So krank ist das Krankenhaus - Jochen A. Werner - E-Book

So krank ist das Krankenhaus E-Book

Jochen A. Werner

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Beschreibung

"Wir haben das beste Gesundheitssystem der Welt", hörte man zu Beginn der COVID-19-Pandemie in Deutschland viele sagen. Eines der besten analogen, relativiert Prof. Dr. Werner und legt den Finger in die Wunde(n), zeigt ein Systemversagen auf, dessen Folgen sich immer weniger ignorieren lassen. Basierend auf seiner langjährigen Erfahrung als Arzt und Krankenhausmanager berichtet er von Pfle-genotstand und toxischen Führungspersönlichkeiten, von Politikversagen, finanziellen Defiziten und verpassten Chancen der Digitalisie-rung, die Menschenleben kosten. Wer zahlt den Preis dafür? Wir. Als Krankenversicherte, Steuerzahler*innen und nicht zuletzt als Pati-ent*innen. Doch der Essener Top-Mediziner skizziert kein Untergangsszenario. Dem Status Quo stellt er das Smart Hospital gegenüber. Basierend auf digitalen Technologien und doch zutiefst menschlich. Im Fokus Patient*innen und Mitarbeitende. Ein Gegenentwurf, der kein Traum bleiben darf. Wir müssen handeln. Nicht später. Sondern jetzt!

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Prof. Dr. Jochen A. Werner

So krank istdas Krankenhaus

Ein Weg zu mehr Menschlichkeit, Qualitätund Nachhaltigkeit in der Medizin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über portal.dnb.de abrufbar.

IMPRESSUM

1. Auflage September 2022

Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln

Satz und Gestaltung: Medienwerkstatt Kai Münschke, www.satz.nrw

Lektorat: Sarah Meyer-Dietrich, Bochum

Umschlagfoto: Ralf Schultheiß, Essen

Druck und Bindung: Wilco B. V., Vanadiumweg 2,

NL-3800 BL Amersfoort

© Klartext Verlag, Essen 2022

ISBN 978-3-8375-2529-8

ISBN ePUB 978-3-8375-2550-2

Alle Rechte der Verbreitung, einschließlich der Bearbeitung für Film, Funk, Fernsehen, CD-ROM, der Übersetzung, Fotokopie und des auszugsweisen Nachdrucks und Gebrauchs im In- und Ausland, sind geschützt.

Jakob Funke Medien Beteiligungs GmbH & Co. KGJakob-Funke-Platz 1, 45127 [email protected]

„Die reinste Form des Wahnsinns ist es,alles beim Alten zu lassen und gleichzeitigzu hoffen, dass sich etwas ändert.“

Albert Einstein(1879–1955)

Dieses Buch widme ich meiner Familie und all denen, die bereit und willens sind, ihre Komfortzone auf dem Weg in eine stabile Zukunft zu verlassen, um Benachteiligte zu unterstützen und dem Megathema Klimawandel entschieden entgegenzuwirken.

Inhalt

I.Aufbruch zum Smart Hospital

1.Digitalisierung: nicht morgen, sondern jetzt!

2.Mehr als Digitalisierung: Grundidee des Smart Hospital

II.Von den Patient*innen aus gedacht

1.Patient*innenerleben

2.Exkurs: zur Würde und zum Tode

3.Patient*innensicherheit

4.Exkurs II: Geburtshilfe

5.Patient*innenermächtigung: smarte Patient*innen durch digital gestütztes Empowerment

6.Datenschatz: elektronische Patientenakte und Co.

7.Datenschutz und Cyberkriminalität

III.Smartes Personal

1.Leadership

2.Smartes Management: kein Tag wie der andere

3.(Chef-)Ärzt*innen im Wandel

4.Die Mitarbeiter*innen: das größte Kapital

5.Pflegenotstand: Ein SOS reicht nicht mehr

6.Hintergründe und Lösungsmöglichkeiten zum Pflegenotstand

7.Smarte Assistenz: Wie Roboter, Künstliche Intelligenz und Co. das Personal unterstützen

8.Smart Work? Veränderte Berufsfelder

9.Im Gespräch bleiben: Change braucht Kommunikation

IV. Das Finanzierungsdebakel

1.Steigende Kosten und fehlende finanzielle Mittel

2.Arzneimittel – zwischen Heilung und Kostenexplosion

3.Konzentration aufs Wesentliche: Krankenhausschließungen

4.Probleme des DRG-Vergütungssystems

5.Entlastung – wer zahlt?

V. Das Smart Hospital als verantwortungsvoller Akteur in der Gesellschaft

1.Gesellschaftliche Verantwortung übernehmen am Beispiel des Kriegs in der Ukraine

2.Vom Smart zum Green Hospital

VI.Blick nach vorn: Ohne Ruck geht nichts mehr

Danksagung

I.Aufbruch zum Smart Hospital

1.Digitalisierung: nicht morgen, sondern jetzt!

Lassen Sie mich dieses Buch mit einem kleinen Gedankenexperiment beginnen. Stellen Sie sich vor, ich treffe den 63-jährigen Michael L., der im November 2005 ins Koma fiel, zu dem Zeitpunkt also, als Dr. Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde. Zum Ende der Amtszeit Merkel wacht Michael auf, und ich bekomme die Gelegenheit, ihm erläutern zu dürfen, was sich in den 16 Jahren seines Komas zur Digitalisierung getan hat.

Zuerst zeige ich ihm mein iPhone und spiele Steve Jobs’ legendäre Keynote vom 9. Januar 2007 vor. Steve Jobs kündigt darin ein revolutionäres Mobiltelefon an, einen Breitbild-iPod mit Touchscreen und ein bahnbrechendes Internetkommunikationsgerät. Dann verrät er die wahre Sensation: „Kapiert ihr es? Das sind nicht drei verschiedene Geräte. Das ist ein Gerät. Und wir nennen es ‚iPhone‘.“

Dann demonstriere ich Michael, wie man das iPhone mit der Fingerkuppe oder per Gesichtserkennung anschalten kann. Ich zeige ihm mein Büro im iPhone, meine Fotogalerie, meine Musik-, Filme- und E-Book-Sammlung, die Wetter-App, das Navigationssystem und meine digitale Patientenakte. Ich erzähle ihm, dass man davon ausgeht, das 2015 erschienene iPhone-Modell habe mehr Computertechnologie beinhaltet, als bei der Apollo 11 anlässlich der Mondlandung zum Einsatz kam.

Ich erzähle Michael von der Apple Watch, die 2015 auf den Markt kam. Michael beeindruckt sehr, dass man damit die Sauerstoffsättigung im Blut messen und Herzrhythmusstörungen oftmals erfolgreicher identifizieren kann als mit einem Langzeit-EKG. Er ist begeistert, dass ich mit der Apple Watch beim Bäcker meine Brötchen zahle. Anschließend erzähle ich Michael von Alexa bei uns zu Hause, wobei ich verschweige, dass Alexa jetzt schon weiß, dass auch er sie bestellen wird und die Apple Watch dazu.

Ich berichte Michael von den enormen Fortschritten der Medizin, von den Anwendungen der Künstlichen Intelligenz in der Radiologie, in der Kardiologie und erkläre, dass man heute sogar bei 85-Jährigen Herzklappen über die Leistenarterien einpflanzen kann, statt ihnen, wie zum Zeitpunkt, als er ins Koma fiel, den Brustkorb zu eröffnen und über Stunden am offenen Herzen zu operieren. Anschließend erzähle ich ihm von großen Erfolgen in der Krebsmedizin, der Neurologie und der Kinderheilkunde, die maßgeblich mit Datenanalysen zusammenhängen.

Dann fragt mich Michael, wie er einen Termin bei uns im Krankenhaus bekommen könnte, voller Vertrauen in die bei mir erkennbare Offenheit für eine Gestaltung der Zukunftsmedizin, und ich antworte etwas verwundert: „Mit einem Anruf, so wie schon Ihre Eltern 1958, als Sie geboren wurden.“

Michael erkundigt sich, wie er die CT-Bilder zu seiner Kopfuntersuchung ins Krankenhaus bringen soll.

„Auf der CD, die Sie vorher bei Ihrem Arzt abholen“, antworte ich.

„Und die anderen Befunde?“, fragt er.

„Per Fax“, antworte ich. „Oder nein“, füge ich hinzu, weil kurz vor dem Gespräch zum wiederholten Male ein Datenschützer dazu Stellung genommen hat, dass die Übermittlung von Befunden per Fax – dem zentralen und beliebtesten Kommunikationsmittel im deutschen Gesundheitswesen – datenschutzrechtlich unterlassen werden muss und man stattdessen end-zu-end-verschlüsselte E-Mails versenden oder Befunde wieder per Post verschicken soll … „Vielleicht lieber per Post“, ergänze ich deshalb schnell.

„Per Post?“, fragt Michael sichtlich irritiert.

Spätestens hier ist es allerhöchste Zeit innezuhalten. Da fliegt William Shatner, Sie kennen ihn vielleicht noch in der Rolle des Captain Kirk, als 90-jähriger Tourist mit dem Raumfahrtunternehmen Blue Origin von Amazon-Gründer Jeff Bezos ins Weltall und kommt unversehrt zurück. Gleichzeitig bewegen wir uns im Gesundheitswesen wieder Richtung Postkutsche oder degradieren unsere Patient*innen gleich selbst zu Brieftauben, die ihre eigenen Befunde von Arzt zu Ärztin transportieren. Wir haben die digitale Entwicklung verpasst. Das in Deutschland flächendeckend zu erkennen, wäre ein erster Fortschritt.

Wie oft fiel zu Beginn der COVID-19-Pandemie beim mitleidigen Blick auf das italienische Bergamo der Ausspruch „Wir haben das beste Gesundheitssystem der Welt“? Das ist falsch und wurde durch Wiederholung nicht besser, nur peinlicher. Gesundheitssystem bedeutet eben nicht nur ärztliche Versorgungsqualität. Gesundheitssystem steht für die Gesamtheit aller aufeinander bezogenen oder miteinander verbundenen Einheiten im Gesundheitswesen. Und wenn Sie sich dies bildlich vorstellen, ist die Notwendigkeit einer digitalen Vernetzung der einzelnen Elemente selbsterklärend. Genau dafür reichen Telefonie und Faxerei nicht mehr, geht es eben auch um einen ganz schnellen und fehlerfreien Austausch lebenswichtiger Daten. Und damit können wir nun wirklich nicht aufwarten.

Ist Ihnen aufgefallen, dass niemand fragte oder fragt, in welcher Hinsicht wir denn Gesundheitssystemweltmeister sein sollen? Geht es um die höchste Fachärzt*innen- oder Zahnärzt*innendichte? Um die Anzahl an Krankenhausbetten oder durchgeführten Herzkatheteruntersuchungen? Um das Sozialversicherungsmodell mit einem universellen Krankenversicherungsschutz? Die Qualität der Intensivmedizin? Den Digitalisierungsgrad mit Ausschöpfung des möglichen e-Health-Angebots? Um die Impfrate? Um den Anteil fettleibiger Bürger*innen? Oder geht es darum, dass die Medizin in Deutschland heute diverse digitale Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie anbietet oder anbieten könnte, mit denen Leben gerettet werden kann, vielleicht auch das Ihre oder das Ihrer Familienangehörigen? Kurzum, es reicht nicht zum Weltmeister, nicht einmal zum Europameister. Deshalb wandle ich den Satz gerne ab in: „Wir haben eines der besten analogen Gesundheitssysteme der Welt.“

Insofern war ich durchaus irritiert von einer im Februar 2022 erschienenen Studie des DigitalRadar, nach der die deutschen Krankenhäuser bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen im internationalen Vergleich gut positioniert seien. Ich teile diese optimistische Einschätzung keineswegs, denn der klinische Alltag, aber auch die täglichen Erfahrungen der Patient*innen im Gesundheitssystem zeigen, dass die Medizin einen erheblichen Nachholbedarf im Bereich Digitalisierung hat. Heutzutage reicht analog nicht mehr, ersticken wir doch immer noch in Bergen von Zetteln und eingescannten Faxen.

So langsam dürfte sich bei Ihnen der Eindruck verfestigen, dass wir tatsächlich etwas tun müssen, um die Gesundheits- und Krankenversorgung in unserem Land zu stabilisieren und zu optimieren. Hierzu gehört eine Entschiedenheit im Handeln. Handeln wiederum braucht Erklärung. Erklärung braucht Klarheit in der Sprache. Dies allerdings hat sich immer wieder als sehr schwierig erwiesen. Wohl auch deshalb entstand der Begriff des Schwurbelns für unverständliche, realitätsferne oder inhaltslose Aussagen. Für Richtungswechsel brauchen wir ein Wording, mit dem wir die Stringenz in der Zielerreichung unterstreichen, ohne dass es zu leeren Worthülsen verkommt und damit verbraucht wird. Hierzu ein Beispiel.

Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat das politische Schlagwort „alternativlos“ zum Unwort des Jahres 2010 gekürt. Verwendet wurde es seit 2009 von der damaligen Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und einigen anderen Mitgliedern der Bundesregierung. Digitalisierung wäre tatsächlich alternativlos gewesen. Die Unterlassung kommt einer Katastrophe gleich. Wieder und wieder wurde am Analogen festgehalten, um den ja so vertrauten Bestand zu wahren. Der Lobbyismus hat gesiegt. Ärzt*innenschaft und Digitalisierung, das war schon immer eine belastende Beziehung. Veränderung wurde vermieden, Bequemlichkeit gelebt.

Diese unerträgliche Verharrungsstrategie im Analogen holt uns ein, nein, falsch, hat uns schon lange eingeholt. Die Medizin ist dabei nur ein Abbild des digitalen Zustands unserer Gesellschaft. Eine Befragung der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG von November 2021 kommt zu dem alarmierenden Ergebnis, dass Deutschland als Wirtschaftsstandort im internationalen Vergleich weiter an Wettbewerbsfähigkeit verliert. 360 Finanzvorstände von deutschen Tochtergesellschaften ausländischer Mutterkonzerne aus den USA, China, Japan und Europa waren befragt worden und kamen zu dem Schluss, dass neben dem Steuersystem vor allem die unzureichende digitale Infrastruktur das größte Investitionshemmnis ist. Für 9 % der Befragten ist sie „die schlechteste in der EU“, für weitere 24 % zählt sie „zu den fünf schlechtesten in der EU“.

Eine funktionierende digitale Infrastruktur ist aber Grundvoraussetzung auch für eine moderne Medizin. Und selbstverständlich können die Akteur*innen des Gesundheitswesens nicht allein die notwendigen Strukturen aufbauen. Dies gehört ebenso wie die Verkehrsinfrastruktur, die Strom- und Wasserversorgung und vieles mehr zur Daseinsvorsorge und damit zu den Kernaufgaben des Staates. Letztlich agiert die Medizin im Rahmen der nationalen digitalen Infrastruktur, die dringend im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung umgebaut und modernisiert werden muss, auch im Sinne einer international wettbewerbsfähigen Industriegesellschaft.

Es ist eine Schande, wie viel Beharrungsenergie aufgebracht und toleriert wurde, um möglichst alle handelnden Akteur*innen, die Politiker*innen, Lobbyist*innen und Vertreter*innen der unterschiedlichsten Einrichtungen unseres Gesundheitswesens in deren Komfortzone zu halten. Und um die Wiederwahl zu sichern. Oder wie sonst ist es erklärbar, dass wir im Gesundheitswesen manche Missstände seit 40 Jahren oder sogar noch länger mit uns herumschleppen. Zu einem Preis, dessen Zinsen unsere Enkel*innen noch zahlen werden. Es geht so nicht mehr weiter, weil wir uns an den nachfolgenden Generationen vergehen.

Wir erlebten ein Systemversagen nicht nur bei der Digitalisierung. Gleiches passierte auf dem Weg zum inzwischen manifesten Pflegenotstand. Der gleichermaßen verdrängte demografische Wandel läuft mit Höchstgeschwindigkeit auf uns zu, immer weniger jüngere Menschen werden immer mehr Ältere pflegen und wir blättern immer noch in Tarifverträgen zum Pflegedienstnotstand, ohne Entlastungsmöglichkeiten durch die Digitalisierung in die Lösungsansätze einzubeziehen. Ganz im Gegenteil. Von Gewerkschaftsseite wird in Krankenhäusern auch dort ein Personalaufbau gefordert, wo in zehn Jahren ganze Tätigkeitsbereiche maschinell laufen werden, zumindest außerhalb Deutschlands.

Der Staat hat es verpasst, die Digitalisierung samt der erforderlichen digitalen Infrastruktur als straff gefasstes Programm aufzugleisen und umzusetzen. Damit einhergehend hat der Staat versäumt, ein zeitgemäß agierendes Krankenhauswesen zu gestalten. Richtig, das ist der Punkt, an dem seitens des Bundes sofort von Ländersache gesprochen wird. Aber so funktioniert es nicht mehr. Schuldzuweisungen aus eigenem Versagen heraus kann und will ich nicht mehr tolerieren. Das Ergebnis zählt. Die immer wieder beobachtete Fokussierung auf eine Legislaturperiode reicht für solch umfassende Veränderungen bereits zeitlich nicht mehr aus, weder im Bund noch im Bundesland.

Ein weiterer Tiefpunkt in der Geschichte des deutschen Gesundheitssystems zeichnete sich ab, als uns Anfang 2020 COVID-19 erreichte. Die deutsche Politik war unvorbereitet, leider, war doch der Ablauf einer Pandemie mit einem hypothetischen Virus „Modi-SARS“ bereits 2012 detailliert unter fachlicher Federführung durch das Robert-Koch-Institut beschrieben worden. Auf Grundlage der Erfahrungen mit den Coronaviren SARS und MERS hatte man alle damit verbundenen Anforderungen festgelegt. Die Notwendigkeit einer ausreichenden Vorhaltung von Schutzausrüstungen und der Schutz vulnerabler Gruppen waren als zentrale Themenfelder schnell erkannt und hätten 2020 umsetzbar sein müssen.

Blicken wir zum Vergleich nach China: Zu Beginn der Pandemie wurden in der Nähe von Wuhan in nur wenigen Tagen, sie haben richtig gelesen, Tagen, zwei Behelfskrankenhäuser mit jeweils bis zu 1000 Betten und 30 Intensivstationen errichtet. Die Armee entsandte 1400 Ärzt*innen, Pfleger*innen und anderes medizinisches Personal, um den Klinikbetrieb aufzunehmen. Für die Behandlung von COVID-19-Patient*innen wurden medizinische Expert*innen aus Peking virtuell zu Rate gezogen. Roboter transportierten Medikamente und medizinische Proben. Beide Kliniken wurden nach ihrem Einsatz in der Akutphase der Pandemie im weiteren Verlauf wieder geschlossen. Natürlich ist es schwierig, Vorgänge in einem Land zu bewerten, dem das Thema Transparenz fremd ist. In jedem Fall zeigt das Beispiel aber eindrücklich, dass in einer Ausnahmesituation entlang klarer Konzepte gehandelt werden muss und Lösungsansätze nicht in medialen Gesprächsrunden diskutiert werden dürfen.

Bereits seit März 2020 war an der Universitätsmedizin Essen, nachfolgend als UME bezeichnet, das Tragen von Mund-Nasen-Schutz verpflichtend angewiesen. Bundesweit aber bestand Unklarheit zum Nutzen der Masken. Was war das bloß für ein ungeordneter politischer Auftritt und dies bei einer Tröpfcheninfektion! Die Chance zum frühzeitigen Start in einen wirksamen Infektionsschutz wurde durch die unnötige, für Deutschland charakteristische Diskutiererei verpasst. Es war die deutsche Mentalität des Zögerns und Zauderns, die uns bei Masken, bei Tests oder später beim Einkauf von Impfstoffen letztlich Menschenleben gekostet hat. Die zum falschen Zeitpunkt und dann auch noch über Parteiproporz geführte Diskussion zur Impfpflicht bestätigt dies. Ein Indiz dafür, dass sachgerechte, aber unpopuläre Entscheidungen in der Gesundheitspolitik in Deutschland scheinbar nicht durchsetzbar sind.

Auch die Entstehungsgeschichte von Biontech und Curevac ist sicherlich nicht als alleiniger Erfolg der deutschen Politik zu feiern. Relevant für den Erfolg war neben den brillanten Köpfen Prof. Dr. Uğur Şahin und Prof. Dr. Özlem Türeci, die Biontech zum Erfolg führten, und Dr. Ingmar Malte Hoerr, der Curevac gründete und zuvor die mRNA-Technologie maßgeblich beschrieben hatte, das Engagement von Investor*innen. So investierten u. a. Dietmar Hopp und Bill Gates in Curevac, die Strüngmann-Zwillinge Andreas und Thomas, die als Gründer des Pharmaunternehmens Hexal zudem über eigene Kompetenz in diesem Unternehmenssektor verfügen, in Biontech. Inzwischen hat Curevac Klage gegen Biontech wegen Patentrechtsverletzung eingereicht. Dies könnte ein langdauernder Rechtsstreit werden.

Biontech ist ein fast unvergleichliches Erfolgsbeispiel aus der Pandemie heraus, auch wenn das Unternehmen – mit onkologischem Schwerpunkt – schon zuvor bestand. Die Pandemie hat also unzweifelhaft bewegt. COVID-19 wurde zum Innovationstreiber, der Veränderungen in kurzer Zeit möglich gemacht hat. Auch in Bereichen, von denen man es nicht erwartet hätte, die fast unverrückbar erschienen wie etwa Körperschaften des öffentlichen Rechts. Als Beispiel nenne ich die AOK Bayern, die unter Dr. Irmgard Stippler binnen zweier Jahre Pandemie ein umfassendes Transformations- und Modernisierungsprogramm umgesetzt und sich in ein virtuelles Unternehmen umgewandelt hat. Damit konnte ein digitales Geschäftsmodell etabliert werden, das Lokalität und Digitalität ganz neu verbindet. Derartige Entwicklungen werden dazu beitragen, mehr Flexibilität und Offenheit zu schaffen, die dabei helfen können, die anstehenden großen Herausforderungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und im Gesundheitswesen angemessen meistern zu können. Solch eine Tatkraft ist in unserem aktuellen Gesundheitssystem zunächst einmal nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein oder, akzentuierter ausgedrückt, auf die glühende Kohle, kann und muss aber Vorbildcharakter haben.

Deutschland ist dysfunktional geworden. Dies lässt nichts Gutes erwarten für die so notwendige Digitalisierungsoffensive oder für die Neustrukturierung der Kliniklandschaft, die unbestreitbar richtig, wenn auch mit Konfliktpotenzial behaftet sind. Aber sehen wir es vielleicht einmal positiv. In Deutschland haben wir auch unglaubliche Chancen, weil alles so langsam ist. Können wir so doch von den Erkenntnissen anderer Länder profitieren. Schließlich will ich nicht resignieren, sondern mit diesem Buch lösungsorientiert nach vorn blicken.

Natürlich ist der Zustand des Gesundheitssystems nicht allein Folge eines Politikversagens. Das Krankenhaus sucht seinesgleichen, wenn es um die Vermeidung konstruktiver und vielleicht sogar schneller Veränderungen geht. „Bremse vor Gas“ scheint das Motto zu sein, immer unter dem Deckmantel der Sicherheit. Menschen könnten bei Systemänderungen zu Schaden kommen, vielleicht sogar sterben. Wer will dagegen argumentieren? Bei aller Gegensätzlichkeit der verschiedenen Stakeholder*innen des Gesundheitswesens kommt es bei drohender Veränderung sehr schnell zu deren Einigkeit, besser ausgedrückt, zum Schwur, möglichst alles so zu belassen. Die einzelnen Interessensvertretungen haben sich arrangiert. Es geht doch auch so und gar nicht so schlecht, mit Haus, Hund und Garten. Es funktioniert doch immer noch gut. Nein, das tut es nicht! Ich kann es nicht mehr hören! Es geht bergab, alpin und nicht in der Langlaufloipe.

Gesundheit ist und bleibt das höchste Gut des Menschen. Auch wenn häufig von Gesundheit gesprochen wird, ohne Gesundheit zu meinen. Mit Gesundheitssystem, Gesundheitswesen und Gesundheitsökonomie sind wir immer noch sehr viel stärker auf Krankheit ausgerichtet, weil sich die verschiedenen Geschäftsmodelle damit deutlich besser rechnen und rechtfertigen lassen.

In Deutschland arbeiten 5,5 Millionen Beschäftigte im Bereich Gesundheit, letztendlich fünfmal so viele wie im Automobilbereich. Mit Gesundheit werden 12 bis 13 % des Bruttoinlandsproduktes generiert, womit die Gesundheitsbranche eben nicht nur ein Kosten-, sondern auch ein Wirtschaftsfaktor ist. Diese Zustandsbeschreibung spricht für ein stabiles deutsches Gesundheitswesen. Noch! Nun ist es allerhöchste Zeit, unser tradiertes, analoges, teilweise schon anachronistisches System in moderne Strukturen zu überführen und damit für kommende Generationen zukunftsfest zu machen. Dies erfordert Unternehmer*innengeist, den Blick über den eigenen Tellerrand und einen langen Atem oder, wie man es in der Schweiz liebevoller ausdrückt, einen langen Schnauf.

Dieses Buch ist entstanden, um für ein Verständnis und die Bereitschaft zum erforderlichen Reset nicht nur des Krankenhauses, sondern des gesamten Gesundheitswesens zu werben. Sie haben richtig gelesen, ich meine sehr wohl Reset, lassen sich die alten zerstörten Teile, die Zahnräder, nicht mehr sinnvoll auswechseln. Das Gesundheitswesen lässt sich mit einem Uhrwerk vergleichen, mit einer lange getragenen Schweizer Präzisionsuhr. Über die Jahrzehnte leierte die Unruhe im Uhrwerk aus, die Zahnräder waren teilweise abgeschliffen, teilweise miteinander verschränkt. Eine solche Mechanik lässt sich irgendwann nicht mehr an der höchsten Präzision orientiert reparieren. Sie würde die ursprüngliche Genauigkeit niemals zurückgewinnen. So geht es um einen Systemwechsel, um einen Austausch: analoges Werk raus, digitales System rein. Dies ist die wesentliche Maßnahme, die wir ergreifen müssen. Daneben gibt es eine Vielzahl an Einzelthemen mit unterschiedlichen Optimierungspotentialen. Es geht mir darum, einige lange bestehende, aber immer noch akzeptierte Unzulänglichkeiten im deutschen Krankenhauswesen unverhohlen zu benennen, die sich daraus abzeichnenden zukünftigen Entwicklungen zu schildern und mögliche Lösungswege aufzuzeigen.

Wir müssen begreifen, dass wir nicht immer auf den Staat warten dürfen. Die Zeit für die digitale Revolution ist reif. Schon deshalb, weil wir fast alle digital aufgerüstet sind, Smartphones haben, die einen ubiquitären Datenzugang gewährleisten und damit einen ständigen Zugriff auf Google, Amazon, den Arbeitsplatz oder Sportverein und hoffentlich sehr bald auch auf alle mit der eigenen Gesundheit in Verbindung stehenden Daten.

Wir Deutschen verkörpern aber nur bedingt das für solche Art von Revolutionen erforderliche Streben. Inzwischen sind wir ein konservatives Volk. German Angst ist ein verbreiteter Begriff. Wir erwarten eine Aufklärungsrate der Verbrechen von 100 %, wünschen aber keine Kameras auf öffentlichen Plätzen. Anderseits gibt es genügend Bürger*innen, die persönlichste Informationen auf Facebook oder Instagram posten, bis hin zu ihren Gensequenzen. Wir wollen alles machen dürfen, erwarten bei Problemen aber die sofortige Unterstützung vom Staat. Hier ist die Balance über unsere deutlich zu vielen Wohlfühljahre verlorengegangen. Wir haben in Deutschland den Anspruch auf Selbstbestimmtheit, ohne dafür ausreichend mündig zu sein. Denn Mündigkeit erreicht man nur mit Verstand und Vernunft, nicht mit Halbbildung. Hinzu kommt der deutsche Hang zum Perfektionismus, eine prinzipiell löbliche, in der Medizin meist unverzichtbare, aber in der modernen Welt zunehmend hinderliche Charaktereigenschaft. Tempo, Durchsetzungskraft und Flexibilität entscheiden im internationalen Wettbewerb über den Erfolg. Bei uns Deutschen habe ich oftmals den Eindruck, dass wir uns erst noch finden müssen, im Schweigekloster, in Abnehmkliniken oder auf dem Jakobsweg.

In der amerikanischen Mentalität gehört Misserfolg zum letztendlichen Erfolg dazu, Hinfallen und Wiederaufstehen sind selbstverständlich. Niemand wird dadurch stigmatisiert. Selbst Steve Jobs wurde als Gründer bei Apple rausgeworfen, bevor er Jahre später zurückkehrte und das Unternehmen zum Weltkonzern machte. In Deutschland sind solche Lebensläufe inzwischen ungewöhnlich.

Bleiben wir einen Moment bei Steve Jobs. Im Jahr 2005 hielt er seine berühmte Rede vor Absolvent*innen der Stanford University. Er hatte gerade eine Krebsbehandlung überstanden und war noch von der Krankheit gezeichnet, der er 2011 erlag. Wahrscheinlich nie wieder sprach er so offen über sein Leben und seine Auseinandersetzung mit dem Tod. „Seid nicht in Dogmen gefangen – was bedeutet, den Gedanken anderer Leute zu folgen. Lasst nicht den Lärm fremder Meinungen eure eigenen inneren Stimmen ertränken. Und am allerwichtigsten: Habt den Mut, eurem Herzen und eurer Intuition zu folgen. Alles andere ist nebensächlich.“ Am Ende seiner Rede folgte die Aufforderung, sich nicht verbiegen zu lassen: „Stay hungry, stay foolish“ – Bleibt hungrig, bleibt verrückt.

Was ich damit sagen will: Es gibt zwei zentrale Voraussetzungen für Veränderung. Zum einen den Plan, die Strategie. Und zum anderen genug Mut, diesen Weg auch tatsächlich zu gehen. Angesichts der ausgeprägten Beharrungskraft des deutschen Gesundheitssystems schadet es nichts, wenn zum erforderlichen Mut ein wenig Tollkühnheit oder Leichtsinn hinzukommt. Das brauchen wir, um endlich wieder umzusetzen, statt nur zu reden. Denn es ruft, nein, es schreit nach einer umfassenden Veränderung unseres Gesundheitssystems, nicht morgen, sondern jetzt! Auf den Punkt gebracht wünsche ich mir mehr Mutausbrüche in Deutschland.

Wenn die Medizin ihre Standesdünkel und Partikularinteressen überwindet, kann sie zum Vorbild für eine kraftvolle und grundlegende digitale Neuausrichtung unseres Landes werden. Dann werden wir in hoffentlich zehn Jahren feststellen, dass sich die starren Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Medizin aufgelöst haben. Das Gesundheitswesen und mit ihm das Krankenhaus kann Triebfeder in der lange überfälligen nationalen Digitalisierungsoffensive sein und entscheidend dazu beitragen, dass Deutschland kein Industriemuseum wird, das die Spaltmaße an Automobilen optimiert hat, aber in den digitalen Schlüsseltechnologien abgehängt ist. Eine solche Vorbildrolle sollten wir entschlossen annehmen und damit zeigen, dass die Medizin auf dem Weg in die Zukunft mit aller Kraft vorangeht.

2.Mehr als Digitalisierung: Grundidee des Smart Hospital

Dieses Buch ist das Ergebnis meiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Arzt, Chefarzt, Forscher und Professor an Landesuniversitätskliniken wie auch in einem privatwirtschaftlich geführten Krankenhauskonzern. Es speist sich aus Erlebnissen als Student der Humanmedizin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, als Assistenzarzt, Oberarzt und stellvertretender Chefarzt an der Kieler Universitäts-HNO-Klinik, genauso wie als Studiendekan der Marburger Medizinischen Fakultät und als Präsident der Deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie. Hinzu kommen Erlebnisse im internationalen Kontext, sei es auf Vortragsreisen oder im Rahmen von Operationskursen, unter anderem in Saudi-Arabien, Japan, Kenia, Uganda und Russland.

Nicht zuletzt ist meine Sicht geprägt durch Erfahrungen im Krankenhausmanagement – als Geschäftsführer des Universitätsklinikums eines börsennotierten Krankenhausunternehmens sowie als Vorstandsvorsitzender einer großen Universitätsmedizin, einer Anstalt des öffentlichen Rechts, mit Klinikum und einer Reihe von Tochterunternehmen im Gesundheitswesen. Abgerundet werden meine Eindrücke durch Erlebnisse als Blogger, Kolumnist und Podcaster.

Ich wollte aus dem tiefsten Inneren meines Herzens Arzt werden, durchlief eine spannende berufliche Entwicklung, erlebte, wie mir ein Teil meiner Freude am Beruf unter der Routine abhandenkam. Auf meinem langen Berufsweg habe ich die Entmystifizierung der Medizin erlebt und verstanden, dass wir eine vielfach katastrophale Dysfunktionalität zwischen gesamtgesellschaftlichem Zustand und klinischer Versorgung haben. So wechselte ich meine Aufgabenfelder vom OP-Tisch an den Schreibtisch in der Vorstandsetage, im wachsenden Bewusstsein, dass wir eine tiefgreifende Änderung des Gesundheitswesens brauchen. Es geht nicht mehr um die Frage, ob wir Veränderung wollen, sondern darum, wie wir den Wandel umgesetzt bekommen. Hierfür habe ich mit meinem 2015 erfolgten Wechsel von Marburg nach Essen die Transformation zum Smart Hospital eingeläutet.

Nach Essen zu kommen, erwies sich für mich als Glücksfall. Die hier ansässigen Menschen sind erfrischend offen, viele Nationalitäten leben miteinander, in einer Region, die sich vor Jahrzehnten ohne Gastarbeiter*innen niemals hätte vergleichbar entwickeln können. Das Ruhrgebiet ist die Inkarnation von Diversität. Die Metropolregion Ruhr befindet sich mitten im größten Strukturwandel ihrer Geschichte. Es geht darum, eine seit mehr als 150 Jahren von der Schwerindustrie geprägte Region innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeit in eine moderne, kreative und digitale Gesellschaft mit zukunftsfesten ökonomischen und ökologischen Strukturen zu überführen. Und dies alles unter dem Wettbewerbsdruck der Weltmärkte, im Ringen um die besten Arbeitskräfte, bei angespannter Finanzlage und möglichst ohne soziale Verwerfungen. Tatsächlich eine Herkulesaufgabe, die nur in einer gemeinsamen, solidarischen Kraftanstrengung gelingen kann.

Jeder Umbruch benötigt Leuchttürme und Vorbilder, an denen man sich orientieren kann. Und es braucht Branchen, die Zugpferde dieses Transformationsprozesses sein können. Die Gesundheitswirtschaft, in Essen mittlerweile der größte Arbeitgeber, kann diese Rolle zweifellos einnehmen. Obwohl oder gerade weil sich auch die Medizin im größten Wandel ihrer Geschichte befindet. Exemplarisch für den Aufbruch in die digitale Welt nenne ich die in Essen ansässige opta data Gruppe, ein IT-Unternehmen im Gesundheitswesen mit über 2500 Mitarbeiter*innen an 19 Standorten in Deutschland.

Bereits bei meinem Vorstellungstermin vor dem Aufsichtsrat der Essener Uniklinik im Sommer 2015 formulierte ich als für mich unverrückbare Strategie die Digitalisierung, quer durch alle Bereiche des Unternehmens. Rasch hatte ich als Ziel die Umwandlung in ein Smart Hospital benannt. Auf den Punkt gebracht bedeutet das die digitalbasierte Transformation des Gesundheitswesens in Richtung einer Gesundheitsplattform, die die Menschen in den Fokus allen Handelns stellt – Patient*innen genauso wie Angehörige und Mitarbeiter*innen. Alle Abläufe müssen aus Sicht derjenigen Personen analysiert und optimiert werden, um die es in den verschiedenen Bereichen tatsächlich geht.

Digitalisierung wird überall dort eingesetzt, wo sie dazu beiträgt, Prozesse entsprechend umzusetzen und die Menschen bestmöglich von administrativen Arbeiten zu entlasten, die Zeit kosten, die im Umgang mit Patient*innen fehlt. Strukturen und Prozesse sind die zentralen Vektoren und Erfolgsfaktoren für die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens. Vor der Digitalisierung allerdings, das wird leider oftmals vergessen, müssen die Prozesse im Detail überprüft und optimiert werden. Optimierte Prozesse gehören digitalisiert und im Gesamtkonzept Smart Hospital verankert.

Es geht dabei keineswegs nur um Prozesse und um bits und bytes, sondern zunächst einmal ganz maßgeblich um die Menschen, die das Projekt treiben und umsetzen. Für die Transformation müssen wir zwingend auch die Begriffe Vorbilder, Führungskultur und Leadership ins rechte Bewusstsein rücken. Daneben geht es um das Thema Fähigkeiten (engl. skills) und natürlich das Thema Kultur, das über gezielte Kommunikation adressiert werden muss.

Der Fokus der Transformation im Gesundheitswesen richtet sich nicht allein auf den Klinikaufenthalt. Er richtet sich auf die Menschen in all ihren Lebenssituationen, beginnend mit der Befruchtung und Menschwerdung und endend mit der Trauerarbeit um die Verstorbenen. Nur so werden wir erkrankte Patient*innen optimal versorgen können, basierend auf einer kontinuierlichen, longitudinalen Datenerfassung, zu der ich Ihnen später einiges erläutern werde. Dieser Ansatz geht deutlich weiter, greift er früher in die Krankheitsentstehung ein und zielt vor allem auf die Vermeidung von Krankheiten.

Damit rücken Begriffe wie Prävention und Rehabilitation stärker in den Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns. Wir werden Konzepte erarbeiten zur Präzisionsprävention, also zu vorbeugenden Maßnahmen, die auf bestimmte Risikogruppen und sogar auf Einzelpersonen zugeschnitten werden können. Was für eine Perspektive, waren wir im Gesundheitswesen bisher immer noch auf Reparatur ausgerichtet. Dabei ist und bleibt die beste Medizin die Vermeidung von Krankheiten.

Die Digitalisierung wird hier genutzt, um die für verbesserte Diagnostik- und Therapieverfahren so notwendige Datenanalyse vorzunehmen. Prozessoptimierung und die Einführung einer personalisierten Präzisionsdiagnostik und -behandlung erfordern zwingend den Einsatz von Künstlicher Intelligenz.

In unseren Transformationsprozess gehört aber auch die Frage der Nachhaltigkeit, im umfassenden Sinne dieses Begriffes. Dieser Ansatz erfordert ein tiefgreifendes Umdenken, eine Neuordnung bisheriger Ziele und Verhaltensweisen.

Unter Smart Hospital verstehe ich also das Kernstück des reformierten Gesundheitssystems, eine Steuerungsplattform, die nicht an den Krankenhausmauern endet, sondern ohne Unterbrechung mit den weiteren Sektoren des Gesundheitssystems eng vernetzt ist. Das Smart Hospital ist nicht nur ein modernes, vernetztes und innovatives Krankenhaus – es ist auch „Systemkopf“ und Schaltzentrale innerhalb des Gesundheitswesens. Damit bedeutet Smart Hospital die größte und schnellste tiefgreifende Veränderung des Gesundheitswesens, zum unmittelbaren Wohle der Menschen, über Technologie und Menschlichkeit.

Alle dafür notwendigen Methoden und Techniken sind bereits heute verfügbar und in verschiedenen Regionen der Welt eingesetzt. Der deutsche Datenschutz aber verhindert deren Anwendung in unterschiedlichsten Bereichen. Der inzwischen aufgebaute Flickenteppich des teildigitalen deutschen Gesundheitswesens lässt den großen Wurf zur Erneuerung nicht zu. Das permanente Nachbessern eines schlecht funktionierenden Systems steht der so notwendigen Optimierung „aus einem Guss“ diametral entgegen. Sie erinnern sich? Altes Uhrwerk raus, digitales System rein.

Will man etwas Großes wie ein Smart Hospital aufbauen, braucht man zunächst einmal eine Bestandsanalyse zum Vorhandenen. Diese haben wir in Essen vorgenommen. Nächster Schritt war die Identifikation digitaler Talente in der Mitarbeiter*innenschaft der UME, ganz beeindruckende Persönlichkeiten, die seit vielen Jahren tief in die unterschiedlichsten Digitalisierungsthemen eingedrungen waren. Diese über 30 Talente zogen wir in einer Lenkungsgruppe zusammen. Ihnen mussten wir erklären, dass es zunächst einmal keinen Masterplan zum Smart Hospital gab, zumal die Geschwindigkeit digitaler Möglichkeiten extrem hoch war und ist. Die Talente brachten zunächst ihre Projekte zusammen, begannen, diese zu vernetzen und neue einzubringen. Die Entwicklung erfolgte nicht selten „on the flight“, unterstützt zum Beispiel von Mechanismen aus der Schwarmintelligenz. Es wurde ein modulares System zum Smart Hospital konzipiert, das sich erst einmal ganz maßgeblich an den realisierbaren Möglichkeiten orientierte, auch um Erfolge und Begeisterung für dieses Großprojekt zu erzielen. Die einzelnen Module und Ansätze werden im weiteren Verlauf des Buches vorgestellt.

Ein nächster wesentlicher Schritt auf dem Weg zum Smart Hospital war die Erweiterung der bis zu meinem Tätigkeitsbeginn 2015 bestehenden Fokussierung nur auf das Uniklinikum Essen hin zur UME. Mit dieser Zielsetzung begann ich sehr schnell, immer häufiger von Universitätsmedizin zu sprechen, anstatt von Universitätsklinikum. Dies war überfällig, gehörten zum Unternehmen neben dem Universitätsklinikum noch 15 Tochterunternehmen. Damit verbunden gab es ein auch universitätsmedizinisch betrachtet immenses Potential, das zuvor keineswegs als solches abgerufen worden war.

Die UME ist mit etwa 1700 Betten das führende Gesundheits-Kompetenzzentrum des Ruhrgebiets. 2019 behandelten 10.000 Beschäftigte rund 74.000 stationäre und 300.000 ambulante Patient*innen. Zur UME gehören neben der Uniklinik u. a. die Ruhrlandklinik, eine der größten Lungenfachkliniken Deutschlands, das Westdeutsche Protonentherapiezentrum, das Sankt Josef Krankenhaus im Essener Stadtteil Werden, eine zweite Herzchirurgie in der Stadt, eine orthopädische Fachklinik und ein großes medizinisches Versorgungszentrum.

Der Leuchtturm unseres Standortes ist unzweifelhaft die Onkologie, zusammengefasst im Westdeutschen Tumorzentrum (WTZ), dem ältesten und einem der größten Tumorzentren Deutschlands. Zum WTZ gehört mittlerweile auch das Tumorzentrum des Uniklinikums in Münster, ein wichtiger Entwicklungsschritt für die UME. Neben der Krebsmedizin finden sich an der UME weitere überregional sichtbare Spezialisierungen. Darunter das Westdeutsche Zentrum für Transplantation, in dem unsere Spezialist*innen mit Leber, Niere, Bauchspeicheldrüse, Herz und Lunge alle lebenswichtigen Organe verpflanzen und das Westdeutsche Herz- und Gefäßzentrum, ein überregionales Zentrum der kardiovaskulären Maximalversorgung. Besondere Erwähnung finden soll ein weiteres Zentrum, über das die vorgenannten klinischen Schwerpunkte wissenschaftlich gestärkt werden, vor allem infektiologisch und immunologisch. Die Bedeutung wird sich Ihnen rasch erschließen, wenn ich auf die oftmals stark beeinträchtigte körperliche Abwehr unserer Patient*innen mit Krebserkrankungen oder nach Transplantation hinweise. Es handelt sich hierbei um das Westdeutsche Zentrum für Infektiologie, das mit der Pandemie in eine zentrale Position für die UME rückte.

Nun können Sie sich gut vorstellen, dass eine solche Zusammenfassung zu Schwerpunkten innerhalb einer Universitätsmedizin ganz unterschiedlich gesehen wird. Zu Recht, haben wir doch weitere herausragende Wissenschaftler*innen in anderen Fachdisziplinen, zu denen sich ein ganzes Buchkapitel füllen ließe. Eine Person davon will ich herausheben, arbeitet sie u. a. in einem Bereich, der oftmals mit gewisser Skepsis gesehen wurde. Es geht um Scheinmedikamente, die wegen des meist fehlenden Wirkstoffs eigentlich gar keine Wirkung haben dürften. Zur Frage, wie es immer wieder zum sogenannten Placeboeffekt kommen kann, forscht Prof. Dr. Ulrike Bingel, Leiterin der universitären Schmerzmedizin und Professorin für klinische Neurowissenschaften. Ulrike Bingel ist Sprecherin des überregionalen Sonderforschungsbereichs „Treatment Expectation“, in dem ein interdisziplinäres Team den Einfluss der Erwartung auf die Wirksamkeit medizinischer Behandlungen untersucht. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert den Sonderforschungsbereich für vier Jahre mit rund 12 Millionen €. Auch solche Forschungsschwerpunkte im Randbereich der klassischen Schulmedizin machen Universitätsmedizin aus. An der UME passt dies hervorragend in den sich abzeichnenden nächsten Schwerpunkt im Bereich von Neurologie und Verhaltensmedizin.

Mit der Erweiterung zur UME war eine wichtige Basis für das Smart Hospital geschaffen. Es geht eben um eine Gesundheitsplattform, sektorenüberschreitend und bis zum Hospiz reichend, nicht nur um ein Universitätsklinikum. Nach einigen Monaten änderte sich das Sprachverhalten in unserem Unternehmen, bis immer mehr Personen von der UME sprachen. Heute ist es das Markenzeichen dieser Einrichtung. Dazu gehörte die Einführung eines neuen Corporate Designs für die gesamte UME mit der leicht zu merkenden Domain www.ume.de genauso wie unser Buch „Smart Hospital“, das den Stand der digitalen und empathischen Zukunftsmedizin zusammenfasst. Diese und andere Projekte haben dazu beigetragen, unsere Reputation im Bundesgebiet zu erhöhen, was wiederum wichtig war und ist, um die besten Mitarbeiter*innen für uns zu gewinnen.

Über die bisher erfolgte Wahrnehmung unserer Smart-Hospital-Initiative von extern freue ich mich sehr. So wurde unser Engagement von verschiedenen Institutionen ausgezeichnet. Hierzu gehörte der Sonderpreis Digitalisierung der Health Media Award Ltd. (2018), der Deutsche Change Award vom BQS Institut (2019), der KU Award Klinikmarketing vom KU Gesundheitsmanagement (2019), der Health Media Award Krankenhaus der Health Media Award Ltd. (2019), der TOP 100 Award innovativster Mittelständler von compamedia GmbH (2019), der Deutsche Exzellenzpreis vom Institut für Service und Qualität (2020), der Digital Champions Award von DCA / Handelsblatt GmbH (2020), der 1 A-Award von der 1 A-Pharma und Medical Tribune (2021), der German Medical Award in der Kategorie Medical Excellence Award sowie die Auszeichnung als Deutschlands Digitaler Vorreiter 2022 von der F. A. Z.-Institut GmbH, IMWF.

Nationale und internationale Leitmedien befassen sich regelmäßig mit der Leistungsfähigkeit der rund 1900 deutschen Krankenhäuser. Die UME ist kontinuierlich Bestandteil dieser Rankings. Im August 2019 erschienen wir mit unserer Initiative auf dem Titel von FOCUS Gesundheit 2020 mit dem Schriftzug „Die neuen smarten Kliniken. Wie digitale Technologien Ärzte und Patienten wieder näher zusammenbringen.“ Auf der FOCUS-Klinikliste 2021 belegten wir unter allen deutschen Einrichtungen Platz 17, beim amerikanischen Nachrichtenmagazin Newsweek Platz 10, bei der F. A. Z.-Auflistung „Deutschlands beste Krankenhäuser“ sogar Platz 3. In der Kategorie Best Smart Hospitals führt Newsweek die UME unter weltweit 250 Kliniken auf Platz 28. National bedeutet dies den 2. Platz. Wie man auch zum einzelnen Medium stehen mag: Die Gesamtschau aller genannten Auszeichnungen zeigt, dass sich an der UME erkennbar etwas bewegt hat. Immer wieder wurde ich gefragt, ob wir das erste Smart Hospital in Deutschland sein wollen oder sind. Ganz sicher nicht! Dazu müssten wir die UME auf der grünen Wiese neu bauen. Wir möchten aber zu den ersten gehören, die nachhaltig vermittelt bekommen, dass Digitalisierung an Krankenhäusern absolut alternativlos ist.

Unsere bisherige Entwicklung zum Smart Hospital bestärkt mich darin, diesen Weg mit aller Energie weiterzugehen. Aber, das Smart Hospital, auch unser Smart Hospital in Essen, funktioniert als Solitär nur unvollkommen. Wir brauchen hunderte Smart Hospitals, die wiederum im engen Austausch miteinander und mit allen Leistungserbringer*innen im Gesundheitssystem stehen, ebenso mit den Krankenkassen. Insofern haben wir 2015 hoffentlich eine Entwicklung angestoßen, die weit über die schon anspruchsvolle Aufgabe hinausgeht, eine tradierte Universitätsmedizin in ein fortschrittliches, digitales, auf den Menschen zentriertes Krankenhaus zu transformieren.

Ich habe mehrfach von Ärzt*innen die Frage gestellt bekommen, wo denn bei all der zu erwartenden Digitalisierung überhaupt noch Platz für die Ärzt*innen selbst bleibe. Das ist die absolut falsche Frage, geht es doch um die optimale Versorgung der Patient*innen. Wie die Digitalisierung, so ist auch das Arztsein kein Selbstzweck. Bei der gelungenen Umwandlung des Gesundheitssystems werden sich die Ärzt*innen schließlich um die sogenannte Patient-Journey herum so positionieren, dass der Patient*innennutzen maximal ist. Digitalisierung unterstützt diese Neuordnung und löst Sektorengrenzen auf. Ambulant, stationär, Rehabilitation, Pflege, alles muss ineinandergreifen. Hierzu gehört auch eine Veränderung der Ärzt*innen-Patient*innen-Beziehung dahingehend, dass sie von allen als wirklicher Mehrwert gesehen wird.

Bleiben wir einen Moment bei der Patient-Journey stehen, also beim Weg der Patient*innen von ihren Symptomen über die Therapie bis zur Nachbehandlung. Als ein erstes Beispiel heranziehen möchte ich die mehr als vierzig Jahre zuvor erlebte Krankengeschichte meiner Mutter, beginnend im Frühjahr 1978.

Meine Mutter entdeckte eines Morgens eine schmerzlose Schwellung ihres Halses, etwa auf Kehlkopfhöhe, ungefähr pflaumengroß. Natürlich, das war ein großer Schreck. Zunächst wurde ein Termin bei der Hausärztin vereinbart, die dann die Überweisung zum niedergelassenen Hals-Nasen-Ohren-Arzt in Flensburg ausstellte. „Das muss raus“, war das kurzgefasste Ergebnis der Konsultation, ergänzt um die Information, dass sich meine Mutter keine großen Sorgen machen müsse. So rief unser HNO-Arzt den Ambulanzoberarzt der Kieler Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde an und bekam einen Termin zur dortigen Vorstellung. Solch ein direkter Anruf, in unserer Anwesenheit, das Vermitteln einer persönlichen Nähe zu dem weiterbehandelnden Arzt, das war nicht üblich, gab aber Zuversicht. Viele Ärzt*innen würden dem entgegenhalten, dass der heutige Praxisbetrieb Derartiges nicht zulasse. Das aber ist zu kurz gedacht. Wir müssen den Praxisablauf so entlasten, dass genau solche vertrauensbildenden Aktionen Raum haben. Und das Telefonat dauerte vielleicht zwei Minuten.

Am Tag der Vorstellung im Uniklinikum fuhren wir früh morgens nach Kiel. Dort angekommen suchten wir einen Parkplatz. Das war schon damals nicht einfach. Natürlich fanden wir einen, allerdings in merklicher Entfernung vom Klinikum. Dann ging es Richtung HNO-Klinik. Aber wo war diese Klinik auf dem großen Klinikgelände? Heute kann man sich das alles im Netz ansehen. Zum Beispiel ist es möglich, Straßen und Gebäude zu betrachten. Was aber ist konkret mit der Parkplatzsuche und Wegeführung innerhalb des Geländes? In der Breite sind diese Themen keineswegs optimal gelöst, auch nicht nach mehr als 40 Jahren.

Endlich standen wir vor dem Gebäude der HNO-Klinik. Hinter der Eingangshalle waren die Ambulanz und ein übervolles Wartezimmer. Es folgte die Anmeldung und irgendwann der Aufruf. Meine Mutter wurde von einer jungen Ärztin zu ihrer Krankheit befragt, untersucht und zurück ins Wartezimmer geschickt. Nach zwei Stunden der nächste Aufruf, zurück ins Untersuchungszimmer. Jetzt wurde meine Mutter dem Ambulanzoberarzt vorgestellt, kurze Befragung, kurzer Griff an den Hals und der Hinweis, dass meine Mutter nochmals um 15 Uhr in der Ambulanz sein sollte, damit sich auch der leitende Oberarzt ein Bild von dem Befund machen könne. Der leitende Oberarzt entschied, dass operiert werden müsse. Meine Mutter begab sich wieder in die Anmeldung und vereinbarte einen Aufnahmetermin. Zu Hause waren wir gegen 19 Uhr.

Die damaligen Untersuchungen gehen heute wohl ein wenig schneller, Ultraschall wurde damals noch nicht zur Diagnostik eingesetzt. Insgesamt aber unterscheidet sich der Ablauf der Prozesse heutzutage nicht tiefgreifend vom Ablauf damals. Assistent*innen in Weiterbildung untersuchen, Oberärzt*innen überprüfen und vielleicht schauen auch Chefärzt*innen drauf, ein gelebtes Sechs-Augen-Prinzip. Vergessen werden bei dieser Betrachtung jedoch zu oft die zwei Augen der Fachärzt*innen in der Praxis, die nicht selten selbst mehrere Jahre als Oberärzt*innen gearbeitet haben. Eine engere Kooperation würde also helfen, die Prozesse zu beschleunigen. Die allermeisten Diagnosen oder therapeutischen Maßnahmen sind klar, und so könnte ein Großteil der operativen Eingriffe deutlich konkreter geplant werden, ein Vorgehen, das heute mancher- aber noch nicht vielerorts praktiziert wird. Realität ist, dass es immer wieder vorkommt, dass das Krankenhaus gegenüber der Praxis oder umgekehrt kein Interesse an einer nachhaltigen Vertrauensbildung hat oder sich beispielsweise nicht ausreichend anerkannt oder, besser ausgedrückt, wertgeschätzt fühlt. Hier schwingt nicht selten ein gewisses Misstrauen von den Kliniker*innen gegenüber den Kenntnissen der Niederlassung mit. Wir müssen auf beiden Seiten dringend mehr Vertrauen füreinander schaffen. Wie so oft in diesem Buch ist auch hierbei das Thema Eitelkeiten und Befindlichkeiten nicht zu unterschätzen.

Nach etwa zwei Wochen fuhr mein Vater meine Mutter zur Operation nach Kiel. Sie wurde vormittags aufgenommen, erneut untersucht, dieses Mal auf der Station, gleiches Vorgehen, zuerst ein Assistenzarzt, dann der Stationsarzt und die Oberarztvorstellung am Nachmittag. Im Anschluss kam der Narkosearzt und schließlich wurde der OP-Termin für den Vormittag des nächsten Tages festgelegt. Dieses Vorgehen ist in manchen Häusern heute noch so, wenngleich inzwischen zahlreiche Patient*innen erst am Morgen des Operationstags stationär aufgenommen werden dürfen.

Am nächsten Nachmittag dann der ersehnte Anruf meiner Mutter. Sie berichtete allerdings, dass die Operation auf den Folgetag verschoben werden musste, weil es eine Störung in der OP-Beleuchtung gegeben hätte. Ausfälle von Operationen sind heutzutage seltener, dennoch kommen sie an manchen Häusern immer noch zu häufig vor. Das OP-Management arbeitet inzwischen unzweifelhaft besser, doch gibt es noch immer diverse Störfaktoren im täglichen Prozessmanagement, die durch Optimierung der Abläufe und nachfolgende Digitalisierung künftig nicht nur reduziert werden können, sondern auch müssen. Die Operation meiner Mutter folgte dann planmäßig am dritten Tag ihres stationären Aufenthaltes.

Nach ein paar Tagen rief meine Mutter wieder an, ganz besorgt, weil sie aus Versehen die Tabletten der Bettnachbarin eingenommen hatte. Körperlich bemerkt hatte sie nichts. Auch heute kommen Medikamentenverwechslungen vor, insbesondere dann, wenn die Medikamente in Belastungssituationen des Personals bereitgestellt werden. In der Zwischenzeit gibt es jedoch deutlich sicherere Verfahren, wie sie zum Beispiel bereits seit vielen Jahren am Hamburger Universitätsklinikum verfügbar sind. Dazu aber später mehr.

Entlassen wurde meine Mutter nach acht oder neun Tagen. In dieser Zeit fieberten wir dem Befund der feingeweblichen Untersuchung des entnommenen Halstumors entgegen. Das Ergebnis kam zunächst mit dem Hinweis auf eingeschränkte Gültigkeit, da der mit entfernte Zungenbeinkörper, ein Knochen oberhalb des Kehlkopfes, noch nicht abschließend untersucht war. Die schlussendliche Diagnose lautete mediane Halszyste, eine angeborene Fehlentwicklung der Halsweichteile, eine gutartige Erkrankung. Unser besorgtes Warten auf den Befund zum Zungenbein war vollständig unsinnig und erzeugte nur überflüssige Ängste. Heute können in der Ultraschalldiagnostik erfahrene Ärzt*innen bereits bei Erstvorstellung in der Praxis mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit das Vorliegen einer medianen Halszyste diagnostizieren und den Patient*innen viele Sorgen ersparen.

Dieses Beispiel einer mehr als 40 Jahre alten Patient-Journey einer einzelnen Patientin verdeutlicht, dass die bildgebende Diagnostik inzwischen um Längen besser geworden ist. Die stationäre Behandlungsdauer würde heute statt der damals acht oder neun Tage nur noch drei oder vier Tage dauern. Viele andere Faktoren wie Parkplatzsuche, unklare Wegeführung, lange Wartezeiten, OP-Verschiebungen, Medikamentenverwechslungen kommen hingegen auch nach mehr als 40 Jahren noch vor. Genau das aber sind die Erinnerungen, die sich bei Menschen einprägen, im unmittelbaren Erleben der Krankenhaussituation oder in der späteren Beurteilung gegenüber Dritten. Erinnerungen, die sich auch mir als einem Angehörigen langfristig eingeprägt haben.

Nachfolgend skizziere ich eine weitere beispielhafte, wenn auch fiktive Patient-Journey. Keine Geschichte aus der Vergangenheit, sondern eine, wie sie hoffentlich in wenigen Jahren an der UME erlebbar sein wird.

Ich denke an den 54-jährigen Peter S., der wegen eines dunklen Hautflecks einen Termin in der Melanomsprechstunde der Klinik für Dermatologie wahrnimmt. Im Vorfeld hat er die Hautveränderung über sein Smartphone per Scan als krebsverdächtig erkannt, das Essener Telemedizinzentrum kontaktiert und fernmündlich die ersten Informations- und Aufklärungsgespräche geführt, sowohl hinsichtlich der Anamnese als auch der anstehenden Abläufe. All seine Daten sind im Patient*innenportal der UME erfasst. Die telemedizinisch erfolgte OP-Aufklärung hat Peter elektronisch unterzeichnet, den Termin zur ambulanten operativen Entfernung auf seinem Tablet bestätigt, als Anreiseform seinen Pkw mit Kennzeichen vermerkt und bereits das Parkhaus zugewiesen bekommen.

Am Tag der Operation ist Peter ein wenig früher am Parkhaus, sein Kennzeichen wird automatisiert gescannt, die Schranke öffnet sich, auf seinem Handy-Display erscheint der ihm zugewiesene Stellplatz. Mit der Kennzeichenidentifikation wird der ambulante OP-Bereich informiert, dass der Patient in etwa zehn Minuten dort eintreffen dürfte. Auf Peters Smartphone erscheint nun die Wegeführung zum Zielort in der Hautklinik. Dort angekommen wird Peter in einer offenen und entspannten Atmosphäre freundlich von einer Servicekraft begrüßt und zur ärztlichen Untersuchung in das entsprechende Zimmer geführt. Es folgen die Verifizierung seiner Person und die Inaugenscheinnahme nicht nur des auffälligen Befundes, sondern der gesamten Haut seines Körpers durch einen Facharzt oder eine Fachärztin. Der Tumor und drei weitere Hautveränderungen werden gescannt. Zunächst entfernt werden sollen der bereits telemedizinisch begutachtete Fleck am Bein und eine weitere Auffälligkeit am Rücken.

Peter setzt sich in den Wartebereich und bekommt über sein Smartphone die Mitteilung, dass er sich in zehn Minuten zur Kabine vier rechts um die Ecke begeben soll. Acht Minuten später folgt die Terminerinnerung. Peter öffnet die Kabinentür, legt seine Kleidungsstücke ab, wie es ihm mitgeteilt wurde. Als sich die gegenüberliegende Tür öffnet, wird Peter freundlich von einem Mitarbeiter in Empfang genommen und legt sich auf den OP-Tisch. Die Operateurin erscheint, um eventuelle Fragen zu beantworten. Dann erfolgt die Abdeckung des rechten Beines.

Nach Entfernung des Hauttumors und einiger Lymphknoten wird Peter in den Nachbarraum gebracht, wo er sich noch 30 Minuten ausruht. Nach einer Tasse Kaffee folgen das Ankleiden, die Verabschiedung und die Information zur Wegeführung Richtung Stellplatz im Parkhaus auf dem Smartphone. Auf geht’s zur Ausfahrt, das Kennzeichen wird registriert, Peter fährt anschließend heim. Um 18 Uhr geht eine Nachricht auf seinem Smartphone ein, verbunden mit der Frage nach seinem Befinden. Peter klickt sich durch den kurzen Fragenkatalog, der mit dem Hinweis endet, dass er nach Eingang des feingeweblichen Untersuchungsergebnisses erneut informiert wird. Zwei Tage später erhält Peter die Mitteilung auf dem Smartphone, dass der Befund eingetroffen ist, verbunden mit Terminangeboten für die telemedizinische Befundbesprechung.

All das wäre schon heute problemlos umsetzbar. Die wesentlichen Hürden bestehen im Datenschutz, der unzureichenden digitalen Infrastruktur und den humanen Blockadekräften, was die Bereitschaft zur Veränderung betrifft. Immer wieder stößt man auf die menschliche Attitüde des Trotzes, sei es in Hinblick auf die Digitalisierung oder auf die Impfung. Das aber darf und wird uns natürlich nicht am Fortschritt hindern, weil die Patient*innen ansonsten nicht mehr zeitgemäß versorgt werden. Wir brauchen eine Veränderung, die – ich kann es nicht oft genug betonen – unverzüglich starten muss. Und diese muss von den Patient*innen aus gedacht werden. Genau dort beginnt meine Analyse.

II.Von den Patient*innen aus gedacht

1.Patient*innenerleben

1998 nahm ich meine Tätigkeit zunächst als kommissarischer, dann als berufener Chefarzt an der Marburger Universitäts-HNO-Klinik auf. Über der Tür am Haupteingang blickte man auf den Schriftzug „Universitätsklinik für Ohren-Nasen- und Halskranke“. Ist das nicht genial? Heute heißen all diese Kliniken Klinik für Augenheilkunde, Klinik für Urologie und so weiter. Aber in Marburg hieß es Klinik für Kranke. Mit dieser Bezeichnung ist das wesentliche Anliegen einer Klinik festgelegt. Die Patient*innen müssen im Mittelpunkt stehen, nicht die Heilkunde. Wichtige Schlagwörter in diesem Zusammenhang sind das Patient*innenerleben, die Patient*innensicherheit und die Patient*innenermächtigung, die man heute vielfach als Patient*innenempowerment bezeichnet. Bleiben wir zunächst beim Patient*innenerleben.

In Anlehnung an die in den USA verbreitete und professionalisierte Initiative Patient Experience gründeten wir an der UME im Zuge der Umwandlung zum Smart Hospital das in Deutschland erste Institut für PatientenErleben, von dem inzwischen mehrere ausgezeichnete Projekte ausgegangen sind. Unser Institut spielt bei der Digitalisierung der UME eine besondere Rolle, wollen wir mit dieser Initiative doch genau die Humanisierung stärken, indem die Erfahrungen und Kompetenzen, aber auch Anregungen und Wünsche unserer Patient*innen explizit für die Transformation zum Smart Hospital mit einbezogen werden.

Das Institut für PatientenErleben analysiert und optimiert neben der rein medizinischen Leistung viele andere Aspekte eines Klinik-Aufenthaltes aus Patient*innensicht. Dazu gehören etwa die Wegeführung auf dem Klinikgelände und in den Gebäuden, die Gestaltung von Räumlichkeiten, effiziente Abläufe, akzeptable Wartezeiten, patient*innenfreundliche Informationen oder eine beziehungsorientierte Kommunikation mit Ärzt*innen, Pflegekräften und weiteren Mitarbeitenden im Haus. Die Vor- und Nachbereitung eines Patient*innen-Aufenthaltes gehören zum Patient*innenerleben genauso wie eine Anbindung von Selbsthilfegruppen an die UME. Das Institut ist damit die logische Vervollkommnung einer zunehmend digitalisierten Medizin.

Zum Themenfeld Patient*innenerleben gehört natürlich auch das Ambiente, in dem die Patient*innen gesunden sollen. Grundlage ist der Ansatz, das gesamte Umfeld von Gesundheitsbauten als Variablen für den Genesungsprozess zu sehen, aber ebenso dessen Einfluss auf die Angehörigen und die dort Beschäftigten zu berücksichtigen.

Vereinzelte Ansätze dazu gibt es schon lange. Tief angetan war ich zum Beispiel von einer Kinderkrebsklinik, die ich bei einem Aufenthalt in Kolkata, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Westbengalen, besichtigen durfte und die sehr auf die Belange der Kinder ausgerichtet war. Beispielsweise gab es dort einen Miniaturzug, der zwischen den einzelnen Pavillons des Krebszentrums fuhr und den Kindern eine besondere Transportform bot. Ebenso fand sich ein kleiner Teich inmitten der Anlage, in dem die Kinder und Jugendlichen fischten. Das half ihnen, den Grund für ihren Aufenthalt einen Moment lang zu verdrängen.

Mittlerweile ist mit dem sogenannten Healing Environment ein ganzheitlicher Ansatz entstanden, der solche Aspekte systematisch berücksichtigt. Er besteht aus der Healing Architecture und verschiedenen weiteren Aspekten, die den Heilungsprozess der Patient*innen fördern und sich als Wohlfühlatmosphäre zusammenfassen lassen. Dazu gehören zum Beispiel Ruhe und Entspannung, aber auch Aspekte, die uns nur dann auffallen, wenn wir oder unsere Liebsten davon betroffen sind, zum Beispiel das zunehmend bedeutsame Thema Hitze-Stress.

Auf den Punkt gebracht hat Healing Environment viel mit Stressreduktion zu tun. Hierzu gehören physische, soziale und psychologische Faktoren. Physische Einflüsse resultieren zum Beispiel aus der Zimmeranordnung, der Farbgebung bei der Innengestaltung, der schlüssigen Wegeführung, den Lichtverhältnissen, der Geräuschkulisse, der Ästhetik und der Schnittstelle zur Natur, von der Fassadenbegrünung bis zur Parkanlage. Zum Healing Environment gehören auch Orte des Rückzugs oder die Möglichkeit, im Grünen zu sitzen. Wir dürfen bei diesen Themen nicht vergessen, dass wir immer wieder Patient*innen haben, die in der Klinik versterben werden. Auch und besonders in Bezug auf diese Patient*innen und ihre Angehörigen müssen wir alles dafür tun, dass die letzte Lebenszeit Momente enthält, die positive Erinnerungen ermöglichen.

Inzwischen gibt es diverse Initiativen mit solcher Zielsetzung, unter anderem die Non-Profit-Organisation European Network Architecture for Health. Und es gibt eine Reihe Beispiele für ein realisiertes Healing Environment. Schauen Sie sich doch einmal im Netz die Maggie’s Cancer Caring Centres an. Diese Zentren gehen zurück auf Maggie Keswick Jencks, Ehefrau des renommierten Architektur-Kritikers Dr. Charles Jencks, die selbst unheilbar an Krebs erkrankt war. Das Ehepaar Jencks rief die Initiative der Caring Centres ins Leben, damit die unheilbaren Krebspatient*innen ihre letzten Lebenswochen in einem der Situation angemessenen Umfeld verbringen können. Das Herzstück in diesen Beratungs- und Therapiezentren ist ein gemeinsamer Raum mit einem großen Tisch, an dem Patient*innen und Mitarbeitende interagieren, wie es ansonsten nicht passiert: eingebettet in eine wohnliche Atmosphäre, in der man Beratung und Hilfe erfährt. Wenn Sie Interesse an diesem Thema gewonnen haben, schauen Sie sich im Netz auch noch das Khoo Teck Puat Hospital an, das auf Begrünungsstrategie setzt, beginnend auf den Dächern, über die Fassaden und Balkone bis hin zu den Innenhöfen, in denen sich sogar Gemüsebeete finden.

Ansätze des Healing Environment gibt es auch im hochtechnisierten Therapiebereich. Zu nennen ist beispielsweise ein Forschungsprojekt an der Berliner Charité, das sich mit einer Reduktion der negativen Auswirkungen durch die Geräuschkulisse, die Umtriebigkeit und weitere Faktoren im Intensivzimmer auseinandersetzt. Zur Optimierung setzt man auf Lärmreduktion über einen vorgeschalteten Kontrollraum und auf die positive Ablenkung durch eine digital bespielbare Deckeninstallation, die die Patient*innen selbst gestalten und an der sie trainieren können.

Healing Environment endet nicht an den Krankenhausmauern. Die Städteplaner*innen von heute richten ihre Vorschläge mehr und mehr daran aus, wie man in Städten gesund leben und gesund werden kann, wozu beispielsweise auch die Möglichkeit zur ausreichenden Bewegung gehört.

Neben der Umgebung, in der man gesunden soll, gibt es eine Reihe weiterer Faktoren, die das Erleben unserer Patient*innen beeinflussen. Den wohl wichtigsten Einflussfaktor auf das Patient*innenerleben bildet das medizinische Personal. Auch ich habe – schon als eher kränkelndes Kind – einige Erfahrungen damit gemacht, wie sich das Verhalten des medizinischen Personals auf das Wohlbefinden auswirkt.

Von Ihnen dürften sich die meisten heute kaum noch vorstellen können, wie die damaligen Wartezimmer von Hals-, Nasen-, Ohrenärzt*innen aussahen. Dort saßen regelmäßig Menschen, denen aus der Nase Metallstäbe ragten, ein- oder beidseitig. Diese waren mit in Betäubungslösung getränkter Watte umwickelt. Die sogenannten Watteträger waren zur Vorbereitung einer scharfen Kieferhöhlenspülung im unteren der drei Nasengänge positioniert.

Zu solchen Patient*innen gehörte auch ich, quasi im Abonnement. In Erwartung einer erneuten scharfen Kieferhöhlenpunktion betrat ich das Sprechzimmer. Die meisten von Ihnen wissen, wie unangenehm Manipulationen in der Nase, in der Mundhöhle oder auch im Gehörgang sein können. Mein HNO-Arzt aber strahlte vor Gesundheit und Kraft, braungebrannt, positiv und dynamisch, zugleich war er einfühlsam. Er begrüßte mich mit einem: „Schön, dich zu sehen, Jochen, was machst du denn hier? Du siehst blendend aus!“ Warum ich das berichte? Weil mir genau in dem Moment klar wurde, wie wichtig ärztliche Kommunikation ist, motivierend und offen in der Gesprächsführung, fühlte ich mich doch alles andere als blendend.

Dieses Beispiel habe ich später immer wieder meinen Studierenden und Assistent*innen erzählt. Und natürlich habe ich diese positive Art der Patient*innenansprache in meiner täglichen Arbeit als Arzt beherzigt und durfte immer wieder spüren, was ich damit bewirken konnte. Zu Ihrer Beruhigung: Heute punktiert man Kieferhöhlen nur noch in Ausnahmefällen, auch ist man mit der Einbringung antibiotikahaltiger Salbenmengen in die Kieferhöhlen deutlich vorsichtiger. Die Medizin hat sich erfreulicherweise schon heute in Teilen fundamental verändert, die Notwendigkeit zur Kommunikation und Einfühlsamkeit aber ist geblieben. Wie Empathie (wieder) zentraler im Ärzt*innenberuf verankert werden kann, werde ich an späterer Stelle im Buch genauer ausführen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Patient*innenerlebens betrifft den großen Bereich Kommunikation und Service. „Sie glauben nicht, wie lange ich gewartet habe …“, „Ich hatte mich in der Klinik verlaufen …“, „Was war der Mann bei der Anmeldung bloß unfreundlich … Der Arzt konnte auch nicht grüßen …“, „Das Essen war kalt, als ich zurück ins Zimmer kam …“, „Die Reinigungskraft hat nie den Spiegel geputzt und den Lappen hat sie auch nicht gewechselt.“ Diese Aufzählung an Eindrücken und Informationsdefiziten ließe sich fast unbegrenzt fortsetzen. Es mögen aus medizinischer Sicht auch Nebensächlichkeiten darunter sein. Aber genau solche Eindrücke müssen wir angehen, werden die Patient*innen derartige Unzufriedenheiten mehr und mehr durch die Wahl anderer Krankenhäuser quittieren. Oder glauben Sie vielleicht, dass Patient*innen die Qualität der OP-Technik wirklich beurteilen können? Eine mindere Qualität fällt vielfach erst auf, wenn Komplikationen eintreten und sich Behandlungszeiten deutlich verlängern.

Herzlich begrüßt werden, sich willkommen fühlen, das Gefühl von Aufmerksamkeit zu spüren, freundlich verabschiedet werden, das alles ist Teil einer dringend notwendigen Serviceorientierung. In diesem Zusammenhang möchte ich von einer Begebenheit erzählen, die mich sehr bewegt hat. Ich war auf Krankenbesuch bei einer mir bekannten Patientin, die sich einer Operation unterziehen musste. Ich saß in ihrem Patient*innenzimmer, wir erzählten von unseren Erlebnissen, als die Tür nach vorherigem Anklopfen geöffnet wurde und eine strahlende Servicekraft den Raum betrat. „Ich grüße Sie, Frau XY, wie geht es Ihnen? Sie sehen wieder einmal blendend aus. Möchten Sie einen Kaffee, einen Tee oder vielleicht einen Kakao? Heute habe ich ein Stück Apfelkuchen, ein Schokotörtchen oder einen Joghurt für Sie.“ Meine Bekannte äußerte ihre Wünsche. „Und was darf ich Ihnen bringen?“, wandte sich die Servicekraft an mich. Mir? Einem Besucher? „Natürlich nichts“, antwortete ich. Ich versichere Ihnen, ich hatte keine Chance auf Verzicht. Zum Schluss saß ich staunend über dieses Erlebnis bei Kaffee und Kuchen. Gekostet hat die Geste minimal. Plus der glaubhaften Herzlichkeit, die wiederum maßgeblich am Faktor Mensch hängt. Natürlich wirken sich Belastungssituationen entsprechend auf das Verhalten des Personals aus. Dennoch wäre es falsch, serviceorientiertes Verhalten mit dem Verweis auf die chronische Überlastung von vornherein in die Unmöglichkeit zu verbannen. In dem Kontext möchte ich deshalb dem Thema Pflegenotstand, das in diesem Buch an anderer Stelle ausführlich beleuchtet wird, ein wenig vorweggreifen.

Ein Teil der Tätigkeiten im Bereich der Pflege geht Richtung Service und Hotellerie. Um die Pflege zu entlasten, wurden sinnvollerweise bereits eine Zeit lang zusätzlich Servicekräfte in Krankenhäusern eingestellt. Hier machte es durchaus Sinn, professionell ausgebildete Fachkräfte aus Hotellerie etc. zu gewinnen. Das Problem: Da diese Tätigkeiten entsprechend dem Pflegepersonalstärkungsgesetz keine Pflege am Bett sind, müssen Servicekräfte von den Kostenträgern in der Ausgliederung Pflege nicht refinanziert werden, was wiederum unmittelbar zur Folge hatte, dass Kostenträger die Finanzierung des Servicebereichs den Kliniken selbst übertrugen. In der Reaktion darauf gab es Krankenhäuser, die umgehend Stellen für Servicekräfte abbauten, womit die Pflegekräfte wieder anfingen, Essen auszuteilen. Dieser Entscheidung folgten wir an der UME nicht in vergleichbarem Ausmaß. Die Kostenspirale geht auf diese Weise zwar wieder nach oben. Wir sollten uns aber vor Augen halten, dass wir mit gutem Service deutlich mehr erreichen als mit mancher Werbekampagne. Vor allem jedoch tut es den Patient*innen ganz besonders gut. Und den Mitarbeitenden der Pflege, die über Servicekräfte Entlastung erfahren.