Sommersplitter - Sissi Kaipurgay - E-Book

Sommersplitter E-Book

Sissi Kaipurgay

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Beschreibung

Der falsche Hark Justus macht allein Urlaub auf Sylt. Die Scheidung von Gunnar hat ein Loch in sein Leben gerissen, von dem er noch nicht weiß, wie er es füllen soll. Er erinnert sich an eine Klassenreise, die ihn damals das erste Mal auf die Insel führte. Insbesondere erinnert er sich an den Surflehrer Hark, mit dem er seinen ersten Kuss getauscht hat. Er kommt auf die Idee, nach Hark zu suchen. Schreibblockade Gunnar ist ein großer Fan des Krimiautors Andreas Wegener. Der Autor, von dem es keine Fotos im Internet gibt, besitzt ein Haus auf Sylt. Mit Wegners neuestem Werk in der Tasche begibt sich Gunnar auf die Suche.

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Inhaltsverzeichnis

Der falsche Hark

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

Schreibblockade

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

Epilog – ein Jahr später

Sommersplitter - Sylt-Liebe

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Copyright Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

Fotos: Cover shutterstock_111905381, Sylt mit Herzen – Sissis Malkünste

Cover-Design: Lars Rogmann

Korrektur: Aschure, dankeschön!

Kontakt:http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/, https://www.sissikaipurgay.de/

Sissi Kaiserlos/Kaipurgay

c/o Autorenservice Karin Rogmann

Kohlmeisenstieg 19

22399 Hamburg

Der falsche Hark

Justus macht allein Urlaub auf Sylt. Die Scheidung von Gunnar hat ein Loch in sein Leben gerissen, von dem er noch nicht weiß, wie er es füllen soll. Er erinnert sich an eine Klassenreise, die ihn damals das erste Mal auf die Insel führte. Insbesondere erinnert er sich an den Surflehrer Hark, mit dem er seinen ersten Kuss getauscht hat. Er kommt auf die Idee, nach Hark zu suchen.

1.

Ein paar Möwen lauerten in der Luft, die Schwingen ausgebreitet, um bei der Aussicht auf Beute sogleich hinabzustoßen. Ihr Kreischen gesellte sich zum Rauschen der Wellen und Kindergeschrei. Die Sonne brannte vom Himmel, nur selten von einer Wolke verdeckt. Am Horizont bewegte sich ein dunkelblauer Schatten. Vermutlich ein Containerriese.

Justus ließ sich wieder auf den Rücken sinken und schloss die Augen. Im Liegen war es am Strand gut auszuhalten, während man im Sitzen das Bedürfnis verspürte, ein T-Shirt überzuziehen. Genau das mochte er an Sylt: Eine Brise sorgte stets dafür, dass die Temperatur im angenehmen Bereich blieb. Tropisches Klima war nichts für ihn.

Gunnar, sein Ex, mochte Sylt ebenfalls. Mit ihm hatte er einige verlängerte Wochenenden hier verbracht. Wegen der Wettergarantie waren sie in den großen Ferien aber stets in den Süden gereist. Mit zwei quengeligen Kindern bei Regen an der Nordsee zu sitzen, war für Gunnar eine Horrorvorstellung. Okay, für ihn auch.

Vor ungefähr anderthalb Jahren hatte sich Gunnar von ihm getrennt, um zu seinem langjährigen Verhältnis, gleichzeitig sein Chef, zu ziehen. Ihre Kinder, Gigi, 17 und Anton, 15, hatte er mitgenommen. Die Scheidung war vor einigen Monaten ausgesprochen worden.

Inzwischen hatte sich Justus, anfangs bis aufs Mark gekränkt, damit abgefunden. Im Rückblick war ihre Ehe nicht ruhig, sondern langweilig verlaufen. Vielleicht hatte es an ihm gelegen, vielleicht hatte generell etwas gefehlt. Ihm war das gar nicht aufgefallen, bis Gunnar von Trennung sprach.

Nun hatte er mit einundvierzig plötzlich seine Freiheit zurück. Fragte sich bloß, was er damit anfangen sollte. Noch hatte er keinen Plan und hoffte, dass die frische Nordseeluft half, einen zu finden.

Seine Gedanken wanderten zurück, zu seinem ersten Besuch auf der Insel, einer Klassenreise. Damals war er sechzehn, dürr wie ein Streichholz und hatte sich gerade eingestanden, aufs eigene Geschlecht zu stehen. Glücklicherweise war er nicht der einzige Freak unter seinen Klassenkameraden. Darunter befand sich ein Punk, zwei tendierten zu Gothic und eines der Mädchen befand sich auf dem Esoterik-Trip. Insofern fühlte er sich weniger wie ein Außenseiter, doch ein Outing kam dennoch nicht infrage. Insgeheim hatte er gehofft, dass sich seine Erkenntnis doch noch als Trugschluss herausstellte.

Am zweiten Tag ihres Aufenthalts tauchten Leute von einer Surfschule auf und seine Hoffnung zerstob, denn er verknallte sich auf den ersten Blick in einen der Typen. Der Junge hieß Hark Martinen. Blond, blaue Augen, hübsches Gesicht. Am dritten Abend, als sie ein Lagerfeuer veranstalteten, kamen sich Justus und Hark näher. Hinter einer Düne knutschten sie und fummelten herum. Am nächsten und übernächsten Tag fanden sie eine Gelegenheit, sich erneut abzusondern, während die anderen Surfunterricht erhielten. Wieder tauschten sie Küsse und fassten sich gegenseitig an. Am folgenden Tag ging es nach Hause. Vor Liebeskummer hatte Justus Bauchschmerzen.

Seine Eltern erlaubten ihm nicht, am kommenden Wochenende nach Sylt zu reisen. Als rauskam, dass es wegen eines Jungen war, gab es richtig Stress. Seine Mutter war entsetzt und sprach tagelang nicht mit ihm. Erst auf Intervention seines Vaters, der liberalere Ansichten vertrat, entwickelte sich zwischen ihnen ein erträgliches Verhältnis. Es wurde aber nie wieder so wie vorher und nach Sylt durfte er trotzdem nicht.

Einige Jahre später lernte er Gunnar, verwitwet, zwei Kinder, kennen. Es funkte. Sie wurden ein Paar. Im Rückblick fragte er sich allerdings, ob der Wunsch seiner Eltern nach Enkeln nicht auch eine Rolle gespielt hatte. Zwischen Gunnar und ihm war es nämlich nie die große Liebe und Leidenschaft gewesen. Böswillig könnte man seine Ehe als halbgar bezeichnen. Sobald das erste Feuer abgeklungen war, dümpelten sie nebeneinander her.

Trotz solcher Gedanken hatte sich Justus mit Gunnar wohlgefühlt. Er war nie der Typ für wechselnde Sexpartner gewesen. Für ihn zählten Vertrautheit und gemeinsame Interessen. Letztere bestanden hauptsächlich aus den Kindern, was ihm auch erst klargeworden war, als Gunnar ihn verließ.

Er schob die Erinnerungen an seine Ehe beiseite und wandte sich wieder Hark zu. War es möglich, den Mann wiederzufinden? Martinen dürfte allerdings ein sehr häufiger Name im Norden sein, genau wie Jessen oder Pedersen. Justus wollte es dennoch versuchen, weil ihm sonst nichts einfiel, womit er seinen Urlaub sinnvoll verbringen könnte.

Zurück in seinem Appartement checkte er sein Handy, das er nicht zum Strand mitgenommen hatte. Es waren zwei Nachrichten seiner Kinder eingegangen.

Gigi: „Hi Paps. Wie geht’s dir?“

Anton: „Kann ich am Wochenende zu dir kommen?“

Gerührt tippte er eine Antwort an Gigi: „Alles Roger bei mir. Und was ist bei dir los?“, und eine an Anton: „Klar, komm her, mein Schatz.“

Mehr als Gunnars Weggang hatte ihn geschmerzt, dass die Kinder mit ihm ausgezogen waren. Die Bindung zu ihrem leiblichen Vater war stärker als zu ihm, das wusste er sehr wohl, aber Ratio siegte selten über Gefühle.

Die Erwiderung seines Sohnes traf prompt ein: „Cool! Ich sag dir Bescheid, wann ich ankomme.“

Gigi war nur geringfügig langsamer als ihr Bruder: „Ich hab mich von Görkan getrennt. Er ist ein Arschloch!“

Ganz seine Meinung, nur hatte sie davon nie etwas hören wollen. „Alle guten Männer sind besetzt oder schwul.“

Diesmal antwortete sie sofort: „Ha-ha! Rätst du mir etwa zu einer Geschlechtsumwandlung?“

„Um Gotteswillen! Du bleibst bitte meine wunderschöne Prinzessin.“

Sie schickte ihm eine ganze Reihe Smileys, unter anderem einen, der kotzte.

Nach einer kurzen Dusche, um den Sand abzuwaschen, – das Zeug kroch echt in jede Ritze – setzte er sich vors Notebook. Für H. Martinen, Sylt, gab es im örtlichen Telefonbuch etliche Treffer. Nur bei einem war der Vorname ausgeschrieben. Als Justus den Mann via Google suchte, fand er einen alten Herrn, der friesische Gedichte sammelte. Bei den restlichen waren Adressen und Gewerbebezeichnungen vermerkt, wie beispielsweise Pension oder Fahrradverleih. Er kopierte die Liste in ein Dokument und beschloss, die im Umkreis wohnenden Martinen am nächsten Tag abzuklappern.

Sein Abendessen nahm er in einem Restaurant, das nur wenige Schritte entfernt lag, ein. Damit er sich nicht so einsam fühlte, hatte er sein Handy dabei und las aktuelle Nachrichten, bis sein Essen auf dem Tisch stand. Anschließend drehte er eine Runde durch Westerlands Innenstadt, bevor er sich in sein Appartement zurückzog.

Während er sich von einer Krimiserie berieseln ließ überlegte er, ob er nächstes Mal eine Gruppenreise buchen sollte. Vielleicht gab es welche speziell für Mitglieder der LGBT-Community. Vermutlich nahmen an solchen Touren aber nur junge, feierwütige Leute teil. Im Gegensatz dazu dürften bei den üblichen Reisen dieser Art nur Senioren an Bord sein. Beides keine schönen Aussichten.

Am nächsten Morgen brach er nach dem Frühstück auf, um die H. Martinens abzuklappern. Seine erste Anlaufstelle: Ein Souvenirladen. Ein Blick ins Schaufenster verursachte bei Justus ein Schaudern. Wer kaufte denn bitteschön solchen hässlichen Kram?

Er betrat das Geschäft und betrachtete die darin ausgestellte Ware. Eine Scheußlichkeit reihte sich an die nächste. Lediglich eine kleine Schneekugel mit dem Leuchtturm von Hörnum fand vor seinen Augen Gnade.

Hinter der Kasse stand ein wettergegerbter Typ, geschätzt Ende fünfzig. Wahrscheinlich handelte es sich um den Inhaber, denn der Mann schenkte Justus weder ein Lächeln, noch verhielt er sich sonderlich freundlich. Es könnte sich natürlich auch um einen schlechtbezahlten Angestellten handeln, aber erfahrungsgemäß gaben die sich dennoch Mühe, ein bisschen Kundenorientierung zu zeigen. Ausnahmen bestätigten natürlich die Regel.

„Schöner Laden“, lobte Justus. „Laufen die Geschäfte gut?“

Der Mann zuckte mit den Achseln. „Es könnte besser sein. Nächstes Jahr mache ich den Laden dicht und gehe in Rente.“

Somit war seine Vermutung bestätigt.

Bei der zweiten Anlaufstelle, einer Pension, stand auf dem Klingelschild Holger Martinen. Bei der dritten – einer Privatadresse – prangte neben dem Klingelknopf der Name Hinnerk Martinen. Die vierte, abermals eine private Anschrift, wies leider nur den abgekürzten Vornamen auf der Klingeltafel aus.

Die fünfte Anlaufstelle war ein Fahrradverleih. In großen Lettern stand Harks Zweiradcenter an einem Gartenhäuschen, das von Bikes umgeben war. Justus näherte sich dem Häuschen, an dessen geschlossener Tür ein Schild ‚Komme gleich wieder‘ verkündete. Was war mit gleich gemeint? Zehn Minuten? Eine Stunde?

Da er keine Lust hatte, wie Falschgeld vor der Hütte rumzustehen, begab er sich in das Café, an dem er gerade vorbeigekommen war. Bei einem Milchkaffee entlockte er seinem Smartphone nähere Informationen zu Harks Zweiradcenter. Am Vortag waren ihm via Google wohl keine Ergebnisse angezeigt worden, weil der Besitzer Martin Martinen hieß. Neben den Fahrrädern wurden Ferienwohnungen vermietet. Sowohl von den Bikes als auch Wohnungen gab es Bilder, aber leider nicht von den Angestellten oder dem Eigentümer.

Während er seinen Becher leerte, rief er sich nochmal die Bilder der Klassenreise in Erinnerung. Hark, das blonde Haar vom Wind zerzaust. Der Geschmack ihrer Küsse. Die Geräusche, die Hark von sich gab, als sie sich gegenseitig zum Höhepunkt brachten. Er spürte sogar eine Anwandlung des damaligen Kribbelns. Seine erste Liebe vergaß man nie, hieß es doch so schön. Da schien etwas Wahres dran zu sein.

Nachdem er seine Zeche beglichen hatte, begab er sich erneut zum Fahrradverleih. Nun stand die Tür des Häuschens offen. Gerade wollte er darauf zusteuern, als ein Mann aus der Hütte trat. Blondes, verstrubbeltes Haar, genau wie der Hark von einst. Justus versuchte, weitere Parallelen festzustellen. Ganz schön schwierig, nach über zwanzig Jahre. Damals war Hark achtzehn gewesen, die Gesichtszüge also noch nicht ausgereift.

„Kann ich etwas für Sie tun?“, sprach der Mann ihn an.

„Sind Sie Hark?“

Der Typ nickte.

„Surfen Sie?“

„Nicht mehr. Wieso fragen Sie?“

Ein Pärchen gesellte sich zu ihnen. Touristen, wie Justus unschwer an den bunten Jogginganzügen erkannte.

„Bedienen Sie doch erstmal die Herrschaften. Ich kann warten“, bat er und zog sich auf die Bank, die an der Längsseite der Hütte stand, zurück.

Es dauerte ein Weilchen, bis Hark die beiden mit Fahrrädern ausgestattet hatte. Das gab Justus Gelegenheit, weitere Betrachtungen anzustellen. Hark war schlaksig gewesen. Von dem Fahrradverleih-Hark konnte man das nicht behaupten. Der Mann besaß breite Schultern und deutlich hervortretende Bizepse. Hark hatte eine Stupsnase und schmale Lippen. Beides stimmte nicht mit dem Mann überein. Dessen Nase war ein richtiger Zinken und der Mund wohlgeformt, wie der eines Latinlovers. Trotzdem war Justus mehr und mehr überzeugt, den richtigen Hark gefunden zu haben.

Als die Touristen mit ihren Rädern davongeradelt waren, stand er auf und steckte beide Hände in die Hosentaschen. „Ich glaube, ich würde auch gern ein Rad leihen.“

„Glauben oder möchten Sie?“, erkundigte sich Hark.

„Ich möchte eines leihen.“

„Besondere Wünsche?“

„Etwas Robustes, bitte.“

Hark zeigte auf ein Reihe Mountainbikes. „Suchen Sie sich eines aus.“

Justus wählte ein Modell mit rotem Rahmen. Der Sattel musste höher eingestellt werden, ansonsten passte alles. Als sich Hark darum gekümmert hatte, erledigten sie die Formalitäten. Justus wusste nicht, wie er die Sprache auf ihre damalige Bekanntschaft bringen sollte. Vielleicht fiel ihm etwas ein, bis er das Fahrrad abends wieder abgeben musste.

In seinem Appartement rüstete er sich für eine längere Tour, bevor er in Richtung Hörnum aufbrach. Über zwei Stunden war er unterwegs, weil er zwischendurch Stopps einlegte, um die Aussicht zu genießen. In Hörnum genehmigte er sich einen Imbiss, bestehend aus Fischbrötchen und Alsterwasser und wanderte ein bissen im Ort umher.

Auch für den Rückweg ließ er sich viel Zeit. Noch immer hatte er keine Ahnung, wie er Hark am besten auf ihre Vergangenheit ansprach. Oder sollte er die Sache auf sich beruhen lassen? Feigling!, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Zugegeben: Er machte sich Sorgen, dass er sich irrte und Hark ungehalten darauf reagierte, für schwul gehalten zu werden. Das musst du ihm ja nicht auf die Nase binden, meldete sich erneut die Stimme zu Wort. Sie hatte recht, trotzdem … Frag ihn doch einfach, ob ihr euch schon mal gesehen habt, weil er dir bekannt vorkommt, schlug sie vor. Keine schlechte Idee. So würde er es machen.

2.

Mittags, als im Verleih Flaute herrschte und der Gästewechsel vollzogen war, dachte Hark über den komischen Kauz nach, der ihn gefragt hatte, ob er surfte. Auf den ersten Blick hatte er erkannt, dass der Mann wie er tickte. Na gut, auf den zweiten, als der Typ ihn ausführlich musterte. Sein Gaydar trog ihn selten.

Er war gespannt, ob der Mann nachher, bei der Fahrrad-Rückgabe, einen zweiten Anbagger-Versuch startete. Als ersten wertete er die Surf-Frage. Leider – gefallen würde der Typ ihm schon - musste er dann einen Korb austeilen. Mit Touris fing er nämlich nie etwas an.

Früher hatte er anders gedacht. In der Saison war er stets voll auf seine Kosten gekommen. Mittlerweile hatte In-der-Gegend-rumficken seinen Reiz verloren. Er bevorzugte einen festen Partner, den es bedauerlicherweise nicht gab. Seine letzte Beziehung war vor zwei Jahren zerbrochen. Karel, wie er ein Insulaner, hatte sich nach Hamburg verpisst.

„Ich muss mal hier raus“, lauteten Karels Worte. „Es liegt nicht an dir, sondern an dieser Scheißinsel.“

Anfangs hatte er gehofft, dass Karel bald – müde des Großstadtlebens – zurückkehrte. Tja, falsch gedacht. Inzwischen war er darüber hinweg. Sie hatten eh nicht sonderlich gut harmoniert.

Mit einem Becher Kaffee begab er sich nach draußen, um sich in die Sonne zu setzen. Nachher musste er unbedingt bei seinen Eltern vorbeischauen. Die beiden lebten seit einigen Jahren in einer Seniorenresidenz. Sein Vater konnte kaum noch laufen und seine Mutter wurde zunehmend dement. Manchmal wusste sie seinen Namen nicht mehr. Das war schwer zu ertragen, weshalb er in der Saison oft die Ausrede viel Arbeit benutzte, um Besuche zu umgehen.

Er verdankte den beiden so viel. Eine wundervolle Kindheit und das Haus. Dafür zahlte er gern jeden Monat etwas für ihren Unterhalt dazu. Geld war jedoch kein ausreichender Dank. Seine Mutter pflegte zu sagen, dass Zeit das wertvollste war, was Kinder einem im Alter schenken konnten.

Echt schade, dass er keine Geschwister hatte. Die könnten ihm einen Teil Verantwortung abnehmen. Andererseits hätte er dann das Haus nicht bekommen oder einen Kredit aufnehmen müssen, um seine Geschwister auszuzahlen. Insofern war es okay, ein Einzelkind zu sein. Er hatte keine Lust, bis an sein Lebensende Schulden zu tilgen. Bei den hiesigen Immobilienpreisen wäre das der Fall gewesen. Es gab wohl kaum ein teureres Pflaster als Sylt, insbesondere Kampen.

Eine Familie mit drei Kindern näherte sich. Er leerte seinen Becher und stand auf, um sie zu bedienen.

Ab fünf trudelten die für einen Tag geliehenen Räder ein. Hark hatte alle Hände voll zu tun. Als letztes, um kurz vor sechs, tauchte der Surf-Frage-Typ auf. Die braunen Haare waren zerzaust, die Nase gerötet. In den Augenwinkeln nisteten attraktive Lachfältchen, als der Typ ihm ein Lächeln schenkte. Der Mann dürfte ungefähr in seinem Alter sein.

Nachdem er das Rad einer kurzen Musterung, ob irgendwelche Schäden erkennbar waren, unterzogen hatte, stellte er es zu den anderen. „Hatten Sie einen schönen Tag?“, erkundigte er sich höflich.

„Danke, ja. Sagen Sie …“ Der Typ vergrub beide Händen in den Hosentaschen. „Kennen wir uns? Sie kommen mir bekannt vor.“

Hark zuckte mit den Achseln.

„Ich war 1997 auf Klassenreise hier. Könnte es sein, dass Sie uns damals Surfunterricht gegeben haben?“

Er sollte sich an etwas erinnern, das so lange zurücklag?

„Ich bin Justus“, fuhr der Typ fort. „Wir … wir sind uns damals nähergekommen.“

Plötzlich ritt ihn der Teufel. „Haben wir in den Dünen rumgemacht?“

Justus nickte und die Wangen färbten sich in dem gleichen Rot wie die Nase. Das war total niedlich.

„Meine Erinnerung ist etwas verschwommen“, log er. „Gehen wir zusammen essen, damit du sie auffrischen kannst?“

„Sehr gern.“

„Bist du mit Pizza einverstanden?“

Justus nickte abermals.

„Um sieben in der Pizzeria Rialto? Das ist gleich hier um die Ecke.“ Er wies in die entsprechende Richtung.

„Ich werde da sein. Bis nachher.“ Justus drehte sich um, marschierte los, stolperte, fing sich wieder und eilte weiter.

Schmunzelnd sah Hark ihm hinterher. Justus‘ Tollpatschigkeit machte ihn noch sympathischer.

Sein Gaydar hatte sich also mal wieder nicht geirrt. Wie alt war Justus damals gewesen? Wohl ungefähr siebzehn. Hatten sie richtig rumgemacht? Nun, nicht er und Justus, sondern der andere Hark. Ihm war kein etwa gleichaltriger Namensvetter bekannt. Entweder hatte dieser Hark Justus damals einen falschen Namen genannt oder er stammte nicht von hier. Es kam ja viel Personal vom Festland, daher war es gut vorstellbar, dass die Surfschule solche Leute beschäftigt hatte.

Er beeilte sich, sämtliche Bikes in den Schuppen zu bringen. Anschließend duschte er und unterzog sich der nötigen Schönheitspflege. Seit er solo war, ließ er das oft etwas schleifen. Wozu der Aufwand, wenn es eh niemand sah? Für Justus wollte er jedoch gut aussehen. Schließlich war er, beziehungsweise sein Doppelgänger, dessen Jugendliebe, wenn er das richtig verstanden hatte.

Um fünf vor sieben betrat er das Rialto. Mit dem Besitzer, Malte Andresen, war er zur Schule gegangen. Das hatte den großen Vorteil, immer einen Tisch zu bekommen.

Malte platzierte ihn an einem Zweiertisch. „Möchtest du einen Kurzen?“

Er schüttelte den Kopf. Schließlich wollte er nicht nach Schnaps stinken. „Bring mir lieber ein Viertel von deinem Roten.“

Punkt sieben kreuzte Justus auf, guckte sich suchend um, entdeckte ihn und steuerte auf ihn zu. Da hatte sich noch jemand ausgehfein gemacht. Zu dunklen Jeans trug Justus ein weißes Hemd. Ein graues Jackett hing über seinem Arm. Die Mühe, sich die Haare zu kämmen, konnte man sich auf Sylt schenken. Der Wind machte jegliche Frisur zunichte, außer man benutzte eine Tonne Haarspray. Das hatte Justus offensichtlich nicht getan.

„Hi.“ Justus hängte das Jackett über die Stuhllehne und nahm ihm gegenüber Platz. „Nettes Lokal.“

„Das Ambiente finde ich fragwürdig, aber das Essen ist super.“

Stirnrunzelnd schaute Justus sich um. „Fragwürdig? Ist doch typisch für diese Art Restaurant.“

„Eben. Genau das meine ich.“ Abfällig betrachtete Hark das kitschige Bild, das sich hinter Justus an der weißgekalkten Wand befand. Darauf war eine Gondel im Kanal vor dem Marcusplatz dargestellt. Rund um den verschnörkelten Rahmen rankten Plastikrosen. Der ganze Raum war mit derartiger Kunst verunstaltet.

„Ich find’s gemütlich“, meinte Justus.

Malte erschien mit dem Rotwein, vorausschauend zwei Gläser in der Hand. „Guten Abend der Herr. Darf’s auch Wein sein oder lieber etwas anderes?“

„Ist der trocken?“

„Der ist so trocken, dass man davon Durst bekommt“, entgegnete Malte, stellte die Weingläser sowie Karaffe ab und reichte ihnen Speisekarten. „Wasser dazu?“

„Ja, bitte“, erwiderte Hark, schlug die Karte auf und überflog das Angebot.

---ENDE DER LESEPROBE---