So regiert die Kanzlerin - Margaret Heckel - E-Book

So regiert die Kanzlerin E-Book

Margaret Heckel

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Beschreibung

Von außen kennt jeder das Kanzleramt; aber was geschieht hinter den Fassaden? Wie regiert die mächtigste Frau der Welt? Margaret Heckel nimmt uns mit in das Zentrum der politischen Macht unserer Landes. Auf ihren Reisen mit der Bundeskanzlerin hat sie erlebt, wie Deutschland regiert wird – und die Frau kennen gelernt, die sich hinter der Spitzenpolitikerin verbirgt. Entstanden ist ein vielschichtiges, umfassendes Porträt des Menschen und der Regierungschefin Angela Merkel.

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe

1. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-95638-3

© 2009 Piper Verlag GmbH, München Umschlag: semper smile, München, nach einem Entwurf von Büro Jorge Schmidt, München Umschlagabbildung: Peter Grimm / picture alliance / dpa

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Anmerkung zur Taschenbuchausgabe

Für die Taschenbuchausgabe habe ich im Sommer 2010 zwei neue Kapitel über die Zeit seit der Bundestagswahl 2009 geschrieben, Kapitel 15 »Albtraum Traumkoalition« und Kapitel 16 »Vorteil Rot-Grün«. Kapitel 17 »Merkel und die Deutschen – eine Zwischenbilanz« habe ich leicht überarbeitet. Das Interview mit Angela Merkel findet sich unverändert in Kapitel 18.

Berlin, im Sommer 2010

Kapitel 1

Die größte Staatsintervention der Geschichte –

der Tag, an dem die Banken gerettet werden

Es ist kurz vor drei Uhr, als der Hubschrauber mit Angela Merkel im Kanzlergarten landet. Die Kanzlerin war in Dresden auf einer Regionalkonferenz der CDU in den neuen Bundesländern. Wunderschön war der Rückflug an diesem sonnigen, milden Herbsttag. Einer jener Tage, wo man eigentlich am liebsten den ganzen Flug lang die Landschaft beobachten würde. Deutschland in seiner ganzen Vielfalt. Die renovierten Barockbauten Dresdens. Die immer noch riesigen Braunkohlentagebaue der Lausitz. Die träge und doch so mächtig dahinfließende Elbe. Was für ein schönes Land.

An diesem Freitag, dem 10. Oktober 2008, hat Angela Merkel keinen Sinn für die Schönheiten Deutschlands. Sie hat ihren Aufenthalt in Dresden um eine Stunde gekürzt, denn sie muss dringend zurück ins Kanzleramt. Schon am Vortag hatte die Kanzlerin ihre engsten Mitarbeiter gebeten, einen Ablaufplan für die größte Staatsintervention zu erstellen, die Deutschland je gesehen hat.

Mit dem Beinahe-Kollaps der Hypo Real Estate vor zwei Wochen war klar geworden, dass die Finanzkrise Deutschland voll erfasst hat. Allein seit Montag ist der US-Leitindex Dow Jones um 20 Prozent abgestürzt, der japanische Nikkei-Index verlor sogar ein Viertel seines Wertes. In einer einzigen Woche. Keine Bank leiht der anderen mehr Geld, ein Institut nach dem anderen geht praktisch über Nacht pleite.

Das globale Finanzsystem steht vor dem Zusammenbruch. Die Folge wären weltweite Schlangen vor den Banken. Entsetzte Sparer, die vor verschlossenen Türen immer aggressiver versuchen, an ihr Geld zu kommen. Eine Massenpanik, die in wenigen Stunden die ganze Welt zu erfassen droht – von New York über Sydney, Hongkong, Tokio nach Frankfurt und London.

Angela Merkel weiß, dass nun der Zeitpunkt für wirklich außergewöhnliche Maßnahmen gekommen war. Zwar hatte sie schon am Wochenende zuvor gemeinsam mit Finanzminister Peer Steinbrück mit einer Garantie für alle Spareinlagen in Deutschland Neuland betreten. Doch was sie nun mit ihren Mitarbeitern besprechen will, wird der 54-jährigen Physikerin aus der Uckermark entweder einen der prominenteren Plätze in deutschen Geschichtsbüchern sichern – oder alles zunichte machen, was sie bislang in ihrer knapp dreijährigen Kanzlerschaft erreicht hat.

Inzwischen sind die Rotoren des Hubschraubers abgestellt, die Piloten haben die Tür geöffnet und die Ausstiegstreppe umgeklappt. Merkel nimmt ihre schwarze Ledertasche und verabschiedet sich kurz von den Besatzungsmitgliedern. Die Kanzlerin geht die drei Dutzend Stufen vom Hubschrauberlandeplatz hinunter zum Fahrweg, wo ihre Limousine wartet, und lässt sich über die Spreebrücke die 500 Meter bis zum Haupteingang des Kanzleramts bringen.

Merkel sitzt hinten rechts. Auf dem »Chefplatz«, wie die Fahrer im Kanzleramt sagen. Er ermöglicht dem Gast, halbwegs bequem im Auto zu arbeiten oder zu telefonieren, wenn der Beifahrersitz etwas nach vorn geschoben wird und so noch mehr Platz entsteht. Wie immer sind die kreisrunden gläsernen Eingangsschleusen des Kanzleramts bereits offen, als sie die Autotür von innen öffnet. Gut 60 Schritte braucht die Kanzlerin, um durch das Gebäude zu den Liften zu kommen, die sie in die siebte Etage bringen. Nur ganz selten lässt sie sich in die Tiefgarage fahren, um von dort aus den Aufzug zu nehmen. Auf dem Weg nickt Merkel dem Pförtner im Eingangsbereich zu, dann eilt sie zum Lift. Auch der wartet bereits auf sie, einer der Sicherheitsbeamten hat ihn angefordert. Ohne Stopp geht es hoch in die Kanzlerebene des Amtes. Fünf weitere Schritte noch, dann hat Merkel ihr Vorzimmer erreicht. Mit einem Gruß an die beiden Mitarbeiterinnen durchmisst sie den Raum und geht in ihr Büro.

Für 15 Uhr 30 hat die Kanzlerin die entscheidende Besprechung über das angesetzt, was später als der 480-Milliarden-Euro-Bankenschirm in die Geschichte der Republik eingehen soll. Sie stellt ihre Tasche auf einem Stuhl an dem langen Tisch ab, an dem sie normalerweise arbeitet. Nur selten nutzt Angela Merkel ihren Schreibtisch, eigentlich nur zum Telefonieren. Zu unpraktisch, zu weit weg ist das riesige halbkreisförmige Teil, das ihr Vorgänger Gerhard Schröder hinterlassen hat. Doch hier sind die Anschlüsse für die Telefonate mit ihren Kollegen in aller Welt installiert, auch das kleine schwarze abhörsichere Krypto-Telefon.

Mehrfach in dieser Woche hat sie mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und anderen Regierungschefs telefoniert. Bevor die entscheidende Sitzung in wenigen Minuten beginnt, verlässt Merkel ihr Büro noch einmal. Sie geht zu ihrer Büroleiterin Beate Baumann. Die Kanzlerin will wissen, was in ihrer Abwesenheit alles angefallen ist. Ein paar Minuten reden die beiden, dann geht die Kanzlerin in ihr Büro zurück.

Sie lässt sich mit Finanzminister Peer Steinbrück verbinden, der beim Treffen der sieben wichtigsten Finanzminister der Welt in Washington ist, dem sogenannten G7-Treffen. Für ihn ist es noch früher Morgen, der Arbeitstag hat soeben begonnen.

Rund um den Globus sind die Kurse an diesem Freitag im freien Fall. An der Tokioter Börse bricht der Nikkei-Index um 9,6 Prozent ein, in der indonesischen Hauptstadt Jakarta wird der Handel aus Angst vor Panikverkäufen erst gar nicht eröffnet. Als die Börse in Japan um acht Uhr deutscher Zeit schließt, verbucht sie den drittgrößten Verlust aller Zeiten.

In Frankfurt bereiten sich die Händler derweil auf einen erneuten »schwarzen Freitag« vor. Die Vorgaben aus Asien sind unfassbar, obwohl die Börse seit Wochen nur noch abwärts rauscht. Doch einen Ausverkauf von einer derartigen Wucht und Panik gab es selbst nach den Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001 nicht. Kurz vor Börsenstart um neun Uhr lässt ein Scherzvogel »The Final Countdown« über das Frankfurter Parkett dröhnen. Der Hit der Rockgruppe Europe aus den Achtzigern bereitet auf das Desaster vor, das sich sofort nach dem Start des Börsenhandels vollzieht. Kaum sind die Computer hochgefahren, stürzt der Dax ab. In Sekundenschnelle verliert er über zehn Prozent seines Wertes und fällt auf 4364 Punkte. Das ist der tiefste Stand seit Mai 2005. Auf dem Parkett herrscht die blanke Panik. In London, Paris, Zürich das gleiche Bild – in nur wenige Minuten lösen sich Hunderte von Milliarden Euro Börsenwerte in nichts auf.

Es ist exakt um 10 Uhr 07, als den Verantwortlichen der Börse in Wien die Nerven reißen. Sie setzen den Handel aus. Auch Moskau hat seine Börsen erneut geschlossen, zum vierten Mal schon in dieser Woche. Die Händler in Frankfurt kämpfen ebenfalls für eine Pause, jedoch vergeblich. Die Leitung der Börse will – und muss – standhalten. Zu verheerend der Eindruck, wenn nun auch die Leitbörse Kontinentaleuropas in die Knie gehen würde. Und tatsächlich: Kurz nach zehn Uhr erholt sich der Dax und steigt um 200 Punkte.

Eine trügerische Erholung, die keine der fünf Personen beachtet, die sich um 13 Uhr im Büro von Kanzleramtsminister Thomas de Maizière versammeln, um die nachmittägliche Krisensitzung vorzubereiten. Wie Merkel hat de Maizière einen phantastischen Blick auf den Reichstag und die Parlamentsgebäude. Sein Büro aber liegt an der entgegengesetzten Ecke des Gebäudes. Während die Kanzlerin durch die großen Panoramascheiben des Kanzleramts das weite Grün des Tiergartens sieht, blickt der 54-jährige Jurist auf den neu erbauten Glaspalast des Berliner Hauptbahnhofs. Die beiden haben die schönsten Eckbüros im Kanzleramt, jedoch ist das von de Maizière ein Drittel kleiner.

Angela Merkel empfängt ihre Gäste fast immer an dem langen schwarzen Arbeitstisch im Eingangsbereich ihres Büros. Thomas de Maizière dirigiert seine Besucher gern in seine Sitzecke mit direktem Blick auf das Paul-Löbe-Haus, eines der drei Parlamentsgebäude. Zwei sachliche schwarze Leder-Zweisitzer im Bauhaus-Stil stehen sich gegenüber, auf den anderen beiden Seiten je ein Sessel. Der freundliche, immer preußisch korrekte frühere sächsische Innen-, Finanz- und Justizminister sitzt in der Regel mit Blick sowohl auf den Hauptbahnhof als auch die Parlamentsgebäude.

Heute jedoch liegt viel Arbeit an, und so trifft sich die Runde um de Maizière an seinem Besprechungstisch. Neben Merkels Büroleiterin Beate Baumann und ihrem Wirtschaftsberater Jens Weidmann zieht der Kanzleramtsminister noch seinen Büroleiter Stéphane Beemelmans und den Personalchef des Kanzleramts, Michael Wettengel, hinzu. Ulrich Wilhelm, der Sprecher der Bundesregierung, fehlt, weil er zu diesem Zeitpunkt wie üblich in der Bundespressekonferenz den Journalisten Rede und Antwort steht.

Die vier Herren und eine Dame, die nun um den Tisch versammelt sind, wissen, welcher Herausforderung sie gegenüberstehen. Sie kennen sich seit Langem. Unzählige Sitzungen haben sie in dieser oder ähnlicher Formation bereits durchgemacht. Fast nie wird es laut in einer derartigen Runde. Schreierei und Gebrüll gibt es auf der siebten, der Leitungsetage des Kanzleramts nicht. Merkels engste Mitarbeiter sind allesamt so strukturiert wie sie. Kopfgesteuert, sachorientiert, nüchtern, pragmatisch – und außerordentlich verschwiegen und loyal.

Bereits am Vortag hatten sie sich in dieser Zusammensetzung gemeinsam mit Wilhelm getroffen. Sie wollten ausloten, wie schnell ein Gesetzgebungsverfahren laufen könnte, um einen Bankenrettungsschirm zu spannen. Nun wollen sie die Planungen konkretisieren, um sie am Nachmittag der Kanzlerin vortragen zu können.

Weil fast jeder der fünf den Nachrichtenticker des Bundespresseamts bekommt, wissen sie um diese Zeit, dass Steinbrück-Sprecher Torsten Albig 40 Minuten früher den Dax erneut auf Talfahrt geschickt hatte. »Die Regierung plant keine Verstaatlichung angeschlagener Banken«, sagte Albig. Prompt brachen die Kurse vor allem der Banken erneut ein. Denn in der deutschen Finanzmetropole scheinen die früher so stolzen Bankmanager nun gerade darauf als letzten Ausweg vor der Katastrophe zu hoffen – vom Staat gerettet und übernommen zu werden.

Für die Runde um de Maizière spielt die Meldung keine Rolle. Sie arbeitet konzentriert. Ohne zu wissen, was genau im Gesetz stehen wird, loten sie aus, wie schnell und unter welchen Voraussetzungen es durchs Parlament und ins Gesetzblatt gebracht werden könnte.

Wann kann eine Sondersitzung des Kabinetts einberufen werden? Wann wäre Zeit für die Oppositionsführer? Ist der Bundespräsident in Berlin, um das fertige Gesetz dann unterschreiben zu können?

Spalte um Spalte füllen sie ihren Plan. Wann Merkel und Steinbrück ihre jeweiligen Parteien informieren würden, wann mit den Ministerpräsidenten gesprochen werden könnte. Die Termine der Parlamentssitzungen und wann die Fraktionen unterrichtet würden. Eingeplant wird, wann der Bundespräsident das Gesetz zur Unterschrift bekommen sollte, und auch, ob die Bundesdruckerei am Freitagabend eine Sonderschicht machen kann.

Sie kann, und so müsste es eigentlich gelingen: Nur fünf Tage würde es dauern, bis das Gesetz Gültigkeit erlangen würde. Eine absolute Ausnahmeleistung, die bislang nur dreimal in der Geschichte der Bundesrepublik geschafft wurde – 1973, als mit dem »Energiesicherungsgesetz« während der ersten Ölkrise die Grundlagen für die Sonntagsfahrverbote geschaffen wurden, für das Kontaktsperregesetz zu Zeiten des RAF-Terrors im Jahr 1977 und während der BSE-Krise im Jahr 2000.

Als sie um halb vier zu Merkel ins Kanzlerbüro kommen, ist der Ablaufplan für den Bankenschirm fertig. Wie er allerdings inhaltlich aussieht, das muss nun entschieden werden. Es ist der engste Kreis um die Kanzlerin. Merkel sitzt wie meistens bei Besprechungen auf dem äußersten rechten Platz. Auf dem breiten Fensterbrett neben ihr steht ein Geschenk des saudischen Königs, eine vergoldete Skulptur von sieben Kamelen in einer Oase. Im Frühjahr 2007 hatte sie den König besucht, es war eine ganz besondere Reise. Wie würde der absolutistisch herrschende Muslim auf die protestantische Frau aus Deutschland reagieren? Beide fanden sofort einen Draht zueinander, obwohl sie so unterschiedlich sind. Es wurde ein erfolgreicher Besuch.

Neben Merkel nimmt ihr Amtschef Thomas de Maizière Platz, gegenüber setzt sich Wirtschaftsberater Weidmann. Auch Regierungssprecher Wilhelm und Büroleiterin Baumann sind anwesend. Finanzminister Peer Steinbrück fehlt, weil er in Washington ist. Mit ihm hat die Kanzlerin deshalb kurz vor der Sitzung ausführlich telefoniert.

Angela Merkel hatte bereits am Donnerstagabend mit dem französischen Präsidenten ein Sondertreffen der Regierungschefs der Eurozone für Sonntag verabredet. An diesem Wochenende muss eine große, international koordinierte Aktion stattfinden. Alle nationalen Alleingänge sind bislang wirkungslos verpufft. Weder haben die Amerikaner ihren 700-Milliarden-Dollar-Fonds richtig aktiviert noch hat das britische Rettungspaket die Märkte beeindruckt. Einzelfallaktionen für die in Not geratenen Banken reichen nicht mehr. Es gibt nur noch eine Möglichkeit, einen Zusammenbruch des globalen Finanzsystems zu verhindern. Und das ist ein zwischen den Europäern und den USA abgesprochenes Handeln. Und zwar in einer addierten Größensumme, die den Akteuren an den Märkten den Mund offen stehen lassen würde. Der richtige Zeitpunkt für nationale Alleingänge ist längst überschritten. »Es war, wie wenn dauernd ein anderer Sheriff – um Ruhe zu schaffen – im Saloon in die Luft schießt und trotzdem nichts passiert«, schildert Ulrich Wilhelm die Lage während dieser Woche, »um letztendlich Ordnung zu schaffen, müssen mehrere gemeinsam ran.« Mit dem gerade laufenden G7- und IWF-Treffen in Washington und dem von Nicolas Sarkozy vorgeschlagenen Eurozonen-Gipfel am bevorstehenden Wochenende in Paris könnte aber wahrscheinlich die notwendige Wucht erreicht werden, wenn alle Beteiligten koordiniert handeln würden.

Da passte es gut, dass der Deutsche Bundestag in der kommenden Woche ohnehin zu Sitzungen in Berlin zusammenkommen würde. Dennoch eröffnet Merkel die Sitzung in ihrem Büro mit der Grundsatzfrage, ob nun der Zeitpunkt gekommen sei, von Einzelfalllösungen auf einen Rettungsschirm für alle Banken umzusteigen.

Die Kanzlerin will noch einmal die Positionen ihrer Ratgeber hören. Zwar weiß sie, was die ihr gleich raten werden, und im Grunde ist sie selbst schon entschieden. Doch es geht auch darum, einen Konsens und Sicherheit für die nächsten Schritte herzustellen. Sie hält das für notwendig bei einer Entscheidung von dieser Dimension.

Die Antworten sind eindeutig. Der Zeitpunkt zum Handeln ist gekommen.

Also bittet Merkel ihren Amtschef, den möglichen zeitlichen Ablaufplan für den Bankenrettungsschirm vorzutragen. Thomas de Maizière stellt vor, was die Runde in seinem Büro vor wenigen Stunden ausgearbeitet hat. Das Timing ist günstig. Alle Verfassungsorgane sind verfügbar. Das Parlament hat ohnehin Sitzungswoche, der Bundesrat sein normales Treffen, und der Bundespräsident ist ebenfalls in Berlin. Merkel hört konzentriert zu, nur ein Punkt im Ablaufplan gefällt ihr nicht. Um eine Kabinettsentscheidung noch vor Öffnung der Börse in Frankfurt am Montag herbeiführen zu können, schlägt die Runde vor, dass die Minister bereits um acht Uhr morgens tagen. Das gefällt der Kanzlerin nicht, sie will ausreichend Zeit für die Abstimmung der Staatssekretäre und sich nicht zur Sklavin der Börse machen. Der Termin wird auf 13 Uhr verlegt.

An den Börsen vollendet sich in diesen Minuten ein Kurseinbruch, der Hunderte von Milliarden Euro an Wert vernichtete. Um 15 Uhr 30 deutscher Zeit öffnet die noch immer wichtigste Börse der Welt in New York. In Bruchteilen von Sekunden fällt die Wall Street um mehrere Hundert Punkte, nach Minuten bricht auch Frankfurt erneut ein. 12 Prozent Minus verzeichnet der Dax, auch die Indizes in Paris und London rauschen in die Tiefe.

Peer Steinbrück meldet sich aus dem fernen Washington. Er will die Märkte stabilisieren. Um 15 Uhr 37 deutscher Zeit tickern die Nachrichtenagenturen, er werde mit seinen G7-Ministerkollegen und den Notenbankchefs über umfassende Stützungsmaßnahmen beraten. Minuten später verschickt die renommierte US-Finanzzeitung Wall Street Journal eine Vorabmeldung, dass die US-Regierung eine Garantie für alle Bankeinlagen privater Sparer nach deutschem Vorbild erwäge. Und um 16 Uhr 10 deutscher Zeit tritt dann US-Präsident George W. Bush vor dem Weißen Haus in Washington vor die Kameras. »Wir können und wir werden diese Krise lösen«, sagt er mit grimmigem Gesicht. Aufatmen an der New Yorker Börse, der Dow holt 700 Punkte auf und zieht leicht ins Plus.

Im Kanzlerbüro bekommt die Runde um Angela Merkel die Nachricht, dass Bush entgegen den ursprünglichen Plänen die Finanzminister und Notenbankchefs am kommenden Tag zum Frühstück empfangen wird. »Wir werten das als Signal, dass das IWF- und Weltbanktreffen ein erfolgreiches Ergebnis haben wird«, sagt einer der Teilnehmer.

Damit war ein weiterer Baustein des Rettungsplans für das Wochenende aufgestellt.

Merkel war wichtig, dass jeder Anflug von Panik vermieden wurde. Trotz der Einmaligkeit des Rettungspakets wollte sie so wenige Termine wie irgend möglich ändern. Die normalen Abläufe, auch die des G7-Treffens in Washington, sollten beibehalten werden. Praktisch war zudem, dass die Kanzlerin am darauffolgenden Samstag ohnehin den französischen Präsidenten zu einem schon lange anberaumten Termin in Frankreich treffen würde.

Beide wollten ein neues Museum einweihen, das sich mit Charles de Gaulle, dem Gründer der Fünften Republik in Frankreich beschäftigte. Hier würden die beiden persönlich die letzten Absprachen für den von Sarkozy vorgeschlagenen Eurozonen-Gipfel an diesem Sonntag treffen können.

Das Ziel des Treffens in Paris sollte sein, ein koordiniertes Signal des gemeinsamen Handelns zu geben. Was die einzelnen Länder aber konkret tun würden, wäre auf die jeweiligen Gegebenheiten abgestimmt. Nach Vorarbeiten des Finanzministeriums wird Merkel dafür den Begriff des »Instrumentenkastens« prägen. Jeder könnte sich so also aus einer Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten diejenigen aussuchen, die für sein Land und seine besonderen Gegebenheiten am passendsten erschienen.

Die Runde um Merkel folgt der Auffassung der Fachleute, dass staatliche Garantien für Banken im deutschen Kasten die wichtigste Rolle spielen werden. Die Kanzlerin stimmt auch einer Änderung der Bilanzierungsregeln zu. Sie wird ermöglichen, dass stark im Wert gefallene oder wertlos gewordene Anleihen und Aktien nicht mehr zum aktuellen Marktwert in den Bilanzen bewertet werden müssen. Denn Letzteres führte dazu, dass die Banken mit jedem Tag weiterer Wertverluste an den Börsen gewaltige Summen abschreiben und ihr Eigenkapital dementsprechend erhöhen mussten.

Mit am schwierigsten ist die Debatte über die Frage, ob den Banken mit dem Paket ein Angebot gemacht werden soll oder ob sie unter den staatlichen Rettungsschirm gezwungen werden sollen. Letzteres würde bedeuten, die Finanzinstitute ganz oder teilweise zu verstaatlichen. Das war der Weg, der ausgerechnet in den Mutterländern des Kapitalismus eingeschlagen wurde, in Großbritannien und den USA. Und es ist eine Variante, der zumindest Teile des deutschen Banken-Establishments durchaus wohlwollend gegenüberstehen.

Doch Merkel ist skeptisch. Nach 35 Jahren in Ostdeutschland weiß sie zur Genüge, wohin das in letzter Konsequenz führen könnte. Auch ist das deutsche Banksystem ganz anders konstruiert. Neben den Privatbanken gibt es den öffentlich-rechtlichen Sektor der Sparkassen und Volksbanken sowie die Landesbanken. »Warum sollen wir die Sparkassen unter den Schirm zwingen?«, gibt einer der Berater zu bedenken. Zudem sei es rein rechtlich gar nicht möglich, sich bei den Sparkassen als Anteilseigner einzukaufen. Ein anderer weist auf die Landesbanken hin: »Sollen wir die Länder hier wirklich aus ihrer Verantwortung als Eigentümer entlassen?«

So entscheidet sich die Runde dafür, dass das Gesetzespaket zwar die Möglichkeit für den Staatseinstieg bei einer Bank bieten soll. »Aber wir sehen das als Ausnahme, die wir am liebsten vermeiden würden«, sagt Thomas de Maizière.

Wie viele Milliarden Euro der Schirm umfassen soll, will die Runde erst am Sonntagabend festlegen, wenn Merkel und ihr Team wieder vom Eurozonen-Gipfel in Paris zurück sind. Die Anwesenden wissen natürlich um den Paukenschlag, den die Summe auslösen wird. Allen ist klar, dass sie im hohen dreistelligen Milliardenbereich sein muss, um ihre Wirkung zu entfalten. »Wir haben nur diesen einen Schuss frei«, fasst die Kanzlerin die Diskussion zusammen.

Bleibt also die Frage der Kommunikationsstrategie. Wie, vor allem aber wann soll die Öffentlichkeit von dem Bankenschirm erfahren? Merkels Büroleiterin Baumann zieht den Terminkalender der Kanzlerin für den Montag heraus. Nach dem, was die Runde gerade beschlossen hat, ist die Sondersitzung des Kabinetts um 13 Uhr geplant. Die Fraktionschefs können also sofort danach offiziell unterrichtet werden. Um 15 Uhr hat Merkel einen Termin außerhalb des Kanzleramts, aber in Berlin. Warum den nicht eine halbe Stunde nach hinten verlegen, um eine kurze Pressekonferenz abzuhalten?

Mehrere Köpfe in der Runde nicken sofort. 15 Uhr, das wäre noch günstig, um es ausführlich in alle Tageszeitungen des kommenden Tages und die Abendsendungen des aktuellen Tages zu schaffen. Und Finanzminister Peer Steinbrück könnte gleich danach eine eigene Pressekonferenz mit den Details des Pakets anberaumen.

Als Thomas de Maizière, Ulrich Wilhelm, Jens Weidmann und Beate Baumann gegen 17 Uhr 30 das Büro der Bundeskanzlerin verlassen, steht das Bankenrettungspaket weitgehend. Jeder der vier hat zahlreiche Folgeaufträge in seinen Unterlagen notiert, die bis Sonntagabend erledigt werden müssen.

Als Regierungssprecher Wilhelm sich auf den Rückweg in sein Büro macht, sieht er, dass die ersten Journalisten schon Wind von dem Rettungspaket bekommen haben.

So mailt die Tageszeitung Die Welt um 16 Uhr 51 folgende Vorabmeldung an die Nachrichtenagenturen und stellt sie auf welt.de online: »Die Bundesregierung arbeitet an einem Rettungsplan für das deutsche Finanzwesen nach englischem Vorbild. Demnach erwägt die Regierung, nicht nur Interbankenkredite in dreistelliger Milliardenhöhe zu garantieren und direkt Kredite zu vergeben, sondern auch Eigenkapital in zweistelliger Milliardenhöhe zur Verfügung zu stellen. Im Gegenzug wird sich der Staat an den Kreditinstituten beteiligen. Über den Plan soll dem Vernehmen nach im Kabinett in den nächsten Tagen entschieden werden. In der CDU gibt es allerdings noch erhebliche Widerstände dagegen, dass der Staat den Banken Kapital bereitstellt und somit zum Teil oder möglicherweise vollständig Eigentümer der bislang privaten Banken wird…«

Wilhelm muss reagieren und so versucht er, das Thema weitmöglichst herunterzukochen. Um 18 Uhr 17 verschickt das Chef-vom-Dienst-Team des Bundespresseamts die offizielle Reaktion des Regierungssprechers: »Es ist die Pflicht der Bundesregierung, vorbereitet zu sein und denkbare Optionen zu prüfen, um Schaden von den Bürgerinnen und Bürgern und der Wirtschaft abzuwenden. Politische Festlegungen gibt es derzeit nicht. Die G7-Finanzminister sprechen in Washington über dieses Thema und verschiedene Optionen.«

Im Kanzlerbüro ist Merkel derweil dabei, ihre Telefonliste abzuarbeiten. Gegen 18 Uhr 30 lässt sie sich mit FDP-Chef Guido Westerwelle verbinden. Nicht nur, weil Westerwelle der wichtigste Oppositionsführer ist, will sie ihn zuerst informieren. Die beiden verbindet seit ihrer gemeinsamen Entscheidung für Bundespräsident Horst Köhler eine enge, wenn auch nicht immer spannungsfreie politische Beziehung. Danach telefoniert sie mit vielen weiteren Koalitions- und Oppositionspolitikern.

Im Kanzleramt wird es derweil sehr ruhig. Die Entscheidung ist getroffen. Die Grundlagen stehen. Die Arbeitsaufträge sind erteilt. Die Spannung löst sich.

Amtschef de Maizière muss zu einer Familienfeier, Wilhelm und Weidmann sind wieder in ihren Büros. Auch die Sekretariate haben sich an diesem Freitagabend bis auf die Notbesetzungen geleert. Als die Kanzlerin Hunger bekommt, hört sie von der Küche, dass man dort eine Linsensuppe für sie auftauen könne. Sie geht zu ihrer Büroleiterin und fragt, ob Baumann einen Teller Suppe mit ihr essen wolle. Die beiden setzen sich noch für einen Moment an den langen Arbeitstisch in Merkels Büro.

Sie spielen ein paar Fragen durch, wie beispielsweise die Fraktion reagieren wird. Doch eigentlich ist es eher Geplauder zur Entspannung. Als ihnen die Linsensuppe serviert wird, schalten die beiden den Fernseher an und schauen Nachrichten.

Wenig später lässt sich Merkel nach Hause fahren. Gegen 21 Uhr ruft sie Fritz Kuhn an, den Fraktionschef der Grünen. Er berichtet am nächsten Tag in den Abendnachrichten von dem Gespräch. Das sorgt im Kanzleramt für Verärgerung, auch wenn Kuhn nicht über Inhalte spricht. Selbst unerfahrenen politischen Beobachtern ist spätestens jetzt klar, dass Dramatisches geplant ist. Ansonsten hätte Merkel die Spitzen der Opposition nicht informiert.

Kapitel 2

Vier Stunden Schlaf, und das seit Tagen –

wie der Bankenschirm aufgespannt wird

Schon einmal wurde in dem kleinen Dorf Colombey-les-Deux-Églises in der Champagne Geschichte geschrieben. Vor 50 Jahren empfing General de Gaulle hier den deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer. Zum ersten und einzigen Mal lud der französische Präsident einen anderen Staatsmann ein, bei ihm privat zu übernachten. Bei dem historischen Treffen am 14. September 1958 bereiteten der Gründungspräsident der Fünften Republik und der Gründungskanzler der Bundesrepublik die deutsch-französische Aussöhnung vor. Heute ist »La Boisserie«, das Wohnhaus de Gaulles, Teil eines Ausstellungskomplexes. Im Museum werden Merkel und Sarkozy an diesem Tag die Sonderausstellung »De Gaulle – Adenauer, eine französisch-deutsche Versöhnung« eröffnen. Sie zeichnet den Weg der beiden Staatsmänner nach von ihrem privaten Treffen in Colombey bis zum deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, dem sogenannten Élysée-Vertrag.

Angela Merkel denkt daran, als ihre Challenger am Samstag, dem 11. Oktober, um 10 Uhr 30 auf dem kleinen Rollfeld in Saint-Dizier landet. Mit dem Hubschrauber wird sie weiter nach Colombey transportiert, wo sie 40 Minuten später ankommt. Um 11 Uhr 15 wird Nicolas Sarkozy sie vor dem Haupttor des Denkmalareals für Charles de Gaulle begrüßen.

Obwohl sie den schnell aufbrausenden, wenn auch persönlich sehr charmanten Sarkozy gern mag, macht der Apparat des Franzosen doch immer wieder Probleme. Wie kaum eine andere Regierung in Europa sind die Sarkozy-Truppen daran interessiert, ihren Präsidenten im besten Licht zu präsentieren – und das auch oft zulasten seiner jeweiligen Gesprächspartner. Nun, da er für ein halbes Jahr die EU-Präsidentschaft übernommen hat, scheint dieser Drang überhandzunehmen.

Im Europäischen Parlament in Straßburg wird offen darüber gelästert, dass die Handwerker vor jedem Auftritt Sarkozys die Sitznummern abschrauben müssen. Denn als EU-Ratspräsident steht ihm zwar der prominenteste Platz auf der Ratsbank zu, der auch am fernsehtauglichsten ist. Dummerweise trägt der jedoch die Sitznummer zwei. Die Nummer eins trägt der Platz direkt dahinter. Und der ist normalerweise für den Außenminister des Landes reserviert, das die Ratspräsidentschaft innehat. Also müssen die Handwerker des Parlaments vor jedem Auftritt Sarkozys ran. Denn der französische Präsident ist natürlich die Nummer eins, immer und überall.

So haben Sarkozys Leute bereits nach dem Treffen im Élysée-Palast am vorigen Sonntag damit begonnen, Merkel als »Madame Non« zu stilisieren. Die Frau, an der eine europäische Reaktion auf die Finanzkrise scheitert. Die Zaudernde, die nur die Interessen ihres eigenen Landes im Blick hat. Die frühere Muster-Europäerin, die nun blockiert, wo immer es geht. Die einstmals mächtigste Frau der Welt, die ihre Macht nun abgeben muss. An wen wohl? Klar, an Nicolas Sarkozy, den neuen Chef im Ring.

Im Kanzleramt in Berlin registrieren Merkels Berater den neuen Tonfall zu diesem Zeitpunkt noch amüsiert.

In diesem Fall war es die satirische, aber als gut informiert geltende Wochenzeitung Le Canard enchâiné. Sie machte europaweite Schlagzeilen mit dem Sarkozy zugeschriebenen Zitat: »Sie (die Bundeskanzlerin) wollte keinen europäischen Rettungsfonds. Sie hat gesagt: Jeder kümmert sich um seinen Scheiß.«

Ein Affront, natürlich.

Nun aber ist in Colombey-les-Deux-Églises dringend Friede, Freude, Eierkuchen angesagt. Sarkozy empfängt die Kanzlerin überschwänglich, ein Küsschen links, ein Küsschen rechts. »Es lebe Deutschland, es lebe Frankreich, es lebe die deutsch-französische Freundschaft«, sagt Sarkozy. »Wenn ich mich heute mit dem Präsidenten treffe, ist dies Teil einer engen, vertrauensvollen Zusammenarbeit, die ihresgleichen sucht«, sagt Merkel. Und platziert dann ihre eigentliche Botschaft: »Es muss ein gemeinsames Vorgehen in Europa geben, aber es muss auch die Möglichkeit geben für die Länder, flexibel nach der jeweiligen nationalen Situation zu reagieren.«

Zu diesem Zeitpunkt hat die Kanzlerin den französischen Präsidenten schon darüber informiert, dass sie zwei Tage später ein gigantisches Rettungspaket für die deutschen Banken präsentieren wird. Auch in Frankreich wird ein ähnlicher Plan vorbereitet.

Merkel ist sich darüber im Klaren, dass ihr Paket funktionieren muss. Die Stimmung an den Finanzmärkten ist, auch durch die massiven Verluste am Freitag, nicht anders als hysterisch zu beschreiben. Egal, wer zu diesem Zeitpunkt mit welchem Banker auch immer spricht: Die Metapher »Millimeter vor dem Abgrund« kommt so sicher wie das Amen in der Kirche.

In dieser Situation hat Merkel kein Interesse an deutsch-französischen Machtspielchen. Sie will Ergebnisse beim für den nächsten Tag angesetzten Eurozonen-Gipfel in Paris. Und das bedeutet koordinierte Rettungsaktionen der Europäer, bei denen aber jedes Land seinen eigenen Weg gehen kann.

»Instrumentenkasten« ist die Chiffre, die sie und ihre Berater in den vergangenen 48 Stunden dafür gefunden haben. Das mächtigste – und auch kontroverseste – Instrument dabei ist die Beteiligung an Banken. Die Öffentlichkeit würde das natürlich Verstaatlichung nennen, völlig zu Recht. Ein Begriff, der nicht nur Merkel schwere Probleme bereitet.

Und so startet die Kanzlerin schon in Colombey-les-Deux-Églises ihre eigenen Versuche im Besetzen von Begrifflichkeiten. »Es geht ja darum, die Banken mit ausreichend Kapital zu versorgen, so dass sie auch selbstbewusst agieren können«, sagt sie. Das seien Kapitalstützungen, keine Verstaatlichungen. Der Staat habe nicht vor, auf Dauer einzugreifen, »sondern es ist eine Hilfe durch den Staat«.

Beim Mittagessen teilt Merkel Sarkozy mit, dass die Deutschen ihr Gesetzespaket in einer Woche durchziehen wollen. Auch der Franzose will am Montag sein Kabinett informieren, über ein weiteres Vorgehen hat er noch nicht nachgedacht. Bei Meeresfrüchten als Vorspeise und Kalb mit sehr viel Trüffeln zum Hauptgang reden beide darüber, wie sie ihr Timing synchronisieren können. »Warum machen wir nicht die Pressekonferenz zum gleichen Zeitpunkt?«, fragt Sarkozy. Die Kanzlerin sagt Sarkozy, dass sie um 15 Uhr vor die Presse gehen wolle. Das passt auch dem französischen Präsidenten.

Merkels Wirtschaftsberater Weidmann und sein französischer Kollege verlassen das Essen nach dem Hauptgang. Die beiden arbeiten bereits an dem Papier, das der Eurozonen-Gipfel am nächsten Tag in Paris beschließen soll. Auch der britische Premierminister Gordon Brown soll zu den 15 Staats- und Regierungschefs des Euroraums stoßen.

Zwar sind die Briten nicht Mitglied der Eurozone und halten nach wie vor an ihrem Pfund Sterling als Landeswährung fest. Doch allen ist klar, dass es ohne Brown auch keine europäische Lösung geben wird. Nicht nur, weil die britischen Banken noch tiefer im Finanzsumpf stecken als der Rest der europäischen Finanzbranche. Sondern auch, weil London noch immer das wichtigste Finanzzentrum Europas ist. Und schließlich, weil Brown einen für das erzkapitalistische Großbritannien sehr ungewöhnlichen Weg eingeschlagen hat: Ohne mit der Wimper zu zucken hat er die notleidenden Banken verstaatlicht.

»Ich werde nach Paris fahren, um die anderen europäischen Länder zu überzeugen, den gleichen umfassenden Ansatz zu wählen«, hatte Brown in einem Zeitungsbeitrag geschrieben. Noch gewinnt der langjährige Schatzkanzler Tony Blairs mit diesem Ansatz bei seinen Bürgern an Popularität.

Sarkozy lädt Brown anderthalb Stunden vor dem Treffen der Eurozone ein. Ebenfalls anwesend sind dann der Präsident der Euro-Gruppe, der luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker, der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso, und der Präsident der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet.

Um 17 Uhr 15 landet Merkels Maschine wieder im militärischen Teil des Flughafens Tegel. Keine 22 Stunden später wird sie erneut in Richtung Frankreich aufbrechen, diesmal zum Treffen der Eurogruppe im Élysée-Palast in Paris.

Vorher jedoch wird Merkel am Sonntagmorgen eine lange Telefonliste abarbeiten. Die Verbindungen stellt zum Teil ihr Lagezentrum im vierten Stock des Kanzleramts her, oft ruft sie auch selbst an. Mitarbeiter der Bundespolizei und Soldaten arbeiten dort, es ist immer besetzt. Normalerweise reicht ein Vorlauf von einer halben Stunde, um die jeweiligen Gesprächspartner ans Telefon zu bekommen.

Manchmal ist es aber auch komplizierter. Wie an dem Sonntagabend, als Merkel den Vorstandsvorsitzenden eines Dax-30-Konzerns sprechen wollte. Eigentlich hat das Lagezentrum so ziemlich jede private Handynummer aller wichtigen Menschen in Deutschland. Doch dieser Gesprächspartner war ganz neu im Amt, und so riefen die Mitarbeiter im Lagezentrum bei den Sicherheitsleuten des Managers an. Ob der neue Chef zu erreichen wäre, die Bundeskanzlerin hätte ihn gern gesprochen? Ein Heiterkeitsausbruch folgte, und die Frage, welche Radioshow denn nun tatsächlich dran wäre.

Doch die Soldaten im Lagezentrum wussten sich zu helfen und baten ihr Telefon-Gegenüber, doch bitte beim Bundeskriminalamt nachzufragen. Die dortigen Mitarbeiter gaben der Sicherheitsabteilung des Konzerns grünes Licht. Und kurz danach konnte Merkel mit dem Firmenchef telefonieren.

Hier im Lagezentrum steht auch das, was gemeinhin als rotes Telefon bezeichnet wird. Es ist in Wirklichkeit schwarz und sieht sehr gewöhnlich aus. Damit stellt das Lagezentrum für Merkel die Verbindung zu ihren Kollegen in aller Welt her. Bis zu 29 Teilnehmer an Telefonkonferenzen können die Mitarbeiter der Bundespolizei und der Bundeswehr zusammenschalten, egal zu welcher Uhrzeit. Sie hören alle Telefonate mit. Das ist eine Sicherheitsmaßnahme für den Fall, dass die Verbindung abbricht, was gerade bei Handy-Telefonaten immer wieder mal passiert.

»Frau Bundeskanzlerin, Ihr Gesprächspartner ist nicht mehr in der Leitung«, melden sie dann und versuchen, einen neuen Kontakt aufzubauen. Es gibt auch einen Raum für Videokonferenzen im Lagezentrum. Im Hintergrund hängt ein leicht unscharfes Foto des Kanzleramts, von dem die Leute im Lagezentrum sagen, es werde auf dem Bildschirm ihres Gesprächspartners dann »gut sichtbar«. Drei bis vier Plätze gibt es an einem halbrunden Tisch für Merkel, ihren Dolmetscher und ihre Berater. Ihre Gegenüber kann die Kanzlerin auf zwei überdimensionierten Flachbildschirmen sehen. Der US-Präsident hat im Weißen Haus ebenfalls eine derartige Videotechnik zur Verfügung. Auch mit dem britischen Premier sind Videokonferenzen möglich.

Am Samstagabend ruft Merkel Bundestagspräsident Norbert Lammert an, der zu einem Arbeitsbesuch in Polen ist. Sie will ihn über den geplanten Bankenschirm informieren. Bundespräsident Horst Köhler steht in diesen Tagen häufiger auf ihrer Telefonliste. Merkel hat das Interview bereits gelesen, das er dem Spiegel des kommenden Montags gegeben hat. In sehr deutlichen Worten kritisiert Köhler dort die Finanzbranche. »Der Markt braucht auch Moral. Da war eine Menge Unaufmerksamkeit, Selbstzufriedenheit, Zynismus.« Er schlägt eine Weltkonferenz vor, um einen »wirksamen internationalen Ordnungsrahmen« zu erarbeiten. Eine Art Bretton Woods II also.

Bretton Woods ist ein kleiner Ort im US-Bundesstaat New Hampshire. Dort wurde 1944 während einer dreiwöchigen Konferenz ein neues Weltwährungssystem ausgearbeitet. Es war eine Reaktion auf die Große Depression in den 30er-Jahren und sollte eine erneute derartige Weltwirtschaftskrise verhindern. Tatsächlich wurden die internationalen Finanzbeziehungen damit auch jahrzehntelang stabilisiert.

Selbst am Wochenende bekommt die Kanzlerin die wichtigsten Nachrichten per SMS auf ihr Handy. So schickt das Bundespresseamt alle paar Minuten SMS-Botschaften mit den Agenturmeldungen. Nicht mehr als 160 Zeichen haben diese Benachrichtigungen, gut fünf Dutzend laufen pro Tag über die Handys der Kanzlerin und ihrer Mitarbeiter.

Kurz nach zwei am Sonntag wird Merkel in ihrer Privatwohnung am Kupfergraben in Berlin-Mitte abgeholt und erneut zum Flughafen gefahren. Ihr Wirtschaftsberater Jens Weidmann, Regierungssprecher Ulrich Wilhelm und Jörg Asmussen, der Staatssekretär von Finanzminister Peer Steinbrück, warten bereits in der Challenger, als die Kanzlerin wenige Minuten vor dem Abflugtermin um 14 Uhr 40 aufs Rollfeld vor die Maschine fährt.

Der Sondergipfel im Élysée bestätigt, was die Regierungschefs und ihre Berater in Dutzenden von Telefonaten vorher ausgehandelt haben. Alle Euro-Länder und Großbritannien werden in der nächsten Woche Maßnahmen ankündigen, um ihre Banken zu stabilisieren. Jedes Land entscheidet allein, was es aus dem vorgegebenen Instrumentenkasten nutzen will. Doch das Signal an die weltweite Finanzbranche soll einheitlich sein – wir, die Euro-Zone und Großbritannien, werden nicht zulassen, dass es zu weiteren Bankpleiten kommt, die das ganze Finanzsystem gefährden.

Um 22 Uhr 10 am Sonntag landen Merkel und ihr Team wieder in Tegel. Sie fahren direkt ins Kanzleramt, wo die Bundeskanzlerin eine weitere Sitzung angesetzt hat. Kanzleramtsminister Thomas de Maizière, Finanzminister Peer Steinbrück und Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier warten bereits auf sie. Knapp zwei Stunden lang gehen sie gemeinsam den Entwurf für das Finanzmarktstabilisierungsgesetz durch. So heißt das Gesetz, das später von allen nur »der Bankenschirm« genannt werden wird.

Kurz nach ein Uhr verabschieden sich Merkel und die Minister. Weidmann und Asmussen gehen in das Büro des Wirtschaftsberaters im vierten Stock, wo ihre Mitarbeiter warten. Die beiden informieren ihre Kollegen, was die Runde in Merkels Büro beschlossen hat. Nun müssen die Gesetzestexte fertiggestellt werden, und zwar in den nächsten sechs Stunden.

Asmussen und Weidmann kennen sich, seit sie Anfang der 90er-Jahre gemeinsam an der Universität Bonn am Lehrstuhl für Internationale Wirtschaftspolitik gearbeitet hatten. Der heutige Bundesbankpräsident Axel Weber hatte dort damals eine Professur inne. Weidmann war Assistent des Lehrstuhlinhabers Neumann, Asmussen hat zeitweilig als Tutor für Weber gearbeitet.

»Wir sind nicht persönlich befreundet«, sagt Asmussen, »aber wir vertrauen uns. Das ist für unsere Arbeit hilfreich.« Als die beiden gegen drei Uhr morgens ihre Sachen packen, lohnt es sich für sie kaum, nach Hause zu gehen. Schon in viereinhalb Stunden werden sie wieder im Kanzleramt erwartet, um den Staatssekretären der Ministerien den Gesetzentwurf zu erläutern. Das ist die übliche Routinevorbereitung vor einer Kabinettssitzung – auch wenn dieses Mal gar nichts Routine ist. Noch nie in der Regierungszeit Merkels hat die Runde der Staatssekretäre so früh getagt wie an diesem Montag, dem 13. Oktober 2008. Um 7 Uhr 30 werden sie im Kabinettssaal in der sechsten Etage erwartet. Asmussen wird an diesem Morgen die Geburt seiner Tochter versäumen. Erst Stunden später schafft er es zu Frau und Kind in die Klinik.

Auch im Wirtschafts-, im Finanz- sowie im Justizministerium und im Innenministerium brennen in dieser Sonntagnacht noch lange die Lichter. Überall brüten Beamte über dem Gesetzentwurf für das Finanzmarktstabilisierungsgesetz.

Die Kanzlerin ist am Montagmorgen wie üblich gegen halb acht im Amt. Einen einzigen Termin am späten Nachmittag hat sie an diesem Tag um eine halbe Stunde verschieben lassen, ansonsten wird sie alle Verabredungen wie geplant einhalten. Merkel ist das wichtig, sie will jede unnötige Dramatik vermeiden.

Kurz vor neun Uhr fährt sie in das ein paar Autominuten entfernt liegende Konrad-Adenauer-Haus, die CDU-Parteizentrale. Wie immer warten schon zwei Dutzend Journalisten im Eingangsbereich. Für die CDU-Ministerpräsidenten ist das jeden zweiten Montag um neun Uhr tagende Präsidium immer eine gern genutzte Möglichkeit, ihre politischen Botschaften für die Woche unterzubringen. Die Reporter wissen das, und so halten sie den ankommenden Ministerpräsidenten zwischen dem Aussteigen aus ihren Dienstlimousinen und dem Betreten des futuristischen Glasgebäudes ein Mikrofon hin.

An diesem Morgen jedoch traut sich keiner der mächtigen Landesfürsten an die Öffentlichkeit. Einer nach dem anderen verschwinden sie in der Parteizentrale. Traditionell tagt das Präsidium im Ludwig-Erhard-Zimmer im fünften Stock. »Merkel hatte die meisten von uns bereits telefonisch über den Bankenschirm informiert«, erinnert sich einer.

Manche der Ministerpräsidenten wissen bereits von ihren Landesbanken, wie kritisch die Situation an den Märkten ist. »Die Stimmung war ernst«, berichtet ein anderer. »Wie ernst, sehen Sie daran, dass kaum etwas per SMS nach draußen gedrungen ist«, sagt ein dritter. Denn die große Teilnehmerzahl im Präsidium – zwei Dutzend Leute – führt dazu, dass kaum etwas aus diesem Gremium geheim bleibt.

Finanzminister Peer Steinbrück informiert zur gleichen Zeit das SPD-Präsidium im Willy-Brandt-Haus. Während sich die CDU ihre neue Parteizentrale am Rand des Tiergartens und in unmittelbarer Nähe zu vielen Botschaften hat bauen lassen, sind die Sozialdemokraten nach Kreuzberg gezogen. Für Steinbrück, dessen Ministerium in Berlin-Mitte liegt, ist die Fahrt ein Katzensprung.

Noch immer weiß die Öffentlichkeit nicht, welchen Umfang das Bankenrettungspaket hat. Über mehrere Hundert Milliarden Euro wird spekuliert.

Tatsächlich dauert es fast bis zum Ende der Kabinettssitzung, bis die Höhe des Pakets endgültig bekannt wird. Um eins tagt die Ministerrunde wie immer im großen Kabinettssaal im sechsten Obergeschoss unter dem »Sonntag der Bergbauern« von Ernst Ludwig Kirchner. Das Gemälde zeichnet sich unter anderem durch die expressive Farbgebung aus. Und so giftgrün, wie die Gesichter einiger der dort Porträtierten anzuschauen sind, dürfte sich auch manch einer der Minister gefühlt haben, als sie dem Plan der Kanzlerin und ihres Finanzministers zuhörten.

Nach 45 Minuten ist die Sitzung zu Ende. Merkel eilt in den kleinen Kabinettssaal gegenüber, wo die Fraktionsvorsitzenden bereits auf sie warten. Auch sie werden unterrichtet, die Fraktionen folgen am Dienstag. Bei vielen hinterlassen die Schnelligkeit und Dramatik des Geschehens ein Ohnmachtsgefühl. »Was bleibt uns als zuzustimmen?«, formuliert es einer.

Um 13 Uhr 51 melden die ersten Agenturen, dass das Kabinett den Rettungsplan beschlossen hat. AP nennt um 13 Uhr 57 dann auch das Volumen: »Das Rettungspaket der Bundesregierung umfasst insgesamt 500 Milliarden Euro – eine halbe Billion. Das geht aus einer Erklärung des Bundesfinanzministeriums vom Montag zu dem Maßnahmenpaket hervor.«

500 Milliarden Euro. Eine Summe mit elf Nullen. Eine unfassbare Zahl. Ausreichend, um drei Jahre lang alle Ärzte und Krankenhäuser des Landes zu bezahlen – und die Medizin der Patienten gleich mit. Oder dreieinhalb Jahre lang die Renten in Deutschland zu überweisen. Oder zwölf Jahre die Arbeitslosen in Deutschland zu finanzieren.

Zahlenspiele, die sofort angestellt werden, aber nicht wirklich korrekt sind. Denn der weitaus überwiegende Teil des Geldes soll niemals fließen, sondern besteht aus Bürgschaften – Garantieerklärungen für Bankverbindlichkeiten, welche die Bundesregierung übernimmt, damit Banken sich wieder Geld leihen und ihre Geschäfte fortführen können.

Dennoch kann sich kaum einer, der an diesem Tag die Zahl ausspricht, wirklich die Größenordnungen vorstellen, mit denen die Regierung hier hantiert. Auch der damalige bayerische CSU-Chef Erwin Huber und sein Stellvertreter und Bundesagrarminister Horst Seehofer nicht. Sie verkünden sofort, dass sie die geplante Beteiligung der Länder ablehnen.

Nicht wenige in Berlin sind höchst irritiert: Es ist ein offenes Geheimnis, dass die dem Land Bayern sowie den Sparkassen gehörende Bayerische Landesbank Milliardenrisiken in ihren Bilanzen hat. Und tatsächlich werden Huber und Seehofer ihre vorlauten Aussagen später zutiefst bereuen – Huber kostet das Fiasko mit der BayernLB den Job, Seehofer seinen glanzvollen Start als neuer bayerischer Ministerpräsident.

Auch hat keiner von beiden vorher die Kanzlerin über ihren Alleingang informiert. Merkel ist an diesem Tag zu beschäftigt, um mehr als ein paar Sekunden Ärger an die Münchner zu verschwenden. Um 15 Uhr muss sie vor die Presse. Und sie weiß, sie wird zugeben müssen, dass eines ihrer wichtigsten Ziele in akuter Gefahr ist.

»Ja, es ist möglich, dass wir bis zum Jahr 2011 den Haushalt nicht ausgleichen können«, sagt sie wenig später vor einer Rekordzahl von Journalisten, die sich im ersten Stock des Kanzleramts drängeln. Wie immer steht sie vor einem mittelblauen Hintergrund, der die größtmögliche Seriosität ausstrahlen und gleichzeitig Vertrauen einflößen soll. Die Hände auf das Rednerpult vor ihr gestützt, von je zwei deutschen und einer europäischen Flagge rechts und links flankiert, erläutert sie den Bankenschirm. Sie lässt nur wenige Fragen zu, denn wenig später wird Finanzminister Peer Steinbrück die Journalisten in der Bundespressekonferenz detailliert informieren. Auch muss die Kanzlerin zum einzigen Termin, den sie an diesem Tag hat verschieben lassen.

So trifft sie eine halbe Stunde später als geplant beim Welt-Wirtschaftsgipfel im Axel Springer Verlag im früheren historischen Zeitungsviertel Berlins ein. Verlagschef Mathias Döpfner holt die Kanzlerin am Eingang ab, gemeinsam fahren die beiden in den Ullstein-Saal im 19. Stock.

Die knapp 100 Spitzenmanager und ihre engsten Mitarbeiter im Saal stehen auf, als die Bundeskanzlerin hereinkommt, und klatschen. Einige begrüßt Merkel mit kurzem Nicken, als sie am lang gestreckten ovalen Konferenztisch entlang zum Rednerpult an der Stirnseite des Saals geht. Die Kanzlerin ist ernst, als sie das Wort ergreift. Ihre vorbereitete Rede hat sie beiseitegelegt und spricht frei. »Wir sind nicht gerade euphorisch, dass wir als Bundesregierung uns jetzt in das Wirtschaftsgeschehen einmischen müssen«, sagt sie den anwesenden Unternehmenschefs von Dax-Konzernen wie Lufthansa, Continental und BASF. Es habe deshalb auch eine »langsame Annäherung an die notwendigen Schritte gegeben«. Nun aber habe man sich entschieden – und zwar für eine überaus kraftvolle Reaktion.

Als Merkel ihren Zuhörern das 480-Milliarden-Paket erläutert, schickt AP um 15 Uhr 45 als Eilmeldung los, dass der Dow Jones den Handel 400 Punkte im Plus eröffnet. Regierungssprecher Ulrich Wilhelm liest die Meldung auf seinem Handy und zeigt sie seinen Sitznachbarn. Er ist zufrieden, das deutsche Paket wird von den internationalen Märkten angenommen. Der Stress der vergangenen Tage weicht für ein paar Minuten. »Nur vier Stunden Schlaf«, seufzt er, »und das seit Tagen, auch bei der Kanzlerin.«

Die Kanzlerin ist derweil bei Island angekommen, dem inzwischen bankrotten Inselstaat: »Man muss sich fragen, wie ein beliebig kleines Land beliebig große Banken haben kann«, sagt sie gerade und gibt auch gleich die Antwort: »Nun ja, in Asien glaubt jeder, Island sei in der Europäischen Union.« Merkel ist davon überzeugt, dass Europa eine ganz besondere Rolle in dieser Krise hat. Wann, wenn nicht jetzt, werden sich die Europäer endlich zusammenreißen und an einem Strang ziehen?

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