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Sonnenuntergang beschreibt eine freie Großvater-Enkel-Beziehung. Peter, der alte Mann des einfachen Lebens, erklärt die Natur, gibt unmerklich Ratschläge, und hilft beim Verstehen der Welt. Als der Warschauer Pakt 1968 in Prag einmarschiert, schaut er aus dem Fenster zum nahen Wald. Ein strahlend roter Sonnenuntergang lässt ihn, nach seinen schmerzlichen Erfahrungen im 1. Weltkrieg, sagen: Wenn die Welt untergeht, kommst du zu mir, wir setzen uns ans Fenster und schauen zu. Immer, wenn ich an diesen Satz denke, fühle ich mich meiner Heimat verbunden, egal in welchem Teil der Welt ich bin. Es ist die Heimat, die wir in uns tragen, die uns begeleitet.
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Seitenzahl: 80
Veröffentlichungsjahr: 2016
Roland Schunke
Oder die Suche nach Heimat
© 2016 Roland Schunke
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7345-4556-6
Hardcover:
978-3-7345-4557-3
e-Book:
978-3-7345-4558-0
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Er war für uns alle im Dorf schon immer ein alter Mann und bewohnte in meinen Kindertagen ein kleines an den Wald angrenzendes Haus. Sein Sohn, der in einem Nachbarort lebte, versorgte ihn mit den notwendigsten Lebensmitteln, mit Tabak für seine Pfeife und Wein aus den Nachbarorten. Da sich unser Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand und auch meine Brüder zu ihrer Kinderzeit sich bei ihm aufhielten, Hilfsarbeiten im Garten verrichteten, Holz hackten oder im Sommer die ans Haus angrenzende Wiese mähten, um das Gras nach Trocknung zur Winterfütterung für Hasen und Ziegen nach Hause zu transportieren, ergab es sich folgerichtig, dass auch ich mich bei jenem alten Herrn wie zu Hause fühlte. Seine Frau starb vor langer Zeit. Aus diesem Grund hatte er das Erdgeschoss an einen Rentner vermietet und das Obergeschoss für sich eingerichtet: Eine kleine Küche, ein Schlafzimmer, ein Bad, heute würde man dies als Waschgelegenheit bezeichnen, ein Wohnzimmer. In der Sprache der Einwohner jener Tage hätte man hierzu die „guud Stubb“ gesagt, die nur zu besonderen Anlässen wie Ostern, Weihnachten, Konfirmation oder sonstigen häuslichen Feiern Familienmitgliedern und Gästen geöffnet wurde. Gelebt wurde ausschließlich in der Küche. Hier empfing man Besuch, trank Schnaps, Bier und Wein, rauchte, stritt, kochte, as. Auch während des Winters hielt man sich gerne an jenem Ort auf: Es war der einzige beheizte Raum.
Im Wohnzimmer jenes alten Herrn stand auch ein „Schesselong“. Ein Möbelstück, dessen Name dem französischen Wort Chaisselongue entsprach, was frei übersetzt ‚langer Stuhl’ heißt, in Wahrheit aber eine Art Sofa darstellte, diente dem Alten als mittägliche Ruhestätte. Ein solches stand auch in unserer Küche. Meinem Vater diente es nach dem Mittagessen zur kurzen Entspannung für ein ‚Nickerchen’. Hier lag er gerne, behütet von unserer Hauskatze „Pit“. Ein nicht überhörbares Vergnügen, denn Vater und Kater schnarchten unisono.
Der Austausch jenes Sofas durch eine moderne Eckbank veränderte das mittägliche Schlafverhalten: Zu kurz, zu schmal, zu hart.
Jene Tage erscheinen mir heute als meine Persönlichkeit prägend. Ich mag zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, als es mir gestattet war, in den Ferien mit dem Alten und einem gleichaltrigen Rentner, der ebenfalls in unserer Straße wohnte, zu Arbeiten im nahe gelegenen Wald zu dürfen. Meine Mutter richtete mir einen kleinen Rucksack, einen Tornister mit hellbraunem Fell, der aus meines Vaters Militärzeiten stammte. Eine Feldflasche aus Aluminium, Butterbrot und Apfel füllten ihn. So marschierte ich stolz mit den beiden Waldarbeitern in den Soonwald. Zu ihren Aufgaben gehörte im Sommer das Ausforsten von Waldabschnitten, die zum Jagdrevier des Pächters gehörten. Mir oblag es, das geschnittene Zweigwerk auf einem Haufen zusammenzutragen, eine Arbeit, die ich mit großem Eifer und zur Zufriedenheit erledigte. Als Belohnung durfte ich nach getaner Arbeit mit den Alten, auf einem großen Baumstamm sitzend, Butterbrot, Apfel und das mitgebrachte Getränk genießen. „Was hast Du in Deiner Flasche?“, fragte Peter. „Tee.“ „Tee? Das trinkt man doch nur, wenn man krank ist. Hier, probier mal was Richtiges.“ Dabei bot er mir seine Feldflasche an. Nach dem ersten Schluck spie ich unter schallendem Gelächter der Gefährten aus. Das Getränk trug den Namen ‚Bierefiez’, ein aus Birnen und Äpfeln selbst gekelterter Wein .Dieser Begriff muss wie folgt erklärt werden: Die Frucht Birne wurde umgangssprachlich als ‚Bier’ bezeichnet und das Wort ‚Fiez“ könnte dem Begriff Fusel für qualitativ schlechten Schnaps entlehnt sein. Was auch immer zur Namensgebung Pate stand: Es roch nach Wein, schmeckte sauer und belegte die Zunge mit Pelz. In jenem Alter verstand ich nicht, dass ein derartiges Gebräu trinkbar sein sollte, obwohl alle Bauern im Herbst Äpfel und Birnen zur Weingewinnung für den häuslichen Bedarf zermalten und den nach der Pressung gewonnenen Saft in Holzfässern, die zuvor mit übel riechenden Schwefelstäben keimfrei geräuchert wurden, gären ließen. In späteren Jahren entfaltete dieser ‚Apfelwein’ ein ums andere Mal auch bei mir seine segensreiche Wirkung.
-Unser Waldfrühstück sollte noch zu einem besonderen Erlebnis werden. Peter schnitt mit seinem Jagdmesser ein Stück Rauchfleisch ab und reichte es mir mit einem Stück frischen Bauernbrots. Dann entnahm er seiner Arbeitsweste ein kleines Taschenmesser, streckte es mir entgegen und fügte kurz und trocken hinzu: „Damit Du ein richtiger Waldarbeiter wirst.“ Ein eigenes Taschenmesser! Die Beiden grinsten verschmitzt. Meinen verbalen Dank, „Ist das für mich?“, kommentierte Peter mit einem fast unhörbaren „Ja, nimm es.“ Mehr erfreuten sie sich wohl an meinem strahlenden Gesicht. Umgehend klappte ich das Messer auf und schnitt wie ein ‚Alter’ Stücke von Brot und Dörrfleisch. Lange Zeit verbarg ich dieses Kleinod mit höchster Aufmerksamkeit und benutzte es während meiner Kindheit für allerlei Knabenverrichtungen.
Der Herbst nahte mit den jährlichen Treibjagden auf Hasen und Fasanen. Peter teilte mich zu seinem Helfer beim Treiben ein. Tage vor dem großen Ereignis suchte ich, wie er mir aufgetragen hatte, einen alten Topf, um bei der Treibjagd für Angst einflößenden Lärm zu sorgen. Das Behältnis fand ich schnell: Im Stall, wusste ich, bewahrte meine Mutter einen großen, alten Aluminiumtopf auf, in dem sie Kartoffeln für unsere Hasen kochte. Mit einem aus der Küche geborgten Kochlöffel lief ich um unser Haus und jagte unseren Katzen und Hühnern mit blechernem Trommeln einen ordentlichen Schrecken ein, bis meine Mutter mir mit deutlichen Worten Einhalt gebot. „Hör endlich mit dem Unfug auf, Du machst ja die Tiere verrückt.“ Diese Maßregelung kam zur rechten Zeit, plante ich doch nach der Ouvertüre als Generalprobe unsere in den Ställen befindlichen Stallhasen in unseren Vorgarten mit Hecken und Sträuchern zu setzen, um die moralische Wirkung des von mir erzeugten Lärms zu testen.
In den Nächten vor dem großen Ereignis wuchsen in meinen Träumen vielfältige Ablaufszenarien. Wo würde ich stehen? Würde man zufrieden sein mit Kampfgebrüll und Trommelschlag? Meine von mir aufgeschreckten Karnickel würden die Größten sein, die durch mein Rufen in die Höhe und zur Flucht aus dem Dickicht getriebenen Fasanen würden wie Gold vor des Jägers Flinte mit ihren Flügeln um Gnade flattern. Am Abend würde man mich als Helden ehren, mit einer Stola aus silberfarbenem Hasenfell über der Schulter und Fasanenfedern im Haar, in der Sonne würde man mich bewundern, den einzigen, den wahren Jagdhelfer.
Ein irdisches, wenig Helden huldigendes Rufen, zerschlug meine Träume. „Aufstehen“, rief meine Mutter, „sonst kommst Du zu spät.“ Zum Frühstück gab es Haferflocken mit Blockschokoladenraspeln, übergossen mit heißer Milch und ein mit Butter belegtes Bauernbrot. Anstelle des großen Kartoffeltopfes reichte sie mir eine kleine Stielkasserolle und meinte: „Der ist nicht so schwer und Du kannst ihn besser festhalten.“ Die Größe des Topfes sollte nicht entscheidend sein, dachte ich, der Treiber und dessen ohrenbetäubendes Hämmern entscheiden die Schlacht.