So sieht es also aus, wenn ein Glühwürmchen stirbt - Maike Voß - E-Book
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Maike Voß

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Beschreibung

#sexwiththebest Viola und Leon sind beste Freunde – bis sie nach einem gemeinsamen Konzertbesuch die Nacht miteinander verbringen. Für Leon ist dies die Erfüllung all dessen, was er sich heimlich ersehnt hat. Doch Viola packt die Panik, dass sie wie früher wieder nur auf jemanden hereingefallen sein könnte. Am Morgen verlässt sie deshalb ohne Nachricht Leons Wohnung. Doch Leon kann und will Violas Verschwinden nicht so einfach hinnehmen und versucht herauszufinden, warum sie vor ihm wegläuft.

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Maike Voß

So sieht es also aus, wenn ein Glühwürmchen stirbt

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Sigrid Williams

1

Sie

Es ist Ende Februar. Langsam, oder besser endlich, wird es kalt, darauf habe ich schon seit November gewartet. Aber ich friere nicht, habe meinen Mantel zugeknöpft und meinen Schal um den Hals geschlungen, eine Hand in der Manteltasche, die andere in seiner. Seine Finger sind mit meinen verschlungen, ganz so, als wären sie es jeden Abend. Es ist spät und die Straßenlaternen leuchten.

»Hat es dir gefallen?«, fragt er, seine Stimme eine ganz leichte Spur rau, sodass man es nur hört, wenn man darauf achtet, und sein Atem riecht nach Rauch von den gelegentlichen Zigaretten.

»Ja, es war wirklich … toll«, sage ich.

Nicht die beste Wortkombination, keine Antwort auf die ich stolz sein kann, aber er nimmt es mir nicht übel.

Er liebt mich, so einfach ist das. Deswegen übersieht er auch, dass ich nicht mehr alleine bin, sondern mich der Alkohol begleitet, der sich schon lange mit meinem Blut vermischt hat. Daher achte ich im Moment eher auf meine Füße als auf meine Artikulation.

Ich glaube nicht, dass er es überhaupt mitbekommen hat, wie ich mir an der Bar des Docks ein Glas Wein – oder waren es zwei? – genehmigt habe, als er sich nach dem Konzert entschuldigte, um das Männerklo aufzusuchen. Der Barkeeper – Tunnel, Tattoos, so ein richtiger Barkeeper eben – hat nicht einmal ’ne Augenbraue hochgezogen, als ich die Gläser hinunterstürzte und dann wortlos einen 20-Euro-Schein auf den Tresen legte. Hier in Hamburg ist das nicht ungewöhnlich. Hier nicht. Zeit ist Geld, jedes nette Wort Verschwendung, oder es wird fälschlicherweise als Flirt bezeichnet. Ganz nach dem Motto: Warum sollte ich nett zu dir sein, wenn ich nicht mit dir ins Bett will? Es geht nur darum, oder nicht? Aber gleichzeitig lesen wir Bücher von Nicholas Sparks und wollen das, was die da haben.

»Obwohl ich mich kaum auf die Band konzentrieren konnte«, sagt er und ich komme aus meinen Gedanken heraus und sehe wieder meine Füße.

»Wieso? Wir standen doch ganz vorne.« Ich merke, wie der Druck seiner Finger ein bisschen stärker wird, und obwohl ich weiß, was er damit bewirken will, muss ich lächeln.

Es müssten nur noch ein paar Minuten bis zu ihm sein, genau weiß ich es aber nicht. Obwohl ich in Hamburg geboren und aufgewachsen bin, habe ich keinen Orientierungssinn und schaffe es eher mit Beschreibungen von Häusern, Bäumen und Brücken, den Weg zu finden, statt anhand von Straßennamen. Wir sind mit der U2 bis zur Station Rauhes Haus gefahren und jetzt Richtung Tierheim unterwegs. Gerade gehen wir über irgendeine Brücke auf die andere Seite eines Flusses, dessen Namen ich nicht kenne. Weit kann es nicht mehr sein.

Er bleibt stehen. Es ist romantisch, mitten auf der Brücke, allein, der ausnahmsweise klare Himmel mit den leuchtenden Sternen über uns, und er steht vor mir und schaut mich an. Er will mir mit seinem Blick sagen, um was es ihm geht, dass er mich liebt und dass ich es ihm doch endlich glauben soll. Dass ich ihm vertrauen kann.

Ich liebe, was er in mir auslöst, dass er mich für ein paar Minuten vergessen lässt, wer ich bin, wo ich bin und dass morgen ein neuer Tag anbricht, und das bedeutet, dass der heutige enden wird. Er lenkt mich davon ab, dass ich eigentlich gar nicht hier sein will.

Romantisch wie er ist, streicht er mir eine Haarsträhne hinter das Ohr und lässt seine Hand auf meiner Wange liegen. Die andere legt er ebenfalls auf mein Gesicht. Ich kann nicht anders, als ihn anzusehen.

Schon im Docks, als wir der Musik von Kodaline lauschten und dazu tanzten, hat er mich immer wieder berührt, scheinbar zufällig, doch ich weiß, dass das nicht stimmt, dafür streifte seine Hand meinen Hintern eindeutig zu oft. Aber es stört mich nicht. Warum beschweren sich Frauen, wenn ihre Typen ihnen erklären, dass sie geliebt werden, weil sie hübsch sind? Wäre es ihnen umgekehrt lieber? Noch öfter flüsterte er mir etwas zu: Du machst es mir echt schwer. Du siehst toll aus. Ich liebe dein Lächeln. Und auch ich konnte mich mit der Zeit immer weniger auf die Lieder konzentrieren.

Deswegen bin ich auch mit ihm hier und stehe auf dieser Brücke, stelle mich auf meine Zehenspitzen, wie in diesen kitschig-romantischen, auf weheartit.com oder tumblr.com verbreiteten Vorstellungen, und küsse ihn. Ich schließe meine Augen. Ich lasse mich an ihn heranziehen, damit er mich noch intensiver küssen kann, und genieße diese Nähe. Wenig später gibt er mich wieder frei und sieht mich an: Du bist es! lese ich in seinem Blick und in mir flammt ein leiser Anflug von Hoffnung auf.

Vielleicht liegt es am Wein, vielleicht an ihm, möglicherweise ist beides daran schuld – oder sollte ich besser sagen, möglicherweise habe ich es beidem zu verdanken? –, dass ich es zulasse, dass er meine Hand nimmt und mich mit sich zieht, weg von der Brücke und der Romantik, zurück in die Realität.

Wir gehen in Richtung der Hauseingänge, die sich kurz hinter der Brücke aneinanderreihen. Am zweiten bleiben wir stehen und gehen die paar Stufen zur Tür hinauf, er schließt auf und wir stehen im menschenleeren Treppenhaus – kein Wunder um ein Uhr nachts. Es ist eines dieser Gebäude, bei dem sich Wohnung auf Wohnung stapelt und sich jeder dieser Stapel an den nächsten lehnt. Von außen sah es schön aus, eine alte Backsteinfassade, aber von innen sehe ich davon nichts mehr. Hier ist nur das kühle Treppenhaus, dessen Licht anscheinend nicht funktioniert, denn es ist immer noch aus, als wir die Stufen bis in den dritten Stock hochgestiegen sind und vor seiner Tür haltmachen. Die Tür zu der Wohnung, die ich nach dem letzten Mal nicht wieder betreten wollte. Und doch trete ich über die Schwelle.

Er lässt meine Hand los, ich ziehe meine Jacke aus und löse endlich den Zopf, sodass meine Haare über meine Bluse fallen. Sie sind durcheinander, leicht gewellt, und obwohl ich weiß, dass ich es nicht tun sollte, fahre ich mit meinen Fingern durch sie hindurch. Er hat sich seine Jacke ebenfalls ausgezogen und hängt sie neben meine an die Garderobe. Dabei beobachtet er mich, wie ich meine Hand aus dem unordentlichen Haar löse. Ich sehe ihn an und weiß, wie es ihm geht. Mir geht es genauso. Immer wieder fühle ich es, wenn ich ihn ansehe und den langsam aufkommenden Wunsch in mir bemerke, dass er mich wieder küsst. Und das tut er dann auch. Ich habe meine Hand kaum sinken lassen, da ist er schon bei mir.

»Wie kann Haar nur so sexy sein?«, murmelt er zwischen den Küssen und ich will nur, dass er aufhört zu reden.

Ich habe mich selbst davor gewarnt. Immer wieder habe ich mir eingetrichtert, mich nicht in ihn zu verlieben, diesem naiven Gefühl nicht nachzugeben, und nicht nur einmal musste ich die Grenze zwischen uns neu ziehen, damit auch er nicht auf falsche Gedanken kam. Ich will es nicht kaputt machen. Ich lüge nicht, ich habe diese verfluchten Schmetterlinge im Bauch und sie flattern mir in diesem Moment in den Kopf und in meinen ganzen Körper.

»Halt die Klappe«, keuche ich.

Ich habe mich nicht einmal umgeschaut, aber er dirigiert mich in eine bestimmte Richtung. Er stößt eine Tür auf – keine Ahnung, ob auf der linken oder rechten Seite des Flurs, denn er küsst mich immer noch. Seine Finger sind mittlerweile schon damit beschäftigt, meine Bluse zu öffnen, und ich kann ebenfalls nicht mehr an mich halten und fahre mit den Händen unter seinen Pullover. Es war so verflucht kalt draußen und es ärgert mich, dass er ein Hemd darunter trägt und ich seine Haut erst ein paar Sekunden später spüren kann. Ich bekomme eine wohlige Gänsehaut, als er mir die Bluse von den Schultern streift. Mir fällt ein, dass auch ich ein Top drunter trage, und ich hasse die frostigen Temperaturen noch mehr. Doch alles andere wäre Fiktion.

Seine Lippen lösen sich von meinen, und er sagt es: »Ich liebe dich!«

Als hätten diese Worte mich geweckt und wie Dornröschen zurück in die Wirklichkeit geholt, obwohl ich eigentlich weiterschlafen will. Aber in diesem Moment hat er mich, als würde er mich besitzen. Alle guten Vorsätze sind auf einmal verschwunden und ich komme nicht umhin, seine Worte in mich aufzusaugen und ihnen einen glühenden Funken Glauben zu schenken.

»Ich weiß«, antworte ich außer Atem und ein liebevolles Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab.

Er bildet sich ein, dass er mich ändern kann, dass er derjenige ist, der mich rettet. Ich will, dass er es ist, weil ich ihn liebe. Und dann presst er wieder seinen Mund auf meinen und ich lasse mich von ihm weiter in das Zimmer drängen.

Er zieht sich Pullover und Hemd in einem Zug aus und ich tue das Gleiche mit meinem Top. Wenn ihn mein Haar eben schon beeindruckte, kann er sich ein »Wow« nun nicht verkneifen, als ich so in BH und Jeans vor ihm stehe, mir die Schuhe abstreife und sie achtlos zur Seite kicke. Doch ich will nicht, dass er redet. Das eine Wort ist schon zu viel.

Ich sehe nichts mehr, habe meine Augen geschlossen und lasse mich von ihm verführen, werde süchtig nach seinen Berührungen und verliere immer mehr die Kontrolle. Wie der Rest der Kleidung unsere Körper verlässt, bekomme ich gar nicht mit. Wir liegen im Bett, das plötzlich da ist und das ich vorher nicht einmal bemerkt habe, und er sagt zum hundertsten Mal, dass er mich liebt, und sieht mich zum tausendsten Mal mit diesem liebevollen Blick an, als würde er verstehen, was in diesem Moment in mir vorgeht.

»Zeig es mir«, fordere ich ihn auf. Liebe mich.

Ich weiß, was Liebe ist, in meinen wundervollsten Interpretationen, aber auch in ihrer hässlichsten Definition: nur Drücken und Stoßen, aufs Körperliche reduziert, wo kein Platz für ehrliche Gefühle ist, die ich trotzdem darin sehen will.

Doch er ist anders. Oder?

Worauf wartet er also noch?

Ich liebe ihn, er liebt mich … aber wir werden aufhören, verliebt zu sein. Es schießt mir durch den Kopf, als die schmerzhafteste Wahrheit, die ich kenne.

Das Rosa wird zu Grau werden und er zu einem Gesicht von vielen. Jeden Einzelnen habe ich geliebt, jeder Einzelne hat mir die Welt zu Füßen gelegt und jeder von ihnen hat mich verrückt gemacht, genau wie er es tut. Und trotzdem sind sie gegangen. Mehr erwarte ich nicht mehr: das Kennenlernen, die Dates, die Verliebtheit, den Sex. Also gebe ich mich der Illusion hin, gebe mich ihm hin, dessen Hände meinen Körper erkunden, der sich mit mir dreht und der glaubt, dass das der Anfang von etwas ist. Aber das kann ich nicht mehr, obwohl es mir auch wehtun wird, wenn ich gehe. Ich kann es nicht mehr ertragen, sie einen nach dem anderen verschwinden und mein Herz aufs Neue zerbrechen zu sehen. Man kann ein gebrochenes Herz nicht noch mal brechen? Doch. Tausendmal und nie gewöhnst du dich daran.

Ich liebe es, ihn zu spüren, merke, wie seine Hände meinen Rücken entlanggleiten und er meinen Lippen immer mehr verfällt. Ich will nichts mehr, als mit ihm zusammen sein. So lange wie möglich, so nah wie möglich und so intensiv wie möglich.

»Ich liebe dich«, sage ich zu ihm und es ist keine Lüge.

Sonst würde es nicht so wehtun, es laut auszusprechen.

KAPITEL 2

Er

Es regnete, als ich zum ersten Mal mit ihr sprach. Sie saß auf der Bank an der Bushaltestelle in Boberg und wartete auf den nächsten Bus Richtung Billstedt. Es war spät und ich fragte mich, was sie um diese Zeit hier noch zu suchen hatte.

Ich war ihr in der Schule schon das ein oder andere Mal begegnet. Wir gingen beide aufs Gymnasium Lohbrügge und sie war eigentlich immer alleine. Ich kannte sie nur vom Sehen her, wusste nicht einmal ihren Namen, obwohl ich das sollte. Wir hatten genau einen Kurs zusammen, Biologie, und es wäre gelogen zu behaupten, sie sei mir nicht aufgefallen. Man konnte sie nicht übersehen, auch wenn das zu dem Zeitpunkt kein Kompliment war. Sie war, wie soll ich sagen, recht speziell und wirkte irgendwie traurig. Sie sagte nie etwas, hörte nur zu, schrieb mit, packte am Ende der Stunde ihre Sachen zusammen und verschwand, ohne ein Wort mit jemandem gewechselt zu haben. Und als ich sie da an der Haltestelle sah, fragte ich mich zum ersten Mal, wieso. Außerhalb des Schulgebäudes wirkte sie weniger bedrückt, fast schon normal, und obwohl ich die Kreuzung überqueren musste, blieb ich stehen, überlegte einen Moment und beschloss, mich einfach zu ihr zu stellen.

Ich gehörte zu dem Kreis an der Schule, den eigentlich jeder kannte und mochte. Es gefiel mir, keine Frage, aber ich tat nichts, außer nett zu sein und meine Klausuren so gut es ging hinzubekommen. Das reichte, um in eine Schublade gesteckt zu werden, aber ich machte ja in dem Augenblick nichts anderes, ansonsten hätte ich mit Sicherheit schon vorher ein Wort mit ihr gewechselt oder zumindest ihren Namen gekannt.

»Hey«, sagte ich.

Sie reagierte nicht.

»Hallo?«, versuchte ich es erneut und sah, dass sich ihre Lippen bewegten.

Sie schloss für ein paar Sekunden ihre Augen und bewegte ihren Mund erst wieder, als sie sich öffneten und erneut in die Nacht starrten. Ich kam mir etwas unbeholfen vor, also setzte ich mich neben sie. Plötzlich zuckte sie zusammen, riss sich ihre Kopfhörer aus den Ohren und sah mich erschrocken an. Sie war so in die Musik versunken gewesen, dass sie mich nicht bemerkt hatte. Kaum hatte sie mich erkannt, schien es ihr sogar peinlich zu sein, so reagiert zu haben.

»Sorry«, murmelte sie, wandte sich von mir ab und warf einen Blick auf die Anzeige. In vier Minuten sollte der 12er kommen.

»Wie heißt du?«, fragte ich.

»Viola«, sagte sie knapp und ihr Blick huschte kurz zu mir herüber.

Ihre Augen waren rot. Hatte sie geweint?

»Ich bin …«

»Leon, ich weiß«, fiel sie mir verärgert ins Wort.

»Tut mir leid«, rutschte es mir heraus und erstaunt wandte sie sich mir zu.

»Was?«, fragte sie.

»Na ja, dass ich deinen Namen nicht kenne. Wir sind auf derselben Schule und …«

»Also weißt du, wer ich bin, aber nicht, wie ich heiße. Wundert mich nicht«, unterbrach sie mich.

Ich wusste erst nicht, was ich darauf erwidern sollte. Sie war unfreundlich, geradezu gemein, und ich hatte nun so eine Ahnung, warum sie immer für sich war und mit niemandem sprach. Wahrscheinlich hatte einfach keiner das Bedürfnis, mit ihr zu reden, wenn sie allen so gegenübertrat wie mir. Aber damit wollte ich mich nicht zufriedengeben.

»Du hast noch nie mit mir geredet«, stellte ich fest.

»Was sollte ich auch zu dir sagen? Außerdem mag ich Annika nicht«, erklärte sie und ich war etwas überrascht, dass sie den Namen meiner Freundin kannte.

»Ihr kennt euch also?«, versuchte ich das Gespräch weiterzuführen und warf abermals einen Blick auf die Anzeige: zwei Minuten.

»Warum interessiert dich das?«, stellte sie mir die Gegenfrage.

Ich nahm mir Zeit, um zu antworten, und sah sie mir zum ersten Mal richtig an. Sie schaute nach links, die Richtung, aus der der Bus kommen würde, weshalb ich nur ihr Profil betrachten konnte. Blasse Haut, geschwungene Wangen, eine gerade Nase, braune, gerötete Augen, volle Lippen und alles gerahmt von ihrem unordentlichen, braunen Haar.

Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr.

Kleine Hände, gepflegt und kein Schmuck an den Fingern. Aber ich folgte der Hand nicht, als sie sie sinken ließ, sondern blieb mit dem Blick an ihrem Haar hängen. Es war etwas nass, vermutlich vom Regen, aber von einer verspielten Schönheit. Sie war hübsch, sehr hübsch, und ich merkte erst ein paar Sekunden zu spät, dass sie mich geradeheraus anstarrte. Die Strähne hatte ihre Hand nicht verlassen und schlang sich um ihre dünnen Finger.

Ich glaube, das ist das, was ich als Erstes nennen würde, wenn man mich dazu aufforderte, sie zu beschreiben. Ihr Haar. Und gleich danach ihre zierlichen Finger. Vermutlich würde jeder andere sagen, sie habe braunes Haar, ganz einfach, ganz schlicht, und das stimmt, aber da ist etwas, nicht nur ihr Haar betreffend, das sie besonders macht. Und was auch immer es ist, denn ich habe es bis heute noch nicht herausgefunden, war auch dafür verantwortlich, dass ich sie damals angesprochen habe. Einfach so, obwohl ich sie fast jeden Tag in der Schule sah und es bis dahin nicht getan hatte, ich eigentlich aus dem Regen ins Warme wollte, auf dem Weg zu meinem besten Freund, und auch nicht auf der Suche nach einer neuen Bekanntschaft war, die mir seitdem mit liebenswerter Bosheit auf meine Fragen antwortet.

Annika ist Geschichte, weil sie nicht das hat, was Viola hat, dieses Geheimnis, das ich gar nicht erfahren will, weil es mir so gefällt. Sie gefällt mir. Ich bin so verliebt in Viola, dass mein Herz allein bei dem Gedanken an sie zu bersten droht.

»Warum interessiert dich das?«, wiederholte sie ihre Frage.

Hinter ihr konnte ich die hellen Scheinwerfer des sich nähernden Busses sehen und stand auf. Sie blickte sich um und bemerkt ihn ebenfalls.

»Wir sehen uns dann«, verabschiedete ich mich von ihr.

Sie ging nach vorne, drehte sich, bevor sie einstieg, noch einmal um und sah mich mit einem nicht zu definierenden Blick an. Braune Augen, deren Klarheit mir aus keinem anderen Gesicht je wieder so im Gedächtnis blieb, seit jenem Abend. Dann war sie hinter den mit Reklame bedruckten Fenstern verschwunden, der Bus schloss seine Türen und fuhr ab.

»Warum interessiert dich das?« Die Frage, die sie damals stellte, ist nach wie vor in meinem Kopf.

Jetzt liege ich neben ihr und die Zimmertür ist geschlossen, zum ersten Mal seit vier Jahren, und jagt mir keine Angst mehr ein. Viola hat mir den Rücken zugewandt, ihren nackten, makellosen Rücken, der sich nur ganz leicht regt, während sie ein- und ausatmet. Das damals an der Bushaltestelle war – wie soll ich es am treffendsten ausdrücken? – eine glückliche Fügung? Schicksal? Ich weiß es nicht. Diese Begriffe erscheinen mir viel zu vage, nicht richtig, und ich will es auch gar nicht betiteln. Es ist zu besonders, um dem irgendeinen Namen aufzuzwingen.

Ich stütze mich leicht auf und streiche ihr Haar nach hinten, um ihr Gesicht sehen zu können. Und ich erinnere mich noch lebhafter daran, wie ich sie damals kennenlernte, richtig kennenlernte, und nicht nur ihre Gestalt durch die Gänge der Schule huschen sah, deren Name mir unbekannt war. Ich meine sie, Viola, deren Haar ich berühre und die mich verrückt macht, und ich schließe meine Augen, um all das, was heute passiert ist, unauslöschlich in mich aufzusaugen. Um das Lied zu hören, das ich nicht abschalten kann, das auf replay gestellt ist und meinen Kopf erfüllt und von dem ich nicht genug bekomme.

Sie ist diejenige, der ich Momente schenken will wie den auf der Brücke. Ich will sie auf einer Brücke küssen, mit Wasser unter uns, ohne nasse Füße zu bekommen, und dem Himmel über unseren Köpfen, als könnten wir ihn berühren, wenn wir nur die Hand danach ausstreckten.

Durch Zufall hatten wir die Band von heute bei einem unserer Streifzüge durch die Vinylabteilung bei Saturn entdeckt. Im Anschluss waren wir bei ihr zu Hause, die Platte lag auf dem Spieler und die Musik schallte durch die ganze Wohnung. Wir hatten keine Zeile gekannt und trotzdem hatte sie mitgesungen. Irgendwann saßen wir in der Küche auf dem Boden, eine willkommene Abkühlung im Sommer, und aßen Eiscreme.

»Was machst du da unten?«, hatte ich sie gefragt, nachdem sie sich das Ben & Jerry’s aus dem Tiefkühlfach und zwei Löffel aus der Schublade gegriffen hatte und sich einfach auf den gefliesten Boden setzte.

»Es ist so heiß«, hatte sie schlicht geantwortet, mir in die Augen gesehen, einen der Löffel gereicht und sich dann schnell abgewandt, als ich mich neben sie sinken ließ.

Ein kleines Stück Himmel auf Erden, so überwältigend in seiner Einfachheit, begleitet von der Musik des Plattenspielers.

Kodaline war toll, auch auf dem Konzert. Das Publikum war gespannt und euphorisch und wir hatten uns Plätze ganz vorne in der Menge gesichert. Doch am schönsten war es, wenn ich hin und wieder einen Blick auf sie warf und sah, dass sie die Augen geschlossen und eine Hand auf die Brust gelegt hatte und die Texte mitsang, diesmal richtig. Sie genoss es. Immer wieder berührte ich sie, streifte ihre Hand, flüsterte ihr etwas zu, sodass meine Lippen ihr Ohr berührten, und wollte sie umarmen. Letzteres passte dann doch nicht und so zog ich meinen Arm viel zu oft zurück und streifte dabei immer wieder ihren Hintern, was mir mehr als peinlich war. Was sollte sie von mir denken? Dass ich nur hier war, damit ich sie später ins Bett bekam? Nein, so war es nicht, und nun ist es doch passiert und ich liege mit ihr in meinem Schlafzimmer.

Vielleicht müsste ich ein schlechtes Gewissen haben, doch um ehrlich zu sein, würde ich die vergangenen Stunden um nichts in der Welt wieder hergeben. Wie sie mich ansah, als sie in meiner Wohnung war und ihr Haar öffnete, wovor ich mich insgeheim gefürchtet hatte. Diese braunen, unordentlichen Wellen, die über ihre Bluse fielen. Ich musste den Blick erwidern, gejagt von allem, was ich und was sie hoffentlich – offensichtlich? – wollte. Und als sie mit ihren Fingern noch versuchte, für etwas Ordnung zu sorgen, und die Hand anschließend sinken ließ, so ähnlich wie damals, als ich zum ersten Mal mit ihr sprach, da war es, als würde ich wieder über dem Wasser schweben und kurz davorstehen, den Himmel zu berühren. Und dann berührte ich ihn, küsste sie und verlor den Verstand vor Glück, als diesmal ich mit meinen Händen ihr Haar durchkämmte und in ihr versank.

»Wie kann Haar nur so sexy sein?«, flüsterte ich, sie musste das hören. Ich küsste sie wieder und die Dinge nahmen ihren Lauf. Mein Kopf war erfüllt von ihr und ich wollte sie nicht nur küssen. Ich wollte alles mit ihr.

Ich liebe sie für alles, was sie ausmacht, das Innere wie das Äußere, und irgendwo da drin ist das Geheimnis, das mich an ihr fasziniert und das ich nie herausbekommen werde.

Es hat mich total erwischt und ich weiß nicht, wie das möglich ist. Wie kann ein Mensch so viel empfinden und trotz alledem nicht platzen? Ich kenne sie nun seit eineinhalb Jahren und habe dieses Brodeln immer unter Kontrolle halten können, aber in den letzten Wochen hatte es angefangen zu sprudeln und war schließlich in der Sekunde übergekocht, als sie meinen Kuss erwiderte und ich mir sicherer als je zuvor war, dass sie mich will. Ebenso, wie ich sie.

Also zog ich sie mit mir, stieß die Tür zum Schlafzimmer auf und ließ sie nicht los, knöpfte ihre Bluse auf und bemerkte, wie sich ihre Hände unter meine Kleidung schoben. Ihre blassen Hände mit den zarten, weißen Fingern auf meiner Haut, so weich und vertraut, als gehörten sie dorthin. Ein »Wow« konnte ich mir nicht verkneifen, als sie so vor mir stand, in Jeans und BH, und ich ihren Körper bewundern konnte. Ich musste mich zusammenreißen, nicht so zu starren, und blickte ihr stattdessen in die Augen, verstand, dass sie wirklich mit mir zusammen hier war, allein, liebte sie dafür, dass sie mir diese Nähe schenkte, und wollte sie noch mehr als je zuvor.

»Ich liebe dich«, gestand ich ihr und war kein bisschen aufgeregt dabei.

»Zeig es mir«, sagte sie und ich zeigte ihr wie sehr.

Ich rücke noch näher zu ihr, lege einen Arm um sie und ziehe sie enger an mich.

»Ich liebe dich«, flüstere ich ihr ins Ohr und weiß, dass sie es hört.

Ich überlege, ob ich sie einfach küssen soll und ob wir da weitermachen können, wo wir aufgehört haben. Ich brauche sie so sehr, will ihren Körper an meinen gepresst spüren und ihren Rücken mit meinen Händen wieder und wieder erkunden, in ihr mich durchdrehen lassendes Haar greifen und ihr die ganze Zeit über sagen, wie sehr ich sie liebe. Ich frage mich, wie ich vorher jemals glauben konnte, verliebt zu sein.

Sie dreht sich zu mir um – sie hat also nicht geschlafen, wie ich es vermutet habe –, sieht mich an und ich lächle zurück. Egal, welche Entscheidungen ich in meinem Leben gefällt habe, wie viele sich dann im Endeffekt als Fehler entpuppten und wie sehr ich es einst bereute: Jetzt bereue ich nichts mehr und vermisse keine Erinnerung, die ich verpasst habe. Im Endeffekt führte mich alles genau hierher, zu ihr, und nur deswegen lege ich jetzt meine Hand an ihre Wange, streichle sie und kann nicht lange widerstehen. Ich küsse sie und ziehe sie, soweit das überhaupt möglich ist, noch enger an mich, ihr Körper so dicht an meinem, mein Herz so nah an ihrem. Wieder macht sie mich verrückt, als sie ein Bein um meine Hüfte schlingt und wir unser Spiel im Dunkeln fortführen. Von mir aus muss es nie wieder hell werden. Mit ihr fühle ich mich unbesiegbar und habe keine Angst vor den schrecklichen Bildern, die die Dunkelheit mit sich bringt. Jetzt nicht mehr.

Ich fahre mit den Händen über ihre nackte Haut und merke, wie es uns beide überkommt. Wir geben der Versuchung nach und folgen den explosionsartigen Schlägen unserer Herzen. Ich glaube fast, ihres tatsächlich zu hören, je tiefer sie mich zieht.

KAPITEL 3

Sie

Ich – liebe – dich. Drei Worte. Und ich habe diese Worte ausgesprochen, als ich gestern bei ihm war. Ich weiß, dass sie stimmen und vor allem, dass ich sie nicht hätte sagen sollen. Damit habe ich diese Panik in mir entfesselt, die Kontrolle abgegeben und mich in die Vorstellung fallen lassen, dass ich bereit dafür bin. Deswegen stehe ich wieder an der U-Bahn-Haltestelle Rauhes Haus. Es ist früh und er weiß vermutlich noch nicht, dass ich weg bin. Es ist kurz nach sechs Uhr morgens, der Himmel ist dunkel und nicht mehr so klar wie noch vor ein paar Stunden. Jedenfalls war dies so, als ich noch draußen war, umgeben von der kalten Luft und in Begleitung meines schlechten Gewissens, das sich um meine Schultern gelegt hat und versucht, mich mit seiner tonnenschweren Last zu erdrücken. Ich liebe dich. Wie konnte ich nur so dumm sein?

Irgendwann würde er feststellen, dass ich nicht die bin, die er haben will, und ich wäre zu diesem Zeitpunkt schon über beide Ohren in ihn verliebt, mit Herzklopfen und rosaroter Brille und einem immerwährenden Lächeln im Gesicht, dass mir die Wangen schmerzen. Ich weiß, ich kann dieser Mensch nicht sein, ich war es vor einer Ewigkeit mal, aber das ist vorbei, das ist mir jetzt noch mal um ein Vielfaches deutlicher bewusst. Schade eigentlich, dass es sie nicht mehr gibt, ich würde sie zu gern fragen, warum sie sich damals auf diese von Hollywood-Romanzen verherrlichte Bilderbuchliebe gestürzt hat und diese mit aller Macht in ihre Welt zerren wollte, nur damit man ihr im Endeffekt das Herz herausreißt. Und jetzt habe ich diese drei kleinen, verfluchten Worte gesagt und fühle mich furchtbar.

In neun Minuten kommt die nächste Bahn, also setze ich mich auf eine der Bänke aus Metall, die sich selbst durch die Jeans kalt anfühlt, und frage mich, ob er wach ist und sich wundert, wo ich bin.

Vor einer halben Stunde wachte ich auf und sah auf die Uhr. Dann zu ihm. Und wieder zur Uhr. Es war eine Versuchung, einfach liegen zu bleiben, den Morgen abzuwarten, zu sehen, ob er mir Frühstück ans Bett bringen, mir etwas Süßes ins Ohr flüstern und mich küssen würde, so wie ich es will, es mir vorstelle. Ich könnte der Versuchung vielleicht nicht widerstehen, ihm erneut die drei Worte zu sagen und …

Nein!

Ich stand auf, zog mich an und zwang mich dazu, mich nicht noch einmal umzudrehen, als ich seine Wohnung verließ. Kein letzter Blick auf sein Gesicht, bevor es vorbei war, damit ich doch noch einen Rückzieher machte.

Es ist still. So still, dass ich höre, wie es draußen anfängt zu regnen und die Tropfen gegen die Scheibe in meinem Rücken klatschen.

Er wird es nicht vergessen.

Es wird eine Lektion für ihn sein, die ihm im Gedächtnis bleibt. Dass ich nicht sein Mädchen bin. Dass ich nicht gerettet werden will und dass er seine Kräfte nicht an mich verschwenden sollte. Falls er überhaupt meinte, was er sagte.

Ich schlage die Beine übereinander und seufze. Ich würde alles dafür geben, zu gestern zurückkehren zu können.

Noch schläft er, und wenn er aufwacht, wird er die ersten drei, vier Sekunden denken, dass ich neben ihm liege. Ein paar weitere Sekunden später wird er sich dann fragen, wo ich bin, und vermuten, dass ich irgendwo in seiner Wohnung herumlaufe. Vielleicht habe ich mich in sein Bad oder die Küche verirrt, weil ich Durst bekommen habe und mir ein Glas Wasser hole. Als Nächstes wird er meinen Namen rufen, und weil ich nicht antworte, wird er aufstehen, durch die Zimmer gehen und feststellen, dass ich nicht mehr da bin. Nirgendwo eine Nachricht, und dann wird er sein Handy nehmen und mich anrufen wollen, nur um festzustellen, dass ich meine Nummer gelöscht habe, der Code war immer noch derselbe, ein kleines Quadrat unten links. Es ist besser, wenn es ein glatter Bruch ist, schnell, schmerzhaft und dadurch mit einer sehr guten Aussicht auf Heilung – jedenfalls laut Grey’s Anatomy.

Ach Leon, das Mädchen, das für dich bestimmt ist, heißt nicht Viola. Ich habe zwar Haar, das dich verrückt macht, aber sie wird dich mit allem verrückt machen, weil sie wunderschön sein wird und nicht nur Durchschnitt. Und sie wird ein Herz haben. Ein schlagendes, liebenswertes und kein verwundetes, angeschwollenes, das zweimal so groß ist wie ein normales, weil es krampfhaft versucht zu heilen und gleichzeitig dem Wunsch widerstehen muss, sich der verführerischen, aber alles zerstörenden Bombe wieder vor die Füße zu werfen. So wie gestern.

Der Regen wird stärker.

Ich hoffe, die Stadt ist groß genug, dass ich ihm eine Weile aus dem Weg gehen kann, wenigstens so lange, bis mir allein der Gedanke an ihn nicht mehr das Herz zerreißt. Und außerdem will ich ihm nicht noch mehr wehtun, als ich es ohnehin schon getan habe.

Ich habe meine Überzeugung für ein paar vergängliche Momente aufgegeben. Leon, für eine Nacht habe ich nicht genug aufgepasst und es war gut, so gut. Einerseits will ich keine Sekunde rückgängig machen, jede war intensiv, jedes Ich-liebe-dich von dir tat mir gut und ich wollte unbedingt, dass es wahr ist, dass du es ehrlich meinst und wirklich mich siehst. Ich würde dir so gerne alles geben, dich jeden Tag aufs Neue nach meinen Küssen süchtig machen und dich mich lieben lassen. Doch irgendwann würdest du nicht mehr nur meinen nackten Körper sehen, sondern auch meine nackte Seele, und sie würde dir nicht gefallen.

Und genau deshalb will ich alles rückgängig machen.

Jeden Moment, jeden Kuss, will dir jedes Ich-liebe-dich zurückgeben, jede Berührung, all die Intensität zwischen uns, als hätte es sie nie gegeben. Gleichzeitig kribbelt es an jeder einzelnen Stelle meines Körpers, an der du mit deinen Händen entlanggestrichen bist, die du liebkost hast, und ich erinnere mich an dich in mir, die stärkste körperliche Verbindung zweier Menschen, die seelisch verwandt zu sein scheinen. Das physische Äquivalent zu deiner Vorstellung einer echten Beziehung. Zu Liebe. Tja, der Schein trügt.

Ich schaue hoch und es sind sechs Minuten vergangen. Sieben, die Anzeige hat sich aktualisiert.

Kann ich meinen Kopf nicht abstellen? Ich will nicht denken, will mir keine Sorgen machen, nicht diesen inneren Konflikt ausfechten müssen.

Mein Blick huscht zwischen den Gleisen, der Anzeige und der Treppe hin und her. Weiß er schon, dass ich weg bin? Noch eine Minute. Die Zeit läuft ab, ticktack, ticktack. Für einen Moment stelle ich mir vor, wie ich den Bahnsteig hinunterklettere und mich auf die Gleise setze, wie der Zug mich erfasst und ich nicht mehr denken muss, weil ich es nicht mehr kann. Weil ich tot bin. Einfach tot. Nicht denken. Tot. Nicht atmen. Tot.

Aber da spüre ich den Lufthauch und weiß, die Bahn fährt gleich ein, und damit ist meine Entscheidung gefallen, dass mein riesiges, pulsierendes Herz weiterschlagen muss. Ich sehe die Lichter im Tunnel. Sie kommen näher und ich stehe auf. Die Bahn bremst, das schleifende Geräusch ist zu hören, und kurz bevor sie zum Stehen kommt und sich die Türen öffnen, nehme ich in meinem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Ich wende den Kopf zur Seite und sehe ihn oben an der Treppe stehen.

Er ist es.

Mein Herz setzt einen Schlag aus und die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich.

Er steht da und sieht mich und nimmt bereits die ersten Stufen nach unten. Was macht er hier? Woher wusste er, wo ich bin? Die Türen öffnen sich, ich sollte einsteigen, doch ich kann mich nicht bewegen. Lange, sehr lange Sekunden starre ich ihn einfach nur an, gelähmt von seinem unerwarteten Auftauchen, bevor das rote Licht aufblinkt und das »Einsteigen, bitte« über den Bahnsteig hallt.

»VIOLA!«, höre ich ihn rufen und ich reiße meinen Blick von ihm los.

O Gott, was tue ich hier? Ich stoße ihn weg, nach all der Zeit, die wir miteinander verbracht haben, in der er immer für mich da war. Ein plötzlicher, endgültiger Schlussstrich aus dem Nichts und es ist noch tausendmal schlimmer, als ich es erwartet habe. Es ist die Hölle und ich spüre ihr Brennen noch deutlicher, jetzt, wo ich dabei zusehe, wie es kaputtgeht.

Ich höre seine Schritte, die nicht mehr weit von mir entfernt sind, und ohne richtig darüber nachzudenken, mache ich einen Satz nach vorne und stehe plötzlich in dem menschenleeren Abteil.

Drei. Zwei. Eins. Die Türen schließen sich in meinem Rücken und ich drehe mich langsam um.

Da ist er, auf der anderen Seite der Scheibe, aus der Puste, mit einem fragenden Blick in den Augen: Wieso? Wieso gehst du? Wieso bist du eingestiegen?

Mein Puls rast und ich fange an zu zittern.

Ich will meine Hände ausstrecken, sie dorthin legen, wo seine sich befinden, aber da fährt die Bahn ab und ich verschwinde in der Dunkelheit mit dem Bild vor mir, wie er mir mit einem Blick, der mein Herz aufspießt und es der Länge nach aufreißt, Fragen stellt. Und damit habe ich die letzte Chance vertan, ihm weiter die Person vorzuspielen, die er haben will, weil ich ihn zu sehr und auf überaus egoistische Weise begehre.

Du willst mich nicht, Leon. Du willst jemanden, der normale Schwächen hat, die man wieder hinbiegen kann. Aber das bin ich nicht. Wenn du erst einmal hinter die Fassade siehst und deinen Irrtum bemerkst, ist der Zauber verschwunden. Dann würdest du mein wahres Ich sehen, das dich nie so glücklich machen könnte wie die von mir erzeugte Illusion. Sie ist eine Lüge. Du liebst meine Fiktion, nicht mich. Ich bin betrunken vom Rosenwasser, doch mich erdrückt dieser aufgezwungene Heiligenschein, ich bekomme kaum noch Luft. Meine Flügel sind beschmutzt und gestutzt, und dass mein Lächeln nicht echt ist, weil ich noch nie mehr Freude als Angst empfinden konnte, entspricht auch der traurigen Wahrheit.

Die U-Bahn ist vom Tunnel verschluckt worden und ich sehe mein Bild in der Scheibe gespiegelt. Und dann sehe ich wieder sein Gesicht und wie ich ihm alles wegnehme.

Ich stelle mir vor, wie ich ihm von meiner Vergangenheit erzähle, jedes Detail preisgebe und er mir glaubt und mich versteht. Dass er die Person sieht, die ich jetzt bin, nicht die, die ich war, und dass er sie liebt. Den Menschen hinter der Fassade. Weil das beim letzten Mal schon so wunderbar geklappt hat.

Sein Blick hat sich in meine Netzhaut eingebrannt und auch als sich ein paar Tränen aus meinen Augen lösen, wird er nicht weggespült. Wieder seufze ich und schüttle den Kopf.

Ich hätte nicht einsteigen sollen.

KAPITEL 4

Er

»Sie ist gegangen – und dann?«

»Bin ich ihr hinterher.«

»Wie? Du sagtest doch gerade, sie sei schon weg gewesen, als es noch nicht mal richtig hell war …«

»Ja, das stimmt auch. Ich bin wach geworden und das Bett neben mir war noch warm. Ich wusste, sie konnte noch nicht lange weg sein.«

»Und dann bist du aufgestanden und ihr einfach hinterher? Um sechs Uhr morgens? Und du wusstest nicht einmal, ob sie wirklich zur Bahn ist, geschweige denn, nicht schon längst weg?«

»Nicht wirklich, aber wo hätte sie sonst sein sollen?«

Laut pustet Finn aus und sieht mich stirnrunzelnd an, den Typen, der einer Frau nachgelaufen ist »wie ein hungriger Straßenköter einem halben Käsesandwich«, was er wahrscheinlich sagen würde, wenn ich nicht so einen jämmerlichen Anblick böte.

Er ist mein bester Freund, und nach den letzten beiden Tagen habe ich mich endlich dazu durchgerungen, zu ihm zu fahren und ihm die ganze Geschichte zu erzählen. Ich komme nicht vor und nicht zurück. Es ist, als wären meine Gedanken in einer Sanduhr gefangen, die immer in genau dem Moment umgedreht wird, wenn das letzte Korn durch die winzige Öffnung fallen soll, und dann stehe ich wieder unten auf dem gläsernen Boden und sehe dabei zu, wie sie erneut auf mich niederprasseln. Finn mustert mich und hat eine Augenbraue hochgezogen.

»Du Romantiker«, grinst er und schüttelt leicht den Kopf.

Ich schlage mir die Hände vors Gesicht und stehe auf, werfe einen Blick aus dem Fenster und gehe, weil ich nichts mit mir anzufangen weiß, zum Kühlschrank und nehme mir eine Flasche Wasser heraus. Ich öffne den Schraubverschluss und lasse mir so viel Zeit wie nur möglich. Wenn ich mich wieder zu Finn umdrehe, muss ich das Gespräch fortführen, und ich weiß nicht, ob ich hören will, was er zu sagen hat. Ich nehme ein paar Züge, stelle die Flasche zurück und setze mich auf den Stuhl, von dem ich aufgestanden bin.

»Also?«, fragt Finn.

»Was, also?«

»Na, ist sie gut im Bett?«, fragt er unverblümt und ich will nicht nur ihm, sondern vor allem mir selbst eine reinhauen.

Ich hätte mich von ihr nicht so verrückt machen lassen sollen. Dass ich mit ihr geschlafen habe, hat alles kaputt gemacht, und genau das wollte ich doch um jeden Preis vermeiden. Jetzt denkt sie womöglich, ich bin einer dieser Typen, die ihr nur an die Wäsche wollen, und sie hat recht und gleichzeitig auch nicht. Ich meine, wer würde bei ihr schon Nein sagen?

Es ist überflüssig zu leugnen, dass man nicht nervös wird und neugierig zugleich, wenn sie einem ihre Aufmerksamkeit schenkt. Sie ist eine Herausforderung, der nicht viele Menschen gewachsen sind, und die Leute, die es trotzdem wagen – so wie ich –, vermasseln es in genau dem Moment, in dem sie einen auf die Probe stellt.

»Unglaublich«, sage ich wahrheitsgemäß und sehe ihn direkt an und er merkt, dass ich nicht über eine Eroberung rede.

»Du hast dir ordentlich Zeit gelassen. Und ich kenne sie? Du hast ja öfter von ihr erzählt, dass ihr euch trefft, aber ich habe echt kein Bild von ihr vor Augen. Viola, richtig?«

»Viola. Sie war auf unserer Schule. Du musst sie kennen.«

Er wiegt den Kopf hin und her, ohne mich aus den Augen zu lassen, und ich fühle mich dieser Beobachtung nicht gewachsen und wende den Blick ab.

»Ich habe keine Ahnung, von wem du sprichst«, gibt er sich geschlagen.

Ich stöhne genervt auf und er hebt abwehrend die Hände.

»Du bist derjenige, der mir kein Bild zeigen wollte. Kann ich doch nichts für.«

»Sie mag keine Fotos«, erkläre ich.

Er zuckt mit den Schultern. Innerlich verdrehe ich die Augen und frage mich, wie sie ihm nicht aufgefallen sein kann. Dann erinnere ich mich an den späten Abend damals in Boberg und dass ich da zum ersten Mal mit ihr gesprochen habe. Dass ich sie sah und feststellte, wie schön sie ist, außerhalb der schulischen Mauern, und da weiß ich wieder, wieso er sie nicht kennt. Ich war allein. So hat er sie nie gesehen.

»Ich glaube dir immer noch nicht ganz, dass da bis auf das eine Mal nichts zwischen euch gelaufen ist. Ihr trefft euch doch jetzt schon über ein Jahr, kommt das hin?«

Ich nicke.

»Eineinhalb, um genau zu sein. Kann ja nicht jeder so wie du sein und alle paar Wochen ’nen neuen Typen am Start haben«, necke ich ihn, doch er nimmt es gelassen und lacht. Ich habe ja recht.

Wie aufs Stichwort bimmelt sein Handy und er grinst. Dabei erinnert er mich an die Grinsekatze aus Alice im Wunderland.

»Timo«, sagt er, gibt mir ein Zeichen und verschwindet aus der Küche, um den Anruf entgegenzunehmen.

Ob es etwas ändern würde, wenn ich schwul wäre? Wahrscheinlich nicht. Man hat genau die gleichen Probleme, nur dass einem keine Frau, sondern ein Mann die Hölle heiß macht. Ich kann ein Lied davon singen, denn bei jedem Treffen hält mich Finn mit den neuesten Geschichten über den süßen Barkeeper, das knackige Model oder den schnuckeligen Dozenten von der Uni auf dem Laufenden. Sein aktueller Freund ist Timo, den er in einer Philosophievorlesung kennengelernt hat, aber mehr weiß ich noch nicht. Gerade ist es mir auch ziemlich egal.

Ich sitze alleine in der Küche, schaue aus dem Fenster, höre Finns gedämpfte Worte durch die geschlossene Tür dringen und ziehe zum tausendsten Mal mein Handy aus der Tasche, um zu sehen, ob sie sich gemeldet hat. Nichts. Die Anruflisten sind nach wie vor leer, ihre Nummer ist immer noch gelöscht und auch auf WhatsApp habe ich keine Nachricht von ihr erhalten. Sie ist weg, hat sich einfach so von mir gelöst.

Ich atme tief durch, aber das erleichternde Gefühl will sich nicht einstellen. Stattdessen kribbelt es in mir, als würde mich jemand von innen an den Rippen kitzeln.

Anderthalb Jahre.

»Ich will nicht zu dir nach Hause. Das geht in die falsche Richtung und wir sind doch Freunde. Wenn ich mit zu dir komme, dann nur, weil es nicht anders geht.«

So oft hat sie verneint, wenn ich sie nach einem Konzert oder Kinobesuch fragte, ob sie noch mit zu mir kommt, einfach, um den Abend noch nicht enden zu lassen. Ich wollte sie bei mir haben, nicht, um sie ins Bett zu bekommen, sondern weil es mir immer besser geht, wenn sie da ist.

Wenn sie es nicht wollte, warum hat sie es dann ausgerechnet an diesem Abend getan? Warum habe ich nicht einmal darüber nachgedacht? Es will mir nicht mehr einfallen. Ach verdammt!

Ich haue mit der Faust auf den Tisch, tue mir dabei selbst weh und auch das macht es nicht besser.

»Lass die Wut raus«, sagt Finn, der sein Telefonat offensichtlich beendet hat und wieder gegenüber von mir Platz nimmt.

»Mir geht’s scheiße, Mann. Richtig scheiße.«

»Das kann ich sehen. Aber ernsthaft, über ein Jahr lang? Und vorher war gar nichts?«

»Ich habe doch selbst keine Ahnung, was los ist. Wir haben uns einmal geküsst, aber das war’s auch.«

»Aha!« Als hätte er mich bei etwas ertappt, aber ich schüttle den Kopf.

»Nein, so war das nicht. Es war letztes Jahr, ungefähr zur gleichen Zeit wie … du weißt schon. Mit ging’s schlecht, sie hatte sich gerade getrennt. Wir haben es einfach ignoriert und nicht wieder drüber gesprochen.«

Er kratzt sich am Kopf.

»Das verstehe ich nicht.«

Ich bekomme den Eindruck, dass Finn gar nichts versteht, und da fällt mir auf, dass ich genauso ahnungslos bin. Nie habe ich ihren Wunsch der Heimlichtuerei hinterfragt, es hatte was, ohne Zweifel. Wir haben uns nicht versteckt, sind in Clubs gegangen, in den Stadtpark, haben bei Starbucks Kaffee getrunken, sind mit der Bahn gefahren, waren am Hafen und so weiter. Doch es waren immer nur wir zwei, niemand sonst. Sie gehörte nicht zu meinem Freundeskreis und ich nicht zu ihrem. Wir waren unser eigener, winziger Kreis, der irgendwo existierte, und ich dachte nicht eine Sekunde daran, dass es seltsam wäre. Vielleicht habe ich es zu sehr genossen, sie für mich alleine zu haben.

Halt! Präsens! Gehört, nicht gehörte, sind, nicht waren, und existiert, nicht existierte. Ich will die Vorhänge nicht zuziehen, als wäre ein Theaterstück vorbei und wir würden jetzt jeder unserer Wege gehen, als gehörten wir nicht auch hier draußen in das Leben des jeweils anderen. Und trotzdem stehe ich jetzt alleine auf der Bühne, ohne sie.

»Ich hasse sie«, sage ich geradeheraus.

»Das ist nicht gut.«

»Ist mir schon klar, dass es nicht gut ist, wenn ich jemanden hasse. Wer sagt so etwas schon?«

»Ich glaube, du hast mich nicht verstanden.«

»Ach, und was habe ich deiner Meinung nach nicht verstanden?«

»Du hasst sie wirklich«, stellt Finn nüchtern fest.

Hatten wir das nicht gerade? Aber er fährt fort und erklärt, was er damit eigentlich meint.

»Du liebst sie und deswegen hasst du sie.«

»Kannst du bitte deutsch mit mir sprechen?«