Sophie Taeuber-Arp - Margret Greiner - E-Book

Sophie Taeuber-Arp E-Book

Margret Greiner

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Beschreibung

Im Appenzellischen aufgewachsen, erweiterte Sophie Taeuber auf immer neuen Feldern ihren Horizont und wurde eine der grossen Künstlerinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Kunsthandwerkerin und Lehrerin an der Kunstgewerbeschule Zürich, expressionistische Tänzerin, die im Cabaret Voltaire Gedichte von Hugo Ball tanzte, Innenarchitektin, die ein Militärgebäude in Strassburg zu einem Vergnügungszentrum ausbaute, Pionierin der konstruktiven Kunst: Sie wusste Widersprüchliches zu vereinen und produktiv zu machen. Souverän ging sie ihren eigenen Weg, auch in ihrer Ehe mit dem Maler, Bildhauer und Lyriker Hans Arp. Margret Greiner zeichnet auf der Grundlage intensiver Recherche, auch bisher unveröffentlichter Briefe, in romanhaften Szenen das Bild einer kraftvollen Künstlerin, verbindlich als Mensch, kompromisslos in ihren ästhetischen Ansprüchen. Hans Arp beschrieb seine Frau als engelsgleiches Wesen und hob sie in den Himmel – Margret Greiner zeigt, dass sie durchaus von dieser Welt war, lebenspraktisch, unerschrocken und von grosser Klugheit.

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Seitenzahl: 341

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Über das Buch

Im Appenzellischen aufgewachsen, erweiterte Sophie Taeuber auf immer neuen Feldern ihren Horizont und wurde eine der großen Künstlerinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Kunsthandwerkerin und Lehrerin an der Kunstgewerbeschule Zürich, expressionistische Tänzerin, die im Cabaret Voltaire Gedichte von Hugo Ball tanzte, Innenarchitektin, die ein Militärgebäude in Straßburg zu einem Vergnügungszentrum ausbaute, Pionierin der konstruktiven Kunst: Sie wusste Widersprüchliches zu vereinen und produktiv zu machen. Souverän ging sie ihren eigenen Weg, auch in ihrer Ehe mit dem Maler, Bildhauer und Lyriker Hans Arp. Margret Greiner schreibt auf der Grundlage intensiver Recherche, auch bisher unveröffentlichter Briefe, über die Entwicklung Sophie Taeuber-Arps zur kompromisslosen Avantgardistin.

Coverbild: Sophie Taeuber-Arp, Eléments divers en composition verticalehorizontale, Stiftung Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp e.V. Berlin/Remagen, Foto: Wolfgang Morell

MARGRET GREINER

SOPHIE TAEUBER-ARP

DER UMRISS DER STILLE

Mit freundlicher Unterstützung durch

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2018 Zytglogge Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Angela Fessler

Coverbild: Sophie Taeuber-Arp, Eléments divers en composition verticale-horizontale,

Stiftung Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp e.V. Berlin/Remagen; Foto: Wolfgang Morell

e-Book: mbassador GmbH, Basel

epub: 978-3-7296-2242-5

mobi: 978-3-7296-2243-2

www.zytglogge.ch

Margret Greiner

SOPHIE TAEUBER-ARP

DER UMRISS DER STILLE

Romanbiografie

Für Philipp Theisohn

 

«Je schreckensvoller diese Welt (wie gerade heute), desto abstrakter die Kunst. Während eine glückliche Welt eine diesseitige Kunst hervorbringt.»

Paul Klee, während des Ersten Weltkriegs

«Man behandle die Natur gemäß Zylinder, Kugel und Kegel und bringe das Ganze in die richtige Perspektive, so dass jede Seite eines Objektes, einer Fläche nach einem zentralen Punkt führt.»

Paul Cézanne, Gespräch mit Joachim Gasquet

 

Editorische Anmerkung: Alle im Text kursiv gesetzten Passagen sind wörtliche Zitate.

Es will ins Runde

Wie leicht es doch mit Sophie war! Man gab der Sechsjährigen eine Häkelnadel und Wollreste in die Hand, schon saß sie friedlich in einer Ecke, war stundenlang beschäftigt. Da hatte sie es mit ihrer älteren Tochter entschieden schwerer. Erika war immerzu unzufrieden und rastlos. Mal wollte sie ein Buch lesen, dann Klavier spielen, verlor schnell wieder die Geduld, lief ins Dorf, suchte dort nach Anregungen, fand keine, kam missmutig nach Hause. Sophie aber kannte keine schlechte Stimmung. Sie saß auf ihrem Holzschemel hinter dem Küchentisch wie auf einer sonnenbeschienenen Bergwiese.

Die wird einmal ein Heimchen am Herd, dachte die Mutter, nicht ohne Sorge. Sie selbst, Sophie Taeuber-Krüsi, erzog ihre Töchter nicht als künftige Hausfrauen, die sich mit den weiblichen Disziplinen Kochen und Handarbeiten zufriedengaben. Erika, fünf Jahre älter als Sophie, zeigte tatsächlich nicht die geringsten mädchenhaften Interessen. Aber Sophie war auf dem besten Wege, eine genügsame Strickliesel zu werden. Da konnte sie nur hoffen, dass sich das auswuchs.

Alle nannten die jüngste Tochter Söpheli, nur die Mutter nicht. Die vielen Verwandten in Trogen ergingen sich gern in Komplimenten, wenn sie Sophie sahen, ein Mädchen mit strahlenden Augen und dunkelblonden Zöpfen, die in ihrem Puffärmelkleid mit weißer Spitzenschürze und den Knöpfelschuhen allerliebst aussah. «Ach wie niedlich», sagten sie. Aber die Mutter wollte nicht, dass man aus ihrer Tochter ein Püppchen machte. Sophie war mit ihren sechs Jahren eine Persönlichkeit, die es zu respektieren galt, die man ernst nahm.

«Fertig!» Sophie stand so heftig auf, dass der Holzschemel auf den Boden fiel. Sie hob stolz einen gehäkelten Lappen in die Höhe. Rund, aus roter Baumwolle, mit leicht verunglückter Schlaufe.

«Ein Topflappen», verkündete sie stolz.

«Seit wann kannst du denn etwas Rundes häkeln?», fragte ihre Mutter.

«Selbst beigebracht.»

Auf dem Kreis, der leichte Wellen schlug, weil Sophie wohl einige Maschen zu viel aufgenommen hatte, saß ein weiterer runder Deckel, etwas kleiner darauf noch einer. In die Mitte hatte die junge Handarbeiterin einen goldenen Reißnagel gedrückt, so dass die Komposition einer Blüte mit Stempel glich.

«Aber einen heißen Topf kannst du damit nicht vom Herd nehmen, Sophie. Mit den Auflagen ist der Lappen zu dick, er liegt nicht in der Hand, und die Reißzwecke wird Dich zwacken.» Die Mutter befürchtete, dass Sophie tief enttäuscht war.

War sie nicht. Sie drehte mit ihrem Finger die Schlaufe, so dass die gehäkelten Spiralen ins Tanzen kamen: «Es sollte alles rund werden, so ist mein Lappen rund wie die Erde. Oder wie ein Kuhfladen. Oder wie der Mond. Jetzt hänge ich mir die Scheibe einfach übers Bett!»

Am nächsten Tag nahm sie frohgemut ihre Häkelproduktion wieder auf. Diesmal entwarf sie ein Rechteck, teilte es in vier gleichmäßige Quadrate, führte es in den Farben Orange, Rot, Grün und Blau aus: «Das ist jetzt ein Garten mit vier Beeten, eins für Rüebli, eins für Rosen, eins für Spinat und eins für, wie heißt nochmal das blaue Gemüse?»

«Rotkabis?»

«Ja.»

«Und dieser Lappen kommt auch wieder über dein Bett? Aber die beiden Topflappen passen gar nicht zusammen.»

«Gerade recht», sagte Sophie.

 

Das Mädchen und der liebe Gott

Sophie balancierte auf der Mauer, die die Terrasse vom Hof des Hauses trennte, quietschte auf einer geschnitzten Flöte, erzeugte eine wahre Affenmusik und tänzelte anmutig auf dem schmalen Grat zwischen Himmel und Erde. Je schriller die Töne klangen, umso mehr jubelte sie. Bald wusste sie genau, wie sie die Lippen spitzen und den Atem dosieren musste, um dem Instrument die fiependsten und ziependsten Töne zu entlocken. Die Katzen verzogen sich erschreckt in den Keller. Sie sah, wie ihr Bruder Hans, der schon in die zweite Klasse ging, den Weg zum Haus herunterkam. Hans war im Gegensatz zu seiner Schwester ein ernsthafter Junge, der schon als Siebenjähriger etwas Gravitätisches ausstrahlte, vor allem, wenn er missbilligend die linke Braue hochzog. Gemessenen Schritts bog er in die Biegung zum Haus ‹Solitüde› ein; den Kopf auf den Boden gesenkt, die Schultern nach vorn gebeugt, trug er schwer am Tornister und der Welt. Auf ihrer Höhe angekommen, hob er abrupt den Kopf, stierte sie an und rief: «Söpheli, fürchtest du dich vor Gott?»

Da musste die sechsjährige Sophie ganz gehörig nachdenken. Hans blieb stehen und schaute sie insistierend an. Aber sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, das war schließlich eine schwierige Frage.

Dann kam sie zu einem Ergebnis, schaute Hans fest in die Augen und sagte: «Nein!»

Danach konnte sie sich vom Nachdenken erholen, indem sie Triolen in verschiedenen Tonarten blies. So heftig, bis ihr der Atem aus­ging.

Als Hans an ihr vorbeiging, zischte er: «Und für Schmetterlinge interessierst du dich auch nicht.»

Das stimmte und stimmte nicht. Sie konnte die farbenfrohen Falter bewundern, die Hans mit seinem Kescher auf der Wiese vor dem Haus einfing: den Zitronenfalter und den Dukatenfalter, den Pfauenspinner und das Pfauenauge, und ganz besonders schön war der Rote Apollo. Aber als sie sah, wie Hans die Tierchen mit einer Stecknadel auf eine Holzleiste spießte, die Schmetterlinge erst wild flatterten, dann nur noch einmal kurz mit den Flügeln wackelten, schrie sie auf: «Du machst sie ja tot!» Von da an weigerte sie sich, seine Sammlung anzusehen, geschweige mit ihm auf die Jagd zu gehen.

Alle Taueber-Kinder waren in Davos geboren, Paul, der Älteste, 1883, Erika 1884, Ernst, der nur fünf Monate lebte, 1886, Hans kam 1887 und Sophie, das Nesthäkchen, 1889 zur Welt. Der Vater Emil Taeuber stammte aus einer Apothekerfamilie aus Thorn in Westpreußen. In Heiden, im Appenzell, lernte er in der Apotheke von Johann Jakob Krüsi dessen Tochter Sophie kennen, heiratete sie 1882 und richtete sich in Davos eine Apotheke ein. Seit seiner Militärzeit litt er an Tuberkulose, da erschien Davos der richtige Ort, um ihm das Atmen und Leben zu erleichtern. Trotz der zahlreichen Kinder strebte Sophie Taeuber-Krüsi über die häuslichen Aufgaben hinaus nach eigenen Aktivitäten. Sie eröffnete im Anbau neben der Apotheke ein Weißwarengeschäft, bot dort außerdem Kurse in Stickerei an, die eine Verwandte aus dem Appenzell abhielt.

Die Krankheit ihres Mannes verschlimmerte sich, schon nach fünf Jahren musste er 1887 die Apotheke verpachten. Die kleinen Kinder wurden wegen der Ansteckungsgefahr von ihm ferngehalten, das Krankenzimmer war immer verschlossen. Sophie Krüsi zeigte ihrem Mann die einjährige Tochter Sophie einmal durchs geschlossene Fenster.

«Was für ein schönes Mädchen», flüsterte Emil Taeuber.

Er starb am Ostersonntag des Jahres 1891, hinterließ eine 36-jährige Ehefrau und vier unmündige Kinder.

Zwei Brüder Emil Taeubers lebten ebenfalls in Davos, ein Zahnarzt und ein Bankier, sie unterstützten die Familie. Trotzdem entschloss sich Sophie Taeuber-Krüsi drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, ins Appenzell zu ziehen, von wo sie stammte. Dort sah sie bessere Bildungschancen für ihre Kinder. In Trogen bei Sankt Gallen hatte sie prominente Verwandtschaft, die Zellwegers, eine weitverzweigte Familie mit Macht und Einfluss. Johann Caspar Zellweger hatte schon Anfang des 19. Jahrhunderts in Trogen die ‹Lehr- und Erziehungsanstalt für die Söhne der gebildeten Stände› gegründet, aus der die Kantonsschule hervorging, die weit über Trogen hinaus berühmt wurde. Die Zellwegers waren als Unternehmer in der Appenzeller Textilindustrie erfolgreich, die im 19. Jahrhundert und bis zum Ersten Weltkrieg florierte. Spitzen und Stickereien aus Trogen wurden in die ganze Welt exportiert. Zwei Schwestern von Sophie Krüsi hatten sich mit Zellwegers verheiratet, besonders eng war der Kontakt zu ihrer Schwester Mathilde. Deren Mann Dr. Hans Zellweger betrieb in Trogen ein angesehenes Kindersanatorium, die ‹Kinderkuranstalt für die besseren Stände›. Das Ehepaar lebte mit vier Töchtern auf dem Sonnenhof, einem prächtigen Barock-Doppelhaus, nicht weit vom Dorfmittelpunkt, dem Landsgemeindeplatz mit Rathaus und Kirche und dem Gasthaus Krone. Die Taeubers wohnten zunächst bescheiden in der kleinräumigen ‹Solitüde›, einem Weberhäuschen, das ihnen Schwager Hans zur Verfügung gestellt hatte. Es lag am Ausgang der Straße nach Altstätten, Vordorf 49.

«Du hascht doch selbscht Tächter», sagte die sechsjährige Sophie ihrem Onkel Hans und bohrte ihm keck den Zeigefinger in den Rücken. Der hatte ihr gerade eröffnet, dass er Fotos von ihr machen lassen wolle, um damit kleine Patienten für seine Kuranstalt anzulocken.

«Keine ist so reizend wie unser Söpheli», sagte Dr. Zellweger.

So posierte auf einer Werbemarke und einer Postkarte für die Kinderkuranstalt bald ein hübsch mit Trachtenkleid und Strohhut ausstaffiertes, offensichtlich quietschgesundes, fröhlich lachendes Mädchen und warb für die Segnungen einer Kinderkur.

 

Abgeschnittene Fäden

Sophie hatte eine lebhafte Phantasie. Leidenschaftlich liebte sie das Verkleiden. In ihrem Onkel Hans, dem ‹Kinderdoktor›, hatte sie einen verständnisvollen Animateur. Er veranstaltete auf dem Sonnenhof Scharadespiele und Kostümfeste, ermunterte seine Töchter, Nichten und Neffen und seine kleinen Patienten dazu, in das Kostüm einer anderen Person zu schlüpfen. Ganze Überseekoffer voller Tücher und Stoffreste, Röcke, Hosen, Hüte, Ketten und Haarschmuck wurden dann im Flur aufgestellt − jeder konnte sich bedienen und seiner Fantasie freien Lauf lassen. Die Mädchen waren mit Feuereifer dabei, die Buben weniger: für sie war das Weiberkram. Bruder Hans interessierte sich dafür, ob sich in den Koffern vielleicht altes mechanisches Spielzeug fand, am liebsten mochte er Affen, die an der Kurbel aufgezogen, die drolligsten Bewegungen machten.

Die Mädchen aber überboten sich mit wagemutigen Kreationen. Manche stülpten einfach alles, was sie fanden, übereinander, kombinierten die schrillsten Farben und Kleidungsstücke, die überhaupt nicht zusammenpassten. Wenn man sich dazu das Gesicht weiß schminkte, konnte man auf die Frage «Wer bist du?, wen stellst du dar?» immer mit «Clown» antworten. Erika und Sophie waren da ehrgeiziger, bei ihnen sollte die ausgedachte Figur stimmen. Jeder, der sie sah, musste sofort ausrufen: «Ah, da kommt eine Sennerin!» Oder: «Eine richtige Nonne! Eine Königin!» Und mit dem Verkleiden war es noch nicht getan. Dann ging es doch erst los mit dem Spiel. Die Nonne sang mit zum Himmel gekehrten Augen Kirchenlieder, die Königin striezte hoheitsvoll ihre Untertanen, Dornröschen schlief und schlief, ließ sich schließlich wachküssen, was ein großes Gaudi war; da es keine Buben gab, die den Prinzen spielen wollten, musste sich ein Mädchen finden. Fand sich auch.

Sophie liebte die Rolle der Prinzessin aus dem Froschkönig, da konnte sie sich in Ausrufen von Ekel und Abscheu ergehen: «Er isch so gruusig! So glesig!», und zum guten Schluss den Frosch in der Form eines ausgestopften Taschentuchs an die Wand donnern.

«Das Meetli wirds de Buebe wyse», lachte Onkel Hans.

Die Mutter Sophie fotografierte ihre Töchter in ihren Rollen und Posen. Sie fand, Fantasie könne im Leben nicht schaden.

In der Grundschule interessierte sich Sophie für Mathematik. «Erstaunlich für ein Mädchen», sagte die Lehrerin. In Handarbeit glänzten alle Schülerinnen, auch einige Schüler. Kein Wunder, waren die Kinder in der Gegend doch schon in die textile Heimarbeit einbezogen, bevor sie in die Schule kamen. Sophie freundete sich mit einem stillen Mädchen an, das außerhalb des Dorfes wohnte, schon auf dem Weg nach Speicher.

«Ich besuch’ dich mal», sagte Sophie.

«Das passt nicht», antwortete Ursula.

Sie folgte auch nicht Sophies Einladung, zu Taeubers nach Hause zum Spielen zu kommen. Sophie fand das merkwürdig. In ihrem Haus waren immerzu andere Kinder. Ihre Mutter hatte nichts dagegen.

Eines Tages fasste sie sich ein Herz, nahm Ursula nach Schulschluss unter den Arm: «Jetzt gehe ich einfach mit dir.»

Ursula nickte.

Es war ein beträchtlicher Weg von der Schule in der Dorfmitte bis zum einsam gelegenen Haus. Niedrig duckte es sich in eine Mulde, umgeben von Wiesen, auf denen zwei Ziegen weideten.

«Habt ihr denn keine Kühe?», fragte Sophie neugierig.

Ursula zuckte nur mit den Schultern.

Sie ging in die Küche, holte aus der Speiskammer ein Glas Milch und stellte es vor Sophie auf den Tisch. Sophie hatte noch nie Ziegenmilch getrunken. Sie schmeckte ihr nicht.

«Wo sind denn die Eltern und die Geschwister?»

«Im Keller unten, arbeiten. Komm mit!»

Sie stiegen steinerne Treppen hinunter in den Keller. Eigentlich war es ein Zwischengeschoss mit schwachem Tageslicht. Kalt war es. Ein großer Webstuhl stand im Raum, den die Mutter bediente. Sie schaute nur kurz auf, nickte Sophie zu, hörte aber nicht auf zu arbeiten, bediente die Schäfte, so dass sich die Kette spreizte, ließ das Schiffchen mit dem Schussfaden hindurchgleiten, drückte mit dem Kamm den Faden ans Gewebe. Im hinteren Teil des Raumes saßen vier Mädchen und ein Junge und stickten. Der Stramin war durch Stickrahmen fest angezogen, auf einem kleinen Ständer lagen Entwürfe, nach denen im Plattstich kunstvolle Muster entstanden.

Sophie traute sich nicht, etwas zu sagen, aber Ursula nahm sie an die Hand und stellte sich mit ihr hinter eine ihrer Schwestern. Das ältere Mädchen ließ sich gleichfalls nicht bei ihrer Arbeit stören, schaute auf das Blatt mit dem Dessin, zog einen Faden aus gerolltem Stickgarn, fädelte ein, stickte, schnitt den Faden ab. Der Boden war bedeckt mit abgeschnittenen Fäden, die sich zu willkürlichen Mustern fügten wie ein zerrupfter Teppich.

«Das hier gibt eine Kissenplatte», erklärte Ursula. «Schweizer Motiv: Edelweiß und Alpenrose. Das geht am besten.»

«Bist du eine Zellwegersche?», fragte plötzlich die Mutter.

«Nein, sie ist zugezogen», beeilte sich Ursula zu sagen. «Sie geht mit mir in die Klasse, Sophie Taeuber.

«Aber verwandt bist du mit den Zellwegers, oder?»

Sophie lief rot an. Die Frage hatte so feindselig geklungen. So sagte sie nichts, und auch Ursulas Mutter verfiel erneut in Schweigen.

Sophie war froh, als Ursula wieder mit ihr zur Küche hochstieg.

«Ich muss jetzt auch sticken, du musst gehen.»

In der Nacht träumte Sophie von farbigen Wollfäden, die um sie herumtanzten, bis sie nichts mehr sah.

 

Glühwürmchen in der Nacht

Im Jahr 1900 erwarb Sophie Taeuber-Krüsi von ihrem Schwager Hans ein Grundstück im Vordorf 45 b, in Hanglage mit Blick auf Hügel, Wald und Wiesen. Sie ließ sich ein großzügiges Haus erstellen – ganz nach ihren Vorstellungen und selbst angefertigten Bauzeichnungen. Sie wollte im Haus eine kleine Pension für Studenten der Trogener Kantonsschule eröffnen und damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Das Haus war dreistöckig, mit Balkonen und Erkern, die Giebel mit filigranen Holzschnitzereien verziert, ganz im Stil der heimischen Chalets.

Sophie Taeuber-Krüsi teilte ihren Kindern im neuen Haus eigene Zimmer zu. Das Haus sollte ja als Pension Gewinn abwerfen, jedes Zimmer, das für Gäste verlorenging, schmälerte die Einnahmen. Nichts hätte nähergelegen, als Erika und Sophie ein gemeinsames Zimmer zu geben, aber die kluge Mutter wusste, dass ein Mensch ein eigenes Zimmer braucht, in dem er wohnen kann wie in seiner Haut, das die Person unverwechselbar aufnimmt und schützt. Sie respektierte das Reich ihrer Kinder, ließ sie darin regieren und herrschen, versagte sich, Ordnung und Sauberkeit zu kontrollieren. Nur wenn sie ausdrücklich dazu eingeladen wurde, besuchte sie ihre beiden Töchter und den Sohn Hans in ihren Refugien und hörte ihnen zu. Pauls Zimmer stand leer, er war mit 16 Jahren von zu Hause weggezogen, ausgerechnet nach Hamburg, ausgerechnet, um eine Ausbildung zum Seemann zu absolvieren.

Seine Mutter hatte große Augen gemacht: «Waren denn die Berge in Davos ein solches Trauma, dass du dich jetzt mit Meerwasser heilen musst?»

Paul zuckte mit den Schultern: «Ich weiß nicht, aber in der Schweiz ist mir alles zu klein. Ich muss andere Länder kennenlernen. Hier ist alles so … putzig.»

Die Mutter ließ den fernwehkranken Sohn ziehen.

Immer wenn Postkarten nach Trogen kamen, liefen alle zusammen, um Pauls Botschaften zu lesen, die von gleichbleibender Einfallslosigkeit waren: «Wir sind gerade in Havanna/in Valparaiso/in Kapstadt/in Timbuktu.» Es ist sehr heiß/warm/feucht/trocken. Die Bilder auf der Vorderseite der Karten glichen sich auch wie ein Ei dem anderen: Hafenansichten mit Schiffen. Nur die Briefmarken boten Abwechslung.

Wenn Paul nach Hause kam, war er braungebrannt und schweigsam. Ja, er sehe etwas von der Welt.

Seine elfjährige Schwester Sophie redete auf ihn ein: «Ja, was siehst du denn, erzähl’ doch! Wilde Tiere, wilde Menschen? Eingeborene, Indianer? So red’ doch, Paul!»

Sie beneidete ihn glühend, suchte auf dem Atlas die Städte und Länder, die Pauls Schiffe angelaufen hatten, bedrängte ihn. Aber Paul wusste höchstens von Stürmen zu berichten, die das Schiff überstanden hatte.

Dann kam keine Karte mehr, nicht einmal zum Weihnachtsfest. Die Geschwister spürten, wie unruhig die Mutter wurde, wie sie sich sorgte. Erst Wochen später brachte der Postbote eine Nachricht, keine Postkarte, einen Brief der Seemannschule in Hamburg. Paul sei am zweiten Februar 1901 in Pará in Brasilien an Gelbfieber gestorben.

Wenig später erreichte die Familie ein Päckchen mit seiner Hinterlassenschaft: einer Taschenuhr, die von seinem Vater stammte, einigen fremdländischen Münzen, einem Schweizer Taschenmesser, Kleidung. Und einem Tagebuch, das genauso karg geführt war wie seine schmucklosen mündlichen Reiseberichte bei seinen früheren Besuchen zu Hause. Die Mutter las den Geschwistern vor, beim Lesen der letzten Seite brach sie in Tränen aus.

«Ich sehe langsam ein, dass mein Wunsch, ein Seemann zu werden, eine Spinnerei ist. In mir steckt kein Matrose. Ich habe genug vom Meer. Wenn wir aus Brasilien zurück sind, werde ich meinen Abschied nehmen und mir eine Ausbildung in der Schweiz suchen. Ich werde schon etwas Rechtes finden.»

Aber hier könnte er doch auch vom Berg stürzen und tot sein!, wollte Sophie ausrufen, um die Mutter zu trösten. Aber sie spürte, dass das jetzt nicht half.

Sophie Taeuber-Krüsi brachte es lange nicht über sich, Pauls Zimmer aufzuräumen und in ein Gästezimmer zu verwandeln, auch wenn es das ganze Jahr über Nachfragen von Schülern gab.

Was Paul ihr nicht hatte geben können, besorgte sich Sophie durch Bücher: In der Sekundarschule gab es eine kleine Bücherei, und ihre Mutter wusste immer, was sie ihr zum Geburtstag und zu Weihnachten schenken konnte. Vor allem interessierte sie sich für Berichte von Völkern, die abgeschieden von der übrigen Welt im Einklang mit der Natur lebten und alles feierten, was sie ihnen schenkte: Himmel, Sonne, Regen, die Tiere und die Früchte der Erde. Vor allem bei den Indianern fand sie dieses Bewusstsein, ein Teil der Schöpfung zu sein.

Ich bin das Land. Meine Augen sind der Himmel. Meine Glieder sind die Bäume. Ich bin der Fels, die Wassertiefe. Ich bin nicht hier, um die Natur zu beherrschen oder sie zu nutzen. Ich bin selbst Natur ... Solche Sätze gefielen ihr.

Sie fing an, die Wand über ihrem Schreibtisch in ihrem Zimmer zu indianisieren. Auf einen geometrisch gemusterten Wandbehang befestigte sie Fotos von Indianerhäuptlingen, dazwischen Tomahawks, Friedenspfeifen, Federschmuck. Dekorierte das Ensemble mit selbst entworfenen und gewebten Halsbändern mit indianischen Motiven. Rechts und links neben diese Collage pinnte sie Zettel mit indianischen Sprüchen und Weisheiten: Was ist das Leben? Es leuchtet auf wie ein Glühwürmchen in der Nacht. Es vergeht wie der Hauch des Büffels im Winter. Es ist wie der kurze Schatten, der über das Gras huscht und sich im Sonnenuntergang verliert.

Ihre Mutter war erstaunt, als sie eines Tages Sophies Komposition entdeckte. Jungen mochten sich für Indianer interessieren, zwar eher für deren kriegerisches Temperament als für deren Friedfertigkeit. Aber ein fünfzehnjähriges Mädchen?

«Darf ich Fotos von dir machen? Vor deiner Apachenwand?»

Sophie nickte gleichmütig, die Mutter drückte den Auslöser.

Das Foto dokumentiert Sophies frühen Drang, unterschiedliche Materialien zu arrangieren und zu komponieren. Sie sitzt auf dem Stuhl vor ihrer Wand, im langen Kleid mit weißem Kragen, die Haare streng aus dem Gesicht gekämmt. Die rechte Hand, auf der Stuhllehne abgestützt, berührt das Kinn, der Ausdruck des Gesichts ist ernst, wirkt gesammelt. So abgeklärt mag eine Dreißigjährige in die Welt schauen, das Temperament eines jungen Mädchens findet man in Sophie nicht. Aber sie muss ja mit den Indianern über die große Kraft im Kosmos nachdenken. Kein Wunder, dass man da vorzeitig altert.

Die Mutter freute sich an den eigenwilligen Interessen ihrer Tochter. Sie selbst galt in der hermetischen Dorfgemeinschaft in Trogen als Außenseiterin. Man munkelte, sie spreche sich für das Frauenwahlrecht aus. Da wunderte einen ja nichts mehr. Sophie Taeuber-Krüsi kümmerte sich nicht um andere Leute und deren Gerede, ging ihren eigenen Weg. War immer rege, arbeitete in Haus und Garten, malte, fotografierte, dekorierte Teller und Tassen, handarbeitete im Winter, sorgte für ihre Pensionsgäste, die jungen Schüler, die Familienanschluss bei ihr fanden. Die kamen nicht nur aus der Schweiz, sondern auch aus Italien und Österreich, und einmal lebte sogar der Neffe eines Persers aus Smyrna im Haus. In die Kirche ging sie nicht. Vielleicht wollte sie nicht neben den Zellwegers wie Patrizier in der ersten Reihe sitzen. Aber auch nicht allein in der letzten Bank.

«Die Fröhlichkeit des Geistes ist ein Zeichen von Stärke», sagte die Mutter jeden Morgen ihren Kindern zum Frühstück. Hans konnte sich darunter nichts vorstellen, die beiden Schwestern Erika und Sophie aber sehr wohl, lebte ihnen die Mutter doch täglich vor, was mit einem fröhlichen Geist zu schaffen war.

Sophie Krüsi sprach mit ihren Kindern Schriftdeutsch, die Ehe mit einem Preußen hatte sie darin bestärkt. Manchmal fanden sich bei ihr feine Anklänge an die Mundart, vor allem, wenn sie von ihrer Kindheit erzählte. Das Appenzell war ihr Heimat geblieben, auch wenn sie durch ihre Heirat Deutsche geworden war. 1906 beantragte sie aber für sich die Rückkehr und für ihre Töchter den Übertritt in die Schweizer Staatsbürgerschaft, die ihr bewilligt wurden.

 

Kopf und Hand

Kurz vor Ende ihrer Schulzeit an der Sekundarschule in Trogen setzte sich die Mutter mit ihrer sechzehnjährigen Tochter zusammen.

«Sophie, was möchtest du nach der Schule machen?»

«Ich weiß nicht so recht. Ich kann doch sticken.»

«Du kannst sehr gut sticken. Aber das können andere auch. Und leider bringt es nicht sehr viel ein. Du hast eine Begabung, Vorlagen zu entwerfen, das ist deine künstlerische Ader. Wenn du stickst, dann doch immer nach deinen eigenen Ideen. Meinst du nicht, du könntest ein Dessinateur werden?»