Sogkräfte - Karin van Mourik - E-Book

Sogkräfte E-Book

Karin van Mourik

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Beschreibung

In diesem Buch erzählt Karin van Mourik aus ihrem bewegten Leben. Die mehrsprachige Freiburgerin und international agierende Unternehmerin mit vier Jahrzehnten Russland-Erfahrung berichtet von kuriosen Erlebnissen, berührenden Begegnungen und Alltagserfahrungen aus der untergegangenen Sowjetunion, aus Zeiten des Umbruchs und aus der jüngeren Vergangenheit Russlands. Kritisch und offen, mit viel Humor und Empathie, nicht wertend, aber immer genau beobachtend. So entsteht das nuancierte Bild eines Landes und seiner Menschen. In einer Zeit, in der die deutsch-russischen Beziehungen durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt sind, unternimmt das Buch einen kostbaren Verständigungsversuch und zeigt Kulturtransfer in der Praxis. So wird deutlich, dass ein Dialog möglich, ja unverzichtbar ist.

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Karin van Mourik

Sogkräfte

Ein Leben zwischenDeutschland und Russland

Unter Mitarbeit von Natalia Barannikova,

Co-Autorin der russischen Fassung

Autorisierte Übertragung aus dem Russischen und Bearbeitung

von Elisabeth Cheauré

Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder GmbH

Umschlagfoto: ©Amelie Mathis

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft SRL, Timișoara

ISBN Print: 978-3-451-38868-2

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-82967-3

Inhalt

Vorwort

Wie ich beschloss, Russisch zu lernen (1975)

Im Leningrader Blockade-Museum (1977)

Geschichte einer Liebe (1977)

Wenn die Russen kommen (1991)

Witebsker Bahnhof (1977)

Verwirrung (1977)

Elabuga (2011)

Zwischenstation Liebe (1980)

Hochzeit in Schwarz (1981)

Milch, Honig und erste Abgründe (1981)

Smetana-Wolken (1988)

Euphorie für ein Jahr … (1982)

… und ihr krachender Zusammenbruch (1985)

Luoravetlan (1993)

Das Horrorzimmer (1992)

Ein Kriegsgefangener und seine Postkarten (2012)

Absurde à la russe (1980er-Jahre)

Hammelfett und Pferdefleisch (1989)

Der Dolch des Wehrmachtsoffiziers (1990)

Frauenschach (1983)

Orpheus in der Unterwelt (2009)

Mein goldenes Moskau (1990er-Jahre)

Silicon Valley (1988)

Zwetajewa. Letzte Begegnungen (1992)

„Russischer Winter in Freiburg“ (1994)

Wie Lenin mir den Weg zeigte (1994)

Transsibirischer Albtraum (1996)

Lidija (1997)

Sprache als Schlüssel (1989)

Racheengel (1998)

Cherchez la femme (1991)

Die zweite gute Nachricht (2005)

Anmerkung der Übersetzerin

Über die Autorin

Vorwort

Geschichten. Immer wieder und überall meine „russischen Geschichten“. Und dann meist dieselbe Reaktion: „Darüber müssen Sie doch ein Buch schreiben!“ Ich konnte mir das aber nicht vorstellen, denn das mündliche Erzählen liegt mir einfach mehr.

Und so war es ein Glücksfall, dass ich Natalia Barannikova traf, mich mit ihr anfreundete und mich kurz darauf das Angebot aus Russland erreichte, meine Geschichten als Buch zu veröffentlichen. Wir begannen mit der Arbeit: Ich erzählte in russischer Sprache über mein Leben, und Natalia formte daraus einen literarischen Text. Dafür kann ich ihr nicht genug danken.

Das Produkt unserer gemeinsamen Arbeit erschien dann tatsächlich 2018 unter dem russischen Titel „Perevod Russkogo. Dnevnik frojljajn Mjuller – frau Ivanov“ („Übersetzung des Russischen. Das Tagebuch von Fräulein Müller – Frau Iwanow“) im Moskauer Bombora-Verlag. Es folgten viel beachtete Buchpräsentationen in Russland und bald auch eine erste Vorstellung des Buches im Rahmen einer Veranstaltung des Freiburger Zwetajewa-Zentrums und der West-Ost-Gesellschaft. Auch diese erste Lesung einzelner Kapitel aus der deutschen Übersetzung, mit der mich meine Freundin, die Freiburger Slawistin Elisabeth Cheauré, beschenkt hatte, fand großen Zuspruch.

Dennoch zögerte ich lange, diese Sammlung von Episoden meines Lebens und meinen speziellen, von jahrzehntelanger Erfahrung geprägten Blick auf Russland zur Gänze einem deutschen Publikum zu präsentieren.

Die Gründe dafür waren komplex: Zum einen finden sich in der russischen Fassung des Textes Kapitel und einzelne Passagen, die mir entweder zu persönlich erscheinen oder explizit für eine russische Leserschaft geschrieben sind. Zum anderen aber erwies sich der russische Text mit seinem stellenweise romantisierenden oder auch pauschalisierenden Duktus auf Deutsch erstaunlicherweise als befremdlich. Ich musste erkennen, dass die deutsche Fassung an nicht wenigen Stellen und in einigen Kapiteln nicht mehr meinem Wesen und meiner Art des Erzählens entsprach. Zugleich aber erhob der Text nach wie vor den Anspruch, „mein Leben“ abzubilden.

Ich schlug mich mehr als zwei Jahre mit dem Dilemma herum, den deutschen Text in der ursprünglichen Fassung nicht weiter verbreiten zu wollen, auch um mich selbst zu schützen. Zugleich aber war es mir ein Anliegen, mit meiner Familie, mit meinen Freundinnen und Freunden und auch mit anderen an Russland Interessierten meine Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse im deutsch-russischen „Zwischenraum“ zu teilen. Ich danke daher Elisabeth Cheauré sehr für ihre Bereitschaft, den deutschen Text mit mir zusammen einer stellenweise radikalen Überarbeitung zu unterziehen. Die vorliegende Fassung, die vom russischen Original an vielen Stellen abweicht, ist damit von mir autorisiert.

Mein Dank gilt auch meinem geliebten Mann Jan Kees, der das Entstehen dieses Buches mit nie nachlassendem Interesse begleitet hat, sowie Frau Dr. Regine Nohejl und Matthias Deutschmann für ihre kritische Durchsicht des Textes.

Das Buch, das auf besondere Weise erst in russischer Sprache entstanden ist und dann eine elementare Revision für eine deutschsprachige Leserschaft erfahren hat, bietet keine „Potemkinschen Dörfer“, nichts Ausgedachtes, mit Ausnahme der fingierten Namen, die die meisten Protagonisten tragen. Es ist ein Versuch, mein Leben, das auf vielen Ebenen, privat wie geschäftlich, mit Russland verbunden war und ist, zu reflektieren – auch wenn es aufgrund der jüngsten politischen Entwicklungen wie ein Bericht aus einer versunkenen Welt anmuten mag. Aber alles, was ich an Positivem und Negativem erlebt und erfahren habe, ist eben – Russland. Ein Land, das für mich starke Sogkräfte entwickelt hat. Um den verführerischen wie auch bisweilen verhängnisvollen Anziehungen nicht mit Haut und Haaren zu erliegen, war ich froh, zugleich fest in Deutschland verwurzelt geblieben zu sein. So habe ich bewusst ein Leben zwischen Deutschland und Russland gewählt.

Freiburg, im Juni 2022

Karin van Mourik

Wie ich beschloss, Russisch zu lernen (1975)

Ich habe gar nichts beschlossen. Irgendwie wurde für mich entschieden. Warum – das weiß höchstens der liebe Gott.

Natürlich kam dazu kein Engel angeflogen, natürlich war es keine Offenbarung, und doch weiß ich eines sehr genau: Russisch zu lernen, mit all den Folgen, die daraus erwachsen würden, war keine bewusste, sondern eine sehr spontane Entscheidung.

Zu diesem Zeitpunkt war alles Russische für mich rätselhaft und verschlossen. Ein Geheimnis. Und natürlich gerade deshalb faszinierend. Frost. Pelz. Schlitten. Troika. Der Film Doktor Schiwago, zehn Mal gesehen. Diese unglaubliche Leidenschaft in den dunklen, feuchten Augen von Omar Sharif, Zärtlichkeit, Mitgefühl, Kühnheit – alles zusammen ein Sinnbild für ein edles, ja fast erhabenes Russland. Sogar die russische Revolution bekam ein romantisches Antlitz, so stellte ich mir das jedenfalls vor. Vor der unfassbar riesigen Sowjetunion hinter dem Eisernen Vorhang hatte ich zwar irgendwie Angst, aber diese Angst, diese Furcht zog mich in eigenartiger Weise an.

Und dann der Satz, im Traum gehört und auch in wachem Zustand. Der Satz meines Vaters, eines ehemaligen Kriegsgefangenen: Kogda puskaete domoj? Wann entlasst ihr uns nach Hause? Ein Satz, mir von Kindheit an vertraut … zunächst jedoch nur eine Ansammlung von Lauten.

Frankreich dagegen liebte ich schon immer, ich sprach auch sehr gut Französisch. Ich träumte davon, Dolmetscherin zu werden (damals, 1974, mein Traumberuf – noch ohne zu verstehen, dass dies eine Tätigkeit ist, die meinem Temperament nicht entspricht). Ich wollte die französische Sprache vollkommen beherrschen, ohne nachzudenken, wollte mich frei wie ein Vogel am Himmel fühlen, in Melodien baden … die Eleganz der Sprache in mich aufnehmen … mein Deutschsein etwas abmildern …

Für die Ausbildung zur Dolmetscherin hätte ich meine Heimatstadt verlassen müssen. Meine Eltern aber durchlebten damals eine finanziell schwierige Zeit und baten mich inständig, nicht wegzugehen.

Aber was dann? Romanistik an der Freiburger Universität zu studieren, bedeutete damals, dass man nur Lehrerin werden konnte. Und das war nun gar nichts für mich.

Und so studierte ich notgedrungen als zweites Fach Anglistik. Aber die englische Sprache hatte für mich schon damals den etwas zweifelhaften Ruf eines reinen „Kommunikationsinstruments“. Ich mochte die Sprache nicht. Punkt.

In einer Lehrveranstaltung zur englischen Literatur, ich war gelangweilt und unglücklich über dieses Studienfach, kam mir blitzartig eine rettende Idee. Ich wartete ungeduldig das Ende der Vorlesung ab, ging ins Studentensekretariat und schrieb mich für Slawistik ein.

Beim Mittagessen, ich weiß noch, es gab saure Leber, die ich ohnehin noch nie gemocht hatte, teilte ich den Eltern dann meinen Entschluss mit: Ich werde Russisch studieren.

Die Eltern brachen nur deshalb nicht zusammen, weil sie schon saßen. Sie saßen weiter auf ihren Stühlen, schweigend, sie aßen – scheinbar ruhig – sogar weiter. Aber es herrschte eine solche Grabesstille, dass die Gabeln, wenn sie die Teller berührten, ein glockenähnliches Geräusch von sich gaben. Ich selbst hatte einen dicken Kloß im Hals wie noch nie im Leben. Irgendwie aber auch ein Gefühl von Mitleid mit meinen Eltern, es war mir unangenehm, sie direkt anzublicken.

Sie erklärten rundheraus, das habe keine Zukunft. Ich hätte keine Zukunft. Russisch zu lernen sei der reine Wahnsinn. Die Situation war eigentlich verfahren, geradezu hoffnungslos, denn ich verstand augenblicklich, dass meine Eltern in diesem Moment eines mit letzter Sicherheit wussten: Sie würden mich nicht davon abbringen können.

Das Unverständnis meiner Eltern ertrug ich mit erstaunlicher Ruhe, so gelassen, wie man mit Unabänderlichem umgeht, mit einem trüben Montagmorgen zum Beispiel.

Die Idee aber, Russisch zu studieren, wurde immer stärker und intensiver. Bald hatte ich das Gefühl, damit nicht bis zum Beginn des neuen Semesters warten zu können Und so trat ich wenigstens dem Russischen Chor bei, den es an der Freiburger Universität seit Jahrzehnten gab und auch heute noch gibt.

Ich sang mit Inbrunst „Vo pole berezon’ka stojala“ (Auf dem Felde steht ein Birk’chen), lernte den Text in der lateinischen Umschrift aus dem Kyrillischen, handgeschrieben vom Chorleiter, „Väterchen“ Alexander Kresling. Natürlich verstand ich überhaupt nichts vom Inhalt, von meiner kühnen Idee aber war ich mehr und mehr begeistert.

Ja, die Eltern … Das war das eine. Aber selbst die Professoren der Universität sagten uns offen ins Gesicht: Wir hätten keine Zukunft, wir, diese Studenten, die es wagten, Russisch zu studieren. Allerdings war auch uns selbst klar: Aus Westdeutschland kommend, in die Sowjetunion zu reisen, war schwierig, vielleicht auch gefährlich.

Wenn ich überhaupt über meine Zukunft nachdachte, so stand mir immer ein einziges Bild vor Augen, eine Szene aus dem Film Doktor Schiwago: Schienen, die sich irgendwohin im fernen Schnee verlieren.

Im Leningrader Blockade-Museum (1977)

Bis zu jenem Tag hatte ich nur ein Gefühl. Deutschland, und gerade die Generation meiner Eltern, hatte unfassbar schwer gesündigt. Ich hatte diese Schuld selbstverständlich angenommen, als nicht zu vergebende Schuld, auch für mich persönlich. Diese Schuld nicht mehr tragen zu müssen, von ihr befreit zu werden, gar erleichtert durchatmen zu können – das war für mich unvorstellbar. Die Schuld war immer da, Nachfragen waren verboten, ein Hinterfragen noch mehr. Deutsche Volkslieder zu singen – unangebracht. Die deutsche Fahne zu schwingen – gar nicht zu denken. Kurz gesagt, positive Gefühle gegenüber meinem eigenen Land existierten nicht, dafür reichlich Unbehagen, eine Deutsche zu sein.

Wir, die meisten Westdeutschen meiner Generation, leben bis zum heutigen Tage in dem Bewusstsein, dass diese Schuld niemals getilgt und die Verbrechen durch nichts gesühnt werden können. Auch die Tatsache, dass man ja selbst nichts Schlechtes getan hat, hilft nicht. Ich weiß nicht, wie andere darüber denken, aber ich konnte mich damals des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die Ostdeutschen nicht in gleichem Maße mit diesen Fragen abquälten. So, als hätten sie automatisch Vergebung erfahren, als sie den Weg in Richtung Kommunismus eingeschlagen hatten.

1977. Ich, jung, graublaue Augen, strohblondes Haar. Trotz meiner Jugend schon damals so etwas wie eine sprudelnde Quelle für eine psychologische Arbeit zum Thema „Schuldkomplex“. Zum ersten Mal in der Sowjetunion, in Leningrad, und froh, in einer Gruppe von Schweizer Studenten mitreisen zu können, die hier Russisch lernten. Über meine wahre Herkunft wussten vielleicht nur jene freundlichen jungen Männer Bescheid, die zu unserer Begleitung abgestellt waren, wohl Komsomolzenführer mit dem Auftrag, unsere Gruppe zu beobachten.

Ich galt sicherlich nicht als Spionin, aber irgendwie empfand ich die Schweizer Gruppe dennoch als eine Art Schutzschild, unter dem ich relativ gelassen durch Leningrad spazieren konnte. Diese Ruhe hielt an, bis wir das Blockade-Museum der Stadt Leningrad besuchten, das in einem früheren Bombenschutzkeller untergebracht war.

Hier erzählte man uns zuallererst von den Gräueltaten der Deutschen, von der über 900 Tage andauernden Blockade Leningrads, von der ich so gut wie nichts wusste. Uns wurde alles erzählt, worüber zu Hause, in der Heimat, geschwiegen worden war. Und der Exkursionsführer hielt – im Glauben, eine Schweizer Gruppe vor sich zu haben – mit seiner Meinung über den Faschismus nicht hinter dem Berg.

Im Bombenschutzkeller wurden Explosionen nachgestellt. Die Wände wackelten, in den Fluren flackerten kleine Lampen. Unfassbarer Lärm, schreckliche Bilder, zutiefst beängstigend.

In einem anderen Raum erblickte ich in einer Vitrine die Uniform und den Helm eines deutschen Soldaten. Uns wurde erzählt, dass er von einem tapferen Jungen, einem Helden, getötet worden sei. Dieser Junge war ein Held, weil er viele Faschisten getötet hatte. Auf dem kleinen Schild an der Vitrine las ich, dass der getötete Soldat Hans geheißen hatte, dass er 19 Jahre alt gewesen war, als er starb, und dass er aus einer deutschen Kleinstadt stammte. Was der Exkursionsführer weiter sagte, nahm ich nur noch unbewusst wahr, ich blieb stehen und starrte stumpf auf Einzelheiten der Trophäen: Knöpfe, Abzeichen auf der Uniform, Kratzer am Gürtel, die Ziffern auf der metallenen Erkennungsmarke. Und dann sah ich ihn. Den Brief, der aus der ledernen Gürteltasche ragte.

Zeilen, akkurat mit Feder und Tinte geschrieben, in meiner eigenen Sprache. Ich hatte das Gefühl, als freuten sich die Buchstaben, endlich gelesen und verstanden zu werden. Ich las geradezu gierig, las noch einmal, las alles, was ich irgendwie entziffern konnte. Es war ein Brief der Mutter von Hans. Vielleicht spätabends geschrieben, die Küche war sauber gemacht, die kleineren Kinder ins Bett gebracht, Stille, nur das Ticken des Uhrzeigers ist zu hören. … Der Krieg war wohl noch nicht bis auf die Schwäbische Alb gelangt. Ein Brief voller Hoffnung, dass der geliebte Sohn heil nach Hause kommen werde. Die Mutter schickt ihm warme Strümpfe, selbst gestrickt. Diese Strümpfe lagen auch da, in der Vitrine, mitten unter den Trophäen.

Aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein.

Die Sachen von Hans schwiegen hinter dem Glas. Auch ich stand schweigend, zur Salzsäule erstarrt. Mitten unter allen anderen, die diskutierten, ihr Mitgefühl zeigten und offensichtlich tief bewegt waren. Mit meinem Verstand war ich bei ihnen, meine Seele aber war ganz woanders, hinter dem dicken Glas der Vitrine.

Und plötzlich löste sich der Knoten. Der Knoten „Identität“. Hier, in einem Leningrader Bombenkeller, wurde mir das ganze Grauen bewusst, das mit meiner Nation verbunden ist. Und zugleich wurde mir schlagartig bewusst: Ich gehöre trotz alledem zu Hans und zu meinem Volk. Ich bin – eine Deutsche.

Geschichte einer Liebe (1977)

Wir begegneten uns am ersten Tag meines Aufenthalts in Leningrad, genauer gesagt: in den ersten Stunden. Direkt auf der Straße. Bumm. Er hatte an diesem Abend etwas vor und ich etwas ganz anderes. Ich hetzte meiner Gruppe zum Abendessen in die Mensa nach, hatte getrödelt, mich verspätet. Die ganze Gruppe war verspätet. Kaum vom Flughafen gekommen, in Hektik die Zimmer bezogen, regelrecht angetrieben. Ab zum Abendessen, sofort, viel zu spät. Und so trafen zwei Menschen aufeinander ohne romantische Begleitumstände.

Ich schritt kräftig und zielgerichtet aus, vom Studentenheim Richtung Mensa, die in einem anderen Gebäude untergebracht war. Und er rollte mit einem leichten Fahrrad auf mich zu.

Er fragt mich etwas. Irgendetwas zu irgendeinem Durchgang zu irgendeinem Haus. Was soll ich da sagen? Er grinst von Ohr zu Ohr. Wahrscheinlich versteht er sofort, dass ich gar nichts sagen werde. Gar nichts sagen kann. Vielleicht lacht er deshalb. Eines ist klar: Ich bin von Kopf bis Fuß Ausländerin. Allein mein Gang! Auch heute erkenne ich aus einem Kilometer Entfernung eine russische Frau allein schon am Gang: kleine Schritte, weiches Auftreten. Das kann ich bis heute nicht.

Bitte, sagen Sie doch, wo ist dieser Durchgang? – Hä?

Wenn er gefragt hätte, sagen Sie bitte, wo ist hier die Venus? – Ich hätte auch versucht, ihm irgendwie eine Antwort zu geben. Er war einfach hinreißend!

Er tut erstaunt, als er meinen Akzent hört. Und dann bin ich erstaunt, weil er plötzlich ins Deutsche wechselt (sein Deutsch ist noch viel schlechter als mein Russisch).

Er gibt mir seine Telefonnummer, eilig mit irgendeinem Stift auf irgendein Papier gekritzelt, er bietet seine Dienste als Fremdenführer an, als Lehrer der russischen Sprache, als hilfreicher Geist, als Engel, der in der Lage sei, jedes auch nur erdenkliche Problem für mich zu lösen … Er bringt mir einen relativ schweren Satz bei: Pozovite k telefonu Dmitrija! Holen Sie Dmitrij ans Telefon! Und dann fährt er klingelnd mit seinem Fahrrad davon.

Und so wurde ein hektischer Tag mit viel Hin-und-Her-Gerenne auf einmal zu einem Tag voller romantischer Erinnerungen.

Dieser junge Mann hatte – und ich übertreibe wirklich nicht – Ähnlichkeit mit Alain Delon. Und sein blaues Hemd war so was von gut gebügelt.

Den Satz habe ich immer wieder geübt (mein ewiger Wunsch nach Perfektion!), aber angerufen habe ich natürlich nicht.

Fünf lange Tage …! Jeden Tag eile ich zum Abendessen, immer denselben Weg. Jeden Tag suche ich ihn unbewusst mit den Augen. Ohne das Entscheidende zu bedenken: Unser Abendessen ist jetzt immer um 18 Uhr und nicht um 20 Uhr wie am Tag unserer Ankunft.

Was ich damals aber noch nicht wusste: Mein russischer „Alain Delon“ wartete auf mich. Jeden Tag. Aber zur falschen Zeit.

Und dann sehe ich ihn endlich. Am selben Platz, mit demselben Fahrrad, mit demselben strahlenden Lächeln. Schlagartig wird mir klar, dass auch ich auf ihn gewartet habe. Jetzt aber ist die Situation denkbar ungünstig: Ich bin nicht allein, stehe mitten im fröhlichen Kreis der anderen Studenten. Und deshalb geht es nun nicht anders: Er muss uns jetzt alle zu einem Spaziergang durch Leningrad einladen, und er tut dies sehr liebenswürdig und großzügig!

Aber auch Studenten können manchmal verständnisvoll und feinfühlig sein: Niemand außer mir erscheint am vereinbarten Treffpunkt.

Diese Stadt! Mit ihren Adelspalästen, rätselhaften Toren, Einfahrten und Durchgängen, voller kulturgeschichtlicher Geheimnisse. Diese Stadt mit dem Namen des Revolutionsführers. Die Schönheit der Kirchen in erzwungener Koexistenz mit den streng gehaltenen Losungen der Partei.

Dann die Dämmerung. Die üblichen Schilder nun in leuchtendem Neon. Ganz einfache Wörter: Brot, Milch, Fisch. Wörter, bislang trockene Buchstaben in meinem Lehrbuch, auf einmal zum Leben erwacht. Leicht zu lesen, gut zu verstehen. Das gelbe Licht der Straßenlaternen strahlt Heimeligkeit und Ruhe aus. Eine Ruhe aber, die zugleich irgendwie seltsam ist, nicht still, eher schweigsam wie ein alter Mann. Im Eisnebel eines langen Winters dämmert diese Stadt vor sich hin, unterbrochen nur von der abendlichen Lebendigkeit der Konzertsäle und Theater, aufgeschreckt von begeistertem, stürmischem Applaus, um dann endlich zum Frühjahr hin aufzuwachen und im Sommer die Augen überhaupt nicht mehr schließen zu wollen … 

Und zu guter Letzt: Mitja. Er scheint einfach alles zu verkörpern, was mir an den russischen Liedern, Gedichten, Bildern gefällt … Natürlich ist er kein russischer Recke mit schöner Rüstung, er ist Alain Delon – mit der Figur eines Leistungssportlers, mit den breiten Schultern eines Schwimmers.

Leningrad ist zärtlich zu uns: Wie wunderbar, durch die Stadt zu flanieren! Kellerrestaurants, nur über viele Stufen zu erreichen, heiße Küsse auf Parkbänken, eine Romantik, die fast banal klingen könnte – wenn über ihr nicht das Flair des Verbotenen schwebte. Denn es waren strenge Verhaltensregeln, die Mitja als Erbauer des Kommunismus und mir als Bürgerin eines imperialistischen Landes zugedacht waren. Geradezu trunken vor Glück, besinnungslos hingegeben – zum Teufel mit den Vorschriften!

Das gibt es nur in der Jugend.

Wenn die Russen kommen (1991)

Seit meiner Kindheit hörte ich immer wieder diesen einen Satz. Später, als ich in der Lage war, den Sinn mancher Erwachsenensätze zu hinterfragen, hörte ich weiter diesen Satz, den ich nicht verstand, obwohl er eigentlich sehr einfach war: „Wenn die Russen kommen.“ Am Anfang habe ich einfach nicht verstanden, warum sie denn überhaupt zu uns kommen wollen. Dann aber habe ich die Drohung wahrgenommen: Sei bereit, sei Tag und Nacht bereit! Bald wurde mir bewusst, die Russen kommen wohl, um sich für irgendetwas zu rächen. Aber zu fragen, warum sie denn eigentlich kommen wollen, kam mir nicht in den Sinn. Genauso wenig fragte ich, wann genau sie denn kommen würden.

Jahre vergingen. Von Russen nach wie vor nichts zu sehen. Der Satz aber blieb. Das Gefühl von Gefahr verwässerte sich. Der Satz „Wenn die Russen kommen“ fand sich nun in allen möglichen Variationen. So ähnlich wie bei den Russen Puschkin immer wieder in irgendwelchen Alltagssituationen auftaucht, die mit Poesie rein gar nichts zu tun haben: Wer wird denn hier eigentlich das Geschirr waschen? Puschkin vielleicht?

Wann wirst du das denn endlich erledigen? Wenn die Russen kommen? Es war wie eine Warnung: Mach endlich, es könnte sonst zu spät sein!

Diesen Satz kennen alle Deutschen meiner Generation. Wir sind mit ihm aufgewachsen: Wenn die Russen kommen!

1989 arbeitete ich als Dolmetscherin für die Firma Philips in Hamburg, dort hatte ich eine Delegation von russischen Herzchirurgen zu betreuen. Ich musste übersetzen, übersetzen, übersetzen. Von morgens bis abends und noch dazu diese ganz spezielle Thematik. Abends ging es dann zum geselligen Teil über, und ich begleitete die Chirurgen auch zum Abendessen und bis tief in die Nacht in die Bars.

Morgens befassten sich meine Schutzbefohlenen wieder mit ihrer Sache, und meine Gehirnwindungen konzentrierten sich ausschließlich auf neue Methoden in der Herzchirurgie.

Dabei fühlte ich mich richtig gut. Ich genoss die männliche Aufmerksamkeit, denn die russischen Männer sind großzügig mit Komplimenten, und die Delegation bestand ausschließlich aus Männern. Aber ich war schrecklich müde und erschöpft.

Der letzte Abend mit den Chirurgen ging wie immer zu Ende, also in einer Bar. Alle waren gut aufgelegt und geradezu ausgelassen. Es wurde getrunken, ich habe auch getrunken, es wurden Anekdoten erzählt, die ich übersetzte, es wurde gelacht, ich lachte mit. Man wollte sich nicht trennen, ich musste mich gegen vier Uhr morgens geradezu losreißen …

Als ich aufwachte, der Schock: Der Wecker hatte offenbar geläutet, ich aber hatte ihn nicht gehört. In 15 Minuten war Abfahrt meiner Chirurgen zum Flughafen.

Ich schmiss alles zur Seite, was mir auf dem Nachttisch in die Hände kam, nahm den Telefonhörer, wählte hastig die Nummer des Portiers. Er nahm nicht sofort ab, deshalb war ich bemüht, meine Stimme besonders streng und bestimmt wirken zu lassen:

„Hören Sie, hören Sie genau zu. Jetzt gleich, in wenigen Minuten, kommt eine Gruppe von Russen zu Ihnen. Sie verstehen kein Deutsch. Sie verstehen auch kein Englisch. Bitte machen Sie nur, was ich Ihnen jetzt sage, das ist wirklich extrem wichtig! Nehmen Sie ein Blatt Papier, und schreiben Sie mit großen Buchstaben eine Zeit auf: sieben Uhr fünfzig. Sieben Uhr fünfzig! Und wenn dann die Russen kommen, dann zeigen Sie ihnen dieses Blatt. Haben Sie mich verstanden?“

„Ja“, antwortete er irgendwie seltsam, als ob er überhaupt nichts verstanden hätte. Ich musste also noch deutlicher werden:

„Bitte verstehen Sie, das ist wirklich wichtig! Zeigen Sie den Russen dieses Papier, einfach nur zeigen! Ich flehe Sie an!“

Mehr konnte ich nicht sagen, ich hatte wirklich keine Zeit, innerhalb weniger Sekunden musste ich mich anziehen – und ich brauchte wenigstens noch eine Minute, um meine Wimpern zu tuschen!

Der Portier verstand nun endlich meine zunehmende Aufregung, reagierte aber sehr seltsam:

„Bitte beruhigen Sie sich, bitte beruhigen Sie sich doch.“ Er senkte sogar seine Stimme. „Ich mache doch alles, was Sie sagen … Aber glauben Sie denn wirklich, dass die Russen ausgerechnet zu mir kommen? Ich bin doch nur Gast. Zimmer 121 …“