Ein Brief aus England - Brigitte Beil - E-Book

Ein Brief aus England E-Book

Brigitte Beil

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Es sind die Geheimnisse früherer Generationen, die uns ein Leben lang prägen.

Die erfolgreiche Münchner Geschäftsfrau Sigrid findet eines Abends beim Nachhausekommen ihre Tochter völlig verstört vor. Judith, Mitte zwanzig, stürzt ohne Erklärung aus der gemeinsamen Wohnung. Auf dem Küchentisch entdeckt Sigrid einen geöffneten Brief. Ein Amtsschreiben, in dem steht, dass eine Mrs Linda Hamstad, ehemals Macksiepen, in Manchester gestorben sei und die Verwandtschaft gebeten werde, wegen der Nachlassregelung mit den dortigen Behörden Kontakt aufzunehmen. Linda ist Sigrids Mutter, die kurz vor Kriegsende plötzlich verschwand. Von der Sigrid stets behauptet hatte, sie wäre längst tot. Der sorgsam gehütete Mythos, ihr Schutzwall gegen die unheilvolle Vergangenheit, droht brüchig zu werden. Ist es an der Zeit, ihre Tochter in die Familiengeheimnisse einzuweihen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 326

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Ein Brief aus England

Nachwort

Newsletter-Anmeldung

Orientierungsmarken

Titelseite

Copyright-Seite

Epigraph

Die erfolgreiche Münchner Geschäftsfrau Sigrid findet eines Abends beim Nachhausekommen ihre Tochter völlig verstört vor. Judith, Ende zwanzig, stürzt ohne Erklärung aus der gemeinsamen Wohnung. Auf dem Küchentisch entdeckt Sigrid einen geöffneten Brief. Ein Amtsschreiben, in dem steht, dass eine Mrs Linda Hamstad, ehemals Macksiepen, in Manchester verstorben sei und die Verwandtschaft gebeten werde, wegen der Nachlassregelung mit den dortigen Behörden Kontakt aufzunehmen. Linda ist Sigrids Mutter, die kurz vor Kriegsende wortlos verschwand. Von der Sigrid stets behauptet hatte, sie wäre längst tot. Der sorgsam gehütete Mythos, ihr Schutzwall gegen die unheilvolle Vergangenheit, droht brüchig zu werden. Ist es an der Zeit, ihre Tochter in die Familiengeheimnisse einzuweihen?

BRIGITTE BEIL, aufgewachsen in Münster, studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Publizistik und arbeitet als freie Journalistin und Buchautorin. Schwerpunkte ihrer zahlreichen Sachbücher, von denen mehrere in verschiedene Sprachen übersetzt wurden, sind soziale und psychologische Themen. Brigitte Beil hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in München. Nach »Maskal oder Das Ende der Regenzeit« und »Eiswinter« ist »Ein Brief aus England« ihr dritter Roman.

BRIGITTE BEIL BEI BTBEiswinter. Roman (74186)

Brigitte Beil

Ein Brief aus England

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe Mai 2013,

Copyright © 2013 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © TrevillionImages/Mark Owen

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

UB · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-09854-4V002www.btb-verlag.de

»Die dunkle Seite der Seele ist wie die unsichtbare Rückseite des Mondes.«

DAN BAR-ON

Ein Brief aus England

Da vorne ist er.

Zwar kann ich ihn nicht sehen, weil er im Sarg liegt und ein schwarzer Wall von Trauergästen das offene Grab umgibt. Aber dennoch – er ist da. Zumindest das, was von ihm übrig blieb.

Beerdigung am Dienstag, dem 26. November, um 11.00 Uhr im Ostfriedhof, hatte unter der Todesanzeige in der Süddeutschen Zeitung gestanden. Und im städtischen Bestattungskalender fand sich außer Gustav Macksiepen kein anderer, der zu dieser Zeit dort begraben werden sollte. Er muss es sein. Mein Vater.

Wann bin ich ihm zuletzt so nahe gewesen?

Plötzlich steht Judith an meiner Seite. Sie hat bis jetzt neben dem Eingangstor an der roten Ziegelsteinmauer gelehnt, während ich mich weiter vorwagte, um aus der Deckung einer mächtigen Eibe den Worten des Pfarrers zu lauschen.

Er kann den Alten nicht gut gekannt haben. Oder er wurde mit Märchen gefüttert. Oder er spult einfach die üblichen Sprüche herunter.

… liebevoller, vorbildlicher Familienvater – im Glauben gefestigter Sohn der Kirche – selbstloser Betreuer seiner Patienten …

Ist das zum Weinen, zum Lachen, zum Weglaufen?

»Kennst du jemanden von ihnen, Mama?«, wispert Judith und weist mit dem Kinn auf die dunklen Gestalten.

Mama. Noch immer zieht sich mein Herz zusammen, wenn sie mich so anredet. Zu lange gab es zwischen uns nur Kühle, Distanz, sogar offene Feindseligkeit. Es wird dauern, bis ich mich an diesen Ausdruck der Nähe gewöhne.

»Nein.«

Aufmerksam habe ich alle betrachtet, die das Grab umstehen. So gut es eben ging bei der Entfernung, dem Gedränge, der Trauerstaffage von Hüten, Schleiern, hochgezogenen Tüchern. Und ich beobachte sie weiter, während nun Einzelne vortreten, Blumen niederlegen, eine Schaufel Erde in die Grube streuen und unter Beileidsgemurmel Hände schütteln. Nein. Vielleicht könnte mir sogar nach so langer Zeit noch der ein oder andere von den alten Gefährten aus seiner großen Zeit bekannt vorkommen, aber bis auf zwei gebeugte Männer, an denen ich nichts annähernd Vertrautes entdecke, ist niemand aus der Altersgruppe meines Vaters erschienen. Natürlich. Die meisten werden tot sein, und der Rest hält vermutlich irgendwo im Verborgenen den Atem an.

Mein Vater. Was würden die Leute da drüben, seine Angehörigen, sagen, wenn sie wüssten, wer hier steht – seine Tochter und seine Enkelin, seine andere Familie? Ob jemand von ihnen sich noch erinnert, dass es diese anderen je gegeben hat? Oder haben sie alles gestrichen, so wie er es tat, damals, nach der Katastrophe?

Ich versuche, mir seine Reaktion vorzustellen, wenn es Judith und mir gelungen wäre, unseren Plan auszuführen. Einfach an seiner Haustür hatten wir klingeln wollen und sagen: Hier sind wir, du kannst uns nicht länger übergehen. Ob er uns verleugnet hätte? Bestritten, dass es eine Verbindung zu uns gab? Wahrscheinlich hätte man uns beide auf schnellstem Weg hinauskomplimentiert, das habe ich meiner Tochter immer wieder gesagt. Jemand aus der Familie würde eingegriffen haben, einer, dessen Name unter der Todesanzeige stand und der sich berechtigt fühlte, die Eindringlinge, die Bastarde in die Schranken zu weisen. Helga vielleicht, die Witwe, seine Ehefrau vor und nach meiner Mutter, vielleicht auch Heiner oder Gudrun oder ein anderer von meinen Halbgeschwistern.

Egal, jetzt ist es zu spät für den Überraschungscoup.

Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr. Nur wenige Meter links von uns steht Karola im langen dunkelblauen Mantel, den Topfhut tief in die Stirn gezogen, und schüttelt ihren Schirm aus. Hat es geregnet? Ich hebe das Gesicht zum Himmel, fange ein paar letzte vereinzelte Tropfen auf, die eine schwere, schwarzgraue Wolke im Abziehen fallen lässt, und spüre plötzlich, dass mein Haar an den Schläfen klebt, fühle die Feuchtigkeit in meiner Wolljacke und an den Spitzen meiner dünnsohligen Schuhe.

Karola schaut nicht zu uns herüber, aber bestimmt ist sie gekommen, um auf ihre Schützlinge zu achten, wie sie es immer getan hat. Für alle Fälle. Und natürlich auch, weil sie den alten Macksiepen kannte, gut kannte. Genauso wie meine Mutter. Auch die kannte Karola besser, als es mir je möglich war. Und dass meine vagen Erinnerungsbilder schließlich Konturen annahmen, dass ich die Gesichter meiner Eltern wieder vor mir sehe und weiß, in welche Verstrickung wir alle gerieten, verdanke ich allein ihr.

Soweit ich zurückblicken kann, war Karola da. Wann immer ich an früher denke, was lange Zeit nur selten geschah, steht Karola an den Nahtstellen, an den Kreuzungen. Sie bewahrte mich davor, verloren zu gehen, in Abgründe zu stürzen. Mehr als ein halbes Leben hat es gebraucht, bis mir das klar wurde.

Sie muss sehr jung gewesen sein, als sie mich unter ihre Fittiche nahm, höchstens siebzehn Jahre alt. Karola Bachmeier, ein einfaches Ding vom Land, wie sie selbst sagt, dem ein neugeborenes Baby in Obhut gegeben wurde. Seitdem blieb sie – trotz aller von meinem Vater errichteten Hindernisse – meine zuverlässige Beschützerin.

Unvorstellbar, wie sie es in den folgenden unruhigen Zeiten schaffen konnte, mich während meiner Odyssee durch Waisenhäuser, Kinderheime und Internate immer wieder aufzustöbern. Sogar aus den Trümmern des Münchner Luisenstifts hat sie mich gezogen, als ich hinter einer Kellerbank steckte und von den anderen längst aufgegeben worden war. Woher hatte sie den Mut und die Raffinesse, sich den Verboten zu widersetzen und mir auf verschwiegenen Wegen wenigstens ab und an ein Geburtstagspäckchen oder eine Weihnachtskarte zukommen zu lassen? Zumindest zeitweilig kann das nicht ungefährlich gewesen sein. Und wie brachte sie später die schier endlose Geduld auf, mit der sie meine gelinde gesagt wenig einnehmende Art ertrug? Und auch noch die Betreuung meiner Tochter übernahm, damit ich mich ums Geschäft kümmern konnte?

Karola. Bis vor wenigen Monaten erschien sie mir nur wie ein nützlicher Funktionsträger, nicht mehr als ein alltäglicher Gebrauchsgegenstand. Tiefe Scham überfällt mich, wenn ich daran denke. Dabei ist sie mit Sicherheit der Mensch, dem ich am meisten vertrauen kann, sie kennt mich besser als irgendjemand sonst auf der Welt, während ich von ihr all die Jahre über kaum etwas wusste. Weil ich mich schlicht nicht dafür interessierte. Und als ich endlich anfing nachzufragen, winkte sie lächelnd ab: Da gäb’s nichts Besonderes zu berichten.

Aber immerhin ließ sie sich entlocken, dass sie aus Leberskirchen stammt, einem verwinkelten niederbayerischen Dorf nördlich von Vilsbiburg. Den am Ortsrand gelegenen Hof ihrer Eltern hatte der ältere Bruder übernehmen sollen, der jüngere wurde Lehrer im Nachbardorf Schalkham, für sie selbst war die Heirat mit einem Einödbauern vorgesehen.

Eine schreckliche Vorstellung, völlig abgeschieden zwischen den Hügeln zu sitzen, und dann noch mit diesem grobschlächtigen Xaver, so meinte sie, hätte der Auserwählte geheißen. Unterstützt von ihrer Großmutter hatte sie die Eltern umstimmen und die Stelle als Kindermädchen bei dem Münchner Doktor antreten können, für die eine Verwandte aus der Stadt eine Bewerberin suchte. Mehr war nicht aus ihr herauszubringen. Gab es irgendwann eine Liebesgeschichte in ihrem Leben? Hatte sie Träume, die über die Sorge für uns hinausgingen? Ich weiß es nicht, und ich weiß auch nicht, wie sie zu ihrer Besonnenheit kam, zu ihrer Großmut und der unerschütterlichen Zuneigung, mit der sie uns umgab: meine Mutter, meine Tochter und zuallererst mich selbst.

Zweifellos steht Karola hier auf dem Friedhof, weil sie Zeugin sein will, wie der alte Macksiepen unter die Erde kommt. Um ganz sicher zu sein, dass er uns nicht mehr verletzen kann.

Aber was ist mit mir? Warum bin ich hier? Etwa nur, weil Judith mich drängte und behauptete, es sei besser, ihm bei seinem Begräbnis nahezukommen, als überhaupt nie? Nein, es ist etwas anderes, das wird mir erst jetzt, in diesem Moment bewusst. Ein Satz muss mich hergetrieben haben, den unser Vertreter für Mecklenburg-Vorpommern, ein junger, smarter Typ, von dem man derartige Äußerungen nie erwartet hätte, neulich im Entree meiner Firma fallenließ, als ich gerade vorbeiging. Den Zusammenhang habe ich nicht mitbekommen. »Es kann eine Erlösung sein«, hörte ich ihn zu ein paar Kollegen sagen, »wenn ein Mensch stirbt, nach dessen Liebe du dich gesehnt hast: Du erwartest nichts mehr, du hörst auf zu hoffen, und das macht dich frei.« Ohne es zu wollen, habe ich diesen Satz offenbar gespeichert. Plötzlich taucht er wieder auf. Und ich glaube, er ist wahr.

Noch vor kurzem wäre es unvorstellbar gewesen, dass ich solche Gedanken an mich herangelassen hätte. Als verquast, verstiegen, sentimental würde ich sie abgetan haben. Absolut nicht mein Ding. Immer wieder erstaunt über mich selbst, stelle ich fest, dass ich neuerdings Menschen wahrnehme, an denen ich bislang achtlos vorbeigegangen bin. Zum ersten Mal sehe ich sie wirklich und glaube zu erkennen, zumindest bei einigen, was sich hinter ihrer zur Schau gestellten Fassade verbirgt.

Seit ich weiß, was mit mir selbst geschehen ist und wie ich zu der wurde, die ich Jahrzehnte hindurch war, scheint auch mein Blick auf andere geschärft. Inzwischen bin ich ein paarmal auf Augen getroffen, die denen glichen, die mir lange Zeit aus dem Spiegel entgegengeschaut hatten, eiskalt standen sie in verschlossenen Gesichtern, verweigerten jede Nähe, jeden Einblick. Erst neulich wieder bei einem Empfang der Industrie- und Handelskammer, zu dem ich als Unternehmerin regelmäßig eingeladen bin. Ich sehe den Mann noch deutlich vor mir, mit dem ich im Gedränge zusammenstieß, der sich zwar entschuldigte, weil ein Schuss Prosecco aus seinem Glas auf meinen Jackenärmel geschwappt war, mich dabei aber mit einem Blick maß, der mir den Frost über den Rücken trieb. Mein alter Blick – ich kann die Leere, die Verlorenheit dahinter spüren.

In letzter Zeit sind Dinge vorgefallen, die alles geändert haben.

Liebe – wann hätte ich je über die Liebe meines Vaters nachgedacht? Für mich gab es keinen Vater, genauso wenig eine Mutter. Weg waren die zwei, verschwunden, seit langem versenkt in einem schwarzen Loch. Spurlos, ohne Erinnerungen, ohne Geschichten, ohne Bilder – meinte ich, bis vor fünf Monaten diese Nachricht eintraf, die uns, Judith und mich, vollkommen aus der Bahn warf.

Doch erst jetzt, nachdem sie beide tatsächlich tot sind, ganz offiziell und amtlich verbürgt, traue ich mich, genau hinzudenken, ohne Angst, in einen Mahlstrom zu geraten. Ich muss nichts mehr fürchten, wenn ich mich der Vergangenheit stelle, wenn ich verworrenen Gefühlen nachspüre und mein Leben unter die Lupe nehme. Es war ein warmer Abend im Juni, als es begann.

Wie eine Feuersäule stieg der Schmerz in mir hoch. Ich stand im Flur, zog die Luft durch die Zähne und starrte reglos auf die schwingende Kette vor dem weißen Lack der gerade ins Schloss gefallenen Wohnungstür. Der Knall hallte in meinen Ohren, aber er war nichts gegen das innere Brennen – ein eigenartiges Lodern, ungewohnt und doch auf seltsame Weise vertraut.

Als ich an diesem Abend gegen sieben Uhr die Wohnung betreten hatte, schien meine Welt noch in Ordnung. Im Licht der tief stehenden Sonne glänzte das Parkett wie dunkler Honig, die Luft roch intensiv nach den Lilien, die mir – einen ganzen Arm voll gleich – ein paar Mitarbeiter am Tag zuvor zum Geburtstag überreicht hatten. Ein betörender Duft, für mein Empfinden fast zu schwer.

Ich wandte mich nach rechts, um die großen Flügelfenster im Wohnzimmer zu öffnen – und wäre beinahe mit meiner Tochter zusammengeprallt. Wie eine Furie kam Judith aus der Küche gestürzt, blieb einen Moment lang vor mir stehen und fegte dann hinaus, während die Tür krachend hinter ihr zuschlug. Wortlos, mit einem Gesichtsausdruck, der mir in die Knochen fuhr. Fremdheit stand darin und Ablehnung und eine Prise Mitgefühl. Zumindest glaubte ich, das zu sehen.

Ich kannte diesen Ausdruck. Aber woher?

Ich erinnere mich, dass ich auf den Garderobenstuhl sackte, die Fäuste gegen die Brust gepresst, und dass in meinem Kopf plötzlich Bilder auftauchten – schemenhaft zunächst. Mein Kinderzimmer. Im Halbdunkel sehe ich durch die Gitterstäbe meines Bettes ein weißes, starres Gesicht, einen Mund, der vergeblich zu sprechen versucht, und Augen, die mich mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Wehmut fixieren. Stumm wendet das Gesicht sich ab, der helle Türspalt wird geschlossen. Ich bleibe allein zurück und spüre, dass es für immer ist.

Der Abend, an dem meine Mutter mich verließ, spurlos verschwand, lag Jahrzehnte zurück. Wieso holten diese Bilder mich jetzt ein? Ich weiß noch, dass ich mich schüttelte, um das peinigende Gefühl loszuwerden. Wie albern, sich davon nach so langer Zeit überrollen zu lassen.

Ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht.

Judith? Vielleicht kam sie zurück. Vielleicht bereute sie den dramatischen Abgang und erklärte mir ihr seltsames Verhalten. Nein, es war nicht meine Tochter. An ihrem schleppenden Gang erkannte ich Karola schon, ehe sie über die Schwelle trat. Seit einer Hüftoperation vor vier Jahren zieht sie ihr rechtes Bein nach. Schnell ließ ich meinen Kopf an die Stuhllehne fallen und schloss die Augen. Nur jetzt nicht die besorgte Stimme hören, nicht dem hellsichtigen Blick standhalten müssen. Es funktionierte. Mit leisem Seufzen schlurfte Karola so geräuschlos wie möglich an mir vorbei Richtung Küche. Vermutlich durchschaute sie mein Manöver, schließlich kannte sie mich seit meiner Geburt und fiel kaum jemals auf einen der Tricks, mit denen ich mir ihre Fürsorge vom Leib zu halten versuchte, herein. Ich ertrug es nicht, dass jemand sich in meine Belange einmischte. Egal, wie gut gemeint. Karola schien keinen Anstoß an meinen oft harschen Reaktionen zu nehmen, mit unerschütterlichem Gleichmut führte sie die Regie in meinem Haushalt und bemühte sich hartnäckig, die Atmosphäre ein bisschen nett zu gestalten. Nett – ein Hasswort für mich!

Ich hörte Karola hinter der angelehnten Küchentür rumoren. Kartoffeln wurden polternd in einen Korb geschüttet, Flaschen im Kühlschrank verstaut, Stühle gerückt, knisternde Tüten in den Schrank geräumt. Plötzlich gespannte Stille, und im nächsten Moment stand sie im Flur.

»Hast du mit so was gerechnet?«, rief sie ohne Rücksicht auf meinen Tarnschlaf. »Nach all den Jahren?« Ihre Stimme klang tief und brüchig, wie die einer Kettenraucherin, obwohl sie zeitlebens nie eine Zigarette angerührt hat.

Ich wandte ihr den Kopf zu und schaute sie verblüfft an. »Wieso? Was meinst du?«

»Na, diese Nachricht hier. Hast du sie etwa nicht gelesen?« In der hoch erhobenen Hand schwenkte sie ein Blatt Papier.

Gelesen? Natürlich nicht, bislang hatte ich nur meinen Gedanken nachgespürt.

Was konnte das für ein Schreiben sein? War Judith vielleicht deswegen so hastig davongerannt? Wie elektrisiert sprang ich auf die Füße.

»Lass mich sehen!« Ich lief zu Karola, riss ihr den Bogen aus der Hand und lief weiter zum Küchenfenster, im Schein der letzten Sonnenstrahlen würde ich besser lesen können. Schon nach zwei Zeilen begann meine Hand zu zittern.

Ohne den Brief wäre ich vielleicht unbehelligt durchgekommen bis an mein Lebensende: Sigrid Johansen, erfolgreiche Geschäftsfrau, selbständig, unabhängig, unanfechtbar. Aber mit diesem Blatt änderte sich alles, es brachte mein System zum Einsturz. Ein trockenes Amtsschreiben aus England. Adressiert war es an die Familie Johansen-Macksiepen, deshalb hatte Judith sich offenbar angesprochen gefühlt und das Kuvert geöffnet.

Vor vier Wochen, stand auf dem Papier, sei eine Mrs. Linda Hamstad, ehemals Macksiepen, in einem Heim für geistig Verwirrte – sie nannten es mental home – in Manchester gestorben, und die Verwandtschaft werde gebeten, wegen der Bestattungskosten und der Nachlassregelung mit den dortigen Behörden Kontakt aufzunehmen.

Linda, meine Mutter, die kurz vor Kriegsende fortgegangen und nie mehr aufgetaucht war, ließ also doch noch einmal von sich hören. Aber Hamstad? Vermutlich ihr Mädchenname, den sie nach der Trennung von uns wieder angenommen hatte. Oder hatte sie noch einmal geheiratet? Unter welchem Namen und in welchem Zustand auch immer – wieso nur musste sie sich so unerwartet zurückmelden, in mein Leben eingreifen? Alles in mir bäumte sich dagegen auf. Für mich, für mein Empfinden war diese Frau seit langem tot. Selbst wenn ich mich intensiv bemühte, fiel mir nicht einmal mehr ihr Aussehen ein, kein Lachen, keine einzige Geste. Selbstverständlich hatte ich sie auch in den an meine Tochter weitergegebenen Geschichten längst das Zeitliche segnen lassen – und selbstverständlich würde Judith sich belogen fühlen. Mein sorgsam gehüteter Mythos geriet ins Wanken.

Heute sehe ich in diesem Brief so etwas wie eine glückliche Fügung, obwohl ich zunächst meinte, in einen Abgrund zu stürzen.

Mit wackeligen Knien ließ ich mich auf den nächsten Stuhl am Küchentisch fallen, das fatale Papier noch immer in der Hand. Durfte man eine Frau, eine biologische Mutter, von der es über fünfzig Jahre lang kein Lebenszeichen gegeben hatte, etwa nicht als tot bezeichnen? Ich versuchte, mich an die offizielle Regelung zu erinnern. Wann wurde ein Verschwundener für tot erklärt, nach zehn, nach zwanzig Jahren? Gut, vielleicht hätte ich Lindas Sterben nicht detailliert beschreiben sollen, als langsames, friedliches Wegdämmern im Krankenhausbett, aber welche Alternative blieb mir? Ich sah Judith wieder vor mir: ein kleines Mädchen, das beharrlich nach seinen Verwandten fragte. Und ich stand mit leeren Händen da, wenn ich nicht meine Phantasie in Gang setzte und Geschichten erfand. Nun würde sie mir gar nichts mehr glauben, würde alles anzweifeln, was ich über unsere nicht vorhandene Familie erzählt hatte.

Karola, die gegenüber am Tisch saß, reckte sich zu mir, zog den Brief behutsam aus meinen Fingern und hielt ihn dicht vor ihre kurzsichtigen Augen. Seufzend fuhr sie sich durch die grauen Locken, die ihren Kopf wie ein dicker Pelz umstanden.

»Erinnerst du dich an sie?«

Über den Rand ihrer dunklen Hornbrille musterte sie mich mit ihrem durchdringenden Blick, bohrte aber nicht weiter, als ich stumm in die Luft starrte. Die Kälte der Granitplatte nistete sich in meinen aufgestützten Armen ein.

»Manchmal kann man dir nicht in die Augen sehen«, hörte ich Karola sagen. »Sie sind dann wie undurchsichtige Scheiben, hinter denen du verschwindest.«

Ohne auf ihre Worte zu achten, saß ich regungslos da und versuchte herauszufinden, was mit mir geschah. Es war, als zerrte und risse etwas in meinem Innern, als drängte irgendetwas mit Macht durch einen Spalt. Ich glaubte, mich noch nie so fremd in mir selbst gefühlt zu haben.

Inzwischen weiß ich, dass dies der Moment war, in dem mein Schutzpanzer die ersten Sprünge bekam und tief vergrabene Erinnerungen, dumpfe Ahnungen von längst Vergangenem herauszusickern begannen.

»Und jetzt?« Ich reagierte erst, als Karola mich zum zweiten Mal und lauter ansprach. »Sigrid! Was soll jetzt geschehen?«

Sie schob den Brief über den Tisch und tippte mit dem Finger darauf.

»Kein Problem.« Ich zuckte mit den Achseln und bemühte mich um den Anschein größter Gelassenheit. Auf keinen Fall wollte ich mir von dieser fremden, toten Person die Kontrolle nehmen lassen. »Morgen werde ich die Sache meinem Anwalt übergeben. Ich will nichts damit zu tun haben. Wer soll das schon sein, diese Linda – plötzlich auferstanden als meine Mutter!«

Ich rannte aus der Küche und knallte die Tür so heftig hinter mir zu, als ließe sich damit die Vergangenheit aussperren.

In der folgenden Nacht meldete sich mein Alptraum wieder. Ich weiß nicht mehr, seit wann er mich plagt, es muss sehr früh begonnen haben, als ich etwa vier oder fünf Jahre alt war. Auf einer schartigen Eisscholle treibe ich im Halbdunkel mutterseelenallein auf ein nebliges Meer hinaus. Anfangs sehe ich noch einen schmalen schwarzen Küstenstreifen, aber dann versinkt alles um mich her in eisigem Grau. Das Grau ist so dick, dass ich es kauen kann. Es füllt mich mit Kälte und überzieht als schmieriger Film meine Haut und mein Haar. Ich fühle, wie ich erstarre, und schreie um Hilfe, aber niemand antwortet. Vom Knirschen eines Gletschers wache ich auf – es ist das Geräusch meiner eigenen Zähne.

Schweißgebadet ging ich ins Bad, kühlte mein Gesicht, zog ein frisches Hemd an und wollte, zurück im Bett, einfach weiterschlafen. Ungezählte Male hatte ich trainieren können, die Anschlussängste beiseitezuschieben. Mein bewährter Trick funktionierte so, dass ich meinen Gedanken verbot, eine bestimmte, ziemlich nahe Linie zu überschreiten. Die Linie wurde von einer blassen Mauer gebildet, und meistens hielt sie stand. Doch in dieser Nacht klappte es nicht. Während ich mich auf meine Übung konzentrierte, löste sich die Mauer auf, und an ihre Stelle traten schattenhafte Gestalten, von denen eine, wie ich erst langsam begriff, ich selber war, klein und sehr verlassen. Ein anderer, größerer Schemen mit verschwommenen Zügen, die mir gleichzeitig fremd und vertraut erschienen, stieß mich zu Boden und schrie in einer mir unverständlichen Sprache auf mich ein.

Ich drückte meinen Kopf ins Kissen, hielt mir Augen und Ohren zu, bis die Bilder endlich verschwanden und meine Lider zufielen. Schon fast weggesackt, registrierte ich von ferne, dass Judith nach Hause kam.

Am Morgen fand ich Tränenspuren auf meinem Kopfkissen.

Sie schlief noch, als ich gegen acht Uhr früh ins Geschäft ging, tagsüber kam kein Anruf von ihr, und abends, bei meiner Heimkehr, fand ich auf der Dielenkommode einen Zettel mit der Nachricht, dass sie verreist sei. Zu einer Bekannten nach Berlin. Für wie lange stehe nicht fest.

Ich hielt das für eine gute Idee, denn so würde es vorläufig keine Auseinandersetzung um den englischen Brief geben. Unser Verhältnis war ohnehin angespannt genug. Sophia Tremel, meine Steuerberaterin – wegen ihres verhutzelten Aussehens nannte ich sie im Stillen blonde Dörrpflaume –, glaubte mich belehren zu müssen, dass meine Tochter mit 27 Jahren zu alt sei, um noch mit mir in einer Wohnung zu leben. Kinder in Judiths Alter, sagte sie leicht spöttisch, sollten ihre eigenen Wege gehen. Ich teilte diese Meinung damals nicht, sondern fuhr eine Reihe von Argumenten auf, die mir sehr plausibel erschienen. Die Größe der Wohnung etwa – beinahe zweihundert Quadratmeter –, viel zu verschwenderisch für eine Person, die Raumaufteilung, die uns völlig getrennte Wege ermöglichte, die Spitzenlage im obersten Stock eines gepflegten, stuckverzierten Altbaus mitten in Schwabing.

Die Wohnung bedeutete mir sehr viel. Wenn ich auf meiner großen, von italienischen Säulen gerahmten Terrasse stand und in den angrenzenden Leopoldpark hinunterschaute, kam ich mir vor wie der Kapitän eines Riesendampfers, und wenn ich unten über die ruhigen Wege spazierte und durch die hohen Bäume hinaufblickte, erschien mir mein Zuhause als eine uneinnehmbare Festung. Da oben konnte mir niemand etwas anhaben. Genau das war immer mein Ziel gewesen: eine Position, in der kein Mensch mich würde herumschieben oder -kommandieren können. Ich allein wollte die Kontrolle haben, unumschränkte Herrscherin über mein Leben sein.

Natürlich verriet ich Sophia Tremel nichts von solchen Gedanken.

Sophia meinte auch, ich solle Judith mehr Mütterlichkeit entgegenbringen. Fast jedes Mal, wenn wir einen Kaffee miteinander tranken, kam sie darauf zu sprechen. Sie begriff nicht, dass ich sie als Steuerberaterin schlicht meinen Hilfstruppen zurechnete und derartige Kommentare als Grenzüberschreitungen betrachtete. Ich ließ sie plappern.

Mütterlichkeit – eines von den Wörtern, die mir wie leere Hülsen vorkamen. Diesem verkitschten Getue, das die meisten Frauen praktizierten, konnte ich nichts abgewinnen. Schließlich musste jeder irgendwann auf eigene Füße kommen, und je früher er damit anfing – das wusste ich aus persönlicher Erfahrung – desto besser.

Mit Judith jedenfalls hielt ich es so, da gab es keine Hätscheleien, keine Küsschen hierhin und dorthin. Ich hätte – das war mir nebenbei klar – auch keine Ahnung gehabt, wie man dergleichen anstellte.

Technisch gesehen klappte unser Zusammenwohnen einwandfrei, weil wir kaum Berührungspunkte hatten. Sie stand erst auf, wenn ich längst unterwegs war, verbrachte die Abende mit Leuten, die ich nicht kannte, irgendwo in der Stadt, verschlief oft ganze Wochenenden und zeigte keinerlei Interesse an gemeinsamen Mahlzeiten oder Gesprächen. Das hatte ich übrigens auch nicht. Ich lebte wie Judith mein eigenes Leben, froh, wenn niemand Vertrautheit von mir erwartete. Alle Arten von Gefühligkeit waren mir zuwider.

Dass trotz des Abstands zwischen uns eine ständige Spannung in der Luft lag, versuchte ich zu ignorieren. Ich weigerte mich beharrlich, über unser Verhältnis nachzudenken.

Vielleicht ließe sich meine damalige Haltung als distanzierte Nähe bezeichnen, denn obwohl ich mir alle Mühe gab, keine emotionalen Anwandlungen aufkommen zu lassen – zu der Zeit etwa, als Judith manchmal wie ein kleines verlorenes Hündchen durch die Wohnung irrte –, ertappte ich mich immer wieder dabei, dass ich sie argwöhnisch beobachtete, mit einer Skepsis, für die ich den Grund nicht kannte. Ich wusste selbst nicht, was ich bei Judith suchte. Und sie, die sich von Argusaugen belauert fühlen musste, machte die Schotten dicht oder spähte kritisch zurück. Wahrscheinlich hat dieser Druck die nervösen Ticks ausgelöst, mit denen sie sich herumschlug – während der Pubertät schniefte sie unentwegt, und in darauffolgenden Jahren plinkerte sie im Sekundentakt mit den Augen.

Heiße Not überfällt mich bei der Vorstellung, wie nahe ich daran war, die Verbindung zu meiner Tochter zu vertun, diese Kostbarkeit überhaupt nicht wahrzunehmen. Und ich empfinde inzwischen sogar eine Art von Dankbarkeit der toten Linda gegenüber. Es kommt mir vor, als habe sie auf verschrobenem Weg etwas gutmachen wollen, uns aus dem Jenseits die Liebe angetragen, die sie der Familie im Leben verweigert hatte.

Durch ihre indirekte Nachricht geriet tatsächlich etwas in Bewegung. Immer wieder holten mich seit der Ankunft des Briefes merkwürdige Schatten und Visionen ein. Mitten in einer Tätigkeit oder Überlegung tauchten sie auf wie Szenen aus einem alten, unscharfen Film und machten sich in meinem Kopf breit, bedrängten und verunsicherten mich, und erst allmählich wurde mir klar, dass es Teile meiner Vergangenheit waren.

Ich war ein Eisblock damals, erstarrt in einer dicken Schicht, die mich zugleich schützte und hemmte. Es dauerte, es dauerte lange, sich daraus zu lösen. Bis dahin hatte ich nie geweint, egal, was kam. Aber jetzt auf einmal sprangen mir manchmal unversehens Tränen aus den Augen. Eigentlich hätte es zischen müssen, wenn sie auf meinen Eispanzer tropften.

Eines Nachmittags arbeitete ich bei weit geöffneten Fenstern in meinem Büro an der Vorbereitung einer Konferenz, eine heikle Angelegenheit, weil zwei meiner Mitarbeiter als notorische Quertreiber sicher wieder Probleme heraufbeschwören würden. Unten auf der Widenmayerstraße rauschte der Verkehr. Plötzlich mischten sich in das Autogebrumm vage, abgerissene Gitarrenklänge. Ich dachte an den Straßenmusiker, einen schlunzigen Typ mit einem Strickband um die Stirn, der ständig irgendwo in der Nähe an Häuserwänden lehnte. Heute hatte er sich offenbar direkt unter meinem Fenster niedergelassen. Doch die Vorstellung wurde im gleichen Moment von einem anderen Bild verdrängt. Ich sah mich auf einem Sofa sitzen, so klein, dass meine Füße am Ende des Polsters in die Luft ragten. Sonnenschein fiel schräg durch die Kassettenscheiben eines Fensters rechts von mir, und in den Strahlen tanzten Millionen Staubkörnchen. Sie tanzten zum Takt des Liedes, das der Mann neben mir sang und mit der Gitarre begleitete, Alle Vögel sind schon da. Mein Kopf reichte knapp bis zum Ellbogen des Mannes, und ich hätte ihn gern an seinen blauen Ärmel gelehnt, aber ich wollte den Gesang nicht stören.

»Sie sehen aus, als weinten Sie.«

Ich schreckte hoch und schaute in das erstaunte Gesicht meiner Sekretärin. Offenbar hatte ich ihr Klopfen überhört.

»Unsinn! Was für eine absurde Idee!«

Die Antwort war barsch genug, um sie zum sofortigen Rückzug zu veranlassen. Ich konnte jetzt keine Zeugen gebrauchen, ich spürte selbst, dass meine Wangen nass waren, vor allem jedoch musste ich mit der undefinierbaren Sehnsucht fertigwerden, die mir fast den Atem verschlug. So nah, wie ich mich ihm gefühlt hatte, meinte ich, der Mann müsse mein Vater gewesen sein, aber ich wusste nicht mehr, wie er aussah.

Judith kam früher zurück als erwartet. Am fünften Tag nach ihrer Abreise schlich ich abends auf der Suche nach einem Parkplatz bei heftigem Regen mit meinem Alfa die nassglänzende Franz-Joseph-Straße entlang und sah sie plötzlich um die Ecke biegen. Begleitet von Herrn Mondschein, der eifrig auf sie einsprach, während er ihren Rollkoffer zog. Offenbar hatte er sie vom Bahnhof abgeholt und mit der U-Bahn heimbegleitet. Ich hielt an, um den beiden zuzusehen, machte mich jedoch nicht bemerkbar. Die Köpfe gegen die Böen gesenkt, gingen sie dicht nebeneinander her.

Herr Mondschein reichte meiner Tochter gerade bis zur Schulter, gewann allerdings etwas an Größe durch seinen Hut, diesen Immer-und-unentwegt-Trachtenhut, so speckig und verschossen, dass er fast kühn wirkte. Dazu trug Herr Mondschein genauso ausdauernd einen grauen, verbeulten Walkjanker über grünlichem Cord- und Wollzeug. Ich glaube, seit seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst – und das ist bestimmt fünfzehn Jahre her – habe ich ihn nie anders gewandet gesehen. Herrn Mondscheins Kluft war so bayerisch, dass viele, wenn sie seinen norddeutschen Tonfall hörten, erstaunt ausriefen: »Aber Sie sind ja gar kein Bayer!« »Nein«, pflegte Herr Mondschein zu antworten, »und auch kein Jude.« Und die kindlich unschuldige Miene, die er dazu zeigte, hielt jeden davon ab, hinter seinen Worten eine rassistische Anspielung zu vermuten. Er war es einfach leid, ständig auf seinen ungewöhnlichen Namen angesprochen zu werden. »Herr Mondschein, eigentlich solltest du besser Grünspan heißen«, sagte Judith irgendwann einmal zu ihm und zupfte an seiner moosfarbenen Hose. Sie kennt ihn seit ihrem zweiten Lebensjahr und duzt ihn, aber sie nannte ihn nie Onkel Walter, wie er es anfangs vorschlug. Herr Mondschein und du – dabei blieb es bis heute.

Die beiden hatten das Haus erreicht, klopften die Nässe aus ihren Kleidern und traten ein, und ich machte mich wieder auf die Parkplatzsuche. Ohne Eile, weil ich die Begegnung mit ihnen noch ein wenig hinauszögern wollte.

Auch Herrn Mondschein zählte ich damals zu meinen Hilfstruppen und verübelte ihm, dass er sich, genau wie die übrigen Mitglieder dieses Vereins, nicht mit seiner Nützlichkeit zufriedengab, sondern zu Bemerkungen oder Eingriffen neigte, die ich nicht bereit war hinzunehmen.

Herr Mondschein ist uns zugelaufen. Beinahe fünfundzwanzig Jahre ist das jetzt her. Ich sehe ihn noch vor unserer Wohnungstür stehen in der Uniform des Verkehrspolizisten, die Mütze verlegen in den Händen drehend, seine grau-braun gesprenkelten Augen besorgt auf mein Gesicht geheftet.

»Sind Sie Frau Johansen?« Seine Stimme klang mehlig vor lauter Mitgefühl.

»Richtig.«

»Ich – ich«, er stockte, räusperte sich mehrmals, ehe er weitersprach. »Ich habe Ihnen eine traurige Mitteilung zu machen. Ihr Mann ist – also, Ihr Mann hatte …« Er streckte eine Hand aus, weil er wohl annahm, dass ich bei seiner Nachricht zusammenbrechen würde. Dabei sah er selbst so mitgenommen aus, als könne er sich kaum noch auf den Beinen halten.

»Kommen Sie erst einmal herein«, sagte ich, führte ihn in die Küche und bot ihm einen Stuhl und eine Tasse von dem Kaffee an, den Karola in einer Thermoskanne bereitgestellt hatte. Ich wusste, was er mir sagen würde, ich wusste es seit dem Moment, als ich seinen Gesichtsausdruck sah.

Während er die dicke Blümchentasse auf dem Tisch hin und her schob, berichtete er unter vielem Zagen und Zögern, dass Sven, mein Mann, mit seinem Motorrad auf der Garmischer Autobahn gegen einen Brückenpfeiler gerast sei, kurz hinter der Ausfahrt Sindelsdorf. »Ohne zu bremsen«, sagte er kopfschüttelnd, »einfach geradeaus dagegen. Ich fuhr mit meinem Streifenwagen ein paar hundert Meter hinter ihm, ich war sofort zur Stelle, aber da war nichts mehr zu machen. Nur einen Gruß von ihm soll ich Ihnen noch ausrichten, Ihnen und Ihrer Tochter. Danach ist er gestorben.« – »Ich glaube, er hat nicht sehr gelitten«, setzte er nach einer Weile fast flüsternd hinzu. Und wieder nach einer Weile: »Mein Name ist übrigens Walter Mondschein, Sie können mich jederzeit über meine Dienststelle erreichen, falls es noch Fragen gibt.« Er legte einen krakelig beschriebenen Zettel vor mich hin, nahm einen Schluck aus der Tasse, höflichkeitshalber, wie mir schien, griff nach seiner Mütze und stand auf.

In diesem Augenblick wurde die Wohnungstür geöffnet, eine kleine gelbe Schubkarre erschien auf der Schwelle, beladen mit Eimer, Förmchen und Schaufeln, dahinter Judith, von Karola an der Schulter hereingeschoben. Judiths Gebrabbel brach ab, als sie den fremden Mann bei mir in der Küche entdeckte.

»Wer ist das?« Ihre Frage war nicht an mich gerichtet, sondern an Karola, zu der sie gespannt hochsah. Unter ihrer Nase klebte heller Sand in der Schnupfenspur.

»Komm, lass uns die Sachen wegräumen«, sagte Karola nach einem kurzen Blick herüber und steuerte Judith weiter den Flur entlang, ohne auf ihre lauthals wiederholte Frage einzugehen.

Herr Mondschein stand stumm neben mir, eine steile Falte zwischen den Brauen. Seine Beobachtungen irritierten ihn offenbar. Ich nahm an, dass er vorwiegend Familien kannte, in denen die Kinder begeistert auf ihre Mütter zustürzten, wenn sie vom Spielplatz heimkehrten, und ihnen ihre dringlichen Fragen stellten, anstatt der Kinderfrau. Judith dagegen behandelte mich wie Luft, als wäre ich unsichtbar. Nicht weniger, da bin ich mir sicher, dürfte ihn die Gefasstheit verwirrt haben, mit der ich auf seine Nachricht reagierte. Obwohl es so viele Jahre zurückliegt, weiß ich noch genau, dass ich keinerlei Erschütterung zeigte. Ich schrie nicht auf, ich weinte nicht, meine Stimme blieb fest, ich musste mich nirgends abstützen oder anklammern, wahrscheinlich wurde ich nicht einmal blass. Neben den üblichen Anzeichen der Betroffenheit erwartete er sicher auch, dass ich mein Kind, das Einzige, was mir von meinem Mann geblieben war, in die Arme schließen und wie eine Kostbarkeit halten würde. Aber nichts davon geschah, und Herr Mondschein verstand das nicht. Jedenfalls machte er diesen Eindruck.

Hätte ich ihm etwa meine Ehegeschichte erzählen sollen, ihm eröffnen, dass Svens Tod keine echte Tragödie für mich war? Dass unsere Familie überhaupt in keiner Weise so funktionierte, wie man sich das landläufig vorstellte? Nein, unter seiner biederen Polizeimütze war dafür kein Platz, meinte ich – damals.

Sven stand mir gut. Aber ihn meine große Liebe zu nennen, wäre mir maßlos übertrieben vorgekommen. Er sah blendend aus, groß und breitschultrig, mit hellen Augen und blondem, welligem Haar, das er kinnlang trug, wie es Mode war, als wir uns kennenlernten. Manchmal erschrecke ich bei dem Gedanken, dass mir sein Typ, dieses Blonde, Blauäugige, so gut gefiel. Und die Frage plagt mich, woher ich so ein Idealbild hatte, ob ich vielleicht genetisch vorbelastet, von meinem Vater infiziert war.

Wir trafen uns zum ersten Mal im Haus der Kunst, ich glaube in einer Ausstellung von Architekturzeichnungen. Ich war eher zufällig dorthin geraten, und er kam an der Seite eines Freundes, den ich flüchtig kannte, auf mich zu. Und er fing sofort an, mich zu umgarnen. Eine heiße Liebesgeschichte wurde nicht daraus, es ist mir überhaupt nie passiert, dass ich, wie die Leute es nennen, mein Herz verlor. Doch ganz allmählich gewöhnte ich mich an Sven, an ihn und an den Gedanken, er könne meinem Leben den letzten Schliff geben. Ich wollte nicht, dass man mich als alleinstehende Frau mit herablassenden oder taxierenden Blicken maß. Zu meinem Festungsbau gehörte ein Mann, zumindest vorübergehend, und zwar genau so einer wie Sven, mit bestechendem Aussehen und beruflichem Erfolg. Schon mit Anfang dreißig hatte er bei Siemens eine leitende Position inne.

Auch das Kind war Teil meines Lebensplans. Ich musste es haben, ich brauchte es wie eine Brosche oder eine Perlenkette zum Abendkleid. Alles sollte perfekt wirken, unangreifbar.

Vermutlich hat Sven mich sehr geliebt, sonst wäre es ihm bestimmt nicht möglich gewesen, fünf Jahre lang mit mir zu leben – ein Leben im Permafrost, so kommt es mir heute vor. Wie oft streckte er seine Hand aus, um sie auf meine zu legen, wenn wir nach dem Abendessen noch einen Moment am Tisch saßen, und ich sprang prompt auf und behauptete, das Geschirr wegräumen zu müssen. Wie oft wollte er mich umarmen oder vor dem Kamin meinen Rock hochschieben, und ich wehrte ab, weil ich angeblich Kopfschmerzen hatte oder noch eine Menge am Schreibtisch zu tun.

Mit Schrecken stelle ich fest, dass mich seine Reaktion völlig gleichgültig ließ. War er gekränkt? War er traurig? Ich weiß es nicht. Ich achtete nicht darauf, und er beschwerte sich nie.

Erst in der Woche vor seinem Tod fiel mir eine Veränderung auf. Dienstags hatten wir Karten für die Kammerspiele und traten unseren Spiegelbildern im Foyer entgegen, und ich sah beim Glitzern der Lampen plötzlich, dass er alles Strahlende, Leuchtende verloren hatte. Erloschen, dachte ich und fühlte eine leise Enttäuschung, hielt mich aber nicht länger bei dem Gedanken auf. Als jedoch ein paar Tage später Herr Mondschein mit seiner Nachricht erschien und berichtete, dass es an Svens Unfallort keine Bremsspuren gegeben habe, offenkundig keinen Versuch, dem Unheil zu entkommen, meldete sich das Bild in meinem Kopf zurück, und es kostete mich erhebliche Mühe, die Vorstellung beiseitezuschieben, etwas anderes als pures Missgeschick könne dahinterstecken.

Sven. Er hatte für mich sogar die Verbindung zu seiner Familie aufgegeben. Wie ich annehme, wollte er mich nicht damit belasten und erwähnte es deshalb nur beiläufig, nahezu emotionslos, und ich, die damals nicht nachhakte, kann erst heute ermessen, was dieser Bruch für ihn bedeutet haben muss.

Sven wurde im Sommer 1940, drei Monate, nachdem die deutsche Armee Norwegen okkupiert hatte, nahe Trondheim geboren. Sein Vater, Berufsoffizier bei der Küstenartillerie, fiel gleich in einem der ersten Gefechte, und während Sven, das jüngste von drei Geschwistern, bei einem Onkel am Fjord von Surnadal wie ein fröhliches Bauernkind aufwuchs, staute sich bei der übrigen Familie der Hass auf die Angreifer. Und war auch nach fast fünfundzwanzig Jahren nicht gewichen und steigerte sich noch, als der Jüngste, inzwischen Physikstudent in Oslo, beschloss, ein Praktikum im verabscheuten Feindesland zu absolvieren.

Vor allem Randi, die älteste Schwester, revoltierte dagegen, wie er mir irgendwann schilderte.

Warum ausgerechnet dort? – Weil man’s an der Uni empfohlen hat! – Wieso nicht Amerika? – Zu teuer! Die USA sind unerschwinglich! – Verdammt noch mal! Also, gut. Aber setz dich da ja nicht fest!

Doch genau das tat er: Auf das Praktikum in Ingolstadt folgte ein Studium in München, darauf das Angebot, mit brillanten Aufstiegschancen bei Siemens einzusteigen, in der Forschungsabteilung für Strahlentechnologie – Svens langgehegter Traum.

Vielleicht hätten die Verwandten ihm sein berufliches Engagement noch verziehen, zumindest für ein paar Jahre. Die persönliche Bindung jedoch stieß auf keinerlei Verständnis mehr. Sven schien mit einer so beharrlichen Bitternis nicht gerechnet zu haben, sonst wäre ihm kaum der Einfall gekommen, mich seiner Familie vorzustellen.

»Diesen Sommer«, sagte er an einem verregneten Sonntagnachmittag in unserem ersten gemeinsamen April, als wir eingehakt unter seinem karierten Schirm durch die Isarauen stapften, »diesen Sommer könnten wir zusammen nach Norwegen fahren. Du würdest alles kennenlernen, meine Stadt«, – er nannte sie Trondhjem – »meine Geschwister, meine Mutter, den Hof in Surnadal …«