Sommerfrische in Südtirol - Kerstin Wiedemann - E-Book

Sommerfrische in Südtirol E-Book

Kerstin Wiedemann

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Beschreibung

Alpenglühen und Zirbenduft im malerischen Italien Britt bricht das Herz, als sie ihre Buchhandlung schließen muss. Das kleine Geschäft und die wenigen Stammkunden waren ihr Lebensinhalt. Und nun will ihre Mutter ihr zum neuen Job am liebsten noch einen adäquaten Partner aufschwatzen. Deshalb entschließt sich die Anfang Fünfzigjährige für die Flucht. Zusammen mit dem Liebesromanautor Jonas, der Sportlerin Sarah und der Rentnerin Rosa mietet sie für einen Monat ein Haus in den Südtiroler Alpen an. Es wird eine Reise zwischen alpinem und mediterranem Lebensgefühl, auf der Britt nicht nur zu sich selbst finden muss, sondern sich auch neu verliebt.

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Christiane Geldmacher

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

Resis Apfeltiramisu

Für den Biskuitboden:

Apfelmus

Creme

Danke

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

FürRomy & Florin

1. Kapitel

Es war noch dunkel, als Britt schweißgebadet mit wild pochendem Herzen hochschreckte. Ein scheußlicher Albtraum hatte sie die wenigen Stunden, in denen sie Schlaf fand, geplagt. Ausgerechnet heute, wo sie ihre Kräfte so dringend benötigte! Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Nein, jetzt bitte nicht heulen, Selbstmitleid war das Letzte, was sie brauchen konnte. Energisch schlug sie die Bettdecke zurück und machte sich auf den Weg ins Bad. Beim Blick in den Spiegel zuckte sie zusammen. Wer um Himmels willen war diese alte Frau, die ihr da entgegenblickte? Der Stress der letzten Wochen hatte sich tief in ihr Gesicht gegraben. Dunkle Augenringe zierten ihre blauen Augen, und neue graue Strähnen zogen sich durch ihr weizenblondes Haar. Am liebsten hätte sie ihre Mähne abgeschnitten, aber gute Kurzhaarfrisuren brauchten Pflege und regelmäßige Friseurbesuche, das kostete Geld, und ihre finanzielle Zukunft sah alles andere als rosig aus.

Seufzend wandte sie sich vom Spiegel ab. Was sie jetzt erst einmal brauchte, war Kaffee, so viel und so stark wie möglich. Während die alte Filtermaschine unter lautem Geblubber mit der Getränkezubereitung beschäftigt war, ging Britt ihre To-do-Liste für den Tag durch. Es war noch so viel zu bedenken, bevor sie ihre kleine Buchhandlung Leselust für immer schließen und die Räumlichkeiten zurück an Herrn Gering, den Vermieter, übergeben würde.

Ein Brummen lenkte sie von ihren Grübeleien ab. Wer rief morgens um sieben Uhr bei ihr an? Britt warf einen Blick auf das leuchtende Display. Na, wenn man vom Teufel sprach beziehungsweise an ihn dachte …

»Guten Morgen, Herr Gering, Sie sind aber früh dran.«

»Moin, Frau Larsen, ich weiß doch, dass Sie wach sind, Sie verschicken ja auch bereits morgens um sechs E-Mails.«

Punkt für ihn, dachte Britt.

»Und was gibt es so Wichtiges am frühen Morgen? Haben Sie es sich doch noch mal überlegt? Wollen Sie die Mieterhöhung zurücknehmen?«

Gering schnaubte. »Ich habe es Ihnen doch schon erklärt, die Kosten sind so massiv angestiegen, die Inflation … mir bleibt keine andere Wahl.«

»Es ist eh zu spät, heute ist der letzte reguläre Verkaufstag, und danach packe ich alles zusammen.«

»Ja, da wäre noch eine Sache …«

Beim Klang seiner Stimme schwante Britt nichts Gutes.

»… das Laminat und die Regale …«

»Ja?«

»Die müssen nun doch raus.«

»Wie bitte? Sie waren doch damit einverstanden, dass die Sachen gegen eine kleine Ablöse im Laden bleiben!«

»Nein, das geht nicht, es tut mir leid. Ich möchte den Laden so anbieten, wie er vorher war.«

»Mit dem ollen Teppich? Ist das ihr Ernst?«

»Das lassen Sie mal schön meine Sorge sein, ich möchte alles wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt haben, das diskutiere ich jetzt auch nicht mit Ihnen weiter.«

Verzweifelt schloss Britt die Augen. Es gab noch so viel zu tun, wie sollte sie das alles nur hinbekommen? Und was sollte das überhaupt? Das Laminat und die Regale aus Zirbenholz, die sie für viel Geld von einer kleinen Schreinerei in Südtirol hatte anfertigen lassen, waren so viel hübscher als der olle Teppich, der sich unter dem hellen Holzboden verbarg, das war doch reine Schikane!

»Also kann ich mich auf Sie verlassen?«

Erschöpft öffnete Britt die Augen. Was blieb ihr schon anderes übrig, wenn sie ihre komplette Kaution zurückhaben wollte?

»Aber können Sie die Nachmieter wenigstens mal fragen?«, wagte sie einen letzten Vorstoß. »Vielleicht freuen die sich ja doch über einen schönen Boden …«

»Frau Larsen, wenn Sie den Boden nicht rausreißen, muss ich die Entrümpelung wohl oder übel selbst veranlassen und Ihnen diese in Rechnung stellen.«

»Alles klar, Boden und Regale kommen zum vereinbarten Termin raus. Dann noch einen schönen Tag, Herr Gering!« Ehe der Vermieter noch etwas erwidern konnte, drückte Britt die rote Taste zur Beendigung des Telefonats. Sicher, das war unhöflich, aber sie ertrug den Kerl nicht eine Sekunde länger. Dieser schreckliche, alte Raffzahn. Wenn er nicht noch einmal die Miete erhöht hätte … Wobei das auch nicht so ganz stimmte. Die Mieterhöhung Ende letzten Jahres war vielleicht ihr Todesstoß gewesen, aber ihre finanzielle Situation war von Anfang an nicht besonders gut gewesen, und die vergangenen sieben Jahre hatten sich die Umsätze durchgehend auf Talfahrt befunden. Eigentlich sollte Britt erleichtert sein, ein jahrelanger Existenzkampf näherte sich nun dem Ende. Sie könnte sich wieder in einer Buchhandlung anstellen lassen und ihr Leben als Arbeitnehmerin fristen, ganz entspannt. Bei dem Gedanken wurde ihr ganz anders. Ihre kleine Leselust und ihre Selbstständigkeit fehlten ihr jetzt schon!

Britts Magen begann zu knurren. Traurigerweise gehörte sie nicht zu den Menschen, denen der Appetit bei Kummer oder in Stressphasen verging, im Gegenteil! Sie fraß sich dann gerne noch ein paar Extrakilos an. In letzter Zeit kniff ihre Kleidung mehr denn je. Selbst die bunte Hose aus dem Eine-Welt-Laden, die mit dem praktischen Gummizug, die immer so schön locker saß, war zu eng geworden. Das Thema gesunde Ernährung würde sie dringend angehen müssen, sobald der Laden abgewickelt wäre. Aber jetzt siegte der Hunger.

Einer der Vorteile, wenn man so nahe an der Reeperbahn wohnte, war, dass man rund um die Uhr die unterschiedlichsten Leckereien erwerben konnte. Britt warf einen Blick aus dem Fenster. Typisches Hamburger Nieselwetter. Sie würde den letzten Tag als selbstständige Buchhändlerin ganz in Ruhe und in Würde begehen und sich noch ein ordentliches Frühstück auf der Schanze gönnen.

Der Regen hatte noch zugenommen, als sie die Straße betrat, aber das störte sie nicht weiter. Jeden Tag lief sie die halbe Stunde von ihrer Wohnung zur Leselust. Bei Wind und Wetter. Als echte Hamburgerin gab es für Britt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung. Heute war definitiv ein Regenmantel-Gummistiefel-Tag. So ausgestattet marschierte sie los. Auf ihrem Weg ins Schanzenviertel passierte sie mehrere Straßensperren. Ach ja, heute war Marathon. Die armen Läufer! Kurz bevor sie das Café erreichte, begann ihr Telefon zu brummen. Konnte dieser Morgen noch schlimmer werden? Ja, konnte er. Es gab nur einen Menschen, außer Herrn Gering, der so früh anrief und nicht lockerlassen würde, bis sie endlich antwortete. Eigentlich sollte sie nicht drangehen, aber wenn sie die Anrufe ignorierte, würde sie den ganzen Tag keine Ruhe haben.

»Hallo, Mama!«

»Endlich nimmst du ab, ich habe es vorhin schon einmal versucht!«

»Habe ich nicht mitbekommen, entschuldige. Ich bin auf dem Weg zum Laden. Heute ist doch der letzte Verkaufstag.«

»Ach, gut, dann ist das leidige Thema endlich abgeschlossen, und du kannst dir eine vernünftige Arbeit suchen. Komm doch zu mir in die Stiftung! Wir können weiteres Personal gut brauchen.«

»Mama, jetzt lass mich doch erst mal die Schließung abwickeln, und dann denke ich darüber nach, was ich mit meinem Leben anfange.«

»Aber du brauchst doch Geld, wie willst du dich denn über Wasser halten?«

»Ich habe in den letzten Jahren ein bisschen Geld angespart, damit komme ich ein paar Monate gut über die Runden.«

Britt sah ihre Mutter förmlich vor sich, wie sie auf der weißen Ledercouch im Wohnzimmer saß, den Hörer ein wenig entfernt vom Ohr hielt, damit das Make-up nicht verschmierte oder die sorgsam toupierten Haare zu Schaden kamen. Vor ihr, auf dem mit Gold eingefassten Glastisch, stand eine Kanne mit grünem Tee. Essen gab es erst ab zwölf Uhr, ihre Mutter schwor seit Jahren auf Intervallfasten, mit Erfolg. Die klassischen Kostümchen von Chanel, Größe 36, saßen wie angegossen.

»Schade, wenn du damals Jan nicht vergrault hättest, bräuchtest du dir jetzt keine Sorgen machen, der würde sich um dich kümmern.«

Britt spürte Wut in sich aufsteigen. Da hockte ihre Mutter wie die Made im Speck in ihrer schicken Villa im Blankeneser Treppenviertel, die sie nur dank ihres zwanzig Jahre älteren Mannes ihr Eigen nennen konnte, und feuerte einen dämlichen Vorschlag nach dem anderen ab, statt selbst auf die Idee zu kommen, ihr finanzielle Unterstützung ohne irgendwelche Gegenleistungen anzubieten. Jeden Tag mit ihrer Mutter in der Stiftung … was für eine grauenvolle Vorstellung! Spätestens in einem halben Jahr wären sie komplett zerstritten und Britt psychisch an Ende.

Und dann kramte sie auch noch Jan hervor. Niemand in ihrem Umfeld erwähnte ihren Ex noch. Nur ihre Mutter hatte Spaß daran, die Wunde in regelmäßigen Abständen immer wieder aufzukratzen. Was hatte sie denn schon groß aus ihrem Leben gemacht? In einem Blumenladen hatte sie ausgeholfen und dort ihren Vater kennengelernt, als dieser einen Strauß Rosen für seine damalige Frau gekauft hatte und sich sofort in die bezaubernde Blumenverkäuferin verliebte. Eins musste man ihr lassen, ihre Mutter war schon immer eine attraktive Frau und hatte dies auch einzusetzen gewusst.

Britts Vater war schon seit vielen Jahren tot, und sie vermisste ihren geduldigen, freundlichen Papa, der im letzten Augenblick immer wieder dafür gesorgt hatte, dass es zwischen Mutter und Tochter nicht völlig eskalierte.

»Ich muss jetzt Schluss machen, ich bin gleich am Laden.«

»Willst du Sonntag zum Mittagessen kommen, dann besprechen wir noch mal alles ganz in Ruhe?«

»Okay, dann bis Sonntag!« Wütend stopfte sie das Handy zurück in ihre Tasche. Das war so typisch! Wieso hatte sie zugesagt? Das Letzte, was sie jetzt für ihr fragiles Nervenkostüm brauchen konnte, war ein Mittagessen bei ihrer Mutter! Für den Rest des Tages würde sie definitiv keine Anrufe mehr entgegennehmen.

Das Deathpresso befand sich in einem unter Graffitis versteckten Altbau aus der Gründerzeit. Über dem großen Ladenfenster prangte ein Schild mit dem Namen des Cafés und dem dazugehörigen Logo; eine kleine Espressotasse, mit dem Gesicht eines Totenkopfes, der den Koffeinsuchenden frech entgegengrinste. Sofort wurde Britt ganz warm ums Herz, und der Ärger über den Vermieter und ihre Mutter war fast vergessen. Eine Duftwolke aus frisch gemahlenen Kaffeebohnen und warmem Backwerk entwich dem Inneren des Cafés, als sie die Türe öffnete. Wie unglaublich gut das roch! Die kleinen Holztische waren noch leer, aber die Kaffeemaschine zischte und dampfte laut, und die Theke an der Bar zog Britt mit frischen Croissants, Franzbrötchen und diversen Kuchen magisch an.

»Moin, Katja!«

»Moin, Britt, du bist früh dran!«

»Habt ihr schon geöffnet?«

»Nö, ist aber egal, komm rein, Kaffeemaschine läuft schon.«

»Ach, Mensch, sieht das alles gut aus.«

»Der Zitronenkuchen ist von mir.«

Der knatschgelbe Kuchen mit der dicken Zuckerschicht stach direkt ins Auge, damit würde sie definitiv über den Tag kommen. Das Diätthema war weiter weg denn je.

»Ist vegan und schmeckt mega.«

»Überredet, ich nehm ein Stück mit. Aber jetzt brauche ich ein Croissant.«

»Achtung, heiß und fettig. Sind frisch aus dem Ofen.«

»Ohhh!«

»Cappuccino dazu?«

»Unbedingt.«

»Kommt sofort!«

Nachdenklich musterte Britt Katjas Rücken, während sie das Getränk zubereitete. Seit sieben Jahren kaufte Britt hier ihren Kaffee. Katja hatte auch schon hin und wieder ein Buch bei ihr besorgt, war aber keine große Leserin. Man kannte sich als Nachbarinnen und schätzte sich.

»Heute ist es so weit, hm?«

»Ja.«

»Mensch, du lässt dich aber trotzdem weiter hier blicken, oder?«

»Keine Ahnung, wohin es mich verschlägt, es wäre natürlich schön, wenn ich wieder etwas in der Schanze finden würde.«

»Willste weiter als Bibliothekarin arbeiten?«

»Buchhändlerin«, korrigierte Britt automatisch. Sie schmunzelte. Katja würde den Unterschied nicht mehr lernen.

»Ach ja, ich verwechsle das ständig.«

»Kein Ding. Am liebsten würde ich wieder in einer kleinen, gemütlichen Buchhandlung wie der Leselust arbeiten, aber es gibt davon nicht mehr so viele …«

»Die Welt geht so langsam vor die Hunde. Bald gibt es nur noch seelenlose Discounter.«

Katja servierte Britt den Kaffee und das Croissant und schob noch eine kleine Tüte mit dem Kuchen über die Theke. »Geht heute alles aufs Haus. Abschiedsgeschenk.«

»Ach, du Süße, danke dir!«

Britt musterte sie gerührt. Auch wenn man das beim ersten Blick auf die große, meist in schwarzes Leder gekleidete Frau mit abrasierten Haaren und vielen Tattoos kaum dachte, war Katja eine sehr sensible Person. Was hatten sie schon gut geklönt!

Britt setzte sich an ihren Lieblingstisch direkt am Fenster. Während sie das frische, buttrige Croissant und den Cappuccino genoss, beobachtete sie die wenigen Menschen, die sich durch den Regen bewegten. Es fühlte sich alles immer noch so irrational an. Gleich würde sie rübergehen, den Laden aufsperren und die Kisten mit den Büchern reinholen, die sie am Vortag bestellt hatte und die der Postmann Hein ihr irgendwann in der Nacht vor den Hintereingang gestellt hatte. Sie würde auspacken und die ersten Kunden begrüßen … Nein, natürlich nicht. Heute würden keine Bücher mehr ankommen, stattdessen würde sie Kisten packen und renovieren. Britt stippte ein paar letzte Krümel vom Teller herunter. Schnell zog sie ihre Jacke an und winkte Katja zum Abschied kurz zu.

»Ich muss mal rüber. Ein letztes Mal aufsperren.«

»Ach, Mäuschen, warte mal.« Katja kam um die Theke herum, nahm Britt in den Arm und drückte sie fest. »Es wird alles gut, du bist so eine großartige Frau, ich bin mir sicher, dass du wieder eine Arbeit findest, die dich glücklich macht, es kann gar nicht anders kommen!«

Britt schluckte, ein dicker Kloß saß ihr im Hals. »Danke dir, es tut gut, das zu hören.«

Wenig später bog sie in die stille Seitenstraße ein, in der die Leselust lag. Eine idyllische Wohngegend mit schönen Altbauten, sehr ruhig. Und genau das war auch das Problem. Es war zu still. Eine Straße, die man vergaß, wenn man nicht gerade hier wohnte. Außer Britts Buchhandlung gab es keine weiteren Geschäfte oder gastronomische Angebote, und das reduzierte die Laufkundschaft quasi auf null. Früher hatte es noch einen kleinen Blumenladen gegeben, aber nachdem die Inhaberin in Rente gegangen war, war es im Sträßchen noch ruhiger geworden.

Die Leselust lag im Erdgeschoss eines schmucken Altbaus. Rechts und links der stuckverzierten Eingangstüre gab es zwei große Schaufenster. Das eine Fenster hatte Britt mit einer Bilderbuchaktion dekoriert, das andere mit Gartenbüchern passend zur Jahreszeit. Wie gerne hatte sie die Schaufenster ganz nach ihrem Geschmack gestaltet! Sogar einen Schaufensterwettbewerb des Buchhandelsverbandes hatte sie vor ein paar Jahren gewonnen. Die großen Ketten hatten meistens keine Fenster.

Britt straffte ihre Schultern und zückte den Schlüssel. Der letzte Tag der Leselust konnte beginnen.

Kaum hatte sie den Laden betreten und den Lichtschalter gedrückt, brummte ihr Handy erneut. Das Ding trieb sie heute an den Rande des Wahnsinns! Da ihr aber keine weiteren Unsympathen einfielen, die sie heute noch behelligen konnten als die beiden vorangegangenen Quälgeister, wagte sie einen Blick auf das Display, und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

»Na, du bist aber früh wach.«

»Moin, Süße! Ich bin gerade aus dem Bett gefallen und habe gesehen, dass schon Licht bei dir brennt! Schatz, wie geht es dir?«

»Na ja, den Umständen entsprechend … Ich hatte schon einen unangenehmen Anruf von meinem Vermieter.«

»Och je, was wollte er denn?«

Britt berichtete kurz, und Jonas pfiff empört durch die Zähne. »Der spinnt doch! Aber keine Sorge, das bekommen wir hin. Ich helfe dir! Die tollen Regale kannst du locker auf eBay verkaufen, das Laminat sicher auch! Wir schaffen das.«

Britt spürte, wie ihr bei seinen Worten leichter ums Herz wurde.

»Danke dir. Ohne dich würde ich verzweifeln, ehrlich.«

»Und ich verzweifle, weil meine Lieblingsbuchhandlung schließt, ich werde die Leselust und die Tipps meiner Lieblingsbuchhändlerin so vermissen!«

Britt wusste, dass das nicht gelogen war. Jonas war Stammkunde seit der ersten Stunde und mittlerweile auch ein enger Freund.

»Ich weiß nicht, wie ich das heute überstehen soll … « Britt schluckte.

»Wie lange bist du heute da?«

»Nicht so lange. Es wird wohl kaum noch den großen Ansturm geben.«

»Okay. Ich muss noch ein bisschen arbeiten, komme dann aber auf alle Fälle noch vorbei. Warte auf mich, versprich mir das!«

»Na klar. So gegen fünf?«

»Fünf ist gut. Bis später!«

Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, ließ Britt den Blick durch das kleine, vertraute Ladengeschäft schweifen. Dank des mehrwöchigen Ausverkaufs waren viele Regale schon leer geräumt, und auch auf den Tischen klafften große Lücken. Wie hatte das Projekt Buchhandlung nur so schiefgehen können, grübelte sie. Sie konnte sich noch gut an den Eröffnungstag erinnern, an dieses unbeschreibliche Glücksgefühl, als sie zum ersten Mal die Ladentür aufgeschlossen hatte. So motiviert und voller Elan war sie gewesen! Als erste Amtshandlung hatte sie das Geschäft von dem trostlosen Muff des Vormieters befreit. Die Wände frisch geweißelt und die alten verkratzten schwarzen Regale durch helle Holzregale aus Zirbenholz ersetzt. Die neue Einrichtung ließ den Raum nicht nur größer wirken, sie duftete auch noch! Die Zirbe galt als beruhigend und entspannend. Perfekt für eine Buchhandlung. Das Holz aus Südtirol war zwar nicht billig, aber das war es ihr wert gewesen. In die Auswahl des Sortiments hatte Britt viel Zeit investiert und unzählige Abende damit verbracht, die Vorschauen der Verlage durchzuarbeiten. Wenn sie sich die teuren, gepflegten Häuser in ihrer Nachbarschaft so ansah, war davon auszugehen, dass Geld vorhanden war. Da konnte man es auch einmal wagen, teure Coffee Table Books, hochwertige Kochbücher und opulente Gartenbücher zu bestellen. Eine hübsche Auswahl an Kinderbüchern durfte neben gängigen Bestsellern selbstverständlich auch nicht fehlen.

Die Eröffnung hatte an einem sonnigen Tag Anfang März stattgefunden. Britt hatte am Vorabend noch bis tief in die Nacht hinein Bücher hin und her geräumt, immer wieder neu dekoriert und umsortiert. An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken gewesen, aber das machte auch nichts, die Vorfreude und das Adrenalin hatten dafür gesorgt, dass sie hellwach und topfit gewesen war.

Zwei Stunden vor der offiziellen Eröffnung stand sie wieder im Laden und sah sich stolz in ihrem kleinen Reich um. Direkt am Eingang standen Postkartenständer mit sehr ausgewählten Glückwunschkarten zu jeglichem Anlass. Eine hübsche Holzbank, die sie auf einem Antiquitäten-Flohmarkt entdeckt hatte, gleich neben dem Tisch mit den Bestsellern, lud zum Verweilen und Blättern ein. Die Wand hinter der Bank hatte Britt in einem frischen Hellgrün gestrichen und auf die Tische, passend zur Jahreszeit, Garten- und Grillbücher drapiert. Als Deko standen kleine Töpfchen mit bunten Tulpen und eine nostalgische Gießkanne zwischen den Büchern.

Die Erste, die um Punkt neun die Buchhandlung betrat, war ihre beste Freundin Liane, die ihr eine dicke Torte überreichte. »Viel Erfolg!« prangte in pinker Glitzerschrift auf der Kalorienbombe. Liane und Britt kannten sich seit der fünften Klasse. Obwohl sie recht unterschiedliche Wege eingeschlagen hatten, Liane war Ärztin geworden, Britt hatte mit Germanistik begonnen, hatte dies ihrer Freundschaft nie einen Abbruch getan. »Der Laden ist einfach ein Traum! Ach, Britt, ich freu mich so für dich! Gerade nach der Geschichte mit Jan hast du was Schönes verdient, und das hier wird was ganz Großes, das weiß ich!«, prognostizierte Liane, während sie sich alles ganz genau ansah.

»An Jan habe ich ja schon ewig nicht mehr gedacht«, stellte Britt erstaunt fest.

»Umso besser! Hat dein Ex auch gar nicht verdient, dass du noch einen Gedanken an ihn verschwendest, so, wie er sich verhalten hat.«

»Ich muss ihm ja fast schon dankbar sein, sonst gäbe es den Laden gar nicht.«

»So weit würde ich zwar nicht gehen, aber es ist schön zu sehen, dass du wieder strahlen kannst«, erwiderte Liane und drückte die Freundin kurz an sich.

Nach und nach hatte sich die Buchhandlung mit Nachbarn, ehemaligen Kolleginnen und Freunden gefüllt. Optimismus und Aufbruchsstimmung lagen an diesem Tag in der Luft. Doch die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten. Der erhoffte Kundenstrom blieb aus, und nach dem ersten Weihnachtsgeschäft wuchsen in Britt Zweifel, ob das Projekt funktionieren würde. Teilweise betrat über Stunden kein Kunde die Buchhandlung. Jahr für Jahr hatte sie weitergekämpft, Flyer verteilt und sich viel Mühe bei der Auswahl des Sortimentes gegeben. Dann kam der erste Lockdown, und die Welt war in Pandemiestarre verfallen. Zwar lieferte Britt mit Hilfe eines sportlichen Studenten, der durch halb Hamburg radelte, auch Bücher an ihre Kunden aus, aber das Angebot wurde nur spärlich angenommen. Dafür rauschten täglich die Paketdienste durch die sonst so ruhige Straße. An vielen Tagen blieb die Kasse leer, und als dann auch noch die Mieterhöhung ins Haus geflattert kam, hatte sie sich entschieden, ihren kleinen Laden aufzugeben. Die Kosten fraßen sie auf, und sie hatte keine Kraft mehr, für die Existenz der Leselust weiterzukämpfen.

Britt schüttelte ihre Erinnerungen ab. Wie erwartet war auch am letzten Tag nicht viel los, und so verbrachte sie den Tag damit, ihr Büro auszumisten und die Bücher aus dem Lager zu verpacken. Sie war froh, als es endlich 17 Uhr war und Jonas den Laden betrat.

»Oh, hier ist es aber schon leer geworden.«

»In den letzten Tagen hat sich Gott sei Dank noch einiges verkauft.«

Jonas’ Blick wanderte zu dem kleinen Schild an der Tür.

»Bist du bereit?« Aufmunternd lächelte er ihr zu.

»Ich glaube, dafür ist man nie bereit.«

Mit einem kleinen Seufzer wendete Britt das Schild ein letztes Mal auf »Geschlossen«.

»Für immer«, murmelte sie traurig und zuckte zusammen, als hinter ihr ein lauter Knall ertönte. Sie drehte sich zu Jonas um, der gerade Champagner in zwei bereitgestellte Gläser füllte.

»Was machst du denn da?«

»Wir feiern jetzt mal ordentlich Abschied«, erklärte er bestimmt. »O nein, du fängst doch jetzt nicht an zu weinen? Du weißt doch ganz genau, dass ich sofort mitheulen muss.«

Britt schüttelte den Kopf, wischte jedoch ein kleines Tränchen schnell zur Seite.

Jonas drückte ihr ein gut gefülltes Glas in die Hand. »Na gut, ein paar Tränen sind erlaubt, und nun trinken wir ein Schlückchen auf das, was hinter dir liegt, und dann wird nach vorne geblickt.« Er lächelte ihr aufmunternd zu. »Überleg doch mal, dir stehen alle Türen offen, du kannst jetzt machen, was du willst!«

»Du glaubst, die Welt wartet auf eine mittellose, in die Jahre gekommene Buchhändlerin?«

»Ach, jetzt ist aber Schluss mit der Schwarzseherei.« Jonas hob sein Glas. »Prost! Lass uns das Alte wegtrinken und nach vorne schauen. Und dann solltest du unbedingt den scharfen Maxx probieren!«

»Wer ist denn bitte der scharfe Max? Willst du mir jetzt deine abgelegten Liebhaber anbieten?«

»So weit kommt es noch! Nein, das ist ein pikanter Schweizer Käse, der auf diesen lustigen Namen hört.«

Jonas begann in seiner Tasche zu kramen und förderte nach und nach ein opulentes Picknick zu Tage. Ein Sauerteigbrot ihres Lieblingsbäckers, verschiedene Käsesorten, eingelegte Antipasti, Oliven und Kirschtomaten.

»Ach, du bist doch verrückt! Was hast du denn alles mitgebracht?«

»Alles, was man für eine würdevolle Abschiedsfeier braucht.«

Liebevoll beobachtete Britt ihren Freund, der alles hübsch anrichtete und sogar an mit bunten Blumen bedruckte Servietten gedacht hatte. Jonas machte es einem nicht leicht, sich in Selbstmitleid zu suhlen.

»War heute noch was los?«

»Überhaupt nicht. Ich habe ganz viel rumgeräumt und kurz mit Liane geskyped.«

»Ach, die Gute! Wie geht es ihr denn?«

»Nicht schlecht. Sie arbeitet viel, wir schaffen es nur selten zu sprechen.«

»Umso schöner, dass sie an deinen letzten Tag gedacht hat.«

»Das stimmt. Im Sommer kommt sie zurück nach Hamburg, ich freu mich auf sie.«

»Beeindruckend, dass sie einfach ein paar Monate ihren Job an den Nagel gehängt hat und für Ärzte ohne Grenzen nach Simbabwe ging.«

»Das war schon immer ihr Wunsch, und jetzt, wo Sofia ihre eigenen Wege geht, ist der Zeitpunkt perfekt.«

»Und du musst eben mit mir als Seelentröster vorliebnehmen, bis sie zurück ist.«

»Chin, chin, mein Lieber!«

Sie tranken, knabberten Käse und Antipasti und lauschten dem Regen, der mittlerweile kräftig gegen die Scheibe pladderte. »Wie geht es denn jetzt weiter? Willst du dich sofort bewerben?«

»Dazu konnte ich mich bisher noch nicht aufraffen. Erst mal will ich hier alles ordentlich abwickeln.«

»Oder du machst wieder was Eigenes auf? In einer besseren Lage?«

»Keinesfalls! Das Kapital dazu hätte ich auch gar nicht, im Gegenteil.« Bei dem Gedanken an Geld zog sich Britts Magen zusammen.

»Ich folge dir als Kunde überallhin, zur Not auch ans andere Ende der Stadt!«

»Du bist ein Schatz.« Britt ließ ihren Blick durch den Laden streifen. »Die nächsten Tage bin ich noch mit Ausräumen beschäftigt. Die meisten Verlage nehmen die Bücher, die nicht verkauft wurden, Gott sei Dank zurück. Und dann werde ich mir eine kleine Auszeit nehmen und darüber nachdenken, wie es weitergeht.«

»Das hast du dir auch wirklich verdient.«

»Ja, aber viel ist nicht drin, ich habe fast meine ganzen Ersparnisse in das Geschäft gepumpt.«

»Ich könnte auch etwas Abstand vertragen.«

»Wieso das? Hast du Probleme mit deinem neuen Roman?« Jonas war zweigleisig unterwegs. Er las nicht nur viel, er schrieb auch Bücher. Zum einen lieferte er einmal im Jahr unter dem erfolgreichen Pseudonym Margot von Kleibenstein einen Liebesroman ab, der von den Leserinnen immer schon sehnsüchtig erwartet wurde, zum anderen schrieb er seit einigen Jahren an einem ernsthaften Buch, zumindest arbeitete er daran schon eine ganze Weile.

Britt hatte einige Zweifel, dass er es jemals beenden würde. Klar verstand sie, dass er gerne etwas Anspruchsvolleres schreiben wollte, allerdings bescherte er so vielen Leserinnen glückliche Stunden als Margot von Kleibenstein, warum also dieses Konzept ändern?

»Ich bin in letzter Zeit ziemlich blockiert, die Liebe ist mir dazwischengegrätscht.«

»Aber das ist doch schön! Geht es um deinen süßen neuen Lektor?«

»Gar nicht schön. Ich habe von ihm eine Einladung zu seiner Hochzeit bekommen.«

»Oh, das tut mir leid.«

»Er heiratet eine Frau!«

»Ach was. Hattest du nicht gesagt, dass er auch schwul sei?«

»Tja, das habe ich auch gedacht. So daneben habe ich schon lange nicht mehr gelegen. Ich war mir sicher, dass er in meiner Liga mitspielt. Und dann kommt da diese Einladung von Christof und Annegret. Annegret! Ich bitte dich! Wer heißt denn heutzutage bitte noch so?«

»Meine Großtante heißt Annegret.«

»Ja, eben, deine Tante, die vermutlich hundert ist. Tante Annegret …«

»Sie ist sechsundneunzig.«

Jonas nahm einen großen Schluck Champagner. »Sag ich doch. Du siehst, ich brauche dringend eine Auszeit. Vielleicht könnte ich dann auch wieder schreiben.«

»Wir bräuchten also einen Ort, wo wir ein wenig zur Ruhe kommen, Zeit zum Nachdenken haben … keine Mütter in der Nähe …«

»… und es bitte nicht so viel regnet wie hier!«

»Warte mal, vielleicht habe ich da was für uns.« Britt sprang auf und begann in einem Berg Altpapier zu kramen, der sich neben der Kasse stapelte. »Ich habe da doch vor Kurzem etwas gelesen … Da!« Triumphierend hielt sie eine Ausgabe der Süddeutschen Zeitung hoch. »Ist zwar schon von gestern, aber vielleicht haben wir ja Glück!«

Neugierig überflog Jonas die Seite, die ihm Britt entgegenhielt.

Verbringen Sie den kompletten Juni auf dem Ritten, gehen Sie wandern, lassen Sie die Seele baumeln … Jonas ließ die Zeitung sinken. »Das ist ja genau, was wir brauchen!«

»Lies weiter!«

… das Anwesen inklusive Anbau verfügt über fünf Schlafzimmer, zwei Gemeinschaftsräume mit Kamin und einem Außenpool … Jonas sah auf. »Bisschen groß für uns zwei Hübschen, oder?«

»Ja, wahrscheinlich können wir uns das Haus gar nicht leisten, aber ich mag die Anzeige. Es ist doch mal was anderes, dass sie in der Zeitung steht und nicht auf irgendeinem Onlineportal. Das ist so viel persönlicher, mich spricht das sehr an!«

»Wir können zumindest mal nachfragen. Wo befindet sich denn der Ritten überhaupt?«

»In Südtirol. Das ist der Hausberg von Bozen.«

»Italien, wie wunderbar! Gutes Essen, feine Weine …« Jonas seufzte. »Und wärmer wird es sicher auch sein als hier bei uns im Norden.«

»Na ja, das kommt darauf an, wie hoch das Haus liegt. Aber das Klima wird milder sein als in Hamburg. Und es regnet nicht so viel! Bozen gilt als eine der wärmsten Städte Italiens, wusstest du das?«

»Ehrlich? Nein, ich dachte, die wärmsten Städte wären südlicher gelegen, in Sizilien oder so.«

»Das hat etwas mit der Tallage zu tun.«

»Dann nichts wie hin!«

Britt tippte auf die Anzeige. »Jetzt schreiben wir dem Herrn Pichler erst einmal und fragen an, ob das Haus noch verfügbar wäre und was das kostet. Und dann schauen wir weiter.«

»Er will eine Antwort per Post?«

»Ja, man soll sich auch kurz vorstellen.«

»Verrückt! Aber gut, dann mal los, lass uns einen Brief schreiben, ich möchte in die Berge fahren!«

»Moment, ich glaube, da habe ich was.« Britt begann in ihrer Tüdelkramschublade unter der Kasse zu wühlen, bis sie eine hübsche Klappkarte gefunden hatte. Ein Scherenschnittbild der Hamburger Skyline zierte das Deckblatt.

»Perfekt.« Jonas nickte zufrieden.

»Ich würde sagen, ich schreibe, meine Handschrift kann man besser lesen, und du diktierst mir den Text.«

»Wieso ich?«

»Weil du der Autor von uns beiden bist.«

»Ich kann doch keine Briefe schreiben, nur weil ich Autor bin …« Jonas stockte. »… doch, jetzt habe ich was.«

Sehr geehrter Herr Pichler, wir sind ein befreundetes Paar aus Hamburg, Britt Larson, Buchhändlerin, und Jonas …, Übersetzer und Autor …

Britt sah auf. »Übersetzer?«

»Ich habe früher ein paar Sachen aus dem Englischen übersetzt, das kann man googeln. Als Autor findet man von mir nichts.«

»Verstehe. Dann weiter!«

»Warte, wo war ich jetzt … ach ja … die sich nach einer Oase der Ruhe sehnen, um sich bei müßigen Tätigkeiten wie Lesen und Wandern vom Stress der Großstadt zu erholen und neue Kraft zu tanken, die wir dringend benötigen.«

»Und bei gutem Essen.«

»Oh ja, wichtig, schreib das noch rein.« Jonas nahm noch einen Schluck Champagner und fuhr fort:

Die Beschreibung Ihres Domizils klingt nach genau der Unterkunft, die wir uns wünschen. Sollte diese noch vakant sein, würden wir uns über eine kleine Information bezüglich Ihrer Mietvorstellung und einer Zusage, falls der Preis für uns erschwinglich ist, freuen.

Wir verbleiben mit herzlichen Grüßen …

Zufrieden las Britt den Text ein letztes Mal durch. »Das klingt gut. Etwas geschwollen, aber ansprechend.«

»Wenn er schon einen Brief haben will, dann auch richtig.«

»Da hast du recht. Super. Ich werfe ihn auf dem Heimweg gleich ein.«

Jonas hob sein Glas. »Auf unseren Urlaub!«

2. Kapitel

Die ersten einundzwanzig Kilometer liefen wie am Schnürchen. Als der Startschuss fiel, war Sarah gut weggekommen und hatte das Feld schnell hinter sich gelassen. Nicht einmal der anhaltende Nieselregen störte sie. Mit ihren Pacemakern führte sie direkt hinter den Kenianerinnen die deutsche Spitze an, und die nächsten Läuferinnen hatte sie nach wenigen Kilometern abgehängt.

Ab Kilometer fünfundzwanzig gingen die Schmerzen im unteren Rücken wieder los. Zuerst war es nur ein leichtes Zwicken, bei Kilometer dreißig aber hatte sie das Gefühl, ein Messer würde ihr in den unteren Rücken gestoßen werden. Wieder und wieder. Sarah biss die Zähne zusammen und lief weiter.

»Alles in Ordnung?« Max warf ihr einen besorgten Blick von der Seite zu. Er war einer ihrer beiden Pacemaker, die sie beim Hamburg-Marathon einen Großteil der Strecke begleiteten, und ihr Tempo mitbestimmten. Mit Max trainierte Sarah schon seit einigen Jahren. An seinem gleichmäßigen Lauf orientierte sie sich bei Wettkämpfen, um ihre Bestzeit zu erreichen.

»Bandscheibe«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, viel Reden war bei dem Tempo nicht drin.

»Verdammt«, erwiderte Tobi, ihr zweiter Pacemaker.

Sarah zog das Tempo ein wenig an, doch ein kräftiger Ruck im Rücken bestrafte ihren Vorstoß augenblicklich, und sie drosselte das Tempo wieder. Sie verstand es einfach nicht! Man hatte sie von oben bis unten durchgecheckt, mehrmals! Der letzte Orthopäde, den sie aufgesucht hatten, eine Koryphäe laut Henning, ihrem Mann und Trainer, hatte sie darauf hingewiesen, dass Bandscheibenprobleme auch psychische Ursachen haben könnten. Henning hatte sich über diese Diagnose sehr aufgeregt, doch Sarah war ins Grübeln geraten. »Jetzt lass dich von dem Quacksalber nicht verunsichern! Deine Psyche ist tipptopp in Ordnung!«, hatte er gesagt. Sie hatte darauf nichts erwidert. Ihr Eindruck von dem Arzt war gut gewesen, und Henning ignorierte auch gerne mal die Tatsache, dass sie für eine Profi-Langstreckenläuferin nicht mehr die Jüngste war. Mit sechsunddreißig gehörte sie so langsam zum alten Eisen. Ein Leben ohne den Laufsport war für Sarah trotzdem unvorstellbar!

 

Von klein auf war sie gelaufen. Sie kam aus einer Sportlerfamilie, auch ihr Vater Eckart war ein erfolgreicher Langstreckenläufer. Auf Wettkämpfen war sie von Anfang an dabei, um Ekki, wie ihn die Medien liebevoll nannten, zuzujubeln. Zuerst saß sie mit ihrer Mutter auf der Tribüne, doch ihr Vater erkannte ihr Talent und ihre Lust am Laufen früh und meldete sie für erste Kinderwettkämpfe an. Natürlich war das alles noch eher spielerisch, allerdings machte sich schon bald ihre außergewöhnliche Begabung bemerkbar, und ihr Vater, dessen Ehrgeiz auch für zwei reichte, begann sie zu trainieren und zu fördern. Es war nicht immer leicht mit Ekki. Ständig hatte er etwas an ihr auszusetzen, mal die Lauftechnik, dann die Kraft oder ihre Kondition … Eine Einladung am Wochenende zu Lilys Kindergeburtstag? Gestrichen! Stattdessen stand eine weitere Laufeinheit auf dem Trainingsplan. Das Gefühl allerdings, wenn sie als Erste das Ziel durchlief, der Jubel, die Journalisten und der stolze Blick ihres Vaters machte viel Schweiß und Tränen wieder wett. Sie liebte den Laufsport ja auch. Mit achtzehn kam ihr das bestandene Abitur zu Hilfe, und Sarah schrieb sich an der Sporthochschule in München ein und verließ ihre Heimat Rosenheim. Der Tag, an dem sie ihrem Vater gestand, dass sie ausziehen würde und nicht länger von ihm trainiert werden wollte, war einer der schlimmsten ihres Lebens. Sarah verbrachte ihn mit ihrer Freundin Lily in München, um sich die Uni anzusehen. Am gleichen Abend saß sie mit ihren Eltern beim Abendessen, und der missbilligende Blick ihres Vaters, als sie sich den Teller mit buttrig glänzenden Käsespätzle volllud, machte es Sarah etwas leichter, ihr Vorhaben zu beichten.

»Ich habe gute Nachrichten für euch«, erklärte sie zwischen zwei Bissen Spätzle.

Ihr Vater sah auf. »So? Hast du dir das mit dem Laufcamp noch mal überlegt?«

Seit Wochen hatte er sie damit genervt, dass sie bei einem Elitetreffen auf Fuerteventura teilnehmen sollte.

»Ich muss mal sehen, wie die Semesterferien da fallen …«

»Wie meinst du das?«

»Ich habe mich an der Sporthochschule in München eingeschrieben und einen Platz bekommen. Außerdem konnte ich ein Zimmer in einem Wohnheim ergattern. Im Oktober geht es los.«

»Das kann doch nicht dein Ernst sein!« Er sieht aus wie ein wütendes Frettchen, dachte Sarah, schämte sich jedoch sofort für diesen gemeinen Gedanken.

»Wieso nicht? Das Sportstudium ist doch die perfekte Ergänzung zu meiner Lauferei!«

»Aber das ist doch Quatsch! Du kannst doch nicht neben dem ganzen Training noch studieren!«

Sarah hatte geahnt, dass es ihren Vater ärgern würde, wenn er hörte, dass sie studieren wollte. Er selbst hatte nicht studiert, sondern neben dem Training eine Ausbildung zum Schreiner begonnen. Als seine Karriere Fahrt aufgenommen hatte, hatte er die Ausbildung vorzeitig abgebrochen.

In seinem Fall war alles gut gegangen, aber ein unglücklicher Sturz könnte genügen, um die Sportlerkarriere zu beenden. Das war Sarah einfach zu risikoreich.

Der Abend endete in einer unschönen Streiterei, aber Sarah ging als Siegerin hervor, sie würde studieren. »Ist doch vernünftig, dass sie sich eine Alternative überlegt hat«, nahm ihre Mutter sie nun auch noch in Schutz.

Ekki starrte seine Frau wütend an, dann stand er auf. »Hier scheint ja schon alles entschieden zu sein!«

Nachdem die Tür mit einem lauten Knall hinter ihm zugefallen war, drückte Sarah kurz die Hand ihrer Mutter. Ihr war es schon immer schwergefallen, sich gegen den dominanten Ehemann durchzusetzen. Dass sie sich so klar auf Sarahs Seite stellte wie an diesem Abend, war selten.

»Danke, Mama!«

»Unsere erste Studierte in der Familie, ich bin stolz auf dich.«

Am nächsten Morgen war auch Ekki deutlich entspannter und sie unterhielten sich noch einmal in Ruhe über das Thema. Und in einer Sache gab Sarah nach, sie würde sich in München einen Trainer suchen. In diesem Punkt waren sich Vater und Tochter durchaus einig: Die Karriere als Läuferin würde sie natürlich weiterverfolgen!

Und so trat der zehn Jahre ältere Henning in ihr Leben und wurde ihr Trainer und Manager. Als Sarah Henning das erste Mal auf dem Ascheplatz traf, verliebte sie sich sofort in ihn. Lässig kam er auf sie zugeschlendert, er trug einen coolen Trainingsanzug und hatte eine Sporttasche locker über die Schulter gehängt. Er war groß, mit vollem blondem Haar und natürlich einem super Body, soweit Sarah das erkennen konnte. Ihr Herz schlug schneller, er war genau ihr Typ! Von Beginn an war es zwischen ihnen sehr körperlich gewesen. Wenn er sie berührte, um ihre Haltung zu korrigieren oder seine Hand ihre Hüfte zufällig streifte, kribbelte es bei Sarah am ganzen Körper. Doch er blieb auf Abstand, und Sarah verstand, dass er seinen Schützling nicht in die Bredouille bringen wollte. Den ersten Schritt musste sie machen. Dann kam die Qualifizierung für Olympia, und an diesem Abend trank Sarah ein Glas Sekt mehr als normalerweise. Irgendwann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und flüsterte Henning ins Ohr, ob er sie nach Hause bringen würde. Sie lächelten sich an, und in dieser Nacht war aus der beruflichen Partnerschaft auch eine private geworden. Drei Jahre später folgte die Hochzeit. In Sarahs Karriere und in ihrem Privatleben lief es rund. Sie gewann einen Wettkampf nach dem anderen, und lukrative Sponsoringverträge waren die Folge. Sarah war attraktiv und wurde auch gerne als Model für Sportbekleidung gebucht. Henning verhandelte hart, und entsprechend gut hatten sie die letzten Jahre an ihrer Karriere verdient. Sarah und Henning genossen die wenige Freizeit, die ihnen blieb, in vollen Zügen. Sie reisten gerne und viel, sowohl Städtetrips als auch Aktivurlaube, oder sie ließen es sich in ihrer großzügigen Schwabinger Altbauwohnung gut gehen, die sie sich auch von ihrem Geld geleistet hatten. Das Schönste an der Wohnung war die großzügige Dachterrasse, von der aus man weit über den Englischen Garten blickte. Mit Hilfe von vielen Töpfen voller Margeriten, Rosen, Lavendel und verschiedenen Kräutern sowie dem großen, bunt gestreiften Sonnenschirm hatte Sarah eine kleine mediterrane Oase daraus erschaffen. Wenn Henning da war, verbrachten sie die milden Sommerabende zusammen draußen, oder Sarah verkrümelte sich mit einem guten Buch und dem Handy in ihren geliebten Schaukelstuhl. Vor ein paar Jahren hatte sie damit begonnen, ihren Instagram-Kanal zu pflegen, und postete neben den Wettkampferfolgen immer wieder Bilder von Büchern, die ihr besonders gut gefielen. Oder den Gerichten, die sie gekocht hatte. Sie staunte, wie viele Menschen sich dafür interessierten, was sie aß und las, und sie liebte es, sich durch die Kommentare zu scrollen. Das Studium hatte Sarah nach dem dritten Semester vorerst auf Eis gelegt.

Achtzehn Jahre lief alles wie geplant, doch dann begannen Ende letzten Jahres die Schmerzen. Sarah hatte die komplette Wintersaison ausgesetzt und sich durchchecken lassen. Zwar konnte ihr Arzt nichts finden, aber die Pause schien ihr gutgetan zu haben, und es wurde schnell besser, sodass Henning schon bald auf eine Wiederaufnahme des Trainings und der anstehenden Frühlingswettkämpfe drängte. Er war in Sorge, dass sie die Sponsoringverträge verlieren würden. Der Frühjahrsmarathon von Hamburg sollte ihr großes Comeback werden, doch es lief nicht rund an diesem Samstagmittag.

Bei Kilometer vierzig wurde sie von ihrer Konkurrentin Andrea überholt. Sarah humpelte mittlerweile mehr, als dass man es laufen nennen konnte.

»Willst du abbrechen?«, erkundigte sich Max kurz vor Planten un Blomen, Hamburgs schönsten Stadtpark. Tobi war schon bei Kilometer 30 ausgestiegen, und Max würde sich nun ebenfalls zurückfallen lassen. Für die Läuferinnen ging es jetzt direkt weiter zur Zielgerade.

»Nein«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sarah kam kurz vor dem Hauptfeld ins Ziel, das schlechteste Ergebnis ihrer gesamten Karriere.

»Wir wissen nicht genau, was los ist, aber Sarah Fischer scheint Probleme zu haben. Einen Sonderapplaus für die tapfere Läuferin!«, ertönte die Stimme des Stadionsprechers. Sarah winkte in die jubelnde Zuschauermenge.

»Verdammt noch mal, was war das denn?« Henning bahnte sich seinen Weg durch das Getümmel. Die anwesenden Fotografen schossen eifrig Bilder.

»Kannst du bitte ruhig bleiben? Der Zieleinlauf war schlimm genug, ich brauche morgen nicht noch einen Artikel über unsere Streitereien im Netz«, zischte Sarah zurück.

»Ich verstehe es nicht, es lief doch gut im Training. Du bist körperlich gesund, warum hast du so einen miesen Lauf hingelegt?«

Sarah wandte sich an Tobi und Max, die mittlerweile ebenfalls im Zielbereich eingetroffen waren. »Danke euch, ich melde mich die Tage zur Nachbesprechung, okay?«

Max nickte. In Hennings Richtung fügte er hinzu: »Am besten lassen wir das alle erst einmal ein wenig sacken.«

»Willst du mir jetzt vorschreiben, wie ich meinen Job machen soll? Wir können Sarah auch einen anderen Pacemaker suchen!«, erwiderte Hennig bissig.

Beruhigend legte Sarah ihrem Mann eine Hand auf den Arm und warf Max einen Blick zu, der ihn bat, Henning nicht noch mehr zu reizen.

Nachdem die beiden Pacemaker in der Menge verschwunden waren, wandte sich sie sich ihrem Mann zu. »Lass uns irgendwo hingehen, wo es ruhig ist.«

»Hier haben wir eh nichts mehr zu suchen.«

Seine Worte versetzen Sarah einen Stich. War das so? War sie raus aus dem Game?

Während Henning den Wagen holte, hüpfte Sarah noch schnell unter die Dusche, um sich nicht auch noch zu erkälten.

Auf dem Weg zu den Umkleiden kam ihr Andrea entgegen.

»Hey, Sarah! Alles okay bei dir?«

»Nur eine Zerrung, das wird schon wieder. Aber Glückwunsch, du bist super gelaufen.«

»Danke, das ist echt lieb von dir! Ich muss los, gleich findet die Siegerehrung statt.«

»Viel Spaß, die hast du dir verdient.«

Sarah sah Andrea hinterher, wie sie leichtfüßig den Gang hinab eilte. Kaum zu glauben, dass die Konkurrentin sogar ein Jahr älter war, sie hatte heute eine super Zeit abgeliefert. Was war nur mit ihr los? Sarah war mit ihrer Leistung unzufrieden, und das schon seit Monaten. Sie schlief schlecht und war oft traurig, ohne richtig sagen zu können warum. Fühlte sich so eine Depression an? Sei nicht albern, schalt Sarah sich selbst.

»Am liebsten würde ich sofort abreisen«, maulte Henning, als sie Richtung Hotel fuhren. »Was wollen wir hier denn noch?«

»Ich bin zu erledigt, um heute noch nach München zu fahren, und außerdem muss ich erst etwas für meinen Rücken tun, ich kann so nicht stundenlang im Auto sitzen.«

»Herrgott, dann nimm eben ein Schmerzmittel, dann geht das schon.«

Erstaunt sah Sarah zu ihrem Mann hinüber. »Sag mal, spinnst du? Wie redest du denn mit mir?«

»Na, bei der Leistung kann ich ja auch mal enttäuscht sein.«

»Du bist enttäuscht? Musstest du vor den Augen des Publikums ins Ziel humpeln oder ich? Mir reicht es langsam mit deinem Genörgel!«

»Du hättest die letzten Meter ruhig noch durchziehen können! Wie stehen wir denn jetzt da? Es war so peinlich zwischen den ganzen Journalisten, ich musste mir schließlich ihre hämischen Sprüche anhören, das war nicht gerade angenehm!«