Sonnensturm - Silvia Götschi - E-Book

Sonnensturm E-Book

Silvia Götschi

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Beschreibung

Ein Mann zwischen zwei Frauen: Ondrey Novothny, fünfundvierzig, Mikrobiologe und auf der Flucht vor sich selbst. Eine Vergangenheit, der er nicht entkommt, dem Wahn, der Wirklichkeit. Seine Frau, die ihn verlassen hat, die Liebe seines Lebens - die Obsession. Die Andere, das ewig Lockende der Jugend, die seine Schmerzen zum Vergessen bringt. Eine Frau mit Gegensätzen. Wird es ihr gelingen, ihn mit ihrer Liebe zu retten? Eine schaurig-schöne Erzählung voller Poesie und Philosophie. Eine Geschichte über die Magie der Liebe.

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Silvia Götschi

Sonnensturm

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Prolog

Dich wollen und nicht halten können Dich trinken und trotzdem verdursten Dich essen und den Hunger nicht stillen Dich lieben und doch Dich loslassen müssen

Ein Sommermorgen. Zwanzig vor vier auf dem Hauptbahnhof und immer noch stockdunkel. Ich wünschte, es wäre später und ich hätte dies alles schon hinter mir. Wenige Menschen auf dem Perron. Zwei Herren im Anzug in meiner Nähe, ein paar Mädchen, Studentinnen, nahm ich an. Alle schweigend. Der Geruch von Maschinenöl. Blecherne Stimmen über die Mikrofone und die Ankündigung meines Zuges. Mir gegenüber stand Gina, still, in sich gekehrt; ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Alle meine Worte schienen mir abhanden gekommen zu sein. Ich hasste Abschiede. Sie vermittelten mir immer ein Gefühl von Leere, von einem sonderbaren Vakuum. Und dieser Abschied warf mehr als zuvor die Frage auf, ob ich mich richtig entschieden hatte. Ein erzwungenes Lächeln auf Ginas Gesicht. Sie griff in ihre Tasche und holte ein Buch hervor. Klein war es, mit rotem und neutralem Einband. Ein Leineneinband, zumindest fühlte es sich so an, es mochte um die zweihundert Seiten umfassen, was mir durch den Kopf ging, als es mir Gina in die Hand drückte. Sie hatte eine Schnur darum gebunden. „Es ist mein Abschiedsgeschenk“, sagte sie. „Aber versprich mir, dass du es erst anschaust, wenn du im Zug sitzt.“ Tränen in ihren Augen wie durchsichtige Perlen, während ich sie beschämt ansah. Ich sagte ihr nicht, dass es mir auch nicht besser ging. Gina sollte nicht denken, dass mich das Weggehen genauso schmerzte. Wenig später die Spitze einer starren stählernen Komposition, die langsam in den Bahnhof rollte. Fast lautlos kamen die Waggons zum Stehen. Türen klappten nach aussen auf, ein paar Gestalten mit Koffern und Taschen traten über die Treppe. „Lass es uns kurz machen!“ Mein vergeblicher Versuch, emotionslos zu klingen. Gina sah mich schweigend an. Ihre traurigen Augen wie unausgesprochene Worte, was mich zutiefst berührte. „Ich möchte dich noch einmal umarmen.“ Sie fiel nach vorn, als hätte sie darauf gewartet. Schlang stürmisch die Arme um meinen Hals und drückte darin ihre ganze Verzweiflung aus. Ein inneres heftiges Weinen. Sehnsucht auch in mir. Schmerzendes Verlangen, noch einmal ihren Körper zu spüren. Ihren schönen Körper, den ich nie ganz besessen hatte. Ich verbarg mein Gesicht in ihren Haaren, im Gelb zermalten Weizens. Ein Duft wie von Honig. So viel, was ich ihr noch sagen wollte. Mein Versäumtes nachholen. Mir fehlten die Worte. Zu spät für irgendwelche Geständnisse. „Du kannst dich ruhig in dein Abteil begeben“, schniefte Gina, während sie sich aus der Umklammerung löste. Nervös suchte sie nach einem Taschentuch. Ich reichte ihr meines. Blick auf die Bahnhofuhr. Zehn vor vier. Noch ein paar Minuten, dann würde es vorüber sein. Wieder etwas Vergangenes. Eine Geschichte. Die Stadt, meine Arbeit hier, Gina. Vor allem Gina. Ich griff nach dem Koffer, der neben meinen Füssen stand. „Pass auf dich auf!“ Das Einzige, was ich herausbrachte. Nur keine Sentimentalitäten. Gina hatte wohl etwas anderes erwartet. Zwei Schritte trennten mich vom Eingang. Zeit genug, um es mir noch einmal zu überlegen. Zum Umkehren zu spät. Ich stieg über die Eisentritte. Etwas unbeholfen zwang ich mich mit dem sperrigen Koffer durch die Türöffnung und sah mich nach einem Platz um, wo ich in Fahrtrichtung und am Fenster sitzen konnte. Eine völlig sinnlose Übung. Von den Plätzen gähnte mir Leere entgegen. Ich hievte den Koffer auf die Gepäckablage über mir, entledigte mich der Jacke und hängte sie an die Vorrichtung neben dem Fenster. Während ich durch die Scheiben blickte, sah ich Gina über den Bahnsteig schreiten. Mit diesem unverkennbaren geschmeidigen Gang, welcher mich an eine Katze erinnerte. Wie auf leisen Pfoten, weil sie nie fest auf den Fersen aufstand. Ihre Hüfte schwang, der Rock, ihr wohlgeformter Po. Die halblangen Haare flatterten ein wenig im Wind, der von der Bahnhofhalle her wehte. Da ging sie. Da entschwand ein halbes Jahr. Tage und Abende und eine Liebe, die ich nicht mehr für möglich gehalten hatte. Aber dies wurde mir erst jetzt bewusst, derweil ich an der Fensterscheibe klebte und vergeblich versuchte, die Frau auszumachen, die sich zwischen den anderen Leuten auflöste, als hätte es sie nie gegeben. Kaum in Worte zu fassen, welche Traurigkeit mich in diesem Moment erfasste. Ein würgender Schmerz in meiner Kehle. Ich kam mir feige vor. Ich liess mich in den Polstersitz fallen, froh darüber, dass ich mir ein Erste-Klasse-Billett geleistet hatte. Wenn die Welt unterging, so doch wenigstens angenehm. Weich liess sich alles besser ertragen. Ich streckte die Beine von mir und legte das rote Buch auf meine Oberschenkel. Was mochte Gina bewogen haben, mir ein Buch zu schenken? Und was beinhaltete es? Auf dem Umschlag weder ein Titel noch der Name eines Autors. Ein Buch mit einem roten Einband. Vielleicht wieder eine von ihren unzähligen Eigenheiten, mit denen sie mich täglich neu überrascht hatte. Ich blickte auf meine Armbanduhr. Der Zug würde, falls er pünktlich abfuhr, den Bahnhof in fünf Minuten verlassen. Es blieb mir also keine Zeit, nach Gina zu suchen. Das Leben ging weiter. Neuer Abschnitt, neue Herausforderung. In wenigen Stunden in einer anderen Stadt. Endlich eingetroffen, wofür ich Wochen und Monate gekämpft und worauf ich insgeheim gehofft hatte. Es gab kein Zurück mehr, zumindest nicht in diesem Augenblick. Ich hatte eine neue Anstellung, die mir unter besseren Arbeitsbedingungen mehr Lohn bescherte. Mitarbeiter in einer renommierten Werbeagentur. Ein Posten in einer Firma, die sich ausschliesslich im medizinischen Bereich betätigte. Dass dies am Ende einer Probezeit lag, hinderte mich nicht daran, weiter nach den Sternen zu greifen. Einmal in den Kopf gesetzt, wollte ich meine Ziele erreichen. Nicht umsonst hatte ich in den vergangenen Jahren Entbehrungen auf mich genommen, dabei sogar meine Freunde vernachlässigt. Und meine Frau verloren. Ich musste wieder an Gina denken. Ich erinnerte mich an ihre Aussage, dass man das Glück in der Sternschnuppe entdecken könne, denn diese sei greifbarer als ein Stern. Sie irrte sich. Wieder sah ich aus dem Fenster. Zugreisende eilten dem Eingang entgegen, als flüchteten sie vor einer Flut. Dumpf prallte die Waggontür gegen die Armlehne des ersten Sitzes. Leute verteilten sich auf die leeren Polstersessel. Ich versuchte an ihren Gesichtern die Gedanken abzulesen, in ihren Augen die Teilnahmslosigkeit, an ihrer Mimik die verratene Gleichgültigkeit. Wohin würde sie ihre Reise führen? War es Abschied oder gab es ein Wiedersehen? Ich starrte auf den roten Leineneinband, nicht bereit, die Schlaufe zu lösen. Die Schlaufe mit den gekringelten Bändchen. So fest ineinandergezurrt, dass ich mir die Fingernägel beschädigt hätte, wenn ich sie löste. Ich hob das Buch ein wenig an und versuchte einen mir vertrauten Geruch darauf auszumachen. Ein klein wenig von dem Parfum zu erhaschen, das Gina immer auf sich trug. Es gelang mir nicht. Mit der Frau hatte sich auch das Fluidum verflüchtigt. Mit einem leichten Ruck setzte sich der Zug in Bewegung. Es begann das Schaukeln der Wagen, während sie über die zahlreichen Weichen aus dem Bahnhof balancierten. Ich sah die Köpfe der Reisenden im Gleichtakt sich hin und her bewegen. Ihre starren Körper. Als würden sie alle dem Kommando des Stabs eines unsichtbaren Dirigenten folgen. Der Zug passierte einen kurzen Tunnel und legte dann an Tempo zu. Sogleich überfiel mich Trägheit. Das gleichmässige Rütteln vermittelte etwas Beruhigendes. Ich griff nach einer Zeitung, die auf dem Fensterbord lag, ohne dem roten Buch weiter Beachtung zu schenken. Farbige Titel tanzten vor meinen Augen. Ich versuchte, einen Text zu verinnerlichen. Trotzdem wusste ich danach nicht, was ich gelesen hatte. Meine Gedanken schwebten wie der Vogel, den ich im Zenit auszumachen glaubte, während ich durch die Scheiben sah. Abschied hat immer zwei Seiten. Etwas hinter sich lassen heisst gleichzeitig etwas Neues beginnen. Dies hatte mir Gina beigebracht. Bezog ich das auf meinen Beruf, musste ich ihr recht geben. Alles andere ist ein Prozess, verbunden mit seelischer Arbeit, und kann nicht dadurch forciert werden, indem wir es verdrängen. Vielleicht hatte mich Gina auch dies gelehrt. Noch lagen Himmel und Erde in gespenstischem Schatten. Noch hing ein verblassender Mond in der Unendlichkeit. Doch ein Schimmer von Lila fiel, erst noch zaghaft sich wehrend, in den frühen Dunst des Morgens. Erzitternde sphärische Klänge. Ein Einhauchen. Einatmen. Als küsste die Muse schon die schneebedeckten Kuppen der Alpen, die Firne, die Sahnehäubchen unter dem Bogentor. Begleitet von Fanfaren, im Purpurgewand, warf sie ihren Körper ins Land, und mit ihr das Gefolge: Aurora, die Göttin des Morgenrots. Gleichsam überflutet von zartem Gold. Schwarzblau erhoben sich die Felsen. Wälder davor. Häuser und Kirchtürme. Ein See, der still im Tal lag. Ich legte die Zeitung zurück. Zog die Markisen bis zur Mitte herunter, weil Sonnenlicht mich blendete. Vergeblicher Versuch, meine Augen offen zu halten. Resigniert gab ich mich dem monotonen Geräusch des Zuges hin und liess mich in eine andere Dimension fallen. Ich schlief zwei Stunden. Vielleicht auch drei. Draussen zog eine konturenlose Landschaft vorbei. Kein Haus, kein Baum, kaum Sträucher. Ein Schatten bloss auf den erstarrten Feldern, Lok und Wagen als ein zuckender Wurm. Das Buch zog erneut meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Schlaufe liess sich immer noch nicht lösen; ich riss die Bänder über die Kante. Oftmals entscheidet die fünfte Seite eines Buches, ob ich eine Geschichte lesen oder beiseite legen würde. Der Prolog, ein Vorwort oder der Beginn eines Romans müssen mich mit dem ersten Satz zu fesseln vermögen. Ich schlug den Deckel auf und blätterte die Seiten um. Kein Titel, kein Name, kein Text. Gähnende Leere. Ein Buch ohne Inhalt, ohne Gesicht. Mein erster Gedanke, dass mich Gina veralbern wollte. Dass sie das, was zwischen uns gewesen war, wie ein leeres Buch empfand. Eine symbolträchtige Aussage ohne Worte. Und dann fiel diese Karte heraus. Direkt vor meine Füsse. Die Karte, die ich damals nach dem Besuch des Varietés gesucht hatte, weil mir die Zeichnung darauf gefiel. Zögernder Griff zum Boden. Ich drehte die Karte um. Gina bat mich, die Reise nach Wien als Gelegenheit zu benutzen, um meine Vergangenheit in dieses Buch zu schreiben. Alles Belastende zu verfassen, nichts auszulassen, insbesondere nicht das Negative. Den Kopf leeren, die Gedanken, das Herz. Alles, was vor unserer Begegnung gewesen sei. ... und wenn du alles niedergeschrieben hast, verbrenne das Buch!, endete sie. Solche Ideen hegte nur Gina. Ich nahm mir vor, das Buch in den Abfallkübel unter der Ablage zu werfen. Nie und nimmer würde ich schreiben, womöglich noch in Tagebuchform. Und wie sollte ich neunzehn Jahre meines Lebens aus dem Gedächtnis streichen, als hätten sie nie existiert? Neun Stunden lagen noch vor mir. Ich hätte Gina gern darauf angesprochen. Sie gefragt, was sie damit meinte. Ich war mir nicht einmal mehr sicher, ob ich sie in Zukunft wiedersehen würde. In diesem Moment gehörte auch sie der Vergangenheit an. Wie alles, was ich zu verwirklichen vermochte, dem Vergangenen angehörte. Ich schaute auf die leeren Buchseiten, und mir wurde plötzlich klar, dass sich in meinem Leben das Verflossene immer vor die Gegenwart stellte. Als wehrte ich mich absichtlich, den Augenblick anzunehmen. Und ich glaubte zu verstehen, was mir Gina sagen wollte. Je weiter mich der Zug von ihr wegbrachte, umso stärker wurde der Drang, umzukehren. Ich hatte ihr Unrecht getan. Wie sie mich angeschaut hatte. Vorwurfsvoll oder fragend oder einfach nur traurig. Dieser Blick blieb in mir haften. Und das Gefühl, nun auch sie verloren zu haben. Die Verlustangst wird grösser, je älter man wird. Die Unbeschwertheit der Jugend macht klaren Überlegungen Platz. Vielleicht auch Berechnungen. Man kann auch so aufräumen, überlegte ich mir. Klarheit schaffen. Den Fundus ausmisten. Vielleicht musste ich mich aufraffen und mich mit dem Gewesenen aussöhnen. Ich bestellte Kaffee und klappte vor mir den Tisch herunter.

Eins

Ganz plötzlich bist du in mein Leben gekommen wie ein Komet vom Nichts ins All Als ein Augenblick in dessen Kern schon das Erlöschen steckt Vergehen und wieder verschwinden