Sommerleithe - Klaus Weise - E-Book

Sommerleithe E-Book

Klaus Weise

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Beschreibung

Zwei kräftige Metzgerhände packen den sechsjährigen Jungen und hängen ihn, als sei es ein Spaß, an einen schwarzen Räucherspieß in den Fleischhimmel von Wurst und Schinken. Je länger er hängt, desto stärker wächst die Angst vor dem Absturz. Umrankt wird diese Geschichte von einer assoziativen, mit fast halluzinogenen Überlagerungen und mit harten Schnitten und Zeitsprüngen arbeitenden Wortbegehung. Die Familie flieht aus der DDR und macht sich mit großer Hoffnung im Herzen und noch größeren Fragezeichen auf den Schultern auf den Weg in den Westen, kämpft sich durch das Ungeheuer der ­U-Bahn, im Flieger durch einen Gewitterhimmel, durch das Aufnahmelager, durch fremde Dia­lekte und abweisende Städte hinein in den Wohlstand und die Verlogenheit der 60er Jahre mit lazy sunday afternoons und aufregenden Vormittagen. Im Grenzbereich zwischen Autobiographie und Schelmenroman erzählt dieser Text aus der Perspektive eines Kindes und Jugendlichen von den kleinen und großen Wirrungen einer Kindheit in den 50er und 60er Jahren.

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Klaus Weise

Sommerleithe

Roman

Inhalt

1. Poor boy, you’re bound to die

2. … das kommt vom Rudi-Ralala

3. Pari Banu

4. «Im Westen ist es kalt»

5. Frau Pavel

6. Renates Anfall

7. Die Tage (Those were the days, my friend)

8. Sud und Sühne

9. Der Vatersprachlose. Was ist, wenn nichts ist?

10. «Das Leben nennt der Derwisch eine Reise»

11. Schnappdeckel der Erinnerung

12. Blut und Blumen

13. … finden in der ganzen Welt ihre Käufer!

14. Zweites Königreich

15. Morning has broken

16. Angst im Himmel, ein kurzes Kapitel über das Töten und artfremde Axt

17. Wrigley’s

18. Die Scham, der Stolz und die rohe Leber

19. Each man kills the thing he loves oder: befriedigend –

20. Magic carpet ride und roter Wolf

21. Speaking in tongues

22. Das Glück

23. Lullumann in Russland

24. Chthonisch

25. Wohin (nicht) schauen

26. Wurstdecke und Nasengestrüpp

27. «Zwar, eine Sonne, sagt man, scheint dort auch

28. «Und über buntre Felder noch, als hier …»

29. «… nur schade, dass das Auge modert, das diese Herrlichkeit erblicken soll»

30. «Die Liebe ist ein seltsames Spiel»

31. Fliegende Hunde, ja. Fliegende Teppiche, auch. Aber …

32. Bürgerliches Heldenleben

33. Glitzsch

34. Zweimal Sonne

35. Diamat

36. «Mädel, mach’s Ladel zu, ’s kommt e Zigeunerbu»

37. Kickerlingsberg

38. Juri Alexejewitsch Gagarin

39. Out of the blue, into the black

40. Gilt nur bedingt. Weil ein Ich (welches?) wie ein Kind bedenkt, wie es dächte, wenn es denken könnte, so aber nicht denken kann

41. Endlich – lange drauf gewartet

42. Teilweise Wiederholung. Kann überlesen werden

43. Bitte nicht überblättern. Neu!

44. Zuvor 24.

45. Erinnerungssuppe 2

46. Domsingschule

47. Gott und der Garten

48. Zu neuen Ufern

49. Nicht hart – und auch nicht Schluss

50. Zu noch neueren Ufern

51. Die Erinnerung

52. Vielleicht war alles auch völlig anders

53. «Schulen der Sprachlosigkeit»

54. Abschied

Fine ohne Ende

Über den Autor

Über dieses Buch

Impressum

Sommerleithe

Wortbegehung einer Kindheit diesseits undjenseits der Zonengrenze

Eine Geschichte als wahr zu bezeichnen,ist eine Beleidigung für Kunst und Wahrheit zugleich.

Vladimir Nabokov:Vorlesungen über westeuropäische Literatur

Wenn die Natur aus ist, das ist, wenn die Natur aus ist.

Wenn die Welt so finster wird,

daß man mit den Händen an ihr herumtappen muß,

daß man meint, sie verrinnt wie Spinneweb.

Das ist so, wenn etwas ist und doch nicht ist,

wenn alles dunkel ist und nur noch ein roter Schein im Westen,

wie von einer Esse. Wenn …

Die Schwämme … da, da steckt’s. Haben Sie schon gesehen,

in was für Figuren die Schwämme aus dem Boden wachsen?

Wer das lesen könnt.

Georg Büchner: Woyzeck

1.

Poor boy, you’re bound to die

Es begann mit einem Spaß. In einem weit zurückliegenden Damals.

Das Licht wurde ausgeknipst, zwei kräftige Männerhände packten mich, hoben mich nach oben unter die Decke, als wäre ich leicht wie eine Feder, und ich, reflexartig den Schwung ausnutzend, streckte meine Arme aus, umfasste einen schwarzen Räucherspieß, hielt mich fest – und hing im Himmel. In einem Himmel aus Schinken, Wurst und Speck.

Da hing ich nun. Wo niemand jemals vor mir hing. Ganz oben. Ich. Herrscher über ein riesiges Reich. Über den roten Wolf, über Kutter, Kühlhaus, Messer, Hackklotz, Wurstkessel und Räucherkammer, über alles und alle, die mir dienten, damit aus Schweinehälften und Rindervierteln, aus Kälbern, Färsen, Zicklein und Spanferkeln entstehe, was alle wollen und brauchen: etwas zu essen. Nein. Nicht etwas. Sondern Fleisch und Wurst. Und nicht irgendwelches Fleisch und irgendwelche Wurst, sondern das beste Fleisch und die beste Wurst weit und breit. In Lusan, in Gera und darüber hinaus. Ich war der König, der kleine König der elterlichen Metzgerei.

Innerhalb weniger Sekunden wurde ich aus der Welt, in der man mit den Füßen auf festem Boden steht, erhoben in eine andere Welt, eine Welt, in der der Körper schwebt, die Beine und die Füße baumeln und der Kopf auf faszinierende Art verwirrt und berauscht ist.

Und wenn der Boden unter mir auch nicht verschwunden ist, sondern nur sehr, sehr weit weg, erscheint es mir, als hinge ich, wenn nicht im Himmel, so doch zumindest im halben Himmel, im Metzgerhimmel als der Vorstufe zum Himmel.

Wer durfte, wer konnte das in meinem Alter schon erleben! Ich halte mich fest an einem Stock, schwarz wie Ebenholz. Doch nicht ängstlich, wie sich Erwachsene an der Haltestange unter dem Dach der Straßenbahn festhalten würden, wenn plötzlich unter ihren Füßen der lange Gang mit den vollbesetzten Sitzen verschwände, sich mit Fahrer und Schaffner in bedrohliche Tiefe entfernte, in die hinabzustürzen den sicheren Tod bedeutete.

Nein, ich hatte keine Angst, sondern war kraftvoll und stolz. Denn neben mir hingen keine verängstigten Fahrgäste einer Straßenbahn, sondern ihres Wertes und ihrer Würde sich bewusste und sich erhaben fühlende Würste, Schinken und Speckseiten. Sollten sie sich über meine unerwartete Anwesenheit, über das Eindringen eines Fremdlings in ihr Revier gewundert, geärgert oder gefreut haben, so ließen sie sich das, souverän wie sie waren, nicht ansehen und anmerken. Ich glaube, sie waren verwundert, denn noch nie hatte sich ein menschliches Wesen in ihr Reich gewagt. Außer eben ich. Jetzt. Um sie mit meiner Anwesenheit zu grüßen und ihre Anerkennung zu bekommen für mein mutiges Vordringen in ihr Fleischerreich. Meine Freude war riesig. Und ich glaube gespürt zu haben, dass man sie hier oben nach der ersten Verwunderung über meine unerwartete Tat durchaus mit mir teilte.

Tief zu meinen Füßen saßen keine Menschen im Abgrund einer Straßenbahn, sondern dort lag, wie ich ohne hinunterzublicken wusste, in mattem Glanz ein dunkler, einsamer und gnadenlos harter Steinfußboden, der meinen ganzen Mannesmut herausforderte. Denn so schnell die Arme mich gegriffen und in den Himmel gehievt hatten, so schnell senkten sie sich hinab und verschwanden im dunklen Licht der Abendstunde – statt zur Sicherheit neben mir zu verharren, um mich, sollten meine Finger abrutschen und ich in die Tiefe stürzen, aufzufangen, zu retten und auf sicheren Grund zu stellen. Und mit den Armen verschwanden auch die Körper und die lachenden Gesichter der beiden Männer in der Dunkelheit, die schon aus den Ecken kroch, während es draußen noch taghell war. Ich hörte die Tür ins Schloss fallen, hörte, wie der Schlüssel gedreht und das Schloss verriegelt wurde.

Dann war Stille. Ich lauschte in sie hinein – und hörte nichts. Der Raum lag in trägem Dämmerlicht und schwieg. Doch die Faszination, die Freude und der Stolz, hier oben hängen zu dürfen, wurden von der langsam sich ausbreitenden Finsternis geschluckt. Angst beschlich mich – und die Frage: Wie lange würde ich hier oben hängen können, ohne abzustürzen? Soeben noch ein über sich selbst hinauswachsender Abenteurer, war ich nun ein Gefangener, abgehängt im Gestänge einer Welt, die nicht für mich bestimmt war und die ich gerade deswegen neugierig hatte erobern wollen.

Ich war allein. Verlassen. Eingesperrt. Wo war meine Mutter? Auf sie konnte ich mich immer verlassen. Es brauchte keinen Anlass. Hatte ich etwas ausgefressen: Sie war für mich da. Wollte ich sie einfach nur umarmen und ihr einen Kuss geben: Sie war für mich da. Wo war sie, jetzt, als ich sie brauchte?

Mein Vater und sein Geselle Oswald waren Späßen nicht abgeneigt. Sei es, dass mein Vater mich fragte, was er wohl in der verschlossenen Hand halte, und sie dann, wenn ich dreimal falsch geraten hatte, öffnete und ich ein Schweineauge anschaute, das mich anschaute, sei es, dass Oswald – mit Schweineohren am Kopf statt seiner eigenen – aus dem Dunst und Dampf der Wurstküche hervorkam und zur Begrüßung grunzte. Überraschungen dieser Art war ich zwar nicht gewohnt, aber sie waren mir auch nicht gänzlich unvertraut. Mich jedoch unter die Decke zu hängen, zu verschwinden, die Tür von außen abzuschließen, damit mich niemand finden und befreien konnte, und mich wie Wurst, Schinken und Speck austrocknen zu lassen, das war neu. Und lebensbedrohlich – wie die vielen anderen Gefahren, vor denen mein Vater mich immer wieder mit bildhaft-eindringlichen Beschreibungen gewarnt hatte, in die ich mich jedoch allzu gerne mit meiner Phantasie hineinbegab und die auszuschmücken mir ein schauriges Vergnügen bereitete.

Doch das hier war kein Spiel. Es war Wirklichkeit. Kein ängstlich-sehnsüchtiges Gespinst meiner Einbildungskraft, kein Traum, aus dem erwachend ich mich in der behaglichen Wärme meines Bettes im behüteten Elternhaus wiederfinden würde. Im Gegenteil: Mein spielerischer Übermut war verflogen, und was übrig blieb, war pure, zu Erstarrung geronnene Angst. Würde ich meinen Griff lockern in der Hoffnung, aus einem schrecklichen Traum ins weiche Federbett zu fallen und nach dem kurzen Schock des Erwachens beglückt über meine Rettung in die lange Nacht hinein zu schlummern, so würde ich vom Himmel hinabstürzen und mir beim Aufschlagen auf der Erde sämtliche Knochen brechen.

Was nun? Was tun? Ich musste mich festhalten, festhalten, solange ich konnte, das war klar. Aber wie lange würde ich mich festhalten können? Und wenn ich abstürzen würde und zerschellen auf dem steinharten Fußboden, wären fehlende Kraft und mangelnde Willensstärke meine eigene Schuld. Es gab kein Ungeheuer, gegen das ich zu kämpfen, kein Gespenst, das ich zu vertreiben und keinen Drachen, den ich mit dem Schwert oder einer Lanze zu durchbohren hatte, nein, ich war mein eigener Feind, und es lag allein an mir, wie lange ich mich am Räucherspieß würde festhalten können. Noch konnte ich. Noch hatten meine Hände die Kraft, mich im Himmel des Fleischerreiches baumeln zu lassen und sich dem dunklen Sog, der meinen Körper länger und länger werden ließ, zu widersetzen und mich vor dem Absturz zu bewahren. Noch.

Alles um mich herum war ruhig und friedlich, ganz so, als würden die Würste, Schinken und Speckseiten, der Raum und all seine Gegenstände sich zur Ruhe begeben, langsam in einen tiefen Schlaf sinken und den Ereignissen eines neuen Tages entgegenträumen. Doch diese Behaglichkeit konnte ich nicht teilen. War ich doch, wenngleich bleich vor Angst, weder eine weiß gekalkte Zervelatwurst noch, auch wenn mir das Blut in den Kopf geschossen war, ein roter Nussschinken. Ich war: beides. Da ich mich aber nicht selber sehen konnte, konnte ich nicht wissen, wie das aussah: gleichzeitig beides zu sein.

Schwester Salami und Bruder Schinken hatten es bequem, denn sie brauchten sich nicht festzuhalten. Sie wurden gehalten – von Bindfadenschlaufen, durch die schwarze Spieße gesteckt waren, welche mittels einer eisernen Gabel, befestigt an einem langen Holzstab, von starken Männerhänden in das Gestänge unter die Decke gehängt worden waren. Auch war ich keine von den vielen mit weißen Fettflocken gemusterten Mettwürsten, die sich mit braun glänzender Haut wie geknetete und abgeschnürte hungrige Riesenschlangen um Räucherspieße wickeln konnten, um sicheren Halt und Überlebenshoffnung zumindest für die kommende Nacht zu finden. Nein, ich war ein Junge, der zwar ziemlich stark war oder sich so vorkam, aber möglicherweise nicht stark genug, um eine ganze Nacht wie eine Fledermaus am Wurstspieß hängend schlafen zu können. Außerdem, fiel mir ein, jagen Fledermäuse nachts und schlafen am Tag. Nein, es gab kaum Hoffnung zu überleben.

Und die Hoffnung schwand umso mehr, je ruhiger es wurde im Raum. Die Geräusche des Tages waren längst verweht, und die Stille der Nacht hatte sich schleichend ausgebreitet wie die Dunkelheit im Schatten der Dämmerung. Alles war so friedlich, dass es mich nicht überrascht hätte, jetzt die sanfte und geliebte Stimme meiner Mutter zu hören, die mir ein Lied zur guten Nacht singt … wäre da nicht die pochende Panik in meinem Herzen.

Wie lange ich in diesem verführerischen, doch nun mein Leben bedrohenden Himmel hing, weiß ich nicht. Es kam mir unendlich lange vor. Meine Haut, ausgetrocknet zu einer luftgeräucherten Schwarte, zu gelb-bräunlichem Pergament – ein harter Naturdarm, in dem mein schwindendes Leben, mein vertrockneter Körper Saft und Seele aushauchten – war mit Kleidern und Schuhen verwachsen. Ich war eingetrocknet auf die Größe einer Salami. Mein Kopf, ein Schrumpfkopf mit dem Gesicht eines greisenhaften Kindes, wirkte wie aus dem Himmel auf die Schultern gefallen, dort verwachsen mit zwei ausgestreckten, verdorrten dünnen Ärmchen, die in nichts an die geschmeidigen Muskeln und die saftigen Sehnen der Jugend erinnerten, sondern nur an den vertrockneten Mörtel und Staub greisenhafter Alterserstarrung. Kopf, Arme und Rumpf waren zudem umhüllt von einem Geflecht übereinander gewobener Spinnennetze, welche diese menschliche Ruine davor schützen sollten zu zerbröseln, damit sie, sollte es jemals wieder regnen, zu neuem Leben erwachen könne.

Ich atmete nur noch einmal pro Tag, einmal ein, einmal aus, und mein Herzschlag hatte sich diesem Rhythmus angepasst. Meine Hände sind mit dem schwarzen Spieß verwachsene Krallen, von denen ich befürchten muss, dass auch sie bald pulverisiert werden und als feiner Staub auf das Leben unter ihnen herniederrieseln.

Und ist mein Körper auf dem Steinfußboden aufgeschlagen, zerborsten und sein Staub aufgewirbelt wie die Sporen, die ein zertretener Pilz in einer langsam unsichtbar werdenden Wolke auf weite Reise schickt, dann werde ich nicht mehr sein. Dann werden meine Eltern und meine Geschwister schon sehen, was sie davon haben, mich nicht gerettet zu haben, dann werden sie nur noch sagen können: Es war einmal ein König, ein kleiner König …

Man hatte mich vergessen. Die Würste und Schinken neben mir kamen und gingen. Ich war es müde, mich mit ihnen zu befreunden. Ich reduzierte die Energie, die ich benötigte, um zu leben, wie es Schildkröten tun im Winterschlaf. Ob ich nun langsam zerbröselte oder, solange noch ein wenig Lebenssaft in mir gärte, doch noch heruntergenommen und im Laden von der Aufschnittmaschine in hauchdünne Scheiben geschnitten und teuer verkauft würde, war mir egal. Ich wusste, die Gefühle und mit ihnen Schmerz und Hoffnung hatten meinen Körper längst verlassen.

Die Lethargie als Ergebnis des endlosen Hängens wurde nur noch übertroffen von der Wiederkehr des Lebens unter mir. Dort wurde gearbeitet, gelacht, gestritten, geliebt, Geld gezählt, doch nie bekam ich einen Blick, der mir gesagt hätte, ich weiß, dass es dich da oben noch gibt, dass du da bist, wir haben dich nicht vergessen, und deine Zeit wird kommen. Nichts von alledem. Obwohl vorhanden, existierte ich nicht mehr. Als hätte es mich nie gegeben. Manchmal, wenn das zarte Licht der Morgensonne den Raum erhellte, die Schläfer in Wohnungen und Häusern an der Hand nahm und sie vom Schlaftraum der Nacht in den Lebenstraum des Tages führte, wünschte ich, es würde mich verwandeln in eine Urne ganz aus meiner eigenen Asche und mit sonst nichts drin als diesem weichen Licht.

Ich fürchtete mich nicht mehr vor dem Tod und auch nicht mehr vor dem Sterben. Das sanfte Licht der Morgensonne würde mir für immer scheinen und mich erwärmen, mir Trost und Hoffnung spenden. Und wenn das Leben mich vergessen hat, bescheint mich doch das Licht des Todes in meiner Urne. Ob es mir für immer hier scheint oder mich mitnimmt auf seine Reise – mir ist beides recht.

Denn ich wollte wissen, wohin die Reise ging. Da hörte ich von irgendwo, aus Vergangenheit oder Zukunft, die vertraute Stimme meiner Mutter: «Im Westen ist es kalt.» Mit dieser Vorausahnung hatte sie recht, wie sich später herausstellen sollte. Auch wenn es im Westen manchmal heiß zu- und hoch herging.

2.

… das kommt vom Rudi-Ralala

Samstagabends gingen die Gesellen unserer Metzgerei im gegenüberliegenden Gasthaus Zur Kanne feiern. In dessen Tanzsaal mit dem schönen Namen Paradiso – eine Verbeugung vor dem Hit «Paradiso unterm Sternenzelt» aus den frühen 60er Jahren, auf Deutsch gesungen von der amerikanischen Sängerin Concetta Rosa Maria Franconero, bekannt unter dem Namen Connie Francis –, spielte eine Band, es wurde getrunken und getanzt, und meine Schwester, ihre Freundin Monika und ich lagen bei uns im Fenster und beobachteten. Der Feldstecher meines Vaters half uns dabei. Besonders begehrt war er von Renate und ihrer Freundin bei langsamen Liedern. Nie, außer an Abenden wie diesen, sah ich meine Schwester jemals durch ein Fernglas schauen.

Was wir nicht sehen konnten, mussten wir uns denken. Ich spürte körperlich, dass Renate und Monika in ihrer ergänzenden Phantasie mir weit voraus waren und über Dinge tuschelten, die ich mir, selbst wenn ich mehr als bloße Flüsterfragmente gehört hätte, aus Mangel an pubertären Erfahrungen noch lange nicht hätte ausmalen können.

Auch unsere Eltern gingen samstagabends aus. Zweimal im Monat trafen sie sich mit Freunden zum Kegeln in der Wirtschaft Im Pütt. Lag Zur Kanne mit dem Tanzsaal Paradiso nur einen Steinwurf von der Straßenfassade unseres Hauses und der Metzgerei entfernt, so hätte ich mit demselben Stein in entgegengesetzter Richtung den oberirdischen und fensterlosen Tunnel der zu Im Pütt gehörenden Kegelbahn treffen können, jenseits der Mauer, die unseren großen Garten umzäunte und in die am oberen Ende spitze Eisenpickel und bunte Glasscherben einzementiert waren. Diese sollten Einbrecher davon abschrecken, in unser neu erworbenes Reich – Metzgerei, Laden und Wohnhaus – einzudringen, um Würste und Schinken zu stehlen, die Geldkassette zu entwenden, die mein Vater allabendlich an seiner Schlafseite unter dem Kopfende des Ehebettes versteckte, und, sollte er sie nicht freiwillig herausrücken, ihm den Schädel einzuschlagen.

Doch auch die Flucht aus unserem Reich sollte so verhindert werden. Mit einiger Regelmäßigkeit unternahmen unsere beiden Schäferhunde, wenn sie aus ihrem Zwinger in den für sie abgezäunten Teil des Gartens durften und sich unbeobachtet fühlten, den Versuch, das Reich zu verlassen, anstatt es zu bewachen und gegen Eindringlinge zu verteidigen. Mehrmals gelang es Axel und Pluto, mit einem Satz auf die Mauer und mit einem weiteren von der Mauer in die Freiheit zu springen. Doch immer endete ihre Flucht im Zwinger des Tierheims in der Nähe des Mülheimer Flughafens, und jedes Mal, wenn ich sie mit meinem Vater von dort abholte, um sie aus dem einen Zwinger zu befreien und wieder in den Zwinger der Metzgerei zu sperren, überlegte ich, welches Hundeleben sie, hätten sie es frei wählen dürfen, wohl lieber gehabt hätten. Vermutlich wären sie gern, friedlich nebeneinander im Flugzeug sitzend, ins Paradiso für Hunde geflogen.

Wieder zu Hause, versuchte mein Vater, ihnen mit dem Stock den Sprung in die Freiheit aus dem Körper zu prügeln. Das tat weh. Auch mir. Es war ungerecht. Denn sie hatten nichts anderes getan als wir: aus dem Eingesperrtsein in die Freiheit zu entfliehen. Außerdem war es erfolglos. Wieder und wieder versuchten sie, dem Gefängnis des Gartens zu entkommen, der für mich, auch weil in ihm ein schöner Kirschbaum stand, ein Paradies war. Aber Hunde essen keine Kirschen. Schade.

Anfänglich glaubte ich, in dem langen Bau jenseits der Mauer fänden Schießübungen statt. Und dem war ja auch so! Doch wurde nicht mit Pistolen- und Gewehrkugeln geschossen, sondern mit kindskopfgroßen Kugeln, die, wenn sie trafen, die Kegel mit lautem Lärm auseinanderstieben ließen und von denen zweifellos der Ausdruck «mit Kind und Kegel» abstammen musste.

Die Eltern waren also kegeln im Gasthaus Im Pütt. Ihr Verein trug den verheißungsvollen Namen Die Holzköppe. Auch Renate und Monika trugen etwas mit verheißungsvollem Namen – etwas, das für weibliche Teenager dieser Tage üblich war, und vermutlich nicht nur für sie: ein Nachthemd namens Babydoll mit kurzen Ärmeln und kurzen Beinen, beides gepuffert, versteht sich. Dadurch schienen mir ihre Arme und Beine länger zu sein als sonst: als wüchsen sie, mit Händen und Füßen als Blüten und lackierten Finger- und Fußnägeln als matten, pastellkreidig stumpfen, aber an der Oberfläche glänzenden Blütenblättern, aus den mit Stoff bedeckten Zonen ihres für mich geheimnisvollen Körpers heraus wie Blumenstängel aus einem mit Blumenerde gefüllten Stoffsack.

Monika hatte schwarzes Kräuselhaar und einen Silberblick. Sie schielte. Aber sehen konnte sie trotzdem. Mit dem rechten Auge. Nicht nach innen, sondern nach außen, was sie intelligenter, weil weitblickender aussehen ließ als ein zur Nasenspitze gebrochener Blick. Ihre und meiner Schwester Augen verfolgten Rudi, den Vorgesellen unserer Metzgerei, wenn er fast jeden frühen Samstagabend mit seinem silbergrünen VW-Käfer-Cabriolet vom Hof fuhr, manchmal, um eine Dame von irgendwoher abzuholen und anschließend mit ihr im gegenüberliegenden Paradiso zu verschwinden, meist aber ganz einfach, um die wenigen Meter vom Hof der Metzgerei zum Paradiso mit dem Wagen zurückzulegen und dabei von möglichst vielen Gästen gesehen zu werden – von den weiblichen mit Bewunderung und von den männlichen mit Neid. Unseren Beobachtungen nach zu urteilen, hielten Rudis Techtelmechtel selten länger als drei bis vier Wochen. Dann tauschte eine neue Dame mit der alten zuerst den Vordersitz des VW und, zu späterer Stunde, die Rückbank, falls die Gesellenstube gerade anderweitig belegt war. Denn in diesem Fall wurde der Wagen kurzerhand wieder auf dem Metzgereihof geparkt, dort, wo er auch während der Arbeitszeit immer stand. Um nun die praktische Anwendung der Rücksitze in Augenschein nehmen zu können, brauchten Renate, Monika, das Fernglas und ich nur von unserem Zimmer, das zur Straßenseite gelegen war, umzuziehen ins elterliche Schlafzimmer, das uns einen perfekten Blick auf und in den VW eröffnete, solange die Eltern noch kegeln waren.

Eine akustische Untermalung dessen, was im Wageninneren, besonders auf der Rückbank des Cabriolets, geschah, bot das Winseln und Jaulen unserer beiden Schäferhunde Axel und Pluto. Unter dem Glasdach im Hof der Metzgerei, gleich neben dem Parkplatz für Rudis Cabriolet, stand ein Wellblechverschlag, in dem die geputzten Knochen bis zu ihrer wöchentlichen Abholung gelagert wurden. Ein unglaublich stinkiges und in der Sommerhitze Maden ausbrütendes Paradies für die Ratten, die sich durch nichts davon abschrecken ließen, von den Knochen die Fleischreste abzunagen – weder samstagnachts von den Geräuschen, die Rudi und seine Begleiterin von sich gaben, noch von der eifersüchtigen Begleitmusik der beiden Schäferhunde oder von der tagtäglichen Geschäftigkeit der Metzgerei.

Axel war der Aggressivbeißer, Pluto der Angstbeißer. Ihn mochte ich mehr als Axel, den ich wegen seiner Unberechenbarkeit immer ein wenig fürchtete. Ja, Pluto hatte ich richtig in mein Herz geschlossen; er war mein Hund; er hörte mir geduldig und verständnisvoll zu, wenn ich sein weiches Kopfhaar streichelte und ihm, den angenehmen Geruch seines Fells in der Nase, meine Sorgen ins Ohr flüsterte. Schlug mich mein Vater, was gelegentlich vorkam, doch immer zu Unrecht, kläffte Pluto ihn an und war kurz davor, ihn zu beißen, traute sich aber nicht, sondern beließ es beim Zähnezeigen. Mein Vater wusste, Pluto würde nicht zubeißen, nahm einen Räucherspieß und verdrosch ihn, bis er sich mit angelegten Ohren und eingezogenem Schwanz davonmachte.

Da die Hunde tagsüber in ihre große Gartenparzelle gesperrt waren, konnten sie die Ratten in dem Knochenverschlag nicht vertreiben. Das übernahmen, wenn es meinem Vater «zu bunt» wurde – so formulierte er es immer gerne, wenn sich bei ihm Wut und Zorn, die er nicht bewältigen konnte, angestaut hatten –, er und die Gesellen. Sie schnappten sich Stöcke und erschlugen die Ratten, die sie erwischen konnten. Danach war der Betriebsfrieden wiederhergestellt. Der eine summte bei der Arbeit ein Liedchen, der andere sang einen Schlager, und mein Vater pfiff, ein wenig neurotisch wie in einer Schleife gefangen, immer und immer wieder die gleichen sieben Töne einer selbst erfundenen Melodie vor sich hin, von deren Schlichtheit allein er immer wieder aufs Neue ergriffen war. Diese Eigenkomposition, zuverlässig seine einzige, klang folgendermaßen: Da-da – da-da-da – da-da. Und wieder: da-da – da-da-da – da-da und so fort …

Die Ratten waren also erschlagen, am Freitag war geschlachtet worden, das nervöse und ertragreiche samstägliche Ladengeschäft war bedient, die Arbeitsräume gesäubert, und ich hatte die wöchentlichen Einnahmen der Ladenkasse gezählt: Das Papiergeld wurde, sortiert nach Zehn-, Zwanzig-, Fünfzig- und Hundertmarkscheinen, in verschiedenfarbige Banderolen gesteckt, die Münzen wurden in einen Münzzähler aus Bakelit gestapelt und in festes, unterschiedlich müdes grau-bunt gefärbtes Papier eingewickelt und meinem Vater präsentiert – stolz war ich, wenn der Gesamtbetrag 10 000 DM überstieg. Kurzum, ein friedlicher Nachmittag lag still über der Metzgerei … bis der Abend kam, die Eltern endlich aus dem Haus waren und meine Schwester, Monika und ich auf dem Fensterbrett in Anschlag lagen und darauf lauerten, die Gesellen bei ihren nächtlichen Vergnügungen zu beobachten.

Star des Samstagabends, nicht nur für uns, war Max. Typ James Dean, nur bayerisch, stolzierte er in Anzug mit weißem Hemd und dunkelblauer Strickkrawatte, Pomade – entweder war es fit aus der blauen, Wellaform aus der rot-weißen oder Brisk aus der roten Tube, und manchmal glänzte das Haar dermaßen, dass er vermutlich alle drei Haarcremes gleichzeitig benutzt hatte – im schwarzen Haar, das er zu einer geschwungenen und die männliche Stirn weit überragenden Tolle gestaltet hatte, Richtung Wirtschaft über die Straße und verschwand in der Musik und den bunten und sich drehenden Lichtern des Tanzsaales. Die Lieder waren uns nur allzu vertraut; wir konnten sie mitsingen und taten es auch. Mal war die Stimmung im Saal ausgelassen, ja, wild, dann verwandelte sie sich, angeregt von «Samenziehern» genannter Musik, in eine wuschige und kuschlige Atmosphäre, in der die Körper der Tanzenden, wie von einem Magnet angezogen, nicht anders konnten, als sich mit Armen, Beinen und Händen in ständig fließenden Bewegungen zu umschlingen und einander die Zungen möglichst tief im Rachen zu versenken, als wollten sie sich mit Haut und Haaren verschlingen.

Der Dual-Schallplattenspieler, dessen Deckel zugleich Lautsprecher war, hatte uns mit seiner Zehnfach-Single-Wechselmechanik musikalisch und gesanglich bestens trainiert. Renate – es war die Zeit der toupierten Hochfrisuren und der riesigen Taft-Spraydosen, die flächendeckend Westdeutschlands Familien vergifteten – hatte ihn zur Konfirmation geschenkt bekommen, und der charmant-zackige Onkel Wolfgang Kraft aus Zuffenhausen hatte ihr als erstes Plattengeschenk den Schlager «Du wirst rot, wenn ein Mann zu dir sagt, du bist wunderschön, und dir Rosen schenkt. Du wirst rot, wenn ein Mann zu dir sagt, dass er Tag und Nacht nur an dich noch denkt …» von Ivo Robić mitgebracht. Natürlich hat sie die Platte sofort aufgelegt und ist – ich habe mich gewundert, wie schnell so etwas gehen kann – tatsächlich rot im Gesicht angelaufen, ziemlich rot.

Wolfgang Kraft, ein DDR-Flüchtling wie wir, beeindruckte durch sein flott-forsches Auftreten, gute Manieren, charmantes Lächeln, die perfekte Fasson-Frisur seines kurzen, drahtigen Blondschopfs, der selbst beim Tauchen nicht aus der Form geraten wäre, und einen noch perfekteren, auf seinen Körper zugeschnittenen Anzug. Doch das Wichtigste war: Er arbeitete bei Daimler-Benz. Und fuhr auch einen. Und ausgerechnet dieser Mann, dem, wie Mutti es einmal sagte, die Herzen der Frauen zuflogen und der mit einer Schallplatte das Gesicht meiner Schwester röter färben konnte, als ich es je gesehen hatte, ausgerechnet er wurde seines Glücks im Westen beraubt, als er eines Tages mit seinem Mercedes ins Drahtseil einer Straßensperre raste, das nicht nur das Dach von seinem Wagen abtrennte, sondern auch seinen Kopf vom Hals.

Wir – Renate, Monika und ich – sangen also schon die Texte zur Musik der Kapelle im Paradiso mit, während Rudi noch in seinem Cabriolet, kaum zu glauben, aber wahr, die etwa neunzig Meter von der Metzgerei zum Tanzvergnügen fuhr. Wahrscheinlich waren es von seinem überglasten Parkplatz bis zum Hoftor und von dort über die Straße insgesamt eher sechzig Meter, die er fuhr. Aber er fuhr, er musste fahren, denn er wollte sein schnittiges Cabriolet vor dem Eingang zum Tanzlokal präsentieren, um den jungen Frauen zu imponieren und die lästige Konkurrenz zu disqualifizieren und abzuschütteln. Stand sein Wagen am Sonntagvormittag nicht auf dem Platz unter dem Glasdach im Hof, dann hatte Rudi aushäusig übernachtet – auch das war gelegentlich der Fall. Rudi war relativ klein, hatte schütteres Haar und – die beiden oberen Schneidezähne waren übereinandergestellt – ein leicht verschmitztes Lächeln. Er kam aus Ostfriesland. Und war, so hieß es, für einen Ostfriesen erstaunlich oft gut gelaunt. Besonders am Samstag. Denn der Samstag war, wie gesagt, der Ausgehtag der Gesellen. Zudem wurde samstags nur bis zum frühen Nachmittag gearbeitet, und schon am Tag zuvor, am Freitag nach der Arbeit, hatte es Löhnung gegeben – in bar.

Liefen die Geschäfte gut, hatte auch mein Vater gute Laune, witzelte herum und ließ, spendabler Chef, der er war, den Lehrjungen und die Gesellen an seiner Freude teilhaben: Dann gab es einen Schein obendrauf. Wenn nicht, die vereinbarte Summe. Das Ritual des Lohnabholens hatte eine strenge Ordnung. Die Reihenfolge orientierte sich an der Höhe des Verdienstes. Der Sieger kam zuletzt. Und Sieger war Woche für Woche Rudi. Der Vorgeselle. Verlierer, immer, der Lehrjunge Harald. Damit sich aber, so das raffinierte Kalkül meines Vaters, jeder als potenzieller Sieger fühlen konnte, weil er entweder wegen guter Leistung zusätzlichen Lohn erhalten hatte oder, wenn nicht, zumindest so tun konnte als ob, ließ mein Vater alle in der Küche antreten und warten, bis auch der Letzte anwesend war: gewaschen, geduscht, die Haare – bei Rudi waren das nicht so viele – gekämmt und manierliche Zivilkleider angezogen.

Von seinem Büro aus, hinter dem schweren Schreibtisch sitzend, die geöffnete Geldkassette neben sich, mit Ausblick auf den Hof der Metzgerei, überwachte mein Vater das Antreten. Erst wenn er einen Vornamen aufrief, durfte der Angesprochene aus der Küche eintreten ins Büro. Mein Vater griff in die Geldkassette, holte einen Briefumschlag hervor, der mit dem entsprechenden Vornamen beschriftet war – eines der wertvollen und wenigen von meinem Vater höchstpersönlich handschriftlich erstellten Dokumente –, öffnete das Kuvert, nahm die Geldscheine heraus und blätterte sie, einen nach dem anderen, mit Gönnermiene auf den Schreibtisch. Nein. Er entfaltete sie. Kostbar. Wie einen Fächer aus Geld – sah, wenn es Anerkennungsgeld für besonderen Einsatz gab, verschmitzt lächelnd seinem Gegenüber ins Gesicht, um seinerseits aus dessen Gesicht die Belohnung für die Belohnung zu kassieren.

Wie gesagt, Rudi, der Vorgeselle, war der Letzte im Ablauf dieser Zeremonie, denn er verdiente am meisten. Er wäre nur von einem Meister übertroffen worden, aber den brauchte es nicht im Betrieb, denn Meister war mein Vater selber. Aber selbst mit einem Meistergehalt wäre mein Vater nach der Zeit der anfänglichen Entbehrungen und Erniedrigungen im Westen nicht zufrieden gewesen. Es entsprach nicht seiner Mentalität, nur Meister zu sein. Er wollte sein eigener Chef sein. Und das war er.

Also Rudi; er war der Letzte, der seinen wöchentlichen Lohn bekam. Doch das hatte neben dem Vorteil, am meisten zu verdienen, auch einen nicht zu unterschätzenden Nachteil. Denn er musste, nachdem ein Geselle nach dem anderen vor ihm aus dem Büro getreten war, in den Gesichtern lesen, ob der Chef heute spendabel oder geizig sei. Und das war nicht ganz einfach. Manchmal strahlten die Gesichter, manchmal waren sie betrübt. Oder schienen so. Denn oft machten sich die Gesellen einen Spaß daraus, Rudi, den Vielverdiener und beneideten Cabriolet-Fahrer, auflaufen zu lassen, indem sie die Enttäuschung über den verweigerten Zuschlag auf dem Rückweg in die Küche mit einem Lächeln quittierten oder die Freude über einen zusätzlichen Geldschein mit schlechtgelaunter Miene. Gänzlich überfordert war Rudi, wenn sich im stirnrunzelnden Lächeln eines Kollegen Freude und Enttäuschung zu vermischen schienen. Aus Rache für Rudis schnittiges Cabriolet hatten sich die Gesellen im Lauf der Zeit zu wahren Meistern der mimetischen Verstellung perfektioniert, und wenn es die Arbeit erlaubte, hielten auch Mutti und die Verkäuferinnen sich unter irgendeinem Vorwand in der Küche auf, um dieser Freitagnachmittagskomödie als Publikum beizuwohnen.

Ob die Prämie, wenn es eine gab, unterschiedlich hoch oder bei jedem gleich hoch ausfiel – mit Ausnahme des Lehrjungen natürlich –, blieb das ewige Geheimnis meines Vaters. Er wollte keinen Zank unter den Gesellen, und außerdem, so meinte er, würden sie sich mehr anstrengen, wenn sie nicht wüssten, wie viel genau, mit oder ohne Zuschlag, jeder verdiene.

Wie auch immer. Rudi und sein Augapfel von silbergrünem VW-Cabrio waren versorgt mit frischem Geld für Arbeit und gute Dienste in der alten Woche, und endlich konnte die Fahrt ins Wochenende beginnen. Jedoch kostete es Rudi mehr Zeit, das große Hoftor zu öffnen, den Wagen auf die Straße zu fahren, auszusteigen, das Hoftor von innen zu schließen, durch ein kleines hölzernes Tor auf die Straße zu gelangen, erneut in den Wagen einzusteigen, als, saß er endlich darin, zur Stätte des samstagabendlichen Vergnügens zu fahren. War er dann etwa fünfzehn Sekunden später am Ziel angekommen, parkte er den Wagen möglichst direkt vor dem Eingang, stieg stolz aus, zündete sich eine HB an und schaute sich um, denn er wollte wissen, wer ihn gesehen und bewundert hatte bei seiner Ankunft mit dem im ganzen Stadtteil einzigartigen Schlitten. Manchmal würdigte er auch uns eines Blickes, hob zum Zeichen, dass er uns gesehen hatte, die Hand und verschwand anschließend im Paradiso, dem bunten Karussell der Hormone – die, wie ich erst später erlebte, nach ihrer eigenen Musik tanzen und nicht ausschließlich zum Takt der jeweiligen Musik und der sie intensivierenden Lichteffekte.

Rudi war nun für uns unsichtbar – wie er vermutlich meinte. Doch dies war ein Irrtum. Ein großer Irrtum. Denn er konnte ja nicht wissen, dass wir ihn im bunten und trotz aller Lichteffekte, die die 60er Jahre hergaben, irgendwie hilflos-spießig wirkenden Licht dieser Zeit immer noch beobachteten. Mit dem Fernglas unseres Vaters. Es erlaubte uns Einblicke in eine Welt, die für meine Schwester und ihre Freundin so aufregend wie erregend sein musste. Nicht anders konnte ich die aufsteigende Röte unter der Schminke ihrer Wangen deuten und die Tatsache, dass ich nur selten den Feldstecher benutzen durfte, insbesondere bei langsamer Musik. «Und dein Herz – wie es schlägt, wenn er sagt, dass ihm nichts so gut wie dein Mund gefällt …» Mir erschien diese Welt interessant, aber nicht ganz verständlich. «Doch nimm das alles nur nicht so schwer und denke stets daran: Mit siebzehn fängt das Leben erst an!» Wieso erst mit siebzehn? Lebe ich etwa nicht? Ich verstehe das nicht. Wieso siebzehn? Denn so ein Cabriolet fahren wie Rudi, das darf man erst mit achtzehn!

Im Grunde unverständlich, der Text. So unverständlich wie die schwarzen Haare, die eines Samstagabends aus Monikas leicht gespreizten Beinen zwischen der Innenseite ihres rechten Oberschenkels und dem gepufferten Saum des Babydoll-Höschens herausschauten und mich irgendwie entsetzt und doch fasziniert zurückschauen ließen. So viele schwarze Haare! Woher kamen die? Wo gab es diesen Haarwuchs? Zwischen den Beinen eines Mädchens? Einer jungen Frau? Nein. Monika war kein dem Zoo entlaufenes Affenweibchen, auch wenn sie schielte, denn dann hätte sie ja überall Haare haben müssen. Auch nicht die abnorm behaarte Frau mit langem Bart aus dem Zirkus. Nein, Monika war Monika, ein ganz normales Mädchen. Aber die dunklen Haare zwischen ihren Beinen, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich musste hinschauen. Ob ich wollte oder nicht. Ich konnte den Blick nicht abwenden. Klar, da unten rum waren dunkle Haare, schwarz bei Vati und braun bei Mutti. Aber doch nicht bei uns, bei uns Kindern. Und als Monika meinen verstört-faszinierten Blick bemerkte – der mich bannte und festhielt wie der gefrorene Metallmast der Straßenlaterne im Winter, den wir als Mutprobe vorsichtig mit der Zungenspitze berührten und an dem wir festklebten und von dem wir uns nur schmerzhaft befreien konnten, indem wir versuchten, ihn mit unserem Atem aufzutauen –, als Monika also diesen Blick bemerkte, spreizte sie die Beine ein wenig weiter auseinander, ganz so, als genieße sie die Überlegenheit, mir etwas zu zeigen und gleichzeitig etwas anderes vor mir verbergen zu können.

Doch damit nicht genug. Sie war stolz darauf und ließ mich das spüren, etwas zwischen ihren Beinen zu haben, wovon ich in meinem Alter, wie sie vermutlich meinte, nur träumen konnte. Aber weder träumte ich davon, noch verspürte ich Lust, davon zu träumen. Im Freibad, wenn wir auf der Wiese lagen, hatte ich schon oft den Mädchen zwischen die Beine geschaut, denn ich wusste, dass da etwas anders sein musste als bei mir. Doch ich konnte das andere nicht sehen; denn es gab nichts zu sehen. Außer dem schmalen Stoffstreifen des Badeanzugs zwischen den Beinen, hinter dem sich unmöglich irgendetwas Großartiges verbergen konnte. Und doch war mir klar, dass auch sie da was haben mussten, nur wusste ich nicht genau, was. Dass etwas fehlte und gleichzeitig etwas anderes da sein sollte, ohne dass man es sehen konnte, blieb ein tiefes, nicht aufzuklärendes Geheimnis. Unter Wasser hatte ich den Mädchen gelegentlich zwischen die Beine gefasst, um herauszufinden, was da wohl sei, denn was man nicht sieht, kann man ja vielleicht fühlen. Aber es gab nichts zu fühlen. Außer dem nassen Stoff des Badeanzugs. So beschloss ich, dass das Ganze – den Mädchen unter Wasser dorthin zu fassen, wo es nichts zu fassen gibt – eine Mutprobe unter uns Jungens war, bei der ich mittat, um vor den anderen nicht als Feigling dazustehen.

Aber so etwas wie bei Monika hatte ich noch nie gesehen, und nie hätte ich vermutet, dass da unten so etwas wachsen könne. Wachstum ist nur möglich, wo die Sonne scheint, und dass bei Monika da unten die Sonne scheinen sollte, das konnte ich mir nicht vorstellen. Andererseits: Auch Champignons wachsen im Dunkeln. Ich war machtlos: Ich konnte den Blick zwischen Monikas Schenkel nicht abwenden – und entdeckte zu spät, dass sie mich längst im Visier hatte. Ich war mir unsicher, ob sie mich, weil ich ja nach links schaute, also dorthin, wo rechts zwischen Haut und Babydoll der schwarze Haarstrunk hervorlugte, also zu der Seite, auf der ihr rechtes Auge nach rechts außen wegschaute, ob sie also mit ihrem gebrochenen Blick wirklich sehen konnte, wohin genau ich schaute, so wie ich mir auch im Unklaren darüber war, ob sie, wenn sie durch den Feldstecher sah, sah, was Renate und ich sahen, oder ob sie mit dem rechten Auge nach außen um die Ecke gucken und etwas meiner Schwester und mir Verborgenes erspähen konnte. Als ich die Augen hob, rannte mein Blick in den ihren, und mir schien, als lächelte Monika und genoss, was sie in mir verursacht hatte und wovon ich, im Gegensatz zu ihr, bestenfalls den Anflug einer Ahnung hatte, die zu benennen mir die Worte fehlten.

Meist bin ich irgendwann eingeschlafen und habe den Höhepunkt verpasst, dem meine Schwester und Monika – Hermann mit Familiennamen – den ganzen Samstagabend entgegenfieberten: Mit welcher Bekanntschaft würde Max die Freitreppe emporsteigen und im sogenannten Gesellenzimmer verschwinden, und mit welcher würde Rudi in den VW steigen? Waren es dieselben wie am vergangenen Samstag oder neue, und wenn neue – so galt es vermutlich herauszufinden –, welche war die attraktivere von beiden, und was hätten sie, Renate und Monika, zu tun, um ebenso attraktiv zu sein wie diese? Vielleicht wussten meine Schwester und ihre Freundin, was nun, war die Tür verschlossen, auf der Stube über dem Arbeitsraum, in dem tagsüber Rinderviertel und Schweinehälften mit Messer und Säge zerlegt wurden, geschah. Ich wusste es damals nicht. Und ebenso wenig wusste ich, was im Volkswagen geschah, nur, dass die beiden Schäferhunde immer zu winseln und zu jaulen begannen, als wollten sie auch gerne einmal in Rudis schickes Cabrio steigen, um woandershin zu fahren.

Ich erinnere mich aber, dass meine Mutter und die Putzfrau, Frau Schubert – die komischerweise, sie waren ja keine Zwillinge, sondern Mann und Frau, die gleiche grüne Lederjacke trug wie ihr Mann, vielleicht gab es sie im Doppel billiger – die Betten der Gesellen mit weicher, blümchenverzierter Baumwollbettwäsche bezogen, die kuscheliger war als die mir vertraute weiß gestärkt harte. Ich bat Mutti, auch mein Bett mit dieser Bettwäsche zu beziehen, die sich auf der Haut so zart anfühlte – und sie, lieb wie sie war, tat es.

Walter Diercks war der Wirt der Lasterhöhle Paradiso, in der die Kapelle, das sich drehende bunte Licht, Zigaretten, Alkohol, Lippenstift, pomadisiert glänzende und trocken hochtoupierte Haare, miteinander verschlungene Körper und neugierige Hände ihr Bestes gaben und in der die eine oder andere feste Beziehung angebandelt wurde. Aber nicht für ihn. Nicht für Walter. Er war geschieden, hatte einen Sohn, einen recht dicklichen Sohn, und zwei kälberähnliche schwarz-weiß getupfte Deutsche Doggen, und, das war das Besondere, er fuhr einen Ford Taunus 17 M, genannt Die Badewanne. Sie war nicht nur moderner und schöner als unser Opel Rekord 1. 7 L, der zwar über Weißwandreifen verfügte (wichtig, weil sie Sauberkeit demonstrierten), über vier Türen, Schiebedach und Blaupunkt-Autoradio, aber vor allem hatte sie, worauf es ankam: Sie fuhr schneller. Und gab damit sogar noch an: Sie hatte einen Tacho mit einer unglaublichen 160-km/h-Anzeige anstelle der läppischen 140 km/h, die der Tacho unseres Opels als Höchstgeschwindigkeit versprach. Nur 140 Sachen anstelle der sagenhaft schnellen 160! Jeder Popel fährt ’nen Opel, sagte mein Vater gern, und deswegen konnte ich nie verstehen, warum er sich ausgerechnet einen langweiligen Opel gekauft hat und nicht die wahnsinnig moderne Badewanne auf vier Rädern. Oder zumindest etwas Exotisches wie einen Ford Zodiac, den ich in Holland sah, wenn wir zur Nordsee fuhren oder nach Venlo, um Butter, Schokopaste und Schokostreusel einzukaufen.

Und noch etwas hatte Walter Diercks meinem Vater voraus: Auf der Herrentoilette der Gastwirtschaft gab es einen Automaten, den es auf unserem Klo nicht gab. Es war kein Zigarettenautomat – der stand in der Gaststube –, es war ein Automat für Pariser. Steckte man eine Mark hinein, konnte man eine Packung mit drei Parisern herausziehen. Ich wusste nicht ganz genau, wozu sie da waren, die Pariser, hatte allerdings aufgrund meiner Beobachtung und der Auskunft der Älteren einen vagen Eindruck. Wir konnten ihnen begegnen, wenn wir besonders hart geschossene Bälle aus der Hecke hinter unserem Bolzplatz, der an den Garten der Wirtschaft angrenzte, herausklauben mussten. Dort hingen sie unansehnlich im Gestrüpp, schlaffe, trüb verschmierte, hauchdünne und hell gelblich schimmernde Gummischläuche. Einmal habe ich meinen Vater gefragt, als wir nebeneinanderstehend auf der Herrentoilette pinkelten – auch wenn die Eltern im Pütt mit ihren Holzköppen kegelten, besuchte er gelegentlich das Paradiso, weil Walter Diercks guter Kunde war und er bei ihm im Gegenzug Rechnung machen musste –, was aus diesem Automaten herauskomme. Er wich aus, indem er sagte, das wisse er auch nicht, vermutlich Zigaretten, aber da er nicht rauche, könne er das nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber mit Bestimmtheit lügen, das konnte er. Er hat gelogen. Vati hat mich angelogen. Obwohl ausgerechnet er immer gesagt hat, in der Familie lüge, belüge und betrüge man sich nicht, sondern erzähle sich immer alles. Die Wahrheit.

Gut, dass ich es genauer wusste. Mir aber nichts anmerken ließ.

3.

Pari Banu

Die pochende Panik in meinem Herzen … ließ die wunderschöne klare Stimme einer Fee aus 1001 Nächten erklingen. Sie schwebte einher, und bunte, sanft im Wind wehende Tücher von Seide umwehten ihren Körper. Eine hübsche Melodie voller Anmut umschmeichelte mein Ohr, und die Schönheit ihres Feengesichts verzauberte meine Augen – wie sie jeden Sterblichen verzaubern würde, der sie zu sehen und zu hören bekäme. Schwebend und schwerelos war sie erschienen, stand sie vor mir in der Luft und sang für mich und meine Brüder Speck und Schinken und für meine Schwestern, die Würste, und der Blick ihrer Augen versprach uns das Paradies ewiger Glückseligkeit – wenn wir ihr nur folgen würden …

Jegliche Angst vor dem Absturz war verflogen. Noch hielt mich der feste Griff meiner Hände davon ab, vom Wursthimmel auf den Steinboden zu fallen, doch ich spürte bereits, wie sich meine Hände langsam lockerten, um der Fee zu folgen, wohin sie mich auch entführen würde. Doch bevor ich die Hände öffnen konnte, entdeckte ich in ihrem Gesicht das Gesicht meiner Schwester, als hätte es sich in einer tieferen Schicht hinter dem ihren verborgen. Auch sie lächelte, doch so, als hätte ich soeben den Griff meiner Hände gelöst und wäre nun ganz in ihrer Macht – als könnte sie mich abstürzen lassen, oder als sollte ich, von ihr bezirzt, ihr doch vertrauen und ihr durch die Lüfte in alle Schönheiten dieser und anderer Welten folgen … damit sie mich zu guter Letzt doch noch auf dem steinharten Fußboden unseres Fleischerreiches zerschellen lassen konnte? Die Wiederkehr der immer gleichen und schönen Melodie, die sich in einem sanften Kreis drehte und drehte und die mich und jeden, der sie hätte hören können, langsam eingelullt, schläfrig und willenlos gemacht hätte, machte mich stutzig. Reflexartig, wie ich den schwarzen Spieß gegriffen hatte, als Oswalds Arme mich in den Fleischhimmel hoben, verschloss ich meine Finger zu einer Faust, um mein Leben in den Händen zu behalten und nicht unmerklich in den Schlaf zu sinken und abzustürzen.

Meiner Schwester war nicht zu trauen. Vier Jahre älter als ich, war sie mir überlegen. Sie durfte in die Schule, ich musste in den Kindergarten. Ich spürte die Gefahr, die mir drohte, von beiden Seiten, von meiner schwindenden Kraft und von meiner mich in den Schlaf lullenden Schwester. Also versuchte ich, mich hochzuziehen, damit sich meine Beine irgendwo im Gestänge unterhaken könnten und ich Halt fände, um die Arme zu entlasten. Aber die Deckenkonstruktion begann zu wackeln, und neben mir krachten zwei Spieße in die Tiefe … Der Blick nach unten offenbarte ein Schlachtfeld: die richtungslosen Wegweiser weiß gekalkter Zervelatwürste, Mettwürste wie abgetrennte Gliedmaßen, Schinken, die auf dem Fußboden der Metzgerküche lagen wie gefallene Soldaten. Blitzartig wurde mir klar: Es gab keine Rettung. Bald würde auch ich hinunterkrachen, zerplatzen und verstreut auf dem Steinboden liegen; nur dass ich Knochen hatte, die beim Aufprall zerschellen würden, ohne dass sie je ein Arzt wieder zusammenflicken und reparieren könnte. Und selbst wenn ich irgendwie überleben sollte, was unwahrscheinlich schien beim Anblick des Gemetzels am Boden, würde es mir nicht gelingen, mit zersplitterten Knochen zum Fenster zu robben, mich mit Armen und Händen zur Fensterbank hochzuhieven, das Fenster zu öffnen und mich zu befreien – oder zumindest um Hilfe zu rufen.

So vertraut ich auch war mit all den lufttrocknenden Fleischfreunden, die stets unter der Decke hingen, noch nie hatte ich zwischen ihnen gehangen, und noch nie hatte ich mit ihnen von oben hinabgeschaut auf ihre Brüder und Schwestern, die ich aus scheinbar sicherer Höhe hatte abstürzen lassen bei dem Versuch, mich zu retten, und die nun, ihrer stolzen Würde beraubt, kärglich und unordentlich verstreut auf dem Fußboden lagen, den die Friedel, unser buckliges und nicht mehr junges Mädchen für alles, diesen wie jeden Abend geschrubbt hatte und dessen nassen Glanz keiner mehr mit den Schmutzspuren seiner Schritte besudeln durfte. Denn zweifellos war es eine Würde, nicht sofort, wie manche ihrer frischfleischigen Geschwister, verzehrt zu werden, sondern zuvor in stiller Ruhe trocknen zu dürfen und haltbar gemacht zu werden, also länger zu leben als diese.

Von meinem Vater wusste ich, was hier oben wie lange zu hängen hatte; ich kannte die Trockenzeiten von Wurst und Schinken, bevor sie verkauft werden konnten. Doch meine eigene Trockenzeit kannte ich nicht. Ich wusste nur, dass etwas umso teurer wird, je länger es an der Luft trocknet. Denn trocknendes Fleisch verliert Wasser, und für dieses vertrocknete Wasser, das sich in Luft auflöst, also für Luft, muss der Kunde im Laden bezahlen. Er, mein Vater, kaufe ja auch keine vertrockneten Schweine, sondern bezahle für ihr Lebendgewicht, mit Wasser im Fleisch und Blut in den Adern. Trotz dieser Erklärung fand ich es immer ungerecht, dass jemand für etwas bezahlen muss, das nicht mehr da ist, das sich in Luft aufgelöst hat, denn die Luft gehört schließlich allen.

Wieso hatte mein Vater, der mich ihm gegenüber zu bedingungslosem Vertrauen erzogen hatte, wieso hatte ausgerechnet er Oswald nicht daran gehindert, mich in den Wursthimmel zu hängen und dort so lange hängen zu lassen? Als sein Chef hätte er es ihm doch verbieten können. Oder ihn davon abhalten, schließlich war er stärker als Oswald. Oder etwa nicht?

Er musste doch wissen, dass ich keine Bindfadenschlaufe habe, und wenn ich eine hätte, wo sollte die sein? Etwa um den Hals geschlungen? Da wäre ich erstickt. Oder sie hätte mir den Hals gebrochen. Und mir eine Bindfadenschlaufe um die Füße zu wickeln, als könnte man mich beliebig lange kopfunter an einen Räucherspieß hängen, auch das wäre nicht praktikabel, denn mir wäre das Blut in den Kopf gestiegen und schließlich aus Augen, Ohren, Nase und Mund herausgeflossen.

Fragen bedrängten mich; und da ich die mich umschwirrenden und sich verknäuelnden Fragezeichen nicht entwirren und auflösen konnte, fühlte ich mich bald noch hilfloser, verlassener und einsamer, als ich es ohnehin schon war. Wieso hat Vati Oswald nicht daran gehindert, mich im Himmel aufzuhängen? Ja, schlimmer noch – sein Lächeln hat ihn als Oswalds Komplizen, wenn nicht gar als seinen Anstifter, verraten. Wieso ist er mit Oswald, sogar währenddessen noch merkwürdig lächelnd, aus dem Raum geschlichen? Wieso ist das Licht ausgeschaltet worden? Und wieso die Tür verschlossen? Es konnte nur eine Antwort geben: Ich sollte langsam vor mich hin sterben, ohne mich selber retten zu können oder von anderen gesehen und aus meiner Not befreit zu werden.

Doch was habe ich verbrochen? Wofür soll ich bestraft werden? Und wenn schon der Himmel aussieht wie die Hölle, wie wird dann erst die Hölle aussehen? Etwa wie die Räucherkammer unserer Metzgerei? Um in die Hölle zu kommen, muss man am Leben sein. Also werde ich den Sturz überleben. Doch noch nie ist jemand aus der Hölle zurückgekehrt. Wie lange wird das Leben in der Hölle wohl dauern? Ewig. Wie lang dauert ewig? Eine Ewigkeit. So lange, wie ein kleiner Vogel, der alle hundert Jahre einmal seinen Schnabel wetzt am höchsten Berg der Welt, Zeit benötigt, den Berg abzuwetzen, bis er flach ist wie der Strand am Meer. Aber was beginnt dann hinter dieser Ewigkeit? Eine neue Ewigkeit. Weil eine Ewigkeit kein Ende hat. Hinter der Ewigkeit gibt es nichts. Noch nicht einmal ein Nichts. Wenn die Ewigkeit ein Nichts wäre, dann könnte es sie ja nicht geben. Da es sie aber gibt, muss sie etwas sein, und wenn sie etwas ist, muss sie auch ein Ende haben.

Vielleicht langweilt sich die Hölle irgendwann mit mir, wirft mich in eine feuchte und dunkle Ecke und lässt mich sterben?

Auf all diese Fragen gibt es nur eine Erklärung: Ich lebe. Und hierfür soll ich bestraft werden. So viele Menschen, jeden Tag immer wieder neu, leben nicht! Sie leben einfach nicht. Obwohl sie da sind. Aber sie kommen nicht ins Leben. Bleiben in den Bäuchen der Frauen verborgen. Im Dunkel. Und doch könnten sie leben. Es gibt viel mehr Menschen auf der Erde, die nicht leben, als Menschen, die es ins Leben geschafft haben. Genauso gut hätte ich versteckt bleiben können im Leben, und an meiner Stelle hätte ein anderer, von mir aus auch eine andere, das Licht der Welt erblickt. Ich habe die Grenze vom bloßen Da-Sein ins Leben überschritten – und dafür werde ich bestraft. Weil ich jemand anderem das Leben weggenommen, also gestohlen habe. Das ist der Grund, warum ich im Himmel hänge. Um in die Hölle zu kommen. Aus Gründen der Gerechtigkeit, als Erziehungsmaßnahme des Lebens? Und die Hölle, das kann nur die Räucherkammer unserer Metzgerei sein.

Wo bleibt Mutti? Wieso kommt sie nicht, nimmt einen Stuhl, stellt ihn unter mich, steigt herauf, hebt mich aus dem Gestänge, umarmt mich, gibt mir einen Kuss, zaubert aus den Seitentaschen ihrer grünen Strickjacke zwei Paar knallroter Kirschen hervor, hängt sie mir über die Ohren, gibt mir einen zweiten Kuss und lächelt mich an? Wieso geschieht nicht, was zu geschehen hat? Wieso tut sie das nicht? Wo bleibt sie?

Ich war fünf Jahre alt, damals – und seit fünf Jahren König. Naja, vielleicht auch erst vier oder viereinhalb oder vierdreiviertel, aber auf jeden Fall ein König, ein kleiner König. Über drei Königreiche. Und mein zweites Königreich war die elterliche Metzgerei in Gera, Ortsteil Lusan.

Die Dunkelheit ängstigte mich. Obwohl es keine wirkliche Dunkelheit war. Denn Straßenlicht fiel in den Raum, und ich und die gleichgültig vor sich hin hängenden Würste und Speckseiten warfen stumpfe Schatten – oder lebendige, schwankende, wenn Autos vorüberfuhren und das Licht ihrer Scheinwerfer durch den Raum wandern ließen. Dann – als könne ich mit den Bewegungen die Vorüberfahrenden auf mich und meine Lebensgefahr aufmerksam machen – bewegte ich mich, zappelte vorsichtig mit den Beinen, schwenkte, mal mehr, mal weniger, den Körper hin und her, doch stets darauf bedacht, dass weder meine Hände von dem schwarzen Spieß abrutschten noch dieser aus dem Himmelsgestell herausbrach. Doch sie sahen mich nicht, nicht die Kraftanstrengung des Festhaltens, nicht meine Angst vor dem Absturz.

Und sollte mein Schatten mich sehen, so beachtete er mich nicht. Er war einfach nur da und wollte weiter nichts, außer nur da zu sein. Wieso löste er sich nicht von meinem Körper, wanderte durchs Fenster auf die Straße, um dort wild herumzufuchteln, damit jemand käme und mich vom heranschleichenden Tod befreite? Der Schatten meines Körpers lebte durch mich, war mein dunkles, losgelöstes Ich: Gäbe es mich nicht, gäbe es ihn auch nicht. Er würde gnadenlos vom Licht geschluckt. Wieso erschien ihm sein Leben, das ich ihm spendete, so bedeutungslos, dass er nichts unternahm, mich zu retten und, indem er mich rettete, auch sich? Doch er war Knecht, tat stur, was mein Körper ihm befahl, ohne jegliche Anteilnahme und eigenen Willen zu handeln.

Und wenn schon mein Schatten faul und blöd und träge war, wieso wollten dann nicht wenigsten die Schatten von Wurst und Speck und Schinken ausbrechen aus ihrer beengten Existenz und dem engen Raum ihrer Gefangenschaft? Wieso wollten sie nicht ihr schwarzes Licht nach draußen in die Weite scheinen lassen oder auch nur auf einen kleinen Spaziergang schicken durch ein Fenster oder einen Gardinenspalt im Aufenthaltsraum, um eine ihnen verborgene Welt zu entdecken und sie für mich um Hilfe zu bitten?

Sie kannten nur die Welt hier drinnen und schienen zufrieden zu sein mit ihrem dummen Glück. Ich kannte die Welt da draußen, kannte den Weg, den ich nach Hause zu gehen hätte, und würden sie mich befreien, ich nähme die Wurst- und Schinkenschatten mit in die Sommerleithe, sie dürften sich zu uns an den Tisch setzen und mit uns zu Abend essen von all dem, was ihnen hier im spärlichen Licht der Straßenlaterne und der vorüberfahrenden Autos verheißungsvoll, aber unerreichbar entgegenleuchtete.

Oder waren sie gar nicht dumm, sondern stellten sich nur so, registrierten stumm, was um sie herum geschah, verständigten sich in einer für die Menschen unhörbaren und, selbst wenn diese sie hören würden, unverständlichen Geheimsprache, die sie, sollten sie es wollen, jederzeit aufscheinen lassen könnten wie das Menetekel in der Bibel auf der Wand: Mene Mene Tekel Upharsin. Aber sie wollten nicht. Und so blieb alles, wie es war.

Je länger ich hing, umso blasser wurde meine Phantasie; und im bald aufziehenden Schimmer der Morgensonne würden die Schatten erbleichen. Weg aus meinem Kopf! Ihr Schatten, weg! Haut ab! Los! Verschwindet! Denn ich will nur eines: mit meinen Füßen wieder auf der Erde stehen.

Was sich bewegt, lebt; und was lebt, hat Antlitz, hat Gesicht. Augen beginnen silbern zu glänzen, Schweineköpfe glotzen mich an, verziehen ihre Rüssel und grunzen. Schweineohren wachsen zu Elefantenohren und richten sich auf. Was haben sie vor mit mir? Sind sie, die den Tod schon erlebt haben, neugierige Zaungäste meines nahenden Todes? Und kündigt sich nicht grollend und Lichtblitze vorausschickend draußen am Himmel ein Unwetter an, dessen Spektakel meine Reise ins Ungewisse begleiten wird? Meine Hände, die mich festhalten sollten, um mich vor dem Untergang zu bewahren, werden feucht, beginnen zu schwitzen, und der kalte Schweiß des sich anschleichenden Todes mischt sich mit der immer heißer werdenden Glut meiner Angst. Das am Räucherspieß klebende Fett beginnt zu schmelzen, fließt als heißes Öl an meinen Armen herunter, verbrüht meine Haut, sammelt sich als siedend heiße Fettbrühe in meinen Schuhen, und der schwarze Holzstock über mir, an dem ich mich festhalte und der mich hält, verwandelt sich langsam in eine rot glühende Eisenstange, während meine Hände kälter und kälter werden, betäubt von der erfrierenden Hitze und der Glut des Eises.

Es gibt keine Rettung. Niemanden, der die Tür aufschließt, das Licht anknipst und mich befreit aus meinem Geängste und dem Gestänge meiner Pein. Ich bin allein.