So oder so ist das Leben - Margarete Behm - E-Book

So oder so ist das Leben E-Book

Margarete Behm

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine deutsch-deutsche Lebensgeschichte voller Witz und Weisheit Am Abend des 9. November 1989 rennt Margarete Behm im Nachthemd zur Bornholmer Brücke: «Zum Anziehen war keine Zeit!» Seither wurde sie zu jedem Jahrestag der Maueröffnung im Fernsehen interviewt. Nach der Wende fuhr sie oft nach Paris und tanzte Tango im Esplanade. Eine temperamentvolle Dame, die uns höchst amüsant durch ihr bewegtes Leben und durch ein ganzes Jahrhundert führt. Margarete Behm hat viel zu erzählen: von der Weimarer Republik bis zur Wende.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 338

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Margarete Behm

So oder so ist das Leben

Eine Jahrhundertfrau erzählt

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Eine deutsch-deutsche Lebensgeschichte voller Witz und Weisheit

 

Am Abend des 9. November 1989 rennt Margarete Behm im Nachthemd zur Bornholmer Brücke: «Zum Anziehen war keine Zeit!» Seither wurde sie zu jedem Jahrestag der Maueröffnung im Fernsehen interviewt. Nach der Wende fuhr sie oft nach Paris und tanzte Tango im Esplanade. Eine temperamentvolle Dame, die uns höchst amüsant durch ihr bewegtes Leben und durch ein ganzes Jahrhundert führt. Margarete Behm hat viel zu erzählen: von der Weimarer Republik bis zur Wende.

Über Margarete Behm

Margarete Behm, geboren 1919 in Berlin, verbrachte ihre Kindheit in ärmsten Verhältnissen. Konfirmandenunterricht hatte sie bei Dietrich Bonhoeffer, der ihre kritische Distanz zum Nationalsozialismus prägte. Während des Krieges arbeitete sie als Rotkreuz-Schwester. 1942 wurde ihre erste Tochter geboren. Ihr Mann, ein charmanter Hallodri, trug nach dem Krieg nicht viel zum Haushalt bei. Nach dem Mauerbau trickste sie Vopos aus und schaffte sich mit Charme und Chuzpe ein paar kleine Freiheiten, was ihr noch leichter fiel, als sie Witwe wurde. Am Tag nach der Maueröffnung rannte sie im Nachthemd zur Bornholmer Brücke – und wurde so zur Berühmtheit.

Inhaltsübersicht

Meinen Töchtern gewidmetDie Geburt: «Ich gebe ihr kaum acht Tage.»Kindheit in der Kremmener Straße: «… noch nicht einmal zum Abwaschmädchen!»Ausbruch aus dem Kiez oder die Heimat des «armen Weiberl»Mutti oder: «In fünf Minuten fliegt das Haus in die Luft.»Die politische Familie: «Licht aus, Straße frei, runter vom Balkon!»Jugend im «Tausendjährigen Reich»: «So oder so ist das Leben»«Kein Feuer, keine Kohle …»: Die Liebe in KriegszeitenTangermünde: «… von Wolke sieben …»«Herzlich willkommen in der DDR!»: Der schwierige NeubeginnDer Mast «Amore» oder Familienalltag hinter der MauerSchicksalsschläge: «… und ob ich auch wanderte im finsteren Tal»Die Maueröffnung: «Zweimal das unvergleichliche Gefühl der Freiheit erlebt»[Bildteil]

Meinen Töchtern gewidmet

Die Geburt: «Ich gebe ihr kaum acht Tage.»

Kanonenböller und Gewehrschüsse haben am 10. Januar 1919 meine Ankunft ins Leben begleitet. Es war die unruhige Zeit der Revolution. Die Geschosse schlugen in unserem Haus auf dem Dachboden ein. Der Generalstreik wurde ausgerufen und es fuhren keine Verkehrsmittel, auch nicht die Dampfbahn zwischen Potsdam und dem Potsdamer Bahnhof in Berlin. Deshalb musste mein Papa an diesem Tag nach Hause laufen, von seiner Arbeitsstätte in Spandau bis zur Kremmener Straße in Mitte.

Mein Bruder Fritz und meine Schwestern Lene und Liesel warteten am Küchenfenster auf den Klapperstorch, der mit mir durch den Schornstein aus dem Ofen kommen sollte. Wenn Mutti schreit, so wurde ihnen erzählt, dann hat der Storch sie ins Bein gebissen, damit sie merkt, dass ein Baby da ist. Ich war ein ungebetenes Baby, denn es gab schon vier Kinder. Ein Sohn war ganz früh gestorben. Meine Mutter hatte einen Abbruch versucht, aber ohne Erfolg. Ich kam mit einem Gewicht von nur drei Pfund auf die Welt. Brutkästen für untergewichtige Neugeborene gab es zu dieser Zeit noch nicht. So war Mutti sicher sehr erleichtert, als die Hebamme ihr sagte: «Ihrem Kind gebe ich höchstens noch acht Tage.» Das war das erste von vielen ärztlichen Fehlurteilen, die mich ein Leben lang begleiten sollten.

Offensichtlich habe ich aber gute Gene geerbt. Mein Vater wuchs auf einem großen Bauernhof auf. In der Nazizeit wurden er und seine zehn Geschwister umfassend untersucht. Nach längerer Ungewissheit bekamen sie dann ein Dokument vom Reichsbauernführer Darré ausgehändigt. Es besagte, dass sie zu einer der hundert Familien in Deutschland gehörten, die länger als fünf Generationen auf einem Erbhof lebten und die nachweislich fast alle mit über neunzig Jahren an natürlicher Altersschwäche gestorben sind. Wahrscheinlich ist dies das Geheimnis, warum ich allen Voraussagen zum Trotz schon über achtzig Jahre alt geworden bin. Allerdings scheine ich auch von Anfang an eine große Energie gegen solche negativen Diagnosen entwickelt zu haben.

Oft sind unerwünschte Kinder später die am meisten geliebten. So war es jedenfalls bei mir. Meine Eltern versicherten mir immer wieder, dass sie mich mit Schokolade und Bananen großgezogen hätten. So ist mir diese Lust am Naschen ein Leben lang geblieben. Ansonsten war Essen für mich nur eine lästige Pflicht. Große Hilfe leistete mir ein kleiner Hund, den wir für einige Zeit bei uns hatten. Er saß immer unter dem Küchentisch, wenn wir aßen. In unbeobachteten Augenblicken schob ich ihm Essen von meinem Teller unter den Tisch, was er dann leider sehr geräuschvoll verschlang. Mutti bemerkte es also rasch, und daraufhin wurde Nelly in eine Ecke der Küche verbannt. Warum unser kleiner Schatz Nelly plötzlich verschwunden war, konnten wir uns lange Zeit nicht erklären. Wir beweinten ihn sehr. Später hörten wir, dass er verkauft und geschlachtet worden war, um schließlich von hungrigen Arbeitslosen aufgegessen zu werden.

Ich blieb lange Zeit klein und zierlich und war der besondere Liebling von meinem Papa. An seinem freien Tag hatte ich Vorrang vor allen Geschwistern. Mir kaufte er kleine Dinge aus dem Spielzeugladen, die damals wirklich nur Pfennige kosteten. Oft turnte ich mit ihm. Da stand ich auf Papas Hand, lief über den Arm die Schulter entlang und landete auf der anderen Hand. Das war schon artistisch zu nennen. Sehr früh begeisterte ich auch alle mit meinem Tanztalent. Das Allerschönste war für mich, wenn wir Papa auf der Arbeit in Potsdam besuchten, im Konzertcafé «Fürstenhof» in der Brandenburgischen Straße. Dort herrschte eine steife Atmosphäre. Die Offiziere, die im Café verkehrten, trugen ordensgeschmückte Uniformen und hatten dazu oft Degen umgeschnallt. Viele hatten ein Monokel. Die Damen in ihrer Begleitung musste mein Vater mit den Titeln der Männer ansprechen, wenn er sie bediente. Es waren die Jahre der Inflation. Das Geld war wertlos, uns aber ging es gut, da im «Fürstenhof» mit Dollar bezahlt wurde. Während der Inflationszeit bekamen die Menschen ihren Arbeitslohn täglich ausgezahlt und zwar körbeweise in Millionen- und Billionenscheinen. Sie mussten sich mit dem Einkaufen sehr beeilen, weil der Geldwert täglich verfiel und neu festgesetzt wurde. Für einen Waschkorb voller Geldscheine gab es vielleicht ein Brot. Dank Papas Dollar blieben wir zumindest für eine gewisse Zeit von diesem Kampf und diesen Sorgen verschont. Wenn das Nachmittagskonzert im «Fürstenhof» begann, stahl ich mich als Vierjährige heimlich auf die kleine Musikbühne und tanzte hingebungsvoll auf Zehenspitzen, zur Freude der Gäste. Eines Tages schenkte mir ein adliger Gast ein Silbergedeck mit seinen Initialen. Er sprach mit meiner Mutter und wollte mir sogar die Ausbildung als Tänzerin spendieren. In all den folgenden Jahren habe ich meine Mutter immer wieder flehentlich darum gebeten, Tänzerin werden zu dürfen. Und immer bekam ich ein entschiedenes «Nein!.» zu hören. «Du sollst einen anständigen Beruf erlernen. Außerdem bist du viel zu schwach, und überhaupt geht der Weg zur Karriere meist nur durch das Bett des Chefs!» Was für eine verheerende Einstellung! Der Chef vom «Fürstenhof» hatte auf den Rennbahnen Hoppegarten und Mariendorf Rennpferde laufen. Dadurch kam mein Vater auf die Rennbahnen. Als Bauernsohn liebte er die Pferde sehr. Das nutzte sein Chef sehr wohl aus und mutete ihm einiges in der Pferdepflege zu. So lernte er alle Machenschaften und Tricks auf der Rennbahn und beim Wetten kennen und erzielte oft hohen Gewinn bei niedrigen Wetteinsätzen. Später, als Papa arbeitslos wurde, sollte sich das manches Mal Glück bringend für uns alle auswirken. Wenn er wieder einmal gewonnen hatte, konnten wenigstens kleine Wünsche in Erfüllung gehen.

Kindheit in der Kremmener Straße: «… noch nicht einmal zum Abwaschmädchen!»

In ein komfortables Nest bin ich nicht gefallen. Ganz im Gegenteil. Wir wohnten lange Zeit zu sechst in einer kleinen Einzimmerwohnung mit Außentoilette, die von mehreren Mietparteien benutzt wurde. Erst als ich vierzehn Jahre alt war, zogen wir in eine Dreizimmerwohnung um. Weil wir Kinder Angst hatten, nachts in das unbeleuchtete Treppenhaus zu gehen – die Toilette lag eine Etage tiefer –, stand in der Küche hinter einem Friesvorhang ein Eimer für die Notdurft. Meinen Bruder nannten wir unseren Latrinenwächter, denn er musste am Morgen den Eimer leeren, während wir Mädchen uns vergewisserten, dass kein Mieter auf der Treppe war, der uns bei diesem Tun beobachten konnte. Zum Glück brauchte ich diese beschämende Arbeit nie zu machen. Für all diese häuslichen Entbehrungen entschädigte mich dann das Tanzen im «Café Fürstenhof».

Schon als kleines Kind verletzte mich die Armut sehr. Als ich einmal für eine Kinderlandverschickung vom Sozialamt eingekleidet wurde, erzählte ich aus Scham, dass ein Onkel aus Amerika diese Sachen geschickt hätte. Wurde ich von den Kindern auf dem Schulhof gehänselt, weil ich wieder einmal die Schuhe meines Bruders auftragen musste, war ich jedes Mal wieder traurig. Immer suchte ich nach Möglichkeiten, das Angenehme zu sehen und unsere Armut zu verstecken. So war ich froh, dass wir in der Kremmener Straße wohnten, da dort jede Wohnung einen Balkon mit Blumen hatte. So wirkte unsere Straße schöner als die kahlen, schmucklosen Nebenstraßen. Lange Zeit arbeitete mein Papa in erstklassigen Hotels und Konzertcafés, in denen er im Frack zu bedienen hatte. Ich war richtig stolz, wenn wir ihn mal bei der Arbeit besuchen durften. Wie elegant er gegenüber den asozialen Proleten in unserem Wohngebiet erschien!. So nannte man damals die herunterkommende Arbeiterschaft. Ich war auch sehr stolz darauf, dass wir fast die einzigen Kinder in der Straße waren, die immer wieder in den Ferien zu Verwandten verreisten. Denn die meisten Kinder kamen nie aus dem Kiez heraus. Das Gefühl, sich aus dem Milieu herauszuheben, hatte sich in mir so festgesetzt, dass ich in meinen Jungmädchenjahren als Wohnadresse immer Pankow angab, obwohl wir damals in der Bernauer Straße wohnten. Die Bernauer Straße gehörte im damaligen Sprachgebrauch zu Plumpe, also zum Wedding, und somit war man wieder abgestempelt. Daher waren in meiner Jugend immer der Ku’damm und seine Umgebung das Ausgehziel. Ich wollte keine Armut mehr sehen.

In der Kremmener Straße kannten wir Kinder die Gehbehinderten und alten Menschen, die uns dankbar waren, wenn wir ihnen halfen und für sie einkaufen gingen. Wir freuten uns, wenn wir dafür einen Groschen bekamen. Abends vor Ladenschluss kauften wir uns dann für diesen Groschen Kuchenkrümel beim Bäcker. Das waren die abgeschnittenen Kuchenkanten oder auch mal, wenn wir Glück hatten, zerbrochene Kuchenstücke. Der Bäcker vergab sie täglich an andere Kinder, damit jeder einmal in den Genuss von Kuchen kam. Der Fleischer Fecke gab den Kindern, die er mochte, eine Tüte Wurstschnippel, die vor dem Verkauf der Würste an beiden Enden abgeschnitten wurden. Diese Wurstschnippel legten wir uns aufs Brot. Der Schnippel wurde einfach weiter geschoben, sodass wir stets den Wurstgeruch unter der Nase hatten, als würden wir tatsächlich eine mit Wurst belegte Schnitte essen. Das nannten wir «Schiebewurschtstulle». Donnerstags holten wir mit einer Kanne «Wurschtsuppe». Das war die Brühe, in der der Fleischer die frische Blut- und Leberwurst gekocht hatte. War mal eine Wurst geplatzt, schwammen Fettwürfel darin. Dann war die Brühe für uns besonders wertvoll. Daraus machte unsere Mutter am nächsten Tag eine Suppe. Da diese Brühe nichts kostete, mussten wir uns immer zeitig anstellen, damit wir noch etwas davon abbekamen. Als mein Papa vom Arbeitsamt nur noch Krisenunterstützung erhielt, waren wir oft auf die Volksküche angewiesen. Was war mit neunzehn Mark pro Woche, die für eine sechsköpfige Familie reichen mussten, auch schon anzufangen? Wir Geschwister holten in einem Topf das Essen ab. Es war ein entsetzlicher Fraß! Ich habe immer geheult, weil ich diese Pampe nicht essen wollte. Papa konnte allerdings immer, wenn die Not am größten war, irgendetwas für uns organisieren. Dann traf er sich mit arbeitslosen Parteikameraden und sie gingen in ihrer Uniform des Frontkämpferbundes in die Großmarkthalle am Alexanderplatz. Dort besorgten sie sich eine Schubkarre, besuchten sympathisierende Großhändler und bettelten für sich und ihre Kameraden. Alles wurde nach Familiengröße unter den Kameraden aufgeteilt. Bei uns Kindern war die Freude groß, wenn Papa mit der Karre voller Obst und Gemüse nach Hause kam. Wenn wir viel Glück hatten, war auch schon mal eine Kiste mit Bücklingen dabei.

Manchmal ging Papa auch allein in Uniform auf die Straße, mit einem Stahlhelm, der zur Sammelbüchse umfunktioniert wurde und oben mit einem Einwurfschlitz versehen war. Er stand meistens am Ehrenmal «Unter den Linden». Besucher des Ehrenmals waren oft spendable Sympathisanten des Frontkämpferbundes, sodass es sich lohnte, dort zu sammeln. Mein Bruder Fritz versuchte einmal, als Papa vom Sammeln nach Hause kam, das Geld mit einem Messer aus dem Stahlhelmschlitz zu angeln. Mutti schimpfte erst mit ihm und dann mit Papa, da aber totale Ebbe in ihrem Portemonnaie war, kam uns die Hilfe immer sehr zugute. Sie erklärte uns, dass das eigentlich Stehlen sei, doch wir nahmen es ja keinem direkt weg, und der liebe Gott würde es uns verzeihen, denn wir taten es nur aus Not. Der kleine Mann auf der Straße schaffte sich eben seine eigenen Notstandsgesetze, wie sie sich auch in den Stücken «Der Hauptmann von Köpenick» oder «Der Biberpelz» wiederfinden.

Mit zwölf Jahren war ich schon sehr mütterlich und schaute mich in der Straße um, wo ich Kinder betreuen konnte. In unserem Haus gab es eine Gastwirtschaft. Die Wirtin war froh, als ich ihr anbot, ihren Säugling auszufahren und ihm auch mal das Fläschchen zu geben. In den Ferien wurde ich später als Kindermädchen an die Ostsee mitgenommen, damit ich auf den Jungen aufpasste, wenn Feldarbeit gemacht werden musste. Das war in Divenow und lag in Pommern, ein schöner Ort! Wie wunderbar war diese Zeit, als ich mit dem dreijährigen Kleinen täglich am Strand spielen konnte. Gerade zu Zeiten der Arbeitslosigkeit war es ein großes Geschenk, jemanden zu haben, mit dem man aus der Stadt herauskam. Außerdem machte ich mich nützlich und verdiente mir mit der Obhut des Kleinen meinen Aufenthalt. Von Geburt an war ich zu klein gewesen und hatte immer noch Untergewicht. Aber die Schulärzte versicherten meiner Mutter, dass auch bei mir der Wachsknoten platzen würde, ich hätte ja schon ein ziemlich breites Kreuz. Durch mein Aussehen konnte ich mit vierzehn Jahren noch auf halben Fahrpreis reisen, eben als wäre ich erst neun. Und die Eisenbahnkontrolleure nahmen mir das vorgetäuschte Alter ohne weiteres ab. Die Salzluft an der Ostsee bewirkte dann allerdings, dass ich fortwährend Hunger hatte und nie satt wurde. Immer wieder schickte ich den kleinen Lothar in die Küche, er solle sich eine Stulle holen, und ich hoffte natürlich, dass sie ihm den Riesenhunger glauben würden. In den vier Ferienwochen an der Ostsee platzte irgendwann tatsächlich der Wachsknoten, und plötzlich sah ich altersgerecht aus. Die Heimfahrt war wegen des geschummelten Fahrpreises besonders spannend. Meine Eltern konnten mir kein Geld schicken, dazu reichte es nicht, seit mein Vater keine Arbeit mehr fand. Während der Fahrscheinkontrolle versteckte ich also meine langen Beine im Hocksitz unter dem Rock.

Träumerisch war ich als Kind selten. Dafür waren die Eindrücke und Erlebnisse viel zu stark. Ständig wechselten Entbehrungen und Freuden. Eine ganz besondere Freude war der Einkauf am Heiligen Abend. Da rissen sich meine Geschwister um diese Aufgabe. An diesem Tag gab es in jedem Geschäft ein kleines Geschenk: Pfefferkuchenherzen oder im Seifengeschäft einen Weihnachtsmann aus Seife oder beim Fleischer eine kleine Wurst. Gekaufte Geschenke kannten wir aus Geldmangel nicht. So bastelten und klebten wir mit Feuereifer alles Mögliche: bunte Laternen aus Pergamentpapier fürs Fenster oder Girlanden für den Weihnachtsbaum. Die Vorfreude auf Weihnachten und das Einüben des Weihnachtsspiels für unsere Eltern am Heiligen Abend füllten die Adventswochen aus. Wie aufregend waren die Krippenspiele in der Zionskirche, die wir wochenlang einstudiert hatten! Lag dann am Heiligen Abend noch Schnee, wenn wir aus der Kirche kamen, war das Wintermärchen perfekt.

Meine sieben Jahre ältere Schwester Lene konnte schon Gedichte und Theaterstücke für Kinderaufführungen schreiben. Sie verfasste auch Texte für den heimischen Weihnachtsabend. Oft spielten wir arme Kinder, die Weihnachten eine große Überraschung erleben. Am liebsten spielten wir Geschichten mit Engeln und Weihnachtsmann. Ich durfte immer ein Engelchen sein, und mein Bruder war der Weihnachtsmann. An den Weihnachtsbaum wurden Zuckerkringel und in Goldpapier gewickelte Äpfel gehängt. Am zweiten Feiertag durften wir die Köstlichkeiten vom Baum plündern. Das machte uns dann immer einen Riesenspaß.

Auch bei der Weihnachtsfeier der Deutschnationalen Partei, in der meine Eltern Mitglieder waren, führten wir kleine Stücke auf. Dort war die Bescherung sehr großzügig. Die Geschenke und bunten Teller blieben bis zum Heiligen Abend verpackt. Da ich bei diesen Auftritten nie Lampenfieber verspürte, wollte ich später am liebsten Schauspielerin werden. Doch auch dieser Wunsch sollte sich nicht erfüllen.

Meine beiden anderen Geschwister, Liesel und Fritz, ließen sich von meiner Schwester Lene gern überreden, die Schule zu schwänzen. Als Schweigegeld bekam ich eine Streuselschnecke und einen Luftballon gekauft. Dann liefen wir zu Fuß den weiten Weg von der Kremmener Straße zur Rathenower Straße in Moabit. Von dort aus begleiteten wir dienstags und donnerstags die Wachablösung der stationierten Reichswehr bis zur Bendlerstraße: neben der großen Militärkapelle marschierten wir zusammen mit arbeitslosen Bürgern. Nach der Wachablösung marschierte der Spielmannszug zurück zur Rathenower Straße. Den größten Anreiz hatten wir dadurch, dass mein Onkel Hermann diesem Wachregiment als Feldwebel angehörte. Er war der jüngste Bruder meiner Mutter, und wir waren stolz auf ihn. Das Marschieren machte uns Spaß, dabei dichteten wir Sprüche, die zum Takt passten. Spottverse hatten wir immer schnell parat. Zum Parademarsch texteten wir: «Und sie lief, und sie lief und sie lief die Absätz’ schief und warum und warum, ihre Beene warn so krumm …» Vor uns trotteten ja genügend Zillefiguren mit schiefen Absätzen einher, da das Geld für den Schuster nicht reichte. Hundemüde mussten wir dann von Moabit nach Mitte zurücklaufen. Zu solchen Ausflügen verführte uns unsere große Schwester manchmal zweimal in der Woche. In der Schule fiel es allerdings auf, und so kam am Sonntag der Schuldiener Vogt zu uns, weil er dann sicher sein konnte, die Eltern anzutreffen. Als er an unsere Tür klopfte und nach den Eltern fragte, flüsterte ich, denn ich hatte ihn schon durchs Schlüsselloch erkannt: «Meine Eltern sind auf dem Wohnungsamt.» Und das am Sonntag! Mein Papa hörte, dass jemand an der Tür war. Dann brach das Unheil über uns herein. Meine Schwester Lene und mein Bruder bekamen schlimme Prügel. Ich hielt mir immer die Ohren zu, damit ich sie nicht schreien hörte.

Überhaupt hatte es Lene von uns allen vielleicht am schwersten. Obwohl sie ein sehr gutes Schulabgangszeugnis bekam, fand sie nur eine Stelle als Hilfsarbeiterin. Immer mehr geriet sie auf die schiefe Bahn. Die wirtschaftlichen Verhältnisse waren schlecht. Die Familie gab ihr keinen Halt. Es war eine traurige Situation für sie. Ich hatte Angst, wenn meine Schwester Lene nicht zu Hause war und mein Papa kam. Dann rannte ich zum Prater-Rummelplatz in der Kastanienallee. Dort fand ich sie immer. Die Typen, mit denen sie an der Luftschaukel stand, waren mir zuwider. Als ich heulte und sie flehentlich bat, nach Hause zu kommen, band einer dieser Typen seinen Gürtel ab und wollte mich damit verprügeln. Ich rannte allein nach Hause zurück. Kehrte Lene endlich heim, wurde sie von meinem Vater fürchterlich geschlagen. Diese Vorfälle häuften sich. Eines Nachts wurde sie dann einfach hinausgeworfen. Ich höre noch heute ihre Schreie, als sie sich in ihrer Verzweiflung an den Pfosten des Bettes klammerte, in dem ich lag und alles mit ansehen musste. Schließlich zerrte mein Papa sie an den Haaren aus der Wohnung. Mutti hatte immer gesagt: «Lene ist der erste Nagel an meinem Sarg.» Als älteste Tochter durfte sie an den Vereinsveranstaltungen teilnehmen und konnte dort die sich anbahnenden Liebschaften unserer Mutter beobachten. Und irgendwann im Streit hatte Lene Mutter dieses Verhalten vorgeworfen und gesagt: «So, jetzt mache ich es eben genauso wie du!» Lene rächte sich an den Eltern, indem sie zu deren erklärten politischen Gegnern zog, den Kommunisten. Die Kommunisten kannten die Einstellung meiner Eltern. Sie lauerten ihnen oft am Arkonaplatz oder in der Wolliner Straße auf, um sie zusammenzuschlagen. Wenn mein Papa gerade keine Pistole bei sich trug, zog er eine 10-Pfennig-Geldrolle aus der Tasche und versuchte, sie damit zu bluffen und in Schach zu halten. Lene tat mir Leid, doch ich empfand es damals als ihre Schuld, wenn sie solchen fatalen Umgang hatte. Als jüngstes Familienmitglied fiel es mir sehr schwer, mich in diesem Gefühlswirrwarr zurechtzufinden.

Etwas Unvergleichliches kennzeichnete die Kinderzeit in den zwanziger Jahren. Wir spielten fast den ganzen Tag auf der Straße. Je nach Jahreszeit waren es unterschiedliche Spiele. Im Frühling zum Beispiel Murmel- bzw. Trieselspiele. Für zehn Pfennig bekam man hundert Murmeln. Diese kleinen Murmeln musste man mit dem Finger in eines der Löcher befördern, die immer irgendwo auf dem Gehweg zu finden waren. Ich hatte es dabei zu richtiger Meisterschaft gebracht. Und so fegte ich schon einmal zweihundert Murmeln an einem Tag zusammen! Wir kannten die schwächeren Spieler, die man beschummeln konnte. Denn allzu oft besaßen wir keinen Groschen, um neue Murmeln zu kaufen, da musste man schon alle Tricks anwenden. Zum Trieseln gehörten ein kleiner Holztriesel und eine Peitsche mit einer Strippe. Um zu siegen, mußte man genau auf die Schnurstärke achten. Es gab Wetttrieseln von einer Straßenecke bis zur anderen. Da war allerdings nichts zu gewinnen, lediglich das Gefühl des Triumphs über die Verlierer. Stockreifenrennen war auch sehr beliebt. Mit einem kleinen Stock musste man den bunten Holzreifen auf einer Kreidelinie führen, ohne von dieser Linie abzuweichen. Ein kniffliges Geschicklichkeitsspiel. Und dann die Hopsespiele mit ihren vielen Möglichkeiten. Uns fielen ständig neue Sachen ein. Ballspiele waren auch sehr beliebt oder Gemeinschaftsspiele auf dem Fahrdamm. Völkerball war besonders gefragt. Beim Spielen auf dem Fahrdamm waren wir nie in Gefahr, auch wenn die Pferdefuhrwerke die Geschäfte belieferten, denn es gab kaum Verkehr. Wenn der Ball auf den Fahrdamm rollte und unter den Wagen oder zwischen die Pferdebeine kam, brauchten wir nur zu warten, bis das Fuhrwerk weitergefahren war. Brenzlig konnte es nur werden, wenn sich ein Pferd aus den Leinen gehakt hatte und die Straße hoch und runter galoppierte. Dann flüchteten wir in die Hausflure und warteten dort, bis das Pferd wieder eingefangen wurde.

Jede Straße war im Grunde ein Dorf für sich. In jedem Haus gab es ein Geschäft. Da war der Milchladen von Frau Bünger in der Kremmener Straße 2, der Fleischer Fecke und der Bäcker Lorenz in der Nr. 15, die Drogerie Richter und das Kino «Delta» in der Nr. 8. Bis vor kurzem war die Aufschrift Noak am Lebensmittelladen in der Nr. 12 noch zu sehen. Friseur, Kohlehandel, Seifengeschäft waren ebenfalls vorhanden. Unter dem Motto «Wer Sorgen hat, hat auch Likör» befand sich an jeder Ecke eine Kneipe. In den Arbeitervierteln waren sie schlicht und einfach eingerichtet. Manchmal standen ein Klavier und vielleicht ein Lochbillard in der Ecke. Diese Kneipen lösten die meisten Ehedramen aus: wenn die Frauen ihre Männer holen kamen, damit die das wenige Geld nicht versoffen, wurden sie häufig brutal geschlagen. Wir Kinder waren Zuschauer, wenn sich das Drama die Straße entlang bis in die Wohnungen fortsetzte. Dort gingen die Schreiereien weiter. Manchmal wurden ganze Wohnungseinrichtungen zerschlagen. Die Polizei schritt nicht ein, selbst wenn sie angefordert wurde. Das blieb immer eine Familienangelegenheit. Auf der Straße erlebten wir also das ganze Elend der Arbeiter. Der Hunger oder die reine Gier brachten besonders fiese Typen dazu, kleinen Mädchen die Ohrläppchen abzuschneiden. Für die goldenen Ohrringe konnten sie sich dann in der Pfandleihe Geld borgen.

In den heißen Sommertagen warteten wir immer auf den Eiswagen, der die Kneipen mit Eisstangen belieferte. Da fielen ein paar Bruchstücke für uns ab, die wir dann auflutschten. Einige Haushalte hatten schon eine eigene Eisschrankkiste. Die holten sich in kleinen Eimern für zwanzig Pfennige gehackte Eisstückchen ab. Es waren meistens Mieter aus den Vorderhäusern, die solchen Luxus besaßen. Der Klassenunterschied war schon deutlich. Wir nannten sie «die Vornehmen». Im Vorderhaus befand sich eine Schneiderei, drei Näherinnen arbeiteten dort. Wir kauften gern für sie ein und verdienten uns damit einen Groschen. Ansonsten wohnten im Vorderhaus Post- und Eisenbahnbeamte. Sie alle hatten Arbeit, und allein dadurch unterschieden sich schon Vorder- und Hinterhaus. Im Vorderhaus waren Zwei- bis Dreizimmerwohnungen mit Innentoilette, und das Treppenhaus war mit Linoleum ausgelegt. In den Hinterhäusern gab es diesen Komfort nicht. Diese Ungerechtigkeiten erregten mein Kindergemüt sehr.

Im Hausflur und im Treppenhaus hatten wir Gasbeleuchtung, kein elektrisches Licht. Wir Kinder mussten meist nach Hause gehen, wenn der Mann mit dem Fahrrad kam, die Leiter an die Laterne stellte und mit einem Streichholz die Gaslaternen in Betrieb setzte. Dann war der Tag auf der Straße beendet. Später kam der Strom. Es war wie im Märchen. Plötzlich war das Haus bis in den letzten Winkel erleuchtet, ebenso die Stadt. Kein langes Suchen nach Streichhölzern mehr, um das Gaslicht anzuzünden. Mit dem Strom tauchte 1923 die nächste Erfindung auf: das Radio. Als Alfred Braun in der Potsdamer Straße aus dem ersten Studio verkündete: «Hier spricht Berlin!», da brach eine neue Zeit an. Wer Arbeit hatte, konnte sich diesen Luxus durchaus leisten. Von unserem Hinterhof aus hörten wir alles, was in den Wohnungen geschah. So bekamen wir mit, dass einige Mieter schon ein Radio besaßen. Wenn Mutti den schönen Walzern «Gold und Silber» oder «Schlittschuhläufer» lauschte, schimpfte sie, wir sollten ruhig sein. Aber wir machten nur um so mehr Krach, weil wir wollten, dass sie uns auch ein Radio kaufte. Doch das Geld war knapp. In dieser Zeit fand auch Papa keine Arbeit mehr. In den neuen Elektroläden konnte man eine Bastelanleitung für Detektoren kaufen, um den Empfang zu ermöglichen. Mein Bruder war sehr geschickt und wickelte Kupferdraht über ein achteckiges doppeltes Rad. An den Enden wurden die Drähte in zwei Stifte eingefädelt und auf ein kleines Kästchen gesteckt. Mit einer Buchse für den Kopfhörer und einem Weißbierglas konnte man mit Geduld und Spucke, wie man damals sagte, etwas hören. Der Kopfhörer lag im Weißbierglas, der als Lautverstärker wirkte. Wir hingen alle mit dem Ohr über das Glas gebeugt und hörten tatsächlich etwas piepsen. Manchmal sogar Musik. Wenn es rauschte, sagten wir, jetzt hören wir den Ozean. Wenn wir mit den Stiften mühselig einen neuen Sender suchten, meinten wir, jetzt kommt Afrika. Erst 1934, als der Volksempfänger, die sogenannte Goebbelsschnauze, für 89 Mark auf den Markt kam, konnten wir endlich richtig Musik empfangen, doch leider musste auch die nationalsozialistische Propaganda ertragen werden. Mutti und Papa hörten gerne Märsche und Walzer, wir dagegen vor allem Swing und Tango.

Wenn ein Kind, dessen Vater noch Arbeit hatte, sonntags mit einem Stück Kuchen zum Spielen auf den Hof kam und wir oft nicht einmal trockenes Brot essen konnten, bekam ich immer eine große Wut. Ich fragte: «Warum hat die was und wir nicht?» Wir benahmen uns wie freche Spatzen. Mit Schubsen und Drängeln oder Kitzeln brachten wir es fertig, dass den Begüterten der Kuchen aus der Hand fiel und wir ihn aufessen konnten. Sie hätten ihn sowieso nicht mehr haben wollen, nachdem er im Staub lag. Als Kleinste in der Familie musste ich immer in die Geschäfte gehen, wenn wir Hunger hatten, und uns ein halbes Brot oder einen Viertelliter Milch anschreiben lassen. Das wurde dann, wenn mein Papa Unterstützung erhielt, zurückgezahlt. Meistens hatten wir aber in allen Geschäften Schulden, sodass wir nichts mehr bekamen. Selbst Heulen nützte da nichts mehr. Einmal schwor ich Rache und nutzte den Moment, bis die Besitzerin aus ihrer Wohnung in den Milchladen kam, um einen Streifen Schokolade vom Ladentisch zu klauen. Ich ahnte schon im Voraus, dass sie für uns nichts mehr anschreiben würde. So hatte ich wenigstens etwas zu essen. Ich kannte kein Unrechts- oder Schuldgefühl, sondern nur das Gefühl ausgleichender Gerechtigkeit. Silvester trieben wir es immer besonders übel mit den «hartherzigen» Geschäftsleuten. Wir warfen ihnen Stinkbomben in die Läden. Einen richtigen Kleinkrieg veranstalteten wir Kinder. Die politischen Parteien machten es uns ja tagtäglich vor. Es war die Zeit der heftigen Auseinandersetzungen zwischen Links und Rechts. Pausenlos erlebten wir die Straßenkämpfe und Schießereien, die zum Ende der Weimarer Republik führen und Hitler an die Macht bringen sollten. Wir blieben immer in Gruppen zusammen. Das war lebenswichtig, denn oft genug tauchten üble Gestalten auf, die sich an den Kindern vergehen wollten. Meist haben sie die kleinen Mädchen auf den Dachboden geschleppt, sie angefasst oder gar missbraucht. Schon von weitem hatten wir einen Blick für solche Typen und vertrieben sie immer mit Gebrüll. Angst hatten wir keine, weil wir die Gefahr rechtzeitig erkannten. Wenn wir einen «Verdächtigen» sahen, riefen wir laut: «Pupe, die olle Sau kommt.» Die Typen verschwanden auf der Stelle. Am Arkonaplatz stand auch immer ein Wachtmeister, und wenn es ernst wurde, lief eines der Kinder hin, um Hilfe zu holen. Wir hatten einen regelrechten Selbstschutz eingebaut.

Von der Schulzeit 1926–1933 bleiben mir fast nur schlechte Erinnerungen. Vom Lehrstoff habe ich sehr wenig mitbekommen, dafür um so mehr leidvolle Erfahrungen mit der Obrigkeit gemacht. Der Vater war das Familienoberhaupt und der Lehrer der Gefürchtete mit dem Rohrstock. Meine Schule war die 89. Grundschule in der Schwedter Straße in Mitte, eine Arbeitergegend wie unser Wohnviertel. Im vorderen Schulgebäude befand sich die Jungenschule. Die Mädchenschule war im hinteren Gebäude untergebracht. Eine Mauer trennte die beiden. Strenge herrschte auch auf dem Schulhof. In Reih und Glied mussten wir in den Pausen im Kreis herumlaufen. Wenn die Unterrichtsstunde begann, nahm der Lehrer als Erstes den Rohrstock aus dem Schrank und legte ihn auf den Tisch. Wir waren gewarnt. Bei dem kleinsten Fehler oder wenn man nicht, wie es Pflicht war, aufrecht und mit ausgestreckten Armen und gefalteten Händen da saß, wurde einem über die ausgestreckte Hand mit dem Stock auf die Finger geschlagen. Nie werde ich vergessen, wie ich einmal stockheiser war und nicht singen konnte, und der Lehrer mir zur Strafe den Stock über den Rücken hieb. Schreiend lief ich nach Hause. Mein Vater begleitete mich in die Schule zurück, und zum Entsetzen des Lehrers jagte Papa ihn um den Tisch, bis er ihn zu fassen bekam. Er packte ihn am Kragen, zog ihn über den Tisch und drehte ihm fast die Luft ab. Feixend verfolgten die anderen das Geschehen. Danach hatte ich Ruhe vor diesem Rohling von Lehrer. Wir Kinder waren gegen diese Züchtigungen schon abgestumpft: «Keile vergeht, Arsch besteht» war unser Motto. Wenn die Schulstunden beendet waren, mussten wir über den Jungenschulhof gehen. Da warteten schon die Jungs auf uns, um sich abzureagieren. Und wieder ging die Keilerei los. Das war an jedem Schultag so, und da hieß es nur, renne, was du kannst … Meistens erlebten es die Jungen nicht anders zu Hause, wo viel Gewalt vom Vater gegen die Mutter ausgeübt wurde. Schon früh habe ich das kritisch beobachtet und kann es bis heute nicht ertragen, wenn Erwachsene ihre Macht gegen Schwächere ausspielen. Als mein Vater einmal Mutti arg beschimpfte und schlug, gelang es mir mit Weinen und Schreien, den Streit zu besänftigen. Am Abend sollte ich Papa «Gute Nacht» sagen, doch ich weigerte mich vor Wut. Wie unbestechlich und ehrlich Kinder das Fehlverhalten ihrer Eltern beurteilen können! Leider wird dem nicht genug Rechnung getragen. Wenn ich von meiner Mutter Schläge bekam, wusste ich meistens nicht, warum. Damals habe ich mir geschworen, mit meinen eigenen Kindern anders umzugehen. Von Anfang an habe ich die Erwachsenen nach ihren Taten beurteilt. Dank meiner Erfahrungen flößen mir Titel keinen Respekt ein, einen Menschen achte ich allein für seinen Charakter und seine Verhaltensweise.

Während meiner achtjährigen Schulzeit war ich stets die Kleinste in der Klasse und die Schwächste und dementsprechend oft krank. Mutti sagte immer: «Wenn ein Wind um die Ecke fegt, ist Gretel krank.» Meine Geschwister nutzten das aus. Hatten sie etwas angestellt, und das kam häufig vor, schoben sie alles auf mich, um der Strafe zu entgehen. Manchmal gelang das sogar. In der Schule war es anders. Der Lehrer hatte seine Lieblinge, die Mädchen taten alles, was er forderte, und schmierten sich an, wie man das nannte. Das fand ich charakterlos. Außerdem gehörten sie der sogenannten Aku-Clique an. Sie drückten sich mit den Bengels auf dem Arkonaplatz in den Büschen herum. Mich haben sie übergangen und ausgelacht, und so blieb ich eine Außenseiterin. Ich dachte bloß: «Wartet nur ab. Wer zuletzt lacht, lacht am besten!» Die Lieblinge der Lehrer wurden mit dem Vornamen aufgerufen, ich hingegen immer mit dem Nachnamen. Das war schon deprimierend. Meldete ich mich freiwillig, so übersah mich der Lehrer absichtlich. Er schien nur darauf zu warten, dass ich mich nicht meldete, damit er mich drannehmen und mir wieder einmal eine Vier geben konnte. So weckte er in mir den Wunsch nach Rache, und ich spielte ihm ständig Streiche. In der Pause beschmierte ich den Sitz des Rohrstuhls mit Knete. Der Anzug des Lehrers sah böse aus, als er sich von diesem Stuhl erhob. Oder ich nähte die Ärmel und die vordere Seite seines Mantels fest zu, formte aus einem Handtuch einen Kopf, der oben in den Kragen geschoben wurde und hängte das Ganze am Kartenständer auf: der Lehrer war «hingerichtet». Erstaunlicherweise hielten die Mitschülerinnen zu mir und petzten nicht. Dadurch entging ich meistens der Strafe des Lehrers.

Bei Schulabschluss, mit vierzehn Jahren, hatte ich die Körpergröße einer Neunjährigen. Ich sehnte das Ende der Schulzeit herbei, doch es stand mir eine letzte Begegnung mit dem Schularzt bevor. Wieder ahnte ich Schlimmes. Als der Arzt den Lehrer, der neben ihm stand, nach meinen Leistungen in der Schule fragte, tippte der mit einem Finger auf meine Brust und dann auf meine Stirn und sagte: «Hier nichts und da nichts!» Ich schäumte vor Wut und Scham und dachte: «Nur raus aus dieser Schule. Euch werde ich es noch zeigen!» Ich wusste, mein Entlassungszeugnis war schon geschrieben. Nur Vieren und Fünfen.

Für die Abschlussfeier mussten Schülerinnen der Abgangsklasse Gedichte von Goethe einstudieren. So viel ich mich auch meldete, mein Lehrer nahm wieder nur seine Lieblinge. Doch an einer Stelle – «Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen» –, versagten sie alle. So wurde die Generalprobe zur großen Pleite. Als hätte ich es geahnt, übte ich in dieser Zeit den «Zauberlehrling» ein. In seiner Not griff der Lehrer auf mich zurück. Meine große Stunde war gekommen. Während der Probe stand nun ich auf der Bühne in der Aula, die vielen Gesichter vor mir: «Jetzt zeig, was du kannst!» Ich trug das Gedicht vor, nein, ich spielte es, fiel auf die Knie, weinte, flehte und rief: «Helft mir, ach ihr hohen Geister.» Ich sah die aufgerissenen Augen im Publikum, wenn ich rechts und links die Hände gen Himmel hob und schrie, weil die Besen mit den Wassereimern kamen und nicht stehen bleiben wollten. Die Kinder waren begeistert. Der Rektor rief mich zu sich und wollte nicht glauben, dass ich die Schülerin sein sollte, deren schlimmes Zeugnis er tags zuvor unterschrieben hatte. Der Lehrer war bloßgestellt, doch mein Zeugnis blieb so, wie es war.

Die Schultage vor der Entlassung wurde ich von allen Kindern nur «der Zauberlehrling» gerufen. Bei der Feier schließlich setzte ich allem noch die Krone auf. Vor dem Abschlussfest in der Aula wurden die Zeugnisse ausgeteilt. Mein Lehrer warf mir mit spitzen Fingern das Zeugnis auf die Schulbank und sagte: «Bei dir reicht es noch nicht mal zum Abwaschmädchen!» Doch es prallte von mir ab, denn ich hatte gar nichts anderes erwartet. In der Aula achtete ich dann darauf, dass ich auf der Bühne im Chor in der ersten Reihe stand und meine schöne Altstimme besonders gut zu hören war. Wir sangen: «Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt …» Ich aber schmetterte der Lehrerschaft, die ganz vorne saß, ins Gesicht: «Freiheit, die IST MEINE.»

Ohne den Lehrer noch eines Blickes zu würdigen, verließ ich am allerletzten Tag die Klasse und warf die Tür mit einem Fußtritt zu. Vor der Tür zerriss ich das Zeugnis und zerstreute die Schnipsel im Schulflur. Zum Glück musste man damals bei der Arbeitssuche kein Zeugnis vorlegen. Als später meine Töchter in die Schule kamen, habe ich mich sofort zur Mitarbeit im Elternbeirat bereit erklärt, damit meinen Kindern solche Erfahrungen erspart bleiben. Was mir in vielen Fällen gelungen ist. Auch für Pädagogen gilt: «Viele sind berufen, aber nur wenige sind auserwählt.»

Mit vierzehn Jahren verließ ich also die Schule. Da ich immer noch kränklich war, behielt mich meine Mutter zu Hause. Sie meinte, ich wäre zu schwach, um eine Arbeit zu finden, die ich hätte bewältigen können. So besuchte ich zunächst eine Haushaltsschule, in der ich über Haushaltsführung und Kinderpflege alles lernte, was es zu lernen gab. Damals hatte die Frau noch keine Perspektive im Berufsleben. Die Politik Hitlers war von Anfang an darauf gerichtet, dass die Frau nur bis zur Geburt des ersten Kindes berufstätig sein konnte und sich dann ausschließlich um die Familie sorgen sollte. Das änderte sich erst, als man im Krieg die Frauen als Arbeitskräfte brauchte.

Mir hat es Spaß gemacht, das alles zu lernen. Und es sollte von großem Nutzen sein, als meine Schwester Liesel nach einem schweren Unfall ein halbes Jahr in einem Fuldaer Krankenhaus bleiben musste. Mutti fuhr zu ihr, sodass ich den Haushalt für meinen Papa und meinen Bruder allein führte. Mir gefiel es sehr, die Arbeit nach meinen Vorstellungen zu gestalten, ohne dauernd von meiner Mutter bevormundet zu werden. Doch als Mutti dann für ein paar Tage nach Berlin kam und sagte: «Wenn Liesel etwas passiert wäre, hätte ich mir das Leben genommen. Liesel ist mein Lieblingskind», war das bitter für mich. Hatte ich von Mutti doch Lob erwartet, für den gut geführten Haushalt. Zum Glück hatte ich Papa. Nur war er leider durch seinen Beruf so selten präsent.

Da ich in diesen Monaten, die meine Mutter in Fulda verbrachte, frei über meine Zeit verfügen konnte, gingen mein Bruder Fritz und ich wöchentlich zur Chorprobe. Und zu meiner größten Freude war anschließend für die jungen Chormitglieder immer Tanz angesagt. Als ich bei einem Chorfest zum ersten Mal meinen späteren Mann erblickte, traf es mich wie ein Blitz. Doch davon erzähle ich später. Denn ich nutzte diese Zeit noch auf andere Weise: Ich wurde zum Autodidakt. In der Schule war ich einst verlacht worden, weil ich weder Stricken noch Nähen lernen konnte. Ich war einfach blockiert. Kaum ein Jahr später strickte ich schon ganze Pullover. In Handarbeitsgeschäften wurde man beraten, wenn man dort auch die Wolle kaufte. Meine Mutter konnte sich und der Familie nur Billigkleider kaufen. Für mich Grund genug, mir nun auch das Nähen selbst beizubringen. Es ist schon eigenartig: alles, was ich selbst wollte, gelang mir. Doch alles, was ich tun musste, misslang meistens. Diese Eigenheit sollte ich mein Leben lang behalten. Wenn kein Muss hinter mir stand, erfüllte ich alle Aufgaben. Wenn Zwang oder Stress die Arbeit bestimmten, versagte ich oder wurde krank.

Mit sechzehn Jahren reifte in mir der Wunsch, nun auch erwachsen zu werden und der mütterlichen Umklammerung zu entkommen. Ich war ja das Hausmütterchen und durfte nur einmal in der Woche ins Schwimmbad gehen. Meine Geschwister dagegen waren schon alle berufstätig. Ich brachte mir allein Stenographie bei, und ohne eine Schreibmaschine zu besitzen, nur nach einem Bild von der Tastatur, lernte ich die Zehnfingerblindschreibtechnik. Meine Schwester Liesel war mir dabei behilflich, in dem Betrieb, in dem sie damals arbeitete, eine Anstellung in der Buchhaltung zu bekommen. Ich stahl mit Augen und Ohren und beherrschte bald die Kontokorrent-Durchschreibebuchführung.

Bei dem Vorstellungsgespräch war ich so keck zu sagen, dass ich eine Handelsschule besucht hätte. Wie schon erwähnt, war es zum Glück noch nicht üblich, Zeugnisse vorzulegen. Die Fächer, die in den Handelsschulen gelehrt wurden, hatte ich mir notdürftig alleine beigebracht. Bei einer Prüfung wäre ich bestimmt durchgefallen. Mir hat das praktische Lernen mehr gebracht. Fehlende Berufspraxis holte ich deshalb schnell auf. 1936 arbeitete ich zunächst in dem Verlag «Deutsche Zeitung» in der Hedemannstraße am Anhalter Bahnhof. Der Verlag gehörte den Deutschnationalen. Noch im gleichen Jahr wurde er aufgelöst. Inzwischen saß Hitler schon fest im Sattel, und der Verlag wurde in den nationalsozialistischen «Reichsnährstandverlag» umgewandelt. Unser Chef war der Reichsbauernführer Darré. Alle Angestellten zogen in die Linienstraße 139/140 um. Ein bedrückendes Umfeld, denn die Linienstraße war eine ausgesprochene Prostituiertengegend. Fast jede Woche wurde eine Prostituierte umgebracht, wie wir durch die Polizeistreifenwagen und die Mordkommission erfuhren, die ständig gerufen wurden. Angehörigen der Armee war deshalb schon seit den zwanziger Jahren das Betreten des damaligen «Scheunenviertels» verboten.