitierte Livia den vermuteten Schmelzton. »Mit Eifersucht hat das nicht unbedingt zu tun.«

»Und wenn sie das bloß so dahergesagt hat, um ihrem Ärger Luft zu machen?«, wandte ich ein. »Kann es nicht sein, dass sie irgendwelche Geschäftsanrufe falsch interpretiert hat?«

»Möglich wäre das schon. Andererseits – Carlo machte neulich mal eine ähnliche Andeutung.«

»Dann ist der eben auch eifersüchtig.« Ich grinste Livia an. »Komm, vergiss es. Das ist ein Thema, über das wir uns zum Glück nicht den Kopf zerbrechen müssen.«

Schluss damit. Entschlossen drehte ich meinen Stuhl zur Seite und streckte die Beine in die Sonne, damit sie ein bisschen Bräune abbekämen.

Gegen halb acht schwang ich mich auf mein Fahrrad. Auf dem Heimweg wollte ich noch einen Bogen durch den Corso Antonio Fogazzaro machen und bei meiner Freundin Francesca läuten. Das hatte sich zu einem Ritual zwischen uns beiden entwickelt, einem Alltagsritual, wenn die Zeit nicht reichte für einen ausgedehnten Ratsch oder einen gemeinsamen Bummel. Ich stoppte dann vor Francescas Haus an der Abzweigung zur Contrà Porta S. Croce, drückte, ohne abzusteigen, einen Fuß am Boden, dreimal auf den Klingelknopf neben dem Namen Siepi und legte den Kopf in den Nacken, während oben im dritten Stock sofort das Fenster aufgerissen wurde und Francesca sich über den Sims beugte. Soweit das noch ging mit ihrem runder werdenden Bauch.

Wir beiden kannten uns seit Kindertagen, hatten zusammen an der Uni in Mailand studiert, aber anders als ich war Francesca ohne Umwege nach Vicenza zurückgekehrt und hatte sofort im Tourismusbüro an der Piazza Giacomo Matteotti, direkt neben Palladios berühmtem Teatro Olimpicoeinen Job gefunden. Sie organisierte Ausflüge und Wallfahrten zu den vielen Kirchen, Kultstätten und Pilgerzielen in und um Vicenza. »Für die Frommen mit den breiten Füßen«, lästerte sie manchmal, wenn ihr die geballte Pietät auf die Nerven ging.

Francesca war nur wenige Monate älter als ich, aber schon seit gut zwei Jahren mit Renato Siepi verheiratet, dem Geschäftsführer eines pharmazeutischen Unternehmens, und erwartete jetzt ihr erstes Kind. Einen Jungen, das stand schon fest. Mir zuliebe wollte sie ihn Camillo nennen.

Don Camillo, spottete Renato und versuchte – bislang noch vergeblich –, mit Marco oder Riccardo dagegenzuhalten.

Ichholperte über das Kopfsteinpflaster und freute mich wie immer, wenn ich guter Laune war, über das Dauerklingeln meiner defekten Fahrradglocke, einen hellen, fröhlichen Ton inmitten knatternder motorini und dröhnender Autos. Gerade überlegte ich, ob Francesca sich bei dem milden Wetter vielleicht zu einem Spaziergangam späteren Abend überreden ließe, als plötzlich ein Wagen neben mir bremste. Die Rufe des Fahrers aus dem geöffneten Fenster bezog ich nicht auf mich und schaute nur hin, weil er anfing auf die Hupe zu drücken, kurz und fordernd, wieder und wieder. Paolo. Das war ja Paolo!

»Salve, Camilla!« Jetzt verstand ich auch, was er, weit nach rechts gereckt, aus dem offenen Fenster rief. »Wie wär’s mit einem Drink? Oder bist du in Eile?«

In Eile? Ich hielt an, einen Fuß auf das Pflaster gestemmt. In Eile eigentlich nicht, ich wollte nur einen schönen, entspannten Abend verbringen. Aber passte Paolo zu diesem Programm? Skeptisch blickte ich in das zu mir hoch gerichtete Gesicht auf dem verrenkten Hals. Wie eine falsch montierte Puppe, dachte ich und musste lachen. Für ihn anscheinend ein Zeichen der Zustimmung. Mit einem routinierten Schlenker fuhr er um mich herum, parkte in zweiter Reihe neben einem braunen Volvo-Kombi, ohne sich um das sofort einsetzende Protestgehupe zu scheren, und stand nach zwei langen Schritten an meiner Seite.

»Ciao, bellezza.« Ein strahlendes Drei-Tagebarts-Lächeln, ein Griff nach dem Fahrrad, das zwischen zwei parkenden Autos hindurchgehievt und als einsames Hellblau gegen die nächste Hauswand gelehnt wurde, ein sanfter Druck seiner Hand an meinem Ellbogen. »Komm, gehen wir.«

»Ich will – ich dachte …«, setzte ich an, doch Paolo hörte gar nicht hin. Die Linke wie ein Stoppschild erhoben, bugsierte er mich durch den Feierabend-Verkehr in Richtung einer kleinen Bar auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Mordimi – burgunderrot auf grauer Markise der Name des Lokals. Beiß mich – wie passend! Selten hatte ich mich so überrumpelt gefühlt. Widerstand zwecklos, signalisierte Paolo mit jeder Geste, jedem Wort. Also gut, sollte er sich als Sieger betrachten. Ich würde die Gelegenheit zu Studienzwecken nutzen und ihn in aller Ruhe beobachten, den angeblich großen Charmeur in Aktion.

Wieder musste ich lachen, und wieder wurde ich missverstanden. »Ah, gut, dir gefällt’s hier!« Im wandfüllenden Spiegel hinter dem Tresen auf der linken Seite des Lokals sah ich zwischen den Flaschenregalen sein Schmunzeln und das vertrauliche Zwinkern, mit dem er – begleitet von einem kurzen Winken – den Barmann begrüßte. Der seinerseits taxierte mich mit einem flinken Auf und Ab seiner Augen, getarnt durch ein eben poliertes Glas, das er prüfend gegen das Licht hielt. Ein Kennerblick, scheinbar zufriedenstellend, denn ihm folgte eine kleine Verbeugung in meine Richtung, dazu ein Lächeln, freundlich amüsiert.

»Michele, bring uns zwei Lugana!«, rief Paolo, während er mir einen Stuhl zurechtrückte und sich an einem der quadratischen Tischchen übereck neben mir niederließ, die Beine mit gekreuzten Knöcheln lässig weggestreckt, den linken Arm auf der Tischplatte abgelegt. Seine Finger trommelten einen kleinen Wirbel.

ENDE DER LESEPROBE