So schützen Sie Kinder vor sexuellem Missbrauch - Elisabeth Raffauf - E-Book

So schützen Sie Kinder vor sexuellem Missbrauch E-Book

Elisabeth Raffauf

4,9

Beschreibung

Das Schweigen ist gebrochen. Immer mehr Menschen machen ihre erschütternden Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch öffentlich. Und die Zahlen sind alarmierend: Jedes vierte Mädchen und jeder neunte Junge erlebt sexuellen Missbrauch. Verständlich, dass Eltern alles tun wollen, um ihr Kind zu schützen. Das Kind einzusperren oder Angst vor dem "bösen Mann" zu schüren, sind jedoch keine probaten Mittel. Elisabeth Raffauf zeigt in diesem Buch, wie eine sinnvolle Prävention aussehen kann, die vor allem bei einer aufmerksamen Sexualerziehung ansetzt. Und sie beschreibt ganz konkret, was Eltern und Erziehende tun können, um Kinder stark zu machen und sie dadurch vor sexuellem Missbrauch zu schützen.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

ÜBER DAS BUCH

ÜBER DIE AUTORIN

IMPRESSUM

HINWEISE DES VERLAGS

Elisabeth Raffauf

So schützen Sie Kinder vorsexuellem Missbrauch

Prävention von Anfang an

Patmos Verlag

Inhalt

Einleitung – Kinder schützen und stärken

Wenn ein Kind geboren wird …

Wenn ein Kind älter wird ...

Wenn ein Kind selbstständig wird ...

Wenn wir schlimme Nachrichten hören und sehen …

Was sich in der öffentlichen Diskussion getan hat …

Historisch gesehen …

Die Rechte der Kinder

Einen hundertprozentigen Schutz gibt es nicht, aber ….

1. Sexueller Missbrauch

Wie der Stein ins Rollen kam – die aktuelle Lage

Wie sich die öffentliche Diskussion verändert hat

Wie es weitergehen sollte ...

2. Phantasie, Panikmache oder Realität

Sexueller Missbrauch – ein verwirrender Begriff

Fakten und Zahlen – ein grauer Nebel

Wie werden Dunkelziffern ermittelt?

Tatsachen und Schicksale – verdrängte Themen

3. Der „schwarze Mann“ ist meist nicht der Täter

Meistens sind die Täter den Kindern bekannt

„Warum hast du denn nichts gesagt?“ – viele Kinder können sich keine Hilfe holen

Wer sind die Täter?

Sexueller Missbrauch – kein reines Männer-Verbrechen

Täter kann man nicht „von außen“ erkennen

Kinder machen nach, was sie erleben – sexuelle Übergriffe zwischen Kindern und Jugendlichen

Jungen und Mädchen sind unterschiedlich betroffen

4. Auf der Suche nach Sicherheit

Eltern und Erzieher können etwas tun

Selbstunsichere Kinder sind stärker gefährdet

„Fett für die Seele“ …

Der Körper bleibt nicht vor der Tür

Zuwendung und Respekt

Sexualerziehung von Anfang an

5. Kindliche Sexualität ist anders – Sexualerziehung als Teil der gesamten Erziehung

Der entscheidende Unterschied zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität

Wie es zu diesem Missverständnis über kindliche Sexualität kommt

Die sexuelle Entwicklung des Kindes

Forschen und Erkunden – was bedeuten Doktorspiele?

Was ist normal?

Sexualität ist umfassend

Sexualerziehung als Teil des Alltags

6. Sexualität ist ein persönliches Thema

Unsere Haltung wirkt auf die Kinder

Was schauen sich Kinder bei ihren Eltern ab?

Welche Familienregeln gelten?

Eigene Erfahrungen prägen

Die eigene Haltung reflektieren

Was Reflexion verändern kann

7. Über Sexualität reden – den Kindern Worte geben

„Sprechen hilft“

Worte sind der Schlüssel

Sprache als Schutz

Sagen, was ist

Eine offene und wertschätzende Haltung

Welche Wörter wollen wir benutzen?

Was wollen Kinder wann wissen?

Wie können Eltern aufklären?

8. Vertrauen schafft Selbstvertrauen

Warum Vertrauen ein unerlässlicher Schutzfaktor ist und Kontrolle gar nichts nützt

Urvertrauen ist die Grundlage

Kinder erfahren Selbstwirksamkeit, wenn sie etwas bewirken können

In der Pubertät ist schon viel gelaufen, aber noch längst nicht alles

Sexualerziehung setzt Vertrauen voraus

9. Die Kinder ernst nehmen

Grenzen respektieren – Kinder sind ganze Menschen

Kinder zeigen ihre Grenzen

In der Pubertät verändern sich Grenzen

Was Jugendliche nicht wollen

Scham ist ein guter Schutz

Schon Babys schämen sich

Die Kehrseite von Scham

Wie viel Sexualerziehung geht in der Pubertät

Sich bereithalten

Die Grenzen der Erwachsenen

Gesetzliche Grenzen

Klare Grenzen zwischen Eltern und Kindern

Grenzen in der Pädagogik

10. „Das ist mein Freund“ – Sexuelle Übergriffe im Netz

Sexuelle Übergriffe im Internet – wie kann das sein?

Wie groß ist die Gefahr? – Zahlen, Fakten, Risiken

Eltern fühlen sich verunsichert

Kinder brauchen Geheimnisse

„Was hast du heute im Internet gemacht?“

Was können Eltern tun?

Klare Regeln für Kinder und Eltern

Die Verantwortung liegt auf mehreren Schultern

11. Die Kriminalpolizei rät – Sichere Wege und selbstbewusstes Verhalten

Worauf Eltern achten können

Welche Vereinbarungen können Eltern mit ihren Kindern treffen

12. „Das Kind wirkt so abwesend“ – was tun, wenn man einen Verdacht hat?

Anzeichen, dass etwas nicht stimmt

Symptome können vielfältig sein – nicht immer sind sie eindeutig

Schauen Sie nicht weg!

Zwischen Ohnmacht und „Aktionsdrang“

„Nicht immer sofort den Streifenwagen rufen“

Was macht das Jugendamt?

Was passiert bei der Polizei?

Eine Tasse Kaffee und ihre erhellende Wirkung auf den Verstand

Kinder haben niemals Schuld

Was Fachkräfte nicht müssen

Was Fachkräfte unbedingt tun sollten

Worauf Eltern und Fachkräfte achten können

Was tun, wenn man einen Verdacht hat?

Wann muss sofort gehandelt werden?

Was Eltern tun können, deren Kind sexuell missbraucht wurde oder die einen solchen Verdacht haben

13. Sinnvolle Prävention in Institutionen

Sexualerziehung in Schulen

Klare Strukturen in Institutionen

Gute Präventionsprogramme machen Kinder nicht ängstlicher

Gute Präventionsprogramme richten sich zunächst an die Erwachsenen

Gute Präventionsprogramme sind langfristig angelegt

Gute Präventionsprogramm setzen auf mehreren Ebenen an

Gute Präventionsprogramme stellen nicht das Problem an den Anfang

Gute Präventionsprogramme werden von qualifizierten Beratungsstellen durchgeführt

Gut vorbereitete Institutionen haben ein Gewaltpräventionskonzept

Prävention sieht bei Jungen und Mädchen unterschiedlich aus, weil sie unterschiedlich auf einen Missbrauch reagieren

Gute Prävention sollte keinen Generalverdacht gegen Väter und männliche Erzieher beinhalten

Gute Prävention braucht Transparenz zwischen Eltern und Team

Was ein Team tun kann

14. Kinderschutz geht alle an

Sexualerziehung mit positiven Vorzeichen

Gesellschaftliche Konsequenzen

Danke

Literatur

Film

Bücher für Kinder und Jugendliche

Broschüren für Erwachsene

Internettipps und Telefonnummern

Seiten für Kinder

Seiten für Kinder und Erwachsene

Infos für Eltern und Fachkräfte

Telefonnummer für Kinder und Jugendliche

Telefonnummern für Erwachsene

Anmerkungen

Einleitung – Kinder schützen und stärken

»Gipfelstürmer brauchen ein Basislager.«1

John Bowlby, britischer Kinderarzt und Psychoanalytiker, Pionier der Bindungsforschung

Wenn ein Kind geboren wird …

… und die Eltern es zum ersten Mal auf dem Arm halten, überkommt sie meist ein bislang nicht gekanntes Gefühl. Sie erleben, wie vollkommen und zugleich zerbrechlich dieses kleine Wesen ist. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, entwickelt sich in ihnen ein Bedürfnis, wie man es auch Löwenmüttern zuschreibt: dieses Wesen zu beschützen gegen alle Widrigkeiten dieser Welt. Und es gegen jeden zu verteidigen, der es wagt, diesem Geschöpf auch nur ein Haar zu krümmen.

Wenn ein Kind älter wird ...

... dann wird es von Tag zu Tag selbstständiger und es gibt immer wieder kleine Abschiede. Der Abschied von der Brust, der Abschied vom Fläschchen, der Abschied von der Windel, der Abschied vom Krabbelalter. Das Kind lernt laufen, will die Welt erkunden und wird immer mehr Schritte alleine unternehmen, ohne seine Eltern. Und das ist auch gut so. Eltern können nicht immer mit eigenen Augen über ihr Kind wachen. Vielleicht kommt es in den Kindergarten und wird dort von fremden Erzieherinnen betreut. Es muss seine Misserfolge fortan alleine aushalten, vielleicht ungetröstet bleiben, wenn es zum Beispiel beim Vater-Mutter-Kind-Spiel bei der Rollenverteilung leer ausgeht. Es wird auch nicht mehr so beschützt, wenn es auf die Rutsche klettert. Im Kindergarten steht kein Papa daneben, der dem Kind vielleicht vor lauter Sorge, es könnte sich beim Herunterrutschen den Kopf verletzen, einen Sturzhelm aufsetzt.

Irgendwann möchte es alleine zum Bäcker gehen, alleine seinen Freund besuchen, alleine den Schulweg meistern, und auch das ist gut so. Wenn es eine gute Bindung an seine Eltern hat, wird es das alleine wagen, weil es weiß, es kann jederzeit wieder zurück zu den Eltern kommen. Viele Situationen, die das Kind alleine bewältigt, machen es stark und stolz auf sich selbst, und es wächst daran.

Wenn ein Kind selbstständig wird ...

... dann ist das auch wunderbar. Wir sehen, wie es von Tag zu Tag forscher in die Welt geht, wie es sich mehr und mehr zutraut, wie es laufen und sprechen lernt, die Welt mehr und mehr erkundet. Wie es unabhängig wird von uns, wie es groß wird, wie es ein guter Gesprächspartner wird, uns unterstützt im Haushalt oder am Computer und wie es stolz ist auf seine Leistungen.

Wenn wir schlimme Nachrichten hören und sehen …

… von Kindern, die verschleppt wurden, missbraucht wurden, umgebracht wurden, dann sacken wir in uns zusammen. Solche Nachrichten und die Angst, auch unserem Kind könnte so etwas zustoßen, beschäftigen uns sehr lange.

Es gibt Eltern, die ihr Kind vielleicht warnen, sich nicht von Fremden ansprechen zu lassen, oder sie begleiten es wieder in die Schule. Sie sitzen zu Hause oder im Büro und fragen sich: Ist mein Kind in der Kindergartengruppe gut aufgehoben? Wird es sicher seinen Schulweg meistern? Und: Wird ihm auch nichts zustoßen? Eltern überlegen vielleicht, wie sie ihr Kind wieder mehr kontrollieren, mehr beaufsichtigen, ihm mehr verbieten können. Um es zu schützen.

Eltern möchten ihr Kind vor dem »bösen, schwarzen Mann« schützen, dem Fremden, der vielleicht auf dem Spielplatz lauert oder das Kind an der Straßenecke anspricht. Und sie besprechen mit ihrem Kind, wie es sich verhalten soll, wenn ein Fremder es anspricht, wenn jemand ihm Schokolade anbietet oder es nach Hause fahren möchte mit der Begründung: »Deine Mutter ist ins Krankenhaus gekommen.«

Dabei »lauern« die größeren Gefahren für Kinder im Freundes- und Bekanntenkreis. Und dort wirken sich die Warnungen der Eltern paradox aus: Sie müssten eigentlich vor dem lieben Onkel warnen. Aber vor welchem genau? Die meisten Onkel und Tanten missbrauchen ja keine Kinder.

Dieses Dilemma zeigt vor allem eins: Punktuelle Warnungen nützen gar nichts. Kinder sind am besten geschützt durch Sexualerziehung, eine vertrauensvolle Beziehung zu ihren Eltern und anderen erwachsenen Personen, die ihre Grenzen achten, die ein offenes Ohr für ihre Wünsche und Ängste haben, die sie als ganze Personen ernst nehmen und die sie mit einem guten Selbstvertrauen ausstatten.

Was sich in der öffentlichen Diskussion getan hat …

Mit dem Aufdecken von Missbrauchsfällen in Institutionen und den Bemühungen der Bundesregierung um eine Aufarbeitung (Einrichtung der Stelle zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs) hat das Thema »Sexueller Missbrauch« in der Öffentlichkeit an Bedeutung gewonnen. Viel mehr Menschen als angenommen sind von diesem Thema betroffen, sei es als Missbrauchsopfer, sei es als Angehörige oder Freunde. Viele Angehörige von Missbrauchsopfern machen sich große Vorwürfe: Wie konnte meinem Bruder, meiner Schwester, meinem Kind so etwas passieren? Wie konnte es sein, dass ich das nicht gesehen habe? Was habe ich falsch gemacht?

Gleichzeitig sind durch die öffentliche Diskussion über sexuellen Missbrauch das Bewusstsein und die Sensibilität heutiger Eltern größer geworden. Sie fragen sich: Was kann ich tun, damit meinem Kind so etwas nicht passiert? Wie kann ich mein Kind schützen? Worauf muss ich achten?

Historisch gesehen …

… hat es sexuellen Missbrauch an Kindern schon immer gegeben. Er wurde zu verschiedenen Zeiten allerdings sehr unterschiedlich bewertet und geahndet. Im antiken Griechenland war die Liebe mit einem Knaben eine Sache des Prestiges und im alten Rom war die Prostitution auch von ganz jungen Sklaven ganz normal. Im Mittelalter galt sexueller Missbrauch von Kindern zwar als Normverstoß, jedoch nicht in dem Maße wie heute. Sexuelle Gewalt richtete sich häuftig gegen Kinder, da ein Kinderleben weniger galt als das Leben eines Erwachsenen. Im 18. Jahrhundert wurden sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern zwar scharf verurteilt, allerdings mit der moralischen, christlichen Haltung, dass Sexualität von Kindern Sünde ist oder dass Kinder grundsätzlich keine Sexualität haben. 2

Die Tatsache, dass Kinder von Geburt an sexuelle Wesen sind, kindliche Sexualität sich aber grundsätzlich von erwachsener Sexualität unterscheidet, wurde erst von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, festgestellt. Und der musste für seinen neuen Erkenntnisse ordentlich »Prügel« einstecken. Aber auch heute, fast ein Jahrhundert später, sieht es nicht viel besser aus. So musste die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vor Kurzem ihre Broschüre zum Thema »Kindliche Sexualität« zurückziehen, weil ihr von einigen Kritikern, die kindliche Sexualität mit erwachsener Sexualität gleichsetzen, »Anstiftung zur Pädophilie« vorgeworfen wurde.

Die Rechte der Kinder

Kinderschutz ist »die Umsetzung von Kinderrechten, denn Kinder haben das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung und das Recht auf Schutz vor allen Formen der sexuellen Ausbeutung und der sexuellen Gewalt«.3

Dr. Christine Bergmann, Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs

Der Schutz der Kinder – auch vor sexuellem Missbrauch – ist abhängig davon, ob Kinder als vollwertige Menschen geachtet werden oder ob sie nur als kleine Wesen betrachtetet werden, deren Wohl und Wehe ausschließlich von ihren Eltern abhängt, die sie sogar als Besitztümer ansehen können. Erst in Zeiten der Aufklärung im 18. Jahrhundert begann man, Kindheit als eigenständigen Lebensabschnitt zu verstehen. Davor wurden Kinder wie »kleine Erwachsene« behandelt, das heißt, es gab keinen besonderen Kinderschutz. Das 19. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert der Entdeckung der Kindheit. Kinder gelten nun als erziehungsfähig und -bedürftig. Sie brauchen Anleitung, um in der komplizierten Gesellschaft überleben zu können. Im 20. Jahrhundert begann man, Kinderschutzprogramme aufzustellen. Die englische Grundschullehrerin und Kinderrechtsaktivistin Eglantyne Jebb entwarf erstmals eine Children’ s Charter, ein Fünf-Punkte-Programm, das sie dem Völkerbund in Genf zukommen ließ und das im September 1924 von der Generalversammlung des Völkerbundes verabschiedet wurde.

1959 wurde von der Vollversammlung der Vereinten Nationen die Erklärung der Rechte des Kindes auf den Weg gebracht. Dreißig Jahre später verabschiedete die UN dann die internationale Kinderrechtskonvention. Diese Konvention, in der sich die UN-Staaten verpflichten, alles zu tun, um Kindern menschenwürdige Lebensbedingungen zu bieten, beruht auf vier Prinzipien. Diese sind:

Das Recht auf Gleichbehandlung: Kein Kind darf benachteiligt werden – sei es wegen seines Geschlechts, seiner Herkunft, seiner Staatsbürgerschaft, seiner Sprache, seiner Religion oder Hautfarbe, einer Behinderung oder wegen seiner politischen Ansichten.

Das Wohl des Kindes hat Vorrang: Wann immer Entscheidungen getroffen werden, die sich auf Kinder auswirken können, muss das Wohl des Kindes vorrangig berücksichtigt werden – dies gilt in der Familie genauso wie für staatliches Handeln.

Das Recht auf Leben und Entwicklung: Jedes Land verpflichtet sich in größtmöglichem Umfang, die Entwicklung der Kinder zu sichern – zum Beispiel durch Zugang zu medizinischer Hilfe und Bildung und durch Schutz vor Ausbeutung und Missbrauch.

Achtung der Meinung des Kindes: Alle Kinder sollen als Personen ernst genommen und respektiert und ihrem Alter und ihrer Reife gemäß in Entscheidungen einbezogen werden. 4

Diese Grundsätze stehen für eine revolutionäre neue Sichtweise auf die Phase der Kindheit allgemein und auf die Rechte der Kinder im Besonderen. Trotzdem sind Kinder weiterhin Gewalt, Missbrauch und seelischen Grausamkeiten ausgesetzt.

Einen hundertprozentigen Schutz gibt es nicht, aber ….

… Eltern können etwas tun. Sie können dafür sorgen, dass Kinder sich selbstbewusst in der Welt bewegen, dass sie Vertrauen zu ihren Bezugspersonen haben, dass sie Worte für ihre Gefühle, ihre Erlebnisse und alle ihre Körperteile finden und dass sie Fragen stellen dürfen. Kindern zu helfen, selbstbewusst und selbstsicher durch die Welt zu gehen, ist der beste Schutz.

Der Begriff ›Prävention‹ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet ›zuvorkommen‹ oder ›verhüten‹. Prävention vor sexuellem Missbrauch bedeutet: die Kinder in ihrem Gefühl, richtig zu sein, zu stärken, sie liebevoll und zugewandt zu begleiten, so dass sie nicht gezwungen sind, sich auf eine andere Weise Bestätigung zu holen.

Sexualerziehung in positivem Sinn bedeutet, den Kindern zu vermitteln, dass Sexualität mit Freude und Wohlgefühl und Lust zu tun hat. Und diese positive Seite der Sexualität sollten Eltern zuerst thematisieren, bevor sie vor Gefahren und vor einer übergriffigen, gewalttätigen Sexualität warnen.

Selbstbewusstsein auch in sexuellen Dingen erlangen Kinder nicht, indem wir ihnen Angst machen, sondern durch eine Sexualerziehung von Geburt an, die eingebettet ist in die normale Erziehung. Und durch die Förderung der eigenen Selbstständigkeit und Selbstsicherheit – damit Situationen gemeistert werden, in denen die Eltern nicht dabei sind und nicht schützend eingreifen können.

Prävention bedeutet in allererster Linie, dass Erwachsene vorbeugen: Sie sind verantwortlich. Es ist wichtig, dass Eltern Kindern nicht die Verantwortung übertragen. Die können sie nicht übernehmen, weil sie immer schwächer sind, weil sie den Umgang mit der Welt erst noch lernen müssen.

Den Kindern ein Basislager zu bereiten, heißt, eine vertrauensvolle, respektvolle Atmosphäre zu schaffen, in der Kinder sich trauen, alles zu erzählen, was ihnen passiert und ihnen vielleicht »komisch« vorkommt. Sie müssen ganz sicher sein, dass die Eltern sie dann nicht beschimpfen oder beschämen, wenn sie etwa Schokolade von einem Fremden angenommen haben, obwohl sie es doch nicht tun sollten. Ein wichtiger Baustein der Prävention ist auch, die klare Botschaft zu vermitteln: Was immer auch passiert, wir sind für dich da.

1. Sexueller Missbrauch

Wie der Stein ins Rollen kam – die aktuelle Lage

Liebe ehemalige Schülerinnen und Schüler,

in den vergangenen Jahren haben sich mehrere von Ihnen bei mir gemeldet, um sich mir gegenüber als Opfer von sexuellem Missbrauch durch einzelne Jesuiten am Canisius-Kolleg zu erkennen zu geben. Die Spur der Missbräuche zieht sich durch die 70er Jahre hindurch bis in die 80er Jahre hinein. Mit tiefer Erschütterung und Scham habe ich diese entsetzlichen, nicht nur vereinzelten, sondern systematischen und jahrelangen Übergriffe zur Kenntnis genommen. Es gehört auch zur Erfahrung der Opfer, dass es im Canisius-Kolleg und im Orden bei solchen, die eigentlich eine Schutzpflicht gegenüber den betroffenen Opfern gehabt hätten, ein Wegschauen gab. Allein schon deswegen gehen die Missbräuche nicht nur Täter und Opfer an, sondern das ganze Kolleg, sowohl die Schule als auch die verbandliche Jugendarbeit. Aus demselben Grund bitte ich hiermit zunächst alle betroffenen ehemaligen Canisianerinnen und Canisianer stellvertretend für das Kolleg um Entschuldigung für das, was ihnen am Kolleg angetan wurde ...« 5

Pater Klaus Mertes, ehemaliger Leiter des Berliner Canisius-Kollegs, Januar 2010

Es war ein Tabubruch. Niemals zuvor hatte ein Vertreter der Kirche öffentlich über den Missbrauch von Kirchenmännern an Schutzbefohlenen gesprochen, das Unfassbare benannt und sich dafür entschuldigt. In der Regel war weggehört, weggeschaut, vertuscht und vielleicht ein Beschuldigter versetzt worden – an eine andere Schule oder Jugendeinrichtung, wo er neu anfangen konnte mit seinen Übergriffen. Pater Mertes hat in Interviews darauf hingewiesen, wie schlimm es für die Betroffenen war, dass ihnen nicht zugehört, nicht geglaubt wurde. Eine zweite Traumatisierung. Wie schwierig und oft unmöglich es ist, zu erzählen, was einem passiert ist, wenn man auf eine Wand der Ignoranz, des Unglaubens, der Gegenanschuldigungen stößt. Es ist das Gefühl, nochmals gedemütigt zu werden. Und doch haben einige mutige Betroffene nicht nachgelassen, das Unrecht, das Patres an ihnen verübt haben, anzuprangern und auf die fatalen Konsequenzen für ihr Leben und das unzähliger anderer Opfer hinzuweisen. Mit ihrer Hartnäckigkeit haben sie Klaus Mertes, den ehemaligen Leiter des Berliner Canisius-Kollegs, auch dazu gebracht, Stellung zu beziehen.

Seine öffentliche Entschuldigung hat eine Lawine ins Rollen gebracht: Über hundert Betroffene haben sich bei ihm gemeldet. Die Medien haben das Thema breit aufgenommen, und Betroffene in der ganzen Bundesrepublik machten auf einmal öffentlich, was ihnen widerfahren ist: An vielen pädagogischen Orten wurden Kinder und Jugendliche von Erwachsenen, denen sie anvertraut waren, sexuell und gewalttätig ausgebeutet. Die Odenwaldschule in Heppenheim, deren Leiter Gerold Becker der Lebensgefährte des Reformpädagogen Hartmut von Hentig war, gehörte ebenso dazu wie das badische Kolleg St. Blasien und die Klosterschule Ettal bei Garmisch-Partenkirchen.

Viele Experten, die schon lange mit dem Thema befasst waren, redeten plötzlich von einem Dammbruch.6 Eine offene Debatte begann. Die Bundesregierung richtete einen Runden Tisch ein, dem drei Ministerien angehörten. Es wurde die Stelle der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs geschaffen. Die Leiterin dieser Stelle, Dr. Christine Bergmann, gab Forschungsaufträge heraus, startete eine große Werbekampagne mit dem Titel »Sprechen hilft« und richtete eine Anlaufstelle für Betroffene ein.

Einen Runden Tisch zum Thema »Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren« gab es bereits seit Februar 2009, unter der Leitung der Bundestagsvizepräsidentin a.D. Antje Vollmer. Dieser fand allerdings kaum Beachtung in der Öffentlichkeit.

Dies änderte sich nun. 22 000 Betroffene meldeten sich bei der eigens eingerichteten Stelle der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs und ungezählte weitere bei anderen Hotlines, Beratungsstellen und Psychotherapeuten. Wie viel Prozent der tatsächlich Betroffenen diesen Schritt gegangen sind, weiß niemand, aber die Welle war groß, sie brach den Damm des Schweigens, Wegguckens, Verdrängens. Öffentlichkeit war hergestellt. Endlich gab es – nicht nur punktuell – ein offenes Ohr für die Betroffenen, endlich wurde ihnen geglaubt, welche Schicksale sie mit der Rückendeckung durch renommierte Institutionen erleiden mussten. Wegschauen war unmöglich geworden.

Wie sich die öffentliche Diskussion verändert hat

Es ist erstaunlich, wie viel durch die öffentliche Diskussion ins Rollen kam. Gesellschaften, Institutionen, denen aufgrund ihrer Funktion das Thema längst bekannt war, meldeten sich jetzt erst zu Wort. So räumte zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft erst im April 2011 in einer Stellungnahme ein, sie habe »in der Vergangenheit Hinweise auf pädophile Gewaltanwendungen von Pädagogen nicht mit der notwendigen Aufmerksamkeit registriert und damit als selbstverständlich anzusehende Standards nicht genügend beachtet«.7 Christine Bergmann fand deutliche und zugleich einfühlsame Worte:

»Wir müssen anerkennen, was die Betroffenen sagen. Anerkennen, was passiert ist, und uns darum kümmern, damit andere dies nicht erleben müssen.« 8

Heute, so formuliert der Journalist Christian Denso in einem Artikel bei Zeit-Online ganz optimistisch, hat sich etwas verändert: »Sexuellen Missbrauch gab es, gibt es und wird es weiter geben. Gerade in Familien, immer noch der Tatort für die überwiegende Zahl von Fällen. Und doch sind Kinder heute emanzipierter, selbstbewusster als vor fünfzehn oder zwanzig Jahren. Zudem gibt es zumindest in Ansätzen so etwas wie eine Kultur der Aufmerksamkeit beim Thema Missbrauch. Ein institutionalisiertes Kartell des Schweigens, das Täter deckt, ist heute nur noch schwer vorstellbar. Auch weil endlich aufgedeckt wurde, was geschehen ist.«9

Schön wär´s. Auch heute noch werden Jugendhelfer, die Kinder in Einrichtungen missbrauchen, nicht angezeigt, nicht versetzt und diejenigen, die den Schritt wagen, ihren Kollegen anzuzeigen, ihrerseits denunziert.

Warum die öffentliche Diskussion derart ins Rollen kam, hat mit Sicherheit mehrere Gründe. Auf ein unmerkliches »Paradox im Skandal« machen Behnisch und Rose in ihrer Analyse der Mediendebatte aufmerksam: Die »Fälle«, um die es geht, sind alle vor langer Zeit geschehen. Im juristischen Sinne sind die meisten verjährt, die Täter oft nicht mehr im Dienst oder sogar bereits verstorben. Dieses Wissen – »Das war ja früher«  – schaffte eine »Beruhigung in der Beunruhigung«. Vielleicht sei diese Distanz zur Besprechung des Ungeheuerlichen notwendig, so wie viele Betroffene auch erst nach Jahren oder Jahrzehnten darüber reden können, was sie erlebt haben.10

Dennoch gibt es Grund zur Hoffnung. Diese Hoffnung äußert selbst Norbert Denef vom Netzwerk der Betroffenen, der sich ansonsten sehr skeptisch über die Wirkung des Runden Tisches und die Einbeziehung Betroffener in die öffentliche Diskussion äußert. »Wir haben jetzt die riesige Chance, etwas zu verändern.« Wenn plötzlich alle über das Unaussprechliche reden, habe das enorme Auswirkungen für das öffentliche Bewusstsein und für die Betroffenen selbst. Passend dazu zitiert er Shakespeare: »Der Kummer, der nicht spricht, nagt am Herzen, bis es bricht.«11

Es lässt sich leichter über das Unrecht sprechen, das einem angetan wurde, wenn man gehört wird. Und die öffentliche Anerkennung dessen, was geschehen ist, lässt auf eine Sensibilisierung des gesellschaftlichen Klimas hoffen. Ein Klima, in dem es möglich wird, das Schweigetabu zu brechen, in dem Betroffenen geglaubt wird und sie die richtige Hilfe bekommen. Die »Lawine« hat jedenfalls dazu geführt, dass Beratungsstellen weit häufiger um Hilfe angerufen werden.12

»Der öffentliche Diskurs stellt ein wichtiges Element im Prozess der persönlichen Bewältigung dar, weil er sich – stellvertretend für den individuell erlebten Zwang zur Geheimhaltung – über das Schweigegebot der Täter hinwegsetzt.«13

Elisabeth Helming und Peter Mosses, Deutsches Jugendinstitut

Nicht zufällig lautet die Kampagne von Christine Bergmann »Sprechen hilft«. Das ist die Kernidee der Kampagne. Natürlich ist das Unrecht durch Reden und Zuhören allein nicht aus der Welt zu schaffen. Trotzdem: Sprechen ist der Weg, das Leid ein bisschen auf andere Schultern mit zu verteilen und die Bestätigung zu bekommen: »Dein Gefühl stimmt«, »Dir wird geglaubt« und »Du bist nicht schuld.«

Wie es weitergehen sollte ...

Der Begriff »Abschlussbericht« der Unabhängigen Beautragten zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs könnte zu einem Trugschluss führen, dass man nämlich jetzt genug getan hätte und wieder zur Tagesordnung übergehen könnte. Das ist natürlich überhaupt nicht so. Im Bergmann-Bericht, der 2011 veröffentlicht wurde, werden Vorschläge gemacht, wie ab jetzt mit den neuen Erkenntnissen über sexuellen Missbrauch an Kindern verfahren werden sollte, er endet mit Empfehlungen für Maßnahmen:

die Einrichtung einer unabhängigen Stelle und eines Hilfeportals zum Thema sexueller Kindesmissbrauch

die Verlängerung der Verjährungsfrist von sexuellem Missbrauch auf dreißig Jahre

Unterstützung von Betroffeneninitiativen

weitere Kampagnen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit

spezielle Unterstützung für Betroffene aus DDR-Heimen

konkrete Forschungsvorschläge, speziell zu den Themen »Sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen«, »Kinder und Jugendliche mit Behinderungen«, »Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund«, »Rituelle Gewalt« und »Kinderpornographie«

wirksame Prävention

Das Netzwerk Betroffener fordert jedoch die komplette Abschaffung der Verjährungsfrist, und es hat dafür ein gewichtiges Argument: Opfer brauchen häufig sehr lange, um über das Verbrechen zu reden – manchmal viele Jahrzehnte. Für die betroffenen Menschen gibt es keine Verjährung. Sie sind lebenslang durch ihre Erfahrungen geprägt.

»Missbrauch dauert oft ein ganzes Leben, auch wenn die Taten selbst schon längst vorbei sind. Das Gefühl der Ohnmacht, der Hilflosigkeit bekommen die Betroffenen nicht mehr los. Es dringt ein in ihre Beziehungen, in ihre Familien, es raubt ihnen das Urvertrauen in andere Menschen.«14

Christine Bergmann

Für die Umsetzung der Maßnahmen wurde die Stelle der »Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des Sexuellen Missbrauchs« umbenannt in »Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs«, besetzt durch Johannes-Wilhelm Rörig. Er ist dem Bundesfamilienmisterium zugeordnet und soll prüfen, ob die Empfehlungen umgesetzt werden. Zu den Aufgaben des Unabhängigen Beauftragten gehören:15

die Fortführung der telefonischen Anlaufstelle

die Entwicklung eines Online-Hilfeportals

das Monitoring und die Unterstützung der Umsetzung der Empfehlungen des Runden Tisches »Sexueller Kindesmissbrauch«

die Begleitung der Aufarbeitung von Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs

die Begleitung der Einrichtung eines ergänzenden Hilfesystems und eines Sachverständigengremiums sowie ständige Mitgliedschaft in diesem Gremium

die Förderung von Vernetzung und Austausch

die Vergabe von Forschungsaufträgen

die Sensibilisierung der Gesellschaft zum Thema

2. Phantasie, Panikmache oder Realität

»So wie jedes Schulkind den Fluchtweg bei Feuer kennt, so muss es auch den Ausweg aus sexueller Gewalt kennen.«16

Christina Schröder, Familienministerin, 2010

Sexueller Missbrauch – ein verwirrender Begriff

Was ist sexueller Missbrauch?

Ein Vater badet mit seiner neunjährigen Tochter.

Ein Onkel gibt seiner fünfjährigen Nichte einen Zungenkuss.

Eine Mutter lässt sich von ihrem zehnjährigen Sohn – nur mit Slip bekleidet – massieren.