Soll und Haben - Jane Gleeson-White - E-Book

Soll und Haben E-Book

Jane Gleeson-White

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Beschreibung

Unsere Welt wird beherrscht von Zahlen, erzeugt in den Buchführungskonten von Nationen und Konzernen. Diese Zahlen bestimmen das Handeln unserer Regierungen und Volkswirtschaften. Aber wo kommen sie her – und wie konnten sie so mächtig werden? Erst die doppelte Buchführung ermöglichte die wirtschaftlich-kulturelle Blüte der Renaissance, und begründete zugleich eine neue wissenschaftliche Weltsicht und schließlich den Kapitalismus unserer Tage. Erst aus ihr entwickelte sich die Möglichkeit, ganze Staaten zu bewerten. Gleeson- White zeigt, wie sehr die doppelte Buchführung seit 500 Jahren unser Denken weit über ökonomisches Handeln hinaus prägt. Diese Entwicklung ist fatal, weil wir die wahren Gesamtkosten – inklusive Zerstörung unserer Umwelt und soziale Kosten – nicht in unser Handeln mit einbeziehen. Ein Plädoyer für ein neues Denken.

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SOLL

und

HABEN

Jane Gleeson-White

Die doppelte Buchführung und die Entstehung des modernen Kapitalismus

Aus dem Englischen von Susanne Held

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Double Entry. How the merchants of Venice shaped the modern world – and how their invention could make or break the planet« im Verlag Allen Lane, London, 2012

© 2011 by Jane Gleeson-White

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Gesetzt in den Tropen Studios, Leipzig

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94860-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10780-7

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2015 der Printausgabe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

INHALT

VORWORTBobby Kennedy und der Wohlstand von Nationen und Konzernen

1  BUCHFÜHRUNGUnsere erste Kommunikationstechnik

2  KAUFLEUTE UND MATHEMATIKER

3  LUCA PACIOLIAuf dem Weg zum Ruhm

4  PACIOLIS BAHNBRECHENDE SCHRIFT ÜBER BUCHFÜHRUNG AUS DEM JAHR 1491

5  DIE VERBREITUNG DER VENEZIANISCHEN DOPPELTEN BUCHFÜHRUNG

6  DIE VERWANDLUNG DER DOPPELTEN BUCHFÜHRUNGIndustrielle Revolution und Geburt eines Berufsstands

7  DOPPELTE BUCHFÜHRUNG UND KAPITALISMUS– HENNE UND EI?

8  JOHN MAYNARD KEYNES, DIE DOPPELTE BUCHFÜHRUNG UND DER WOHLSTAND DER NATIONEN

9  UNAUFHALTSAMER AUFSTIEG EINES UNTERGANGSIMMUNEN BERUFSSTANDS

10  DAS BRUTTOINLANDSPRODUKT Kann Buchführung unsere Erde retten?

EPILOG

ANHANG

Dank

Anmerkungen

Bibliographie

Personen- und Sachregister

Für meinen Vater Michael Gleeson-White, der mir Geschichten über Kunst und Finanzen erzählte.

Und– stets– für Michael Hill.

Welche Vorteile gewährt die doppelte Buchhaltung dem Kaufmanne! Es ist eine der schönsten Erfindungen des menschlichen Geistes.

Johann Wolfgang von Goethe, 1795

Vor über vierhundert Jahren wurde in dem ersten Buch, das überhaupt je zu diesem Thema verfasst wurde, Buchhaltung in einer noch heute in der gesamten Welt maßgeblichen Form dargestellt.

AnaniasC. Littleton, 1933

Eine Tatsache, die von Historikern gern vergessen wird: Auch die nüchternsten Berufe haben ihre Geschichte, und es sind genau diese nüchternen Berufe, die zunehmend die kapitalistische Welt prägen.

Norman Davies, 1996

VORWORT:Bobby Kennedy und der Wohlstand von Nationen und Konzernen

Am Montag, den 18. März 1968, drei Monate, bevor die Kugel eines Attentäters seinem Leben ein vorzeitiges Ende setzte, hielt Senator RobertF. Kennedy an der University of Kansas eine leidenschaftliche Rede. Er sprach vom Gesundheitszustand seiner Nation, der enormen Wirtschaftsmacht der Vereinigten Staaten von Amerika, und von unserer Angewohnheit, die nationale Gesundheit an Zahlen wie dem Gross National Product (GNP, entspricht dem Bruttosozialprodukt, BSP) abzulesen. Kennedy sagte:

In zu großem Ausmaß und für zu lange Zeit haben wir die Qualität eines Menschen und den Wert einer Gemeinschaft lediglich nach der Anhäufung materieller Dinge bemessen. Unser Bruttosozialprodukt beläuft sich gegenwärtig [1968] auf über 800 Milliarden Dollar pro Jahr, aber wenn wir die USA nach diesem Bruttosozialprodukt beurteilen, dann gehören dazu auch Luftverschmutzung und Zigarettenwerbung und Rettungsfahrzeuge, die die Opfer von Verkehrsunfällen von unseren Highways abtransportieren, außerdem Spezialschlösser für unsere Haustüren und Gefängnisse für die Leute, die sie aufbrechen. Die Zerstörung der Mammutbäume gehört dazu und der Verlust der natürlichen Schönheiten unseres Landes, die einer außer Kontrolle geratenen Zersiedelung zum Opfer gefallen sind. Napalm gehört dazu und Atomsprengköpfe und gepanzerte Polizeifahrzeuge, mit denen die Aufstände in unseren Städten bekämpft werden müssen. Whitmans Gewehr gehört dazu und Specks Messer und die Fernsehprogramme, die Gewalt verherrlichen, um Spielzeuge an unsere Kinder zu verkaufen. Was für das Bruttosozialprodukt andererseits keine Rolle spielt, sind die Gesundheit unserer Kinder, die Qualität ihrer Erziehung, die Freude, die sie beim Spielen haben. Die Schönheit unserer Dichtung zählt nicht, es zählen nicht die Stabilität unserer Ehen, die Intelligenz unserer öffentlichen Debatten oder die Anständigkeit unserer Beamten. Es zählen nicht unsere Klugheit und unser Mut, weder unsere Weisheit noch unsere Ausbildung, weder unser Mitgefühl noch die Liebe zu unserem Land, kurz: Es zählt alles außer dem, was das Leben lebenswert macht.

Wie bereits viele vor und nach ihm (darunter auch Simon Kuznets, der »Erfinder« des Bruttosozialprodukts), war Robert Kennedy überzeugt, dass etwas ganz grundsätzlich nicht stimmt mit der Methode, mit der wir unseren nationalen Wohlstand bemessen, sowie mit den Zahlen– dem schon genannten GNP sowie dem Gross Domestic Product (GDP, Bruttoinlandsprodukt, BIP), die wir zu diesem Zweck heranziehen. Kennedy wies darauf hin, dass die fraglichen Zahlen zu alarmierenden Anomalitäten führten: Nach ihrer Logik ist Zigarettenwerbung wertvoller als die Gesundheit eines Kindes. Über vierzig Jahre nach der Rede von Robert Kennedy bilden Bruttosozial- und Bruttoinlandsprodukt noch immer die Grundlage politischer Entscheidungen von Regierungen, Finanzinstituten, Konzernen und Gemeinwesen. Nach wie vor beherrschen diese irreführenden Zahlen unser Leben. Wie konnte es dazu kommen, dass wir so viel falsch gemacht haben?

Und nicht nur in unserer Volkswirtschaft ist vieles schiefgegangen. Von der weltweit bekannten Pleite des Energiegiganten Enron im Jahr 2001, der in den 1990er Jahren noch hochgelobt wurde, bis zum fast vollständigen Zusammenbruch der weltweiten Finanzmärkte im Jahr 2008 erlebten wir eine Sturzflut spektakulärer Beispiele völlig irreführender und abgründig fehlerhafter Berichterstattungen der betroffenen Unternehmen.

Am 27. Februar 2008 wurde die Jahresabrechnung 2007 der Royal Bank of Scotland(RBS) abgezeichnet. Die RBS war hinsichtlich ihrer Vermögenswerte ein Titan– das weltweit größte Unternehmen. Ihr Vermögen war größer als das Bruttoinlandsprodukt vieler Nationen, auch größer als dasjenige Großbritanniens: Letzteres belief sich auf 1,762Billionen Englische Pfund, das Vermögen der RBS-Gruppe betrug 1,9Billionen Pfund. Wie man es von einer bedeutenden Institution auf dem Finanzmarkt erwarten darf, die mit der Verwaltung des Geldes anderer Menschen betraut ist, verströmte die Rhetorik des Jahresberichts 2007 wohlüberlegte, maßvolle Verantwortlichkeit: »Die Politik der Gruppe besteht darin, eine starke Kapitalbasis aufrechtzuerhalten, sie angemessen zu erweitern und sie in all ihren Aktivitäten effizient einzusetzen, um die Rendite der Aktionäre zu optimieren, und dabei ständig auf eine ausgewogene Beziehung zwischen der Eigenkapitalausstattung und den fundamentalen Geschäftsrisiken zu achten.«

Nur zwei Monate später, im April 2008, wurde die Bank mitsamt ihrer ausgewogenen Strategie in den Abgrund gerissen. Sie war torpediert worden, weil sie sich mit toxischen Kapitalanlagen eingelassen hatte, die ihre Bilanz vergifteten und ein klaffendes Loch von 12Milliarden Pfund rissen– eine Zahl, die binnen kurzem auf 100 Milliarden Pfund hochschnellte, Tendenz weiterhin steigend. Und dieser Abgrund von vielen Milliarden Pfund wird in den Firmenkonten an keiner Stelle deutlich. Dabei sind diese Konten doch als Werkzeuge gedacht, die den Aktionären, dem Markt und der Öffentlichkeit Transparenz garantieren sollen. Müsste also eine massive Deckungslücke von 12Milliarden Pfund aus den Geschäftsbüchern der RBS nicht ersichtlich sein? Oder mit den Worten des Schriftstellers John Lanchester: »Von Rechts wegen, nach den Gesetzen der Logik und nach allem, was uns heilig ist, müsste es doch in den Geschäftsbüchern und der Bilanz Hinweise auf das geben, was schiefgelaufen ist– vor allem, weil bei einem derart harten Schlag für das Unternehmen schon mehr als zwei Monate zuvor etwas schiefgelaufen sein muss.«

Später stellte sich heraus, dass sich die Gruppe in sehr viel größerem Ausmaß dem Markt der Subprime-Hypothekendarlehen exponiert hatte, als sie öffentlich zugab. Trotz dieser offensichtlichen schwerwiegenden Falschdarstellung des Gesellschaftsvermögens im Februar 2008 äußerte sich ein Sprecher der RBS folgendermaßen: »Der Geschäftsleitung lagen sämtliche Informationen vor, und die Details, die in allen Finanzberichterstattungen an den Markt weitergegeben wurden, spiegelten die tatsächliche Meinung des Instituts zum damaligen Zeitpunkt wahrheitsgemäß wider.«

Das sollte in den darauffolgenden Monaten zu einem nur allzu bekannten Refrain werden, als die Giganten der Finanz- und Bankenwelt ins Wanken gerieten– Lehman Brothers, Lloyds-HBOS, AIG, Anglo Irish Bank, die isländischen Banken Glitnir und Landsbanki–, allesamt zu Fall gebracht durch »immense Löcher«, die sich– scheinbar aus dem Nichts– auf der Aktivseite ihrer Bilanzen auftaten. Und der Abstieg jener Giganten hatte zur Folge, dass das gesamte internationale Finanzsystem in die Knie ging. Für die Kosten dieser Zusammenbrüche werden die Steuerzahler noch jahrzehntelang aufzukommen haben.

Mittels Buchführung werden jährlich publizierte Vermögensaufstellungen erzeugt, die die Transparenz eines Unternehmens garantieren und dadurch die Leistung eines Unternehmens überprüfen und sicherstellen sollen, dass die Märkte effizient funktionieren. Solche Aufstellungen umfassen die Bilanz, die Gewinn- und Verlustrechnung, den Cashflow-Bericht und die Feststellung der thesaurierten Gewinne. Allerdings hat sich herausgestellt, dass man diesen Werkzeugen nicht trauen kann, wenn es um die Darstellung des tatsächlichen Zustands eines Betriebes geht. Dennoch verlassen sich bei ihren Entscheidungen, die das Leben von uns allen beeinflussen, Regierungen, Manager, politische Entscheidungsträger und Aktionäre gleichermaßen auf diese Informationen.

Wie also konnte es dazu kommen, dass wir so viel falsch gemacht haben?

Unsere Welt wird von Zahlen regiert, die in den Geschäftsbüchern von Nationen und Konzernen produziert werden. Aber diese Zahlen sind beliebig und illusorisch. Wie konnte es so weit kommen, dass wir uns an diesen in die Irre führenden Leuchttürmen orientieren, dass wir bei der Ausrichtung unserer Politik, unserer Institutionen, unserer Volkswirtschaften und Gesellschaften von ihnen abhängig wurden? Woher stammen diese falschen Propheten, diese Zahlen und Konten?

Ich möchte mit meinem Buch versuchen, auf diese und weitere Fragen eine Antwort zu geben. Als ich mit der Abfassung begann, hatte ich mir allerdings andere Fragen gestellt. Seine Entstehung umfasst drei unterschiedliche Stadien. Die ursprüngliche Idee kam mir in jenem Sommer, den ich als Praktikantin des Peggy Guggenheim-Museums in Venedig verbrachte, damals, als ich in die Geheimnisse und die Symbolsprache der italienischen Renaissance-Malerei eingeführt wurde, und im Zusammenhang mit dem Abschluss meines Volkswirtschafts-Studiums im Jahr darauf. Renaissance-Kunst und volkswirtschaftliche Fragen vermischten sich für mich, und ich entwickelte eine gewisse Neugier hinsichtlich ihrer Beziehung zueinander– hinsichtlich des Wohlstands, der die Kunst ermöglichte. Ich habe die gelbe Post-it-Notiz aufgehoben, auf der ich das ursprüngliche Vorhaben für dieses Buch festhielt. Es heißt da: »Ich würde gern die materiellen Ursprünge der Renaissance ebenso würdigen, wie wir ihre kulturellen Früchte würdigen.« Meine erste Idee bestand also darin, die vernachlässigten materiellen Grundlagen der großen Renaissancekunst zu untersuchen, ich wendete mich folglich dem Mittelalter zu– den »Dark Ages«.

Die Dark Ages entpuppten sich als keineswegs finstere Epoche, jedenfalls nicht in den aufblühenden Stadt-Staaten Norditaliens. Diese Städte– Pisa, Genua, Florenz und Venedig– gerieten in den Sog eines explosionsartigen wirtschaftlichen Aufstiegs. Ende des 11.Jahrhunderts, im Jahr 1095, hatte Papst Urban II. zur Befreiung Jerusalems vom Islam aufgerufen und damit eine unerhörte Anzahl von Menschen dazu veranlasst, sich quer durch Europa hindurch auf den Weg ins Heilige Land zu machen. Norditalien wurde zu einem der wichtigsten Durchgangsgebiete für die christlichen Krieger. Das Geschäft boomte, und als der Handel sich immer weiter ausdehnte, entwickelten die Norditaliener eine neue Buchführungsmethode, um die zunehmende Komplexität ihrer geschäftlichen Transaktionen zu bewältigen. Die Kaufleute von Venedig perfektionierten sie, und sie wurde bekannt als Buchführung alla viniziana: die venezianische Methode. Heute bezeichnen wir sie als doppelte Buchführung.

Der »Vater« der modernen doppelten Buchführung war ein Franziskaner, geboren in den 1440er Jahren in der Nähe von Florenz: Sein Name war Luca Pacioli. Im Jahr 1494 veröffentlichte er die erste gedruckte Abhandlung über die venezianische Buchführung. Es gibt kaum Literatur über ihn, und als ich mich daran machte, sein Leben zu erforschen, nahm meine Faszination mehr und mehr zu. Der Mönch war auch ein Mathematiker, der bedeutendste mathematische Enzyklopädist der Renaissance. Es stellte sich heraus, dass er in derselben Stadt und im selben Jahrhundert geboren wurde wie Piero della Francesca, einer meiner Lieblingsmaler der Renaissance, der möglicherweise Luca Pacioli in Mathematik unterrichtete. Dann entdeckte ich, dass Pacioli seinerseits den Helden meiner Kindheit Leonardo da Vinci in Mathematik unterrichtet hatte. Paciolis Magnum Opus– seine mathematische Enzyklopädie, in der auch sein 27Seiten umfassender Traktat über Buchhaltung enthalten ist– bildet einen historischen Wendepunkt des Abendlands. Er veröffentlichte nämlich sein Werk genau zu dem Zeitpunkt, als die Mathematik sich von ihrer mittelalterlichen Ausprägung zum Inbegriff der Wissenschaft und zur Lingua Franca der modernen Welt der Wissenschaft wandelte. Davon sollte mein Buch also handeln: von der Geschichte der doppelten Buchführung, von Luca Pacioli, von der Revolution in der Mathematik– und in der Kunst.

Es stellte sich heraus, dass in derselben Weise, wie der Wohlstand Italiens zur Zeit der Renaissance auf einer bestimmten neuen Art der Buchführung beruhte, die Kunst von einigen der größten Maler des Zeitalters auf Mathematik beruhte– und Luca Pacioli war aktiv an beiden revolutionären Entwicklungen beteiligt.

Eine dritte Umgestaltung erlebte dieses Buch, als ich mich mit der Hypothese beschäftigte, das System eines nationalen Rechnungswesens– erstmals theoretisch formuliert von einem meiner volkswirtschaftlichen Helden, John Maynard Keynes– könne irgendwie mit Paciolis venezianischer Buchführung zusammenhängen. Ich entdeckte, dass die Prinzipien der doppelten Buchführung, mit denen die Kaufleute von Venedig arbeiteten, exakt denen entsprachen, die den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens während der Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg zugrunde gelegt wurden.

Dieses Buch wurde so zu einer umfassenden Geschichte der doppelten Buchführung, von ihren ersten bekannten Ursprüngen im Italien des späten 13.Jahrhunderts bis zu ihrer Übernahme in die Weltwirtschaft des 21.Jahrhunderts.

Der Aufstieg und die Metamorphose der doppelten Buchführung gehören zu den bestgehüteten historischen Geheimnissen und stellen eine der wichtigsten noch nicht erzählten Geschichten dar. Warum ist das so? Erstens, weil man mit Fug und Recht sagen kann, dass sie dem Wohlstand und der kulturellen Blüte der Renaissance zugrunde lag. Zweitens, weil die doppelte Buchführung das Aufkommen des Kapitalismus ermöglichte und insofern die Wirtschaftsformen auf der ganzen Welt für immer veränderte. Drittens, weil sie sich im Lauf der Jahrhunderte zu einem ausgeklügelten Zahlensystem entwickelt hat, das im 21.Jahrhundert die globale Wirtschaft beherrscht. Dieses mittelalterliche Artefakt ist noch heute weltweit in täglichem Gebrauch.

Schließlich, und das ist wohl am wichtigsten, hat die Buchführung gegenwärtig das Potential, unseren Planeten zu retten oder aber ihn gänzlich dem Untergang auszuliefern. Weil die Buchhaltung alles und jedes auf seinen Geldwert herunterbricht, hat sie uns veranlasst, die eine frei zugängliche Ressource des Lebens am geringsten zu schätzen: unsere Erde. Aufgrund unserer Buchhalterlogik haben wir den Planeten heruntergewirtschaftet– und aufgrund ebendieser Logik haben wir jetzt die Chance, seinen Untergang abzuwenden. Im Oktober 2010 schrieb Jonathan Watts, ein Journalist des Guardian: »So weit ist es nun also gekommen. Die Krise der Artenvielfalt hat sich so verschärft, dass erstklassige Wissenschaftler, führende Politiker, Umweltaktivisten und religiöse Gurus uns nicht länger vor uns selbst retten können. Das Militär ist machtlos. Einen letzten Hoffnungsträger für das Leben auf dieser Erde gibt es aber vielleicht doch noch: die Buchhaltung.«

1BUCHFÜHRUNG: Unsere erste Kommunikationstechnik

Der Ursprung der Schrift ist kein Geheimnis mehr… Entgegen allem, was bisher angenommen wurde, hat die Schrift ihre Wurzeln tief in der Vorgeschichte– sie reichen zurück bis ins 9.Jahrhundertv.Chr. Und es hätte auch keiner vermutet, dass Schreiben auf Zählen zurückgeht.

Denise Schmandt-Besserat, 2002

Die Rolle der Kaufleute in der Gesellschaft des Mittelalters und der Frührenaissance als Impulsgeber wirtschaftlicher, politischer und wissenschaftlicher Neuerungen wird kaum irgendwo hinreichend gewürdigt.

Frank J. Swetz, 1987

»Schmerztabletten für Breachy… Abführtabletten für Ruth… Syphilis-Tabletten für Maria… 1 Unze entzündungshemmende, schmerzstillende Tinktur… Blutung Charlotte… 4 Unzen zerstoßenen Rhabarber… Bei einem der Neger einen Zahn ziehen… quecksilberhaltiges Abführmittel für Jack, den Koch…« Dieses Fragment wurde in den Geschäftsbüchern von George Washington gefunden. Washington war nicht nur ein hochgelobter Politiker und militärischer Befehlshaber, sondern auch ein erfolgreicher Unternehmer, der penibel jede Transaktion festhielt, die er in seiner Landwirtschaft, seiner Produktion und seinem Grundstückshandel tätigte– und immer bediente er sich dabei der doppelten Buchführung. Washingtons ausführliche Geschäftsbücher, die zusammen mit seinen Briefen und Tagebüchern aus dem 18.Jahrhundert auf uns gekommen sind, vermitteln einen tiefen Einblick in sein Leben und seine Zeit– aber erst in jüngster Zeit wird deutlich, welch unschätzbaren Wert seine Geschäftsbücher als Teil seiner Geschichte haben. Die aufschlussreiche Qualität von Geschäftsbüchern, die im Englischen als »accounting records« bezeichnet werden, ist im englischen Wort selbst bereits enthalten: In »Account« steckt nicht nur das Wort für »zählen«– »to count«–, sondern es kann auch einen Bericht, eine Erzählung bezeichnen (ähnlich wie im Deutschen, wo die Nähe von Zählen und Erzählen auch schon in der Bezeichnung »Erzählung« selbst liegt, Anm. d. Ü.). »Account« bezeichnet sowohl eine »Darstellung von Geld, Waren oder Dienstleistungen, die empfangen oder ausgegeben bzw. erbracht wurden, oder anderweitige Ein- und Ausgänge, in Verbindung mit einer Berechnung der Differenz«; als auch »eine Erzählung, einen Bericht, eine Beschreibung«.

Unser Drang zu berechnen, also unseren Besitz zu messen und seine Entwicklung nachzuverfolgen, ist einer der ältesten menschlichen Impulse. Wir haben gezählt, noch bevor wir uns abstrakter Zahlen zu bedienen wussten. Wir haben gezählt, noch bevor wir schreiben konnten. Tatsächlich hat es heute ganz den Anschein, als gehe die Schrift, eine der großartigsten menschlichen Erfindungen, auf Buchhalter zurück. Im Jahr 1969 begann die Archäologin Denise Schmandt-Besserat ein Forschungsprojekt, welches sie bis zur Fertigstellung über zwei Jahrzehnte lang in Anspruch nehmen sollte und zu ganz erstaunlichen Ergebnissen führte. 25 Jahre lang besuchte sie Museen im Vorderen Orient, in Europa und Nordamerika und untersuchte Tausende von Fundstücken– unscheinbare, von anderen Forschern ignorierte Stückchen aus Ton, sogenannte Tokens–, aufbewahrt in den Lagerräumen der Museen. Unter den kleinen Figuren, Gefäßen und Lehmziegeln stieß Schmandt-Besserat auf gebrannte Ton-Tokens in Form von Kegeln, Kugeln, Eiern und Zylindern. Ihr Verwendungszweck hatte sich Archäologen und Anthropologen bislang nicht erschlossen.

Als sie die Tokens zu Gruppen ordnete, erkannte Schmandt-Besserat, dass sie hier die Überreste eines uralten Zählsystems vor sich hatte. Die ältesten Tokens stammten aus der Zeit um 7000v.Chr., als sich in Mesopotamien (dem heutigen Irak) die ersten Siedlungen herausbildeten und die Menschen anfingen, ihre Erzeugnisse und Tauschaktionen systematisch aufzuzeichnen. Schmandt-Besserat erkannte, dass jede Form für etwas Bestimmtes stand: Ein Kegel war eine kleine Menge Getreide, eine Kugel war eine große Menge Getreide, und ein Zylinder war ein Tier. Diese einfache Token-Zähl-Methode war unser erstes Symbolsystem, das ausschließlich Kommunikationszwecken diente; sie war unser erster visueller Code und die erste Technik, die erfunden wurde, um Erinnerungen zu speichern.

Als in der Zeit zwischen 3500 und 3100 v. Chr. Städte entstanden und mit ihnen Bronzeschmieden und Brennöfen, das Töpferrad erfunden wurde, Händler sich aufmachten und weiter ausgreifender Handel aufkam, veränderten sich die Tokens signifikant. Ein komplexes Zählsystem bildete sich heraus. Jetzt gab es dreihundert Token-Formen, um ein breites Spektrum an Waren aufzeichnen zu können, darunter Brot, Honig, Textilien und Metall. Die Proto-Buchhalter begannen ihre Tokens in hohlen Tonkugeln oder »Hüllen« aufzubewahren, die mit den Siegeln der jeweiligen Tauschpartner gekennzeichnet waren. Der Experte für die Geschichte der Buchhaltung Richard Mattessich vertritt die Auffassung, die Erfindung der Ton-Tokens und Ton-Hüllen– der Transfer von Tokens in versiegelten Behältern zwischen Handelspartnern– könnte der Ursprung unseres modernen Buchhaltungssystems sein. Mattessich übersetzte die mesopotamische Form der Buchhaltung in heutige Termini und kam zu dem Schluss, dass die Gesamtsumme von Tokens in einer Tonhülle das Vermögen einer Person dokumentierte: Wurde ein Token in eine Hülle gelegt, so vermehrte dieser Vorgang das Vermögen oder den Wohlstand des Besitzers und entsprach per definitionem einer Belastungsbuchung. Entnahm man der Hülle ein Token, dann wurde das Vermögen des Besitzers verringert und kam einer Gutschrift gleich. (In der Buchhaltung bezeichnen die Termini »Soll« und »Haben« schlicht die Position in einem Konto: »Soll« entspricht der linken Seite des Kontos; »Haben« der rechten Seite. Diese Begriffe und ihre Verwendung werden im vierten Kapitel eingehender besprochen.)

Die damaligen Buchhalter gingen schließlich dazu über, die Tokens in den feuchten Ton der Umhüllungen zu pressen und so auf der Außenseite die Anzahl und Art der Tokens festzuhalten, die sich im Inneren befanden– und damit waren die ersten Schritte in Richtung Erfindung der Schrift getan. Der entscheidende Fortschritt aber vollzog sich um 3300v.Chr., als die Buchhalter das Token-Hülle-System in etwas völlig Neues umwandelten: Sie flachten die Tonkugeln ab und pressten die Tokens auf die ebene Oberfläche: Die ersten Tontafeln entstanden.

Der letzte Schritt zur Erfindung der Schrift bestand schließlich darin, dass die Händler erkannten, wie sie die Form der Tokens auf den Tafeln einfach mit einem Stift festhalten konnten, wodurch die Tokens entbehrlich wurden. Dreidimensionale Tokens konnten seither durch zweidimensionale Symbole dargestellt werden. Kugeln wurden zu Kreisen, Kegel zu Dreiecken, Eier zu Ovalen– man hatte die Schrift erfunden. Bis ungefähr 2000v.Chr. blieb Schreiben ausschließlich auf die Domäne des Handels beschränkt. Später setzte man die Schrift auch bei Begräbnisritualen ein, um das Gedächtnis an die Toten zu bewahren, und danach wurde die Schrift für eine weitere Gruppe von Wortschmieden interessant: Gesetzgeber, Priester, Historiographen und Geschichtenerzähler.

Abgesehen von ihrer Funktion bei der Erfindung der Schrift spielen Rechnen und Buchhalten für die menschliche Zivilisation eine entscheidende Rolle, da sie unsere Anschauung der Welt und unsere Glaubenshaltungen geprägt haben. Verweilen wir bei diesem frühen Beispiel: Die Erfindung des Rechnens mit Tokens in Mesopotamien war nicht nur bahnbrechend, weil sie den Handel erleichterte und die Entstehung der Schrift beförderte, »sondern weil sie die Menschen dazu brachte, die Welt um sich herum im Raster quantifizierbarer Ergebnisse wahrzunehmen«. Zum ersten Mal standen Werkzeuge zur Verfügung, die es dem Menschen ermöglichten, seine Umwelt zu zählen und zu messen– zu quantifizieren– und seine Erkenntnisse festzuhalten.

Sämtliche Kulturen haben in der einen oder anderen Weise ihre geschäftlichen Transaktionen aufgezeichnet, und viele der berühmtesten Zeugnisse handeln vom Rechnen und Berechnen. Der Codex Hammurapi, eine um 1790v.Chr. entstandene Stele mit 282 babylonischen Gesetzen, führt mehrere Gesetze zum Thema Buchhaltung auf, zum Beispiel die Nummer 104: »Wenn der Kaufherr dem Vermittler Getreide, Wolle, Öl oder irgendwelche bewegliche Habe zum Weiterverkauf überlassen hat, dann soll der Vermittler den Preis aufschreiben und ihn dem Kaufherrn übergeben; der Vermittler soll einen gesiegelten Vermerk über das Geld bekommen, das er dem Kaufherrn gibt.«

In den wohlhabenden Gemeinwesen Griechenlands und Roms, die als erste Kulturen ein Münzwesen entwickelten, erreichten die Ansprüche an eine verantwortliche Darstellung der materiellen Verhältnisse, also die Rechenschaftspflicht, einen neuen Höhepunkt der Differenziertheit. Das Parthenon-Fries aus dem 5.Jahrhundertv.Chr. enthält Rechnungsaufzeichnungen, etwa die Ausgaben des Schatzhauses von Athene, der Schutzgöttin der Stadt. Die Geschäftsvorgänge sämtlicher Beamten Athens wurden festgehalten, in Stein gehauen und in der Stadt öffentlich ausgestellt, sodass die Bürger nachvollziehen konnten, wofür die städtischen Gelder verwendet wurden. Außerdem waren sämtliche Athener Bürger angehalten, regelmäßig über ihre eigenen Finanzgeschäfte Rechenschaft abzulegen. Taten sie das nicht, wurden sie streng bestraft, indem ihnen zum Beispiel untersagt wurde, die Stadt zu verlassen, ihr Eigentum einem Gott zu weihen, den Göttern zu opfern oder ein Testament zu verfassen. Rechenschaftspflicht und freier Zugang zu Finanz-Informationen galten als ausschlaggebend für das Funktionieren der ersten Demokratie der Weltgeschichte.

Der berühmte römische Redner Cicero begann seine Karriere am Gericht mit Strafverfahren, die auf Beweismaterial aus Geschäftsbüchern beruhten; diese Geschäftsbücher stellten im antiken Rom wichtige Rechtsdokumente dar. Das Oberhaupt jeder römischen Familie war verpflichtet, über seinen Haushalt Buch zu führen. 77v.Chr. zog Cicero als Beleg für den guten Charakter und die Verlässlichkeit eines seiner Mandanten dessen solide geführtes Wirtschaftsbuch heran und erläuterte: »Tagebücher haben einen Monat lang Bestand, Wirtschaftsbücher überdauern die Zeit… Tagebücher halten die Erinnerung eines Augenblicks fest, Wirtschaftsbücher bezeugen Rechtschaffenheit und Gewissenhaftigkeit, die das Ansehen eines Mannes für immer garantieren.« Die Aufzeichnungen der tabulae rationum, des wichtigsten Rechnungsbuchs eines römischen Geschäftsmannes, waren in zwei Seiten aufgeteilt. Der römische Naturkundler Plinius der Ältere hielt diese Aufteilung für ganz vortrefflich, brachte sie doch zum Ausdruck, dass ein Ganzes aus zwei Seiten besteht. Plinius schrieb im Jahr 70n.Chr.: »Auf der einen Seite werden alle Ausgaben festgehalten, auf der anderen Seite alle Einnahmen; diese zwei Seiten bilden für jede Handlung jedes Menschen ein Ganzes.« Möglicherweise lassen sich hier bereits Ansätze für die doppelte Buchführung greifen, die dann rund 1200 Jahre später in Norditalien entstehen sollte. Plinius strich lobend die Tatsache hervor, dass zwei Seiten das Ganze einer Berechnung ergeben, das Ganze also auf dem Doppelten beruht, und in dieser Bemerkung kommt andeutungsweise auch schon der Reiz zum Ausdruck, den die doppelte Buchführung über die Jahrhunderte auf viele Denker ausgeübt hat: Immer wieder wurde sie als Metapher für die Gegensätzlichkeiten der menschlichen Existenz verstanden und eben auch für die menschliche Neigung, die Welt in Gegensätze aufzuteilen– Gut und Böse, Leben und Tod, Leib und Seele, Himmel und Hölle, Arbeit und Kapital.

Eines der wichtigsten Schriftzeugnisse von den sehr wenigen Dokumenten, die wir in Europa aus den Jahren zwischen dem Sturz Roms im 5.Jahrhundert und den Kreuzzügen haben, ist die Verordnung Capitulare de Villis. Diese Liste von Anweisungen für die Verwaltung der Krongüter datiert ungefähr aus dem Jahr 800 n.Chr. Angefertigt wurde sie auf Befehl Karls des Großen, des Königs der Franken, oder auch seines Sohnes Ludwig des Frommen.

Sie schreibt jedem Gutsverwalter vor, »jährlich eine Aufstellung unseres gesamten Einkommens zu verfassen, über die Ochsen unserer Bauern, die Ländereien, auf denen gepflügt werden muss, die Schweine, die Abgaben, Gerichtsgebühren und Geldstrafen, die Geldstrafen für unerlaubte Jagden in unseren Wäldern« und so weiter. Die Liste deckt die Berechnungen für das gesamte Unternehmen eines Feudalherrn ab, angefangen bei Details wie Seifen und Ölen und der Pflege der Fischteiche bis zum Kriegswesen: Pferden, Schmieden, Schildmachern. Die jährliche Erfassung der Güter des Herrn wurde ihm jedes Jahr zu Weihnachten vorgelegt, »so dass wir die Art und Menge unseres Einkommens aus den unterschiedlichen Quellen ersehen können«.

Dreihundert Jahre nach der Formulierung der Erfassungsregeln Karls des Großen wurde Europa in seinen Grundfesten von dem Wirtschaftsboom erschüttert, den die Kreuzzüge angestoßen hatten– eine Reihe von Massenbewegungen, die von Wirtschaftsbelangen denkbar weit entfernt waren. Papst UrbanII. reagierte damit auf ein Ersuchen des byzantinischen Kaisers: Dieser bat um Hilfe gegen die Türken, und der Papst rief im Jahr 1095 die gesamte Christenheit zum Krieg gegen die Ungläubigen auf. Die weltlichen Begleiterscheinungen der Kreuzzüge katapultierten Europa in eine neue Epoche, sie öffneten es in bisher nicht gekannter Weise in Richtung Osten und befeuerten seine stagnierende Wirtschaft. Der Historiker AnaniasC.Littleton drückte es folgendermaßen aus: »Eroberung, Verlust und Wiedereroberung Jerusalems hatten alles in allem weniger Einfluss auf die Zivilisation als die damit einhergehenden Begleiterscheinungen, die ursprünglich keineswegs beabsichtigt gewesen waren.«

Diese Nebenwirkungen machten sich zuerst in den norditalienischen Stadtstaaten bemerkbar: in Pisa, Venedig, Florenz und Genua, jenen Handelszentren, die ihren Reichtum oder ihre strategische Position einsetzten, um sich von ihren Feudalketten zu befreien, von der Herrschaft lokaler Aristokraten und der Kirche.

Als erste Stadt errang Pisa seine Freiheit, und im Jahr 1081 erkannte der Papst die Unabhängigkeit der Stadt an. Darauf folgte Venedig. 1082 gewährte die Goldene Bulle des byzantinischen Kaisers Alexios I. im Gegenzug zu Venedigs Unterstützung im Kampf gegen die Normannen den venezianischen Kaufleuten großzügige Handelsprivilegien im gesamten byzantinischen Reich westlich von Konstantinopel. Wie sich herausstellte, war die Goldene Bulle des Kaisers Alexios in der Tat Gold wert: Dreizehn Jahre nach ihrer Ausfertigung wurde durch den Ersten Kreuzzug der östliche Mittelmeerraum wieder geöffnet– und die Kaufleute von Venedig wurden damit zu Königen in einem lukrativen Handelsimperium, das sich von Grönland im Norden bis Peking im Osten erstreckte.

Zu den italienischen Handelsreisenden neuen Zuschnitts gehörte auch der legendäre, aus Venedig stammende Marco Polo (ca. 1254–1324), der im Jahr 1271 mit seinem Vater und seinem Onkel durch die Wüste Gobi zum Hof des Mongolenkaisers Kublai Khan reiste. Die Aufzeichnungen seiner Erfahrungen auf dieser Reise waren einer der ersten europäischen Ostasien-Berichte aus erster Hand vor dem 17.Jahrhundert. Entdecker wie Christopher Columbus nutzten sie als Informationsquelle.

Ein zweiter weitgereister italienischer Kaufmann des 13. Jahrhunderts war Leonardo da Pisa, heute besser bekannt als Fibonacci (1170–1240). Er wuchs an der Küste der Berberei auf, dem heutigen Algerien, wo sein Vater im dortigen Zollhaus für die Stadt Pisa tätig war. Der junge Fibonacci verbrachte seine Tage in den Basaren; dort lernte er das merkwürdige Zahlennotationssystem der arabischen Kaufleute kennen, das ihn mit höchster Bewunderung erfüllte. Er schrieb später: »Nach meiner Einführung und infolge der wunderbaren Unterweisung in der Kunst der neun Ziffern der Hindus drängte es mich, diese Kunst vor allen anderen zu erlernen.« Die Zahlzeichen, mit denen die Araber in den Basaren des Mittelmeerraums– in Ägypten, Syrien, Griechenland und in der Provence– arbeiteten, ließen sich für Berechnungen verwenden, die Fibonacci nie zuvor gesehen hatte: für Addition, Subtraktion und Multiplikation. Die einfache arabische Arithmetik, die uns heute so selbstverständlich ist, war damals in Europa noch so gut wie unbekannt. Menschen in Europa, die des Schreibens mächtig waren, verwendeten römische Zahlzeichen, um Zahlen zu notieren, und ein Rechenbrett– den Abakus–, um zu addieren und zu subtrahieren. In seiner einfachsten Form war der Abakus eine mit Sand bedeckte Tafel (abax im Griechischen, davon abgeleitet lateinisch abacus) mit kleinen Steinen (lateinisch calces, worauf unser Begriff »Kalkulation« zurückgeht).

Die arabischen Kaufleute hatten sich ihr Zahlensystem im 9.Jahrhundert in Indien angeeignet und benutzten es schon seit Jahrhunderten, um Zinsberechnungen und Währungsumrechnungen durchzuführen und andere gängige Handelsprobleme zu lösen. Fibonacci brachte diese hindu-arabischen Ziffern (sie werden auch als arabische Ziffern bezeichnet) nach Italien, wo er mehrere Bücher in lateinischer Sprache über sie verfasste und ein berühmter Mathematiker wurde. Sein bekanntestes Buch, das Liber abaci (»Buch des Rechnens«) von 1202, beginnt mit den Worten: »Es gibt bei den Indern neun Ziffern: 987654321. Mit diesen neun Ziffern und mit diesem Zeichen ›0‹, das im Arabischen Zephirum genannt wird, kann jede Zahl geschrieben werden, wie im Folgenden gezeigt werden soll.« Im Liber abaci erklärte Fibonacci die neuen Zahlen, er lieferte Beispiele für die praktischen Probleme, die mit ihnen gelöst werden konnten, und die theoretischen Probleme, die sie aufwarfen, etwa das Wachstum einer Kaninchenpopulation, aus dem sich die berühmten »Fibonacci-Zahlen« ergeben. Es handelt sich dabei um eine Zahlenfolge, die mit 0 und 1 beginnt und in der jede folgende Zahl die Summe der beiden vorhergehenden Zahlen ist (0,1,1,2,3,5,8,13,21 und so weiter). Sie findet sich in den Wachstumsmustern der meisten Lebewesen. Das Liber abaci wurde das einflussreichste Buch über hindu-arabische Zahlen und Arithmetik in Europa, obwohl es dreihundert Jahre dauern sollte, bis das von Fibonacci dargestellte mathematische System sich in nennenswertem Ausmaß durchsetzte.

Die früheste auf uns gekommene italienische Abrechnungsdarstellung ist das Fragment des Hauptbuchs einer florentinischen Bank aus dem Jahr 1211, neun Jahre nach dem Erscheinen von Fibonaccis Liber abaci. Es verzeichnet Schuldner und Gläubiger eines Kunden aus Bologna und weist bereits in nuce die Merkmale eines modernen Hauptbuchs auf– abgesehen allerdings davon, dass es mit römischen Zahlen arbeitet, die mit einem Abakus berechnet wurden.

Die meisten Historiker, die sich mit der Geschichte der Buchhaltung beschäftigen, sind sich darin einig, dass die ersten Zeugnisse für doppelte Buchführung auf ungefähr 1300 zu datieren sind: die Geschäftsbücher der florentinischen Kaufleute Rinieri Fini&Brüder (1296–1305) sowie die Unterlagen von Giovanni Farolfi. Das Farolfi-Hauptbuch zeigt die sechs entscheidenden Merkmale doppelter Buchführung, wie sie der Historiker G.A.Lee formulierte: erstens die Vorstellung eines Eigentümers oder einer Geschäftspartnerschaft als abrechnender Instanz, deren Bücher ihre finanziellen Beziehungen zu anderen widerspiegeln. Zweitens: Die Einträge sind in nur einer Währung vorgenommen, sodass sie miteinander verrechnet werden können. Drittens: Folgende Gegensatzpaare werden zugrunde gelegt: Zunahme und Abnahme physischer Bestände von Bargeld oder Waren; Zunahme und Abnahme von Geld, das man anderen Individuen oder Instanzen schuldet oder das einem von anderen geschuldet wird; des Weiteren Zunahme und Abnahme der Vermögenswerte und Verbindlichkeiten des Unternehmens. Viertens: Der Marktwert des Unternehmens erscheint als die Summe von Vermögenswerten und Verbindlichkeiten. Fünftens: Gewinn versteht sich als Netto-Anstieg des Marktwertes (und Verlust als Netto-Abnahme). Sechstens: Gewinn oder Verlust werden über eine eindeutig definierte Abrechnungsperiode hinweg gemessen.

Das Aufkommen dieser ersten Zeugnisse doppelter Buchführung in Italien so kurze Zeit nach dem Aufkommen der hindu-arabischen Ziffern ist provozierend und bietet eine Alternative zu der herkömmlichen Erklärung, die doppelte Buchführung hätte sich in Europa um 1300 durchzusetzen begonnen: Demnach wäre sie das Ergebnis einer gewaltigen Ausdehnung wirtschaftlicher Aktivitäten vor allem im Florenz des 13.Jahrhunderts gewesen. Diese herkömmliche Erklärung überzeugt durchaus: Nie zuvor hatte es eine solche Kapital-Konzentration oder ein vergleichbares Kredit-Netzwerk gegeben, das sich über ganz Europa erstreckte, und für die zahlreichen Handelspartner brauchte man je eigene Aufzeichnungen über das eingesetzte Kapital und die jeweiligen Verbindlichkeiten. Insofern sahen sich die erfolgreichen Kaufleute und Bankiers von Florenz, die auf Familienbündnissen ein einzigartiges System kommerzieller Partnerschaften errichtet hatten, praktisch gezwungen, neue, systematische Methoden der Buchführung zu entwickeln. Das Erinnerungsvermögen eines einzelnen Kaufmanns oder einige wenige Tagebuchseiten reichten hier nicht mehr aus. Und daher, so die historische Erklärung, entwickelten die florentinischen Buchhalter eine Art der Buchführung, die es ihnen erlaubte, ihre Konten zu klassifizieren, zu protokollieren und gegeneinander aufzurechnen– vor allem aber ihre Gewinne zu berechnen, was es ihnen ermöglichte, nicht nur ihren Besitz zu ermessen, sondern auch, wie ihr Geschäft sich entwickelte. Diese neue Form der Dokumentation von Handelsgeschäften war die doppelte Buchführung.

Berücksichtigt man die Zeitvorgaben, dann ist es aber auch denkbar, dass die neue Mathematik und die doppelte Buchführung in Asien im Verbund aufkamen, als Teil eines zusammenhängenden kommerziellen Systems, das von den Hindus oder den Arabern oder auch von beiden entwickelt wurde. Forschungen, die zu den möglichen islamischen oder hinduistischen Ursprüngen der doppelten Buchführung angestellt wurden, stießen auf faszinierende Belege, die allerdings keine endgültigen Aussagen erlauben. Einige Forscher sehen den Ursprung der neuen Art der Buchführung in Fibonaccis Liber abaci und in den islamischen Universitäten des muslimischen Spanien. Andere argumentieren, dass die Abrechnungsmethoden in der Frühzeit des (622 gegründeten) islamischen Staats den später in Norditalien eingesetzten ähnelten, also möglicherweise deren Quelle waren.

Es ist allerdings auch denkbar, dass die Fertigkeit ursprünglich von indischen Kaufleuten entwickelt wurde. Im 18.Jahrhundert schrieb der englische Reisende Alexander Hamilton: »Wir möchten festhalten, dass Indiens Banias [Händler] schon seit unvordenklicher Zeit im Besitz der Methode der doppelten Buchführung sind«, und er vermerkte außerdem, dass im Mittelalter Venedig »der Ort war, wo der Handel mit Indien stattfand«– was impliziert, dass die doppelte Buchführung durch das Tor Venedig von Indien nach Italien kam. Zwar gibt es kaum historische Dokumente über indische Handelsgepflogenheiten, doch es hat ganz den Anschein, als sei dieses indische System doppelter Buchführung, das dort als bahi-khata bezeichnet wird, von indischen Kaufleuten– womöglich schon seit Tausenden von Jahren– verwendet worden.

Die neue Art der Buchhaltung war lediglich eine von mehreren technischen Innovationen, die in Europa im 13. und 14.Jahrhundert aufkamen und sich dadurch auszeichneten, dass sie besonderen Wert auf Präzision, Mathematik und die Quantifizierung physikalischer Phänomene legten.

Zu diesen Erfindungen gehörten Brillen, um das Sehvermögen zu verbessern, geschriebene Seekarten für die Navigation, die ersten Fresken, die mit einer konstruierten Perspektive arbeiteten, und die ersten europäischen Uhren. Eine Rathausuhr gehörte in wohlhabenden europäischen Städten bald zur Grundausstattung, und man begann, diese Stadtuhren zur Regulierung des öffentlichen Lebens einzusetzen. Im April 1335 gab PhilippVI. von Frankreich dem Bürgermeister und dem Stadtrat von Amiens die Erlaubnis, die Zeit, zu der die Arbeiter in der Stadt morgens mit ihrer Arbeit begannen, mittags ihre Mahlzeit zu sich nahmen und nachmittags ihre Arbeit beendeten, zu kontrollieren und mit einer Glocke vorzugeben. Im Jahr 1370 versuchte Karl V., die Zeitmessung in ganz Paris zu vereinheitlichen, indem er verfügte, dass sämtliche Uhren der Stadt nach seiner Palastuhr auf der Île de la Cité gestellt werden sollten.

Dieser Enthusiasmus, alles und jedes zu messen und zu quantifizieren, wurde durch eine neu aufkommende Klasse stark begünstigt: die Händler. Der zunehmende Einfluss von Händlern auf das Europa des Mittelalters und der Frührenaissance ließ eine Zivilisation entstehen, in der die Menschen erstmals ihre Bedürfnisse dadurch befriedigen konnten, dass sie einfach »nur von den Personen Dienste kauften und ihnen Vergünstigungen zukommen ließen, die vom Zählen und Rechnen leben«. Einer dieser neuen Zähl-Männer war Francesco Datini, ein Kaufmann aus Prato in der Nähe von Florenz, ein Tuchmacher, der überdies Handel mit Waffen, Wolle, Weizen und Sklaven trieb. Als Datini im Jahr 1410– ohne Erben– starb, vermachte er der Stadt Prato nicht nur sein 70000 Goldflorin umfassendes Vermögen, sondern auch 500 Rechnungsbücher, 300 Teilhaberurkunden, 400 Versicherungspolicen, Wechsel, Schecks und rund 150000 Briefe. Auf der Höhe seines Geschäftslebens schrieb Datini jährlich 10000 Briefe: an seine Frau (die in Prato blieb, während er meistens in Florenz lebte und arbeitete); an seine Freunde; seine Handelshäuser in Frankreich, Italien, Spanien und Mallorca; an seine Mittelsmänner in ganz Europa von Bristol bis zum Schwarzen Meer und im gesamten Mittelmeerraum. Zwei Themen beschäftigten Datinis rastlosen Geist vor allem, sie werden in seinen vielen Briefen immer wieder angesprochen: Religion und Geschäft. Und in jedem Hauptbuch, das er neu begann, rief er beide in der einleitenden Widmung an: »Im Namen Gottes und des Gewinns«. Wie Shakespeares Kaufmann von Venedig machte Datini sich unablässig Sorgen– um seine Waren, um die Sicherheit der Schiffe, die sie transportierten, um die Gesundheit der Seeleute, die Bedrohung durch Piraten, die Heimsuchungen durch die Pest. Gegen Ende seines langen, gesunden und erfolgreichen Lebens schrieb Datini seiner Frau: »Das Schicksal hat es gewollt, dass ich vom Tag meiner Geburt an nicht einen einzigen vollständig glücklichen Tag erlebt habe.«

Datinis akribisch geführte Rechnungsbücher überspannen nahezu 50 Jahre und zeigen ganz deutlich den Übergang von der einfachen zur doppelten Buchführung. Seine erhaltenen Hauptbücher aus den Jahren 1367 bis 1372 arbeiten– im Gegensatz zu denjenigen ab dem Jahr 1390– noch nicht mit dem doppelten System. Datini war seiner Zeit nicht nur dadurch voraus, dass er schon früh mit der neuen Buchhaltungsmethode arbeitete; als er zusammen mit einem Partner 1398 eine Bank in Florenz eröffnete, akzeptierten sie als Zahlungsmittel auch Schecks, eine neue Zahlungsform, die sich in Europa gerade erst durchzusetzen begann. Wie so viele andere Geschäftsmethoden, die im mittelalterlichen Europa eine Neuheit darstellten, war auch der Scheck bei arabischen Händlern schon seit Langem im Gebrauch– das Wort »Scheck« geht aufs Arabische zurück. Bereits im 9.Jahrhundert konnte ein muslimischer Kaufmann in China mit einem Scheck bezahlen, der auf seine Bank in Bagdad ausgestellt war.

Datini arbeitete auch mit Wechseln, also mit Dokumenten, die auf eine der vielen damals in Europa kursierenden unterschiedlichen Währungen– jede Stadt prägte ihre eigenen Münzen– ausgestellt waren und zu einem in der Zukunft liegenden Termin gegen Florin eingetauscht werden konnten. Diese Dokumente kamen im 12.Jahrhundert in Europa auf und wurden zu einem beliebten Finanzwerkzeug. In den Tagen Datinis war die Erhebung eines festen Zinssatzes für ein Darlehen von Seiten der Kirche verboten, die diese Praxis als Wucher bezeichnete. (Bis 1545, als König HeinrichVIII. die Praxis für England legalisierte, durften in ganz Europa keine Zinsen erhoben werden.) Wechsel waren so attraktiv, weil sie zwar Gewinne erbrachten, das kirchliche Wucherverbot aber trotzdem umgehen konnten. Paradoxerweise beruhte ihre Beliebtheit auf ihrer Unzuverlässigkeit. Wechsel waren letztlich nichts anderes als ein gewagtes Spiel mit Wechselkurs-Schwankungen, und die Perspektive, damit einen Gewinn zu erzielen, war so ungewiss und riskant, dass die Kirche diese Gewinne nicht als Zinsen ansah und deshalb die Verwendung von Wechseln gestattete. Dennoch behielten das Bankwesen im Allgemeinen und Wechsel im Besonderen ihre anrüchige Aura. Als Datini seine Bank eröffnete, schrieb ihm ein Freund: »Mehrere Männer haben mir gesagt, Francesco di Marco [Datini] wird, wenn er erst Geldwechsler ist, seinen Ruf als größter Kaufmann von Florenz verlieren, denn es gibt keinen Geldwechsler, der sich mit seinen Verträgen nicht des Wuchers schuldig macht. Ich habe mich für Euch eingesetzt und gesagt, dass Ihr wie zuvor ein Kaufmann zu bleiben gedenkt, und wenn Ihr eine Bank betreibt, dann tut Ihr das nicht, weil Ihr als Wucherer agieren wollt.«

Datini gehörte zu den italienischen internationalen Handelsbankiers neuen Zuschnitts, die im 14.Jahrhundert zwischen London und Konstantinopel große Handelsimperien und Kreditnetzwerke begründeten. Im folgenden Jahrhundert sollten diese internationalen Handelsbankiers– allen voran die Medici in Florenz– ihren immensen Reichtum nutzen, um Architektur, Bildende Kunst und Wissenschaft zu fördern, also letztlich die Renaissance zu finanzieren. Datini stand an der Schwelle zu diesem neuen Zeitalter, er war ein Mann, der seiner Zeit voraus war. Denn zu Lebzeiten Datinis hatte das restriktive, verschlossene Zunftsystem des mittelalterlichen Europas das Handelswesen noch immer fest im Griff. Die frühen Zeugnisse für doppelte Buchführung wie etwa die Bücher Datinis waren nicht in den hindu-arabischen Zahlenzeichen abgefasst, sondern in den alten, sperrigen römischen Ziffern; erst Ende des 15.Jahrhunderts traten in den Rechnungsbüchern vereinzelt die ersten hindu-arabischen Zahlen auf.

Obwohl die neuen Ziffern effizienter und flexibler waren, dauerte es dreihundert Jahre, bis sie in Italien allgemein akzeptiert waren. Die Zünfte und andere einflussreiche Instanzen wie etwa die Kirche versuchten sie zu verhindern und verboten sie häufig. Die Kirche vertrat die Auffassung, die römischen Zahlen seien den anstößigen neuen Zahlen aus dem Osten überlegen und– wegen der leichteren Veränderbarkeit der Letzteren– sehr viel fälschungssicherer. Im Jahr 1299 untersagte die Arte di Cambio (Zunft der Geldwechsler) in Florenz die Verwendung der hindu-arabischen Zahlen. Die Bank der Medici benutzte erst ab ungefähr 1500 ausschließlich hindu-arabische Zahlen, und erst 1514 wurde das letzte italienische Mathematikbuch mit römischen Zahlen veröffentlicht. Anderswo in Europa vollzog sich die Übernahme der hindu-arabischen Zahlen noch langsamer: 1520 weigerte sich die Gemeinde von Freiburg, Rechnungen als legitimen Schuldenbeweis zu akzeptieren, wenn sie nicht entweder in römischen Zahlen oder in ausgeschriebenen Wörtern ausgestellt waren; und in Schottland waren römische Zahlen sogar noch im 17.Jahrhundert in Gebrauch.

Wer sich hingegen durchaus für den Gebrauch der hindu-arabischen Zahlen starkmachte, war der Mann, der im Jahr 1494 die hochmodernen Buchführungspraktiken von Venedig erstmals bündig zusammenfasste. In den 1430er Jahren hatten die Kaufleute von Venedig ein System der doppelten Buchführung in zwei Spalten entwickelt, das unter der Bezeichnung el modo de vinegia oder alla viniziana bekannt wurde: die venezianische Methode. Diese venezianische Methode hat sich aufgrund ihrer außerordentlichen Anpassungsfähigkeit und Wandelbarkeit bis heute erhalten, und sie wurde im Lauf der Jahrhunderte von einem rudimentären Hilfsmittel in Handelsgeschäften zu einem wirkungsvollen Kalkulationswerkzeug weiterentwickelt.

Der Mann, der für ihre Beschreibung und Erhaltung sorgte, der Autor des weltweit ersten gedruckten Traktats über Buchführung, ist Luca Bartolomeo de Pacioli, ein Mathematiker, Mönch und Magier der Renaissance und ständiger Begleiter von Leonardo da Vinci. Luca Paciolis Abhandlung über Buchführung ist als Ursprung sämtlicher späterer Buchführungstraktate nicht nur die Quelle des modernen Rechnungswesens, sondern durch sie konnte sich die mittelalterliche venezianische Methode bis in unsere Zeit halten. Daher erhielt Luca Pacioli von der Buchhalterzunft den Titel »Vater der Buchführung«– und jede Geschichte der doppelten Buchführung muss ihm besondere Aufmerksamkeit entgegenbringen. Es lohnt sich, nicht nur Paciolis Leben näher in Augenschein zu nehmen, sondern auch die Zeit, in der er lebte, denn in seinem Jahrhundert wurde Italien durch eine Renaissance der Mathematik sowie durch eine Revolution des Kommunikationswesens erschüttert, die beide unmittelbar die doppelte Buchführung bleibend beeinflussten.

2KAUFLEUTE UND MATHEMATIKER

Paciolis Werk spiegelt das Zusammentreffen mehrerer Schlüsselfaktoren wider, die zusammengenommen die Welt veränderten: Buchdruck, Durchsetzung der hindu-arabischen Zahlen, und der aufkommende Handels-Kapitalismus.

Frank J. Swetz

In unserem Italien, das Veränderungen gegenüber so aufgeschlossen ist, in dem nichts feststeht und in dem es keine alten Dynastien gibt, ist es durchaus möglich, dass ein Knecht König wird.

Enea Silvio Piccolomini, später Papst Pius II., 1458

Luca Paciolis Abhandlung über doppelte Buchführung Particularis de computis et scripturis (»Einzelheiten zu Berechnungen und Schreibweisen«) wurde als Teil seiner mathematischen Enzyklopädie im Jahr 1494 in Venedig veröffentlicht, vierzig Jahre nach der Erfindung der beweglichen Lettern in Europa und der Einnahme Konstantinopels durch die osmanischen Türken. Es erschien im selben Jahrzehnt, in dem Columbus Amerika entdeckte und Vasco da Gama den Seeweg nach Indien; in einer Zeit, in der Mathematik an den Universitäten Europas als Astrologie unterrichtet wurde und man Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Dennoch ist dieser Traktat über Buchführung auch fünfhundert Jahre später noch die Grundlage des modernen Rechnungswesens, und seine Methode ist noch immer auf der ganzen Welt in Gebrauch. Das ist ganz erstaunlich.

Über Luca Paciolis Kindheit gibt es keine Zeugnisse. Wir kennen von seinen frühen Jahren lediglich den Ort seiner Geburt, den kleinen Marktflecken Sansepolcro in der heutigen Toskana, und das wahrscheinliche Jahr: 1445. Fünf Jahre zuvor war der Ort an Florenz verkauft worden, und zwar von dessen Verbündeten, dem Papst, nachdem er zusammen mit Florenz den gemeinsamen Feind Mailand in der berühmten Schlacht von Anghiari besiegt hatte. Machiavelli beschreibt, was danach geschah: »Da der Papst sich trotz seiner bei Anghiari errungenen Vorteile in finanzieller Verlegenheit befand, verkaufte er für die Summe von 25000 Dukaten die Festung Borgo San Sepolcro an die Florentiner.« Das spielt insofern eine wichtige Rolle, als Sansepolcro damit unter die Herrschaft von Florenz geriet, dem damaligen Zentrum der italienischen Avantgarde: des Humanismus (einer Geistesbewegung, die sich dem Studium der heidnischen Literatur des antiken Griechenland und Rom verschrieben hatte, vor allem der Schriften Ciceros) und der revolutionären neuen Kunst perspektivischer Malerei.

Sansepolcro

Sansepolcro liegt im geographischen Herzen Italiens, in der fruchtbaren Ebene des oberen Tiber-Tals fast genau nördlich von Rom und rund achtzig Kilometer südöstlich von Florenz. Sein Name geht auf eine Legende im Zusammenhang mit dem Grab Christi (dem Heiligen Grab, im Italienischen Santo Sepolcro) zurück. Der Legende nach waren Ende des 10.