Ein Junge lebt gefährlich - Elisabeth Swoboda - E-Book

Ein Junge lebt gefährlich E-Book

Elisabeth Swoboda

5,0

Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Auf den ersten Blick sah Alexander von Schoeneckers Arbeitszimmer aus, als ob Einbrecher darin gewütet hätten.Auf den zweiten Blick merkte man, daß nur Bücher aus den Regalen herausgezogen worden waren und, teilweise aufgeschlagen, teilweise umgedreht, in Stößen und einzeln, Fußboden und Stühle bedeckten.»Nick! Was treibst du da?« rief plötzlich ein ungefähr dreizehnjähriges blondes Mädchen, dessen Nase lustige Sommersprossen zierten, von der Tür her.Der dunkelhaarige Junge, der stirnrunzelnd in einem der Bände geblättert hatte, fuhr herum. »Ach, Pünktchen, du bist es«, stellte er fest und vertiefte sich gleich wieder in seine Lektüre.»Hast du dieses Chaos verursacht? Was wird dein Vater dazu sagen? Willst du alle Bücher auf einmal lesen? Was hast du da Spannendes?»Nichts, wieder nichts«, murmelte Nick und legte ein Buch auf einen wackeligen Stoß dicker Lexikonbände. Der Stoß war dieser letzten Belastung nicht mehr gewachsen und stürzte polternd um.Nick betrachtete dieses Schauspiel düster. Er zuckte mit den Schultern und erkundigte sich dann: »Was wollt ihr beide eigentlich hier?« Denn hinter Pünktchen hatte noch ein zweites, etwas jüngeres Mädchen den Raum betreten.»Du hast mir ein Tennismatch versprochen«, erwiderte Pünktchen ein wenig vorwurfsvoll. »Erinnerst du dich nicht mehr?»O doch. Aber was ist mit Vicky?

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Sophienlust – 265 –

Ein Junge lebt gefährlich

Ist Herwigs Angst berechtigt?

Elisabeth Swoboda

Auf den ersten Blick sah Alexander von Schoeneckers Arbeitszimmer aus, als ob Einbrecher darin gewütet hätten.

Auf den zweiten Blick merkte man, daß nur Bücher aus den Regalen herausgezogen worden waren und, teilweise aufgeschlagen, teilweise umgedreht, in Stößen und einzeln, Fußboden und Stühle bedeckten.

»Nick! Was treibst du da?« rief plötzlich ein ungefähr dreizehnjähriges blondes Mädchen, dessen Nase lustige Sommersprossen zierten, von der Tür her.

Der dunkelhaarige Junge, der stirnrunzelnd in einem der Bände geblättert hatte, fuhr herum. »Ach, Pünktchen, du bist es«, stellte er fest und vertiefte sich gleich wieder in seine Lektüre.

»Hast du dieses Chaos verursacht? Was wird dein Vater dazu sagen? Willst du alle Bücher auf einmal lesen? Was hast du da Spannendes?«

»Nichts, wieder nichts«, murmelte Nick und legte ein Buch auf einen wackeligen Stoß dicker Lexikonbände. Der Stoß war dieser letzten Belastung nicht mehr gewachsen und stürzte polternd um.

Nick betrachtete dieses Schauspiel düster. Er zuckte mit den Schultern und erkundigte sich dann: »Was wollt ihr beide eigentlich hier?« Denn hinter Pünktchen hatte noch ein zweites, etwas jüngeres Mädchen den Raum betreten.

»Du hast mir ein Tennismatch versprochen«, erwiderte Pünktchen ein wenig vorwurfsvoll. »Erinnerst du dich nicht mehr?«

»O doch. Aber was ist mit Vicky? Zu dritt können wir schlecht ein Match austragen.«

»Ich schaue zu«, erklärte das kleinere Mädchen. »Pünktchen hat mich mitgenommen, weil…, weil Angelika so gemein zu mir war.«

»Na, gemein war sie nicht«, berichtigte Pünktchen. »Sie hat sich bloß aufgeregt, weil du dir ihren Tintenkiller ausgeliehen hast, ohne sie vorher zu fragen.«

»Das ist kein Grund zur Aufregung«, warf Nick ein.

»Ich hatte vergessen, die Hülse wieder draufzustecken. Dadurch ist der Tintenkiller ausgetrocknet und nicht mehr zu gebrauchen«, gestand Vicky. »Deshalb hat meine Schwester sich so geärgert.«

»Du darfst eben nicht schlampig sein«, rügte Nick und fügte dann hinzu: »Also kommt, gehen wir auf den Tennisplatz.«

»Und die Bücher willst du einfach so herumliegen lassen?« ereiferte sich Pünktchen. »Vicky wirfst du vor, schlampig zu sein, aber du bist noch viel ärger. Weshalb hast du die Bücher überhaupt herausgerissen?«

»Ich soll in Biologie ein Referat halten«, erwiderte Nick. Er begann die dicken Bände zurück auf ihre Plätze zu stellen, wobei die Mädchen ihm halfen. »Vati hat mir erlaubt, seine Bibliothek zu benützen, aber ich finde nichts Gescheites. Das ist alles altmodischer Kram, nichts Sensationelles, nichts Neues.«

»Für ein Referat in Biologie brauchst du nichts Sensationelles«, meinte Pünktchen. »Nimm dein Biologiebuch zur Hand, suche irgendein Kapitel heraus, mache davon einen Auszug und lerne ihn auswendig, damit du ihn dann nur noch herunterzuratschen brauchst. So machen es doch alle.«

»Aber ich nicht. Ich will, daß mir die anderen zuhören«, sagte Nick.

»Du bist zu ehrgeizig!«

Pünktchen lachte.

»Wenn du in keinem dieser Wälzer etwas gefunden hast, ist dir nicht zu helfen.«

»In meiner Klasse haben wir einen Jungen, dessen Bruder ist Naturwissenschaftler, Botaniker«, meldete Vicky sich zu Wort. »Unlängst ist ein Buch von ihm erschienen. Über Pflanzen in der Sahara. Herwig – so heißt der Junge – hat es in die Schule mitgebracht. Wir haben die Photos, die darin waren, sehr bewundert. Vielleicht borgt Herwig dir das Buch. Dann hättest du etwas Neues.«

»Hm – außergewöhnlich wäre es«, überlegte Nick.

»Ich werde Herwig Rupp gleich morgen fragen, ob er dir das Buch borgt«, versprach Vicky.

*

Am nächsten Tag, in der großen Pause, drängte sich Vicky im Schulhof des Maibacher Gymnasiums an eine Gruppe älterer Schüler heran, unter denen sich Nick befand. Im Schlepptau hatte sie einen hübschen, blonden, aufgeweckt aussehenden Buben. »He, Nick, das ist Herwig Rupp«, verkündete sie. »Er geht mit mir in die erste Klasse.«

Herwigs graublaue Augen musterten Nick interessiert, aber etwas schüchtern. Gegen den Sechzehnjährigen kam er sich klein und unbedeutend vor. Er hatte eigentlich nicht mit Vicky mitkommen wollen, aber das Mädchen hatte keine Einwände gelten lassen. »Nick ist sehr nett, auch zu Jüngeren«, hatte Vicky erklärt. »Ihm gehört nämlich Sophienlust, das Kinderheim, in dem meine Schwester Angelika und ich wohnen. Nick selbst wohnt mit seiner Mutter, seinem Stiefvater und seinem Halbbruder Henrik auf Gut Schoeneich – das liegt gleich neben Sophienlust.«

»Es freut mich, dich kennenzulernen, Herwig«, sagte Nick. Da Vicky es unterlassen hatte, seinen vollen Namen zu sagen, stellte er sich selbst vor: »Dominik von Wellentin-Schoenecker.«

Herwig riß Mund und Augen auf.

»Aber alle nennen mich Nick«, fügte der ältere Junge rasch hinzu.

»Gehört dir wirklich ein ganzes Kinderheim?« fragte Herwig.

»Ja.«

»Und du kannst über die Kinder, die dort wohnen, bestimmen? Müssen sie immer alles tun, was du ihnen befiehlst?«

»O nein«, entgegnete Nick lachend. »Verwaltet wird Sophienlust von meiner Mutter. Außerdem haben wir noch eine Heimleiterin, Frau Rennert, und eine Kinderschwester. Denen sollen die Kinder gehorchen – was sie allerdings nicht immer tun«, fügte er mit einem Seitenblick auf Vicky hinzu.

»Warum siehst du mich an?« rief das Mädchen prompt. »Ich bin meistens brav.«

»Ja, meistens«, bestätigte Nick.

»Vicky hat mir erzählt, daß du in Biologie ein Referat über ein Buch von meinem Bruder halten willst«, sagte Herwig. »Ich borge es dir gern. Möchtest du es heute nach der Schule holen? Begleitet ihr mich nach Hause? Ich wohne nicht weit weg.«

»Aber wird dein Bruder einverstanden sein? Du hast ihn ja noch nicht gefragt«, gab Nick zu bedenken.

»Ich kann ihn nicht fragen. Er ist wieder einmal verreist.« Aus Herwigs Stimme war deutliches Bedauern herauszuhören.

»Dann mußt du deine Eltern fragen«, meinte Nick.

»Ich habe keine Eltern mehr. Mama ist gestorben, als ich noch ein Baby war. Ich kann mich gar nicht an sie erinnern. Papa ist vor zwei Jahren gestorben.«

»Wie traurig für dich«, sagte Nick mitfühlend.

»Dafür habe ich einen großen Bruder. Mit Bertram verstehe ich mich sehr gut. Leider unternimmt er ständig irgendwelche Reisen. Eine Schwester habe ich auch. Elvira…« Herwig wurde vom Schrillen der Schulklingel unterbrochen. Die jüngeren Kinder stoben eifrig in ihre Klassenzimmer, die älteren folgten ihnen gemächlicher.

»Wann hast du aus, Nick?« erkundigte sich Herwig hastig.

»Um eins.«

»Wir auch. Treffen wir uns vor dem Schultor?«

»Bist du sicher, daß du mir das Buch borgen darfst?« fragte Nick.

»O ja, ganz sicher.«

»Also, dann um eins«, sagte Nick abschließend. Während der nächsten Unterrichtsstunde war er mit seinen Gedanken noch halb bei Herwig. Der Junge gefiel ihm. Er machte einen so frischen und natürlichen Eindruck.

Da sich das Kinderheim Sophienlust nicht in der Kreisstadt Maibach, sondern in dem einige Kilometer davon entfernten Ort Wildmoos befand, wurden die Kinder, die das Gymnasium besuchten, jeden Tag mit einem eigenen Bus nach Maibach gebracht und wieder abgeholt. Nick beschloß, an diesem Tag auf die gemeinsame Heimfahrt zu verzichten und später mit dem öffentlichen Bus nach Wildmoos zu fahren.

Als die letzte Schulstunde zu Ende war, teilte Nick diesen Entschluß Pünktchen mit. »Bitte, entschuldige mich bei Hermann«, sagte er. »Der Chauffeur soll nicht auf mich warten. Ich hole mir nämlich von Herwig Rupp das Buch, das Vicky gestern erwähnt hat.«

»Sag doch Irmela, daß sie es Hermann ausrichten soll. Ich möchte mitkommen«, erwiderte Pünktchen.

»Ich auch«, bettelte Vicky. »Ich habe dich mit Herwig bekannt gemacht.«

»Na, hört einmal, wir können doch nicht zu dritt…«, begann Nick, wurde aber von Herwig, der zusammen mit Vicky das Schulgebäude verlassen hatte, unterbrochen.

»Bitte, kommt alle drei mit«, sagte der Zehnjährige. »Ich werde euch Bilder von Bertram und sein Arbeitszimmer zeigen.« Offenbar genoß der abwesende Bertram Rupp die Verehrung seines kleinen Bruders.

Nick gab den Bitten nach, während Irmela zusagte, seine, Pünktchens und Vickys Abwesenheit bei der Heimfahrt zu erklären.

Die vier Kinder machten sich auf den Weg. Nachdem sie um einige Ecken gebogen waren, kamen sie in eine stille Straße mit Alleebäumen und gepflegten Vorgärten, hinter denen schöne Villen lagen.

»Hier wohne ich«, sagte Herwig und blieb vor einem verschnörkelten Gittertor stehen.

»Oh!« Pünktchen und Vicky bestaunten beeindruckt die weißverputzte Jugendstilvilla mit den goldglänzenden Ornamenten über den großen Fenstern. Ziersträucher säumten den Kiesweg, der zur Eingangstür führte.

Inzwischen hatte Herwig einen Schlüssel aus der Tasche gezogen und die Haustür aufgesperrt. »Kommt herein«, forderte er seine drei Begleiter auf, die ihm zögernd folgten. Sie betraten eine geräumige Diele und vertauschten die warme Helligkeit des Frühlingstages mit einem kühlen, dämmrigen Halbdunkel.

»Hier ist es so still«, bemerkte Pünktchen und dämpfte unwillkürlich ihre Stimme. »Ist niemand zu Hause?«

»Doch, meine Schwester ist bestimmt zu Hause. Frau Köhler, unsere Putzfrau, wird wahrscheinlich schon gegangen sein. Elvira! Elvira – bist du da?« rief Herwig und schaltete gleichzeitig die Deckenbeleuchtung ein.

Die beiden Mädchen sahen sich anerkennend um. Ihnen gefiel, angefangen vom spiegelnden Marmorboden bis zu den lilienähnlich geformten Alabasterlampen, alles, was sie sahen. Nick war dieser Pracht gegenüber eher gleichgültig. Er kam sich wie ein unwillkommener Eindringling vor. Und als sich eine der zahlreichen Türen öffnete und eine schlanke kleine Frau erschien, verstärkte sich dieses Gefühl noch.

Die Frau blickte Herwig fragend an, und der Bub sagte schnell: »Das sind Nick – Dominik von Wellentin-Schoenecker – Vicky Langenbach und Pünktchen – äh –«

»Angelina Dommin«, sagte Pünktchen, obwohl sie nicht den Eindruck hatte, daß die Frau an ihrem Namen interessiert sei.

»Meine Schwester Elvira«, vollendete Herwig die Vorstellung.

»Es freut mich, daß du Spielkameraden mitgebracht hast«, sagte Elvira Rupp in einem sanften, gleichmäßigen Tonfall, der Nick irgendwie gekünstelt vorkam. Sie redet mit Herwig, als ob er nicht ganz zurechnungsfähig sei, fuhr es ihm durch den Sinn.

»Wir sind eigentlich keine Spielkameraden Frau Rupp«, äußerte Nick höflich. Komisch, wieso hat Herwig eine so alte Schwester.

Sie könnte eher seine Mutter sein. Nein, das war erst recht falsch. Nichts an der Frau wirkte mütterlich, aber alles an ihr war unauffällig. Die Kleidung, das unscheinbare Braun ihrer Haare, die regelmäßigen, aber trotzdem nicht harmonischen Gesichtszüge – nur der Blick ihrer graubraunen Augen war eigentümlich scharf und durchdringend.

»Schade. Herwig hat beklagenswert wenig Freunde, die ihn besuchen und mit ihm spielen«, stellte Elvira fest. »Sie hatte diese Bemerkung mit ruhiger Freundlichkeit vorgebracht, aber Nick vermeinte Zwischentöne herauszuhören, die ihn irritierten.

»Ich möchte Nick Bertrams letztes Buch borgen. Das über die Pflanzen in der Sahara«, sagte Herwig. »Du hast doch nichts dagegen? Ich borge ihm das Exemplar, das Bertram mir geschenkt hat und das ich schon in der Schule hergezeigt habe. Nick möchte in Biologie ein Referat darüber halten.«

»Warum sollte ich etwas dagegen haben? Du kannst über die Sachen, die dir gehören, frei verfügen. Ich rate dir nur, dafür zu sorgen, daß du sie auch zurückbekommst. Und nun lauf auf dein Zimmer und hole das Buch. Laß den Jungen und die beiden Mädchen nicht so lange hier herumstehen und warten.«

»Ach – eigentlich wollte ich ihnen Bertrams Zimmer zeigen und die Fotos, die Bertram in der Sahara gemacht hat und die nicht in dem Buch abgebildet sind«, rief Herwig.

»Nun ja – meinetwegen. Aber bevor ihr hinaufgeht, solltet ihr euch alle gründlich die Schuhe putzen. Du weißt, Frau Köhler ist in dieser Beziehung sehr heikel. Sie klagt, daß die Böden und Treppen so schwer sauberzuhalten sind.«

Wortlos gingen die vier Kinder zu der Fußmatte, die bei der Eingangstür lag, und streiften die Schuhe ab. Elvira beobachtete sie dabei und sah ihnen auch nach, als sie über die Treppe in den ersten Stock hinaufstiegen. Nick glaubte ihren intensiven Blick noch im Rücken zu spüren, als die Kinder sich bereits in Dr. Bertram Rupps Arbeitszimmer befanden und Herwig eifrig Berge von Fotos hervorholte.

Herwig zuliebe bewunderte Nick diese Bilder, aber seine Gedanken waren nicht ganz bei der Sache. Erst einem Foto, auf dem Bertram zusammen mit Herwig aufgenommen war, schenkte er seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Warum schaust du dir ausgerechnet dieses Bild so genau an?« fragte Herwig. »Das ist doch bloß ein Stück von unserem Garten, Bertram und ich. Natascha hat es im vorigen Sommer aufgenommen.«

»Natascha?«

»Bertrams Sekretärin. Früher war sie seine Sekretärin. Jetzt nicht mehr. Sie ist nach Stuttgart gezogen. Das hat mir leid getan. Sie war so nett und lustig – und jetzt ist Bertram auch wieder weg. Manchmal freut mich gar nichts mehr. Ich langweile mich schrecklich.«

»Stimmt das, was deine Schwester gesagt hat? Daß du keine Spielgefährten hast?« erkundigte sich Pünktchen.

Herwig nickte bekümmert. »Das Komische ist – ich kenne einige Buben, die in der Nähe wohnen«, erzählte er. »Wenn Bertram da ist, besuchen sie mich und fordern mich auf, zu ihnen zu kommen. Aber kaum ist Bertram weg, kümmern sie sich nicht mehr um mich und wollen nicht mehr kommen. Ich glaube, sie kommen nur wegen Bertram, aber eigentlich… Ich weiß nicht. Bertram hat ja gar nicht viel mit ihnen geredet. Ich verstehe das nicht. Wenn ich Robert, Christian und Stefan frage, warum sie mich nicht mehr besuchen, stottern sie nur herum und geben mir keine ordentliche Antwort«, klagte er ratlos.

»Hm«, brummte Nick. »Ich werde Mutti bitten, daß du zu uns nach Sophienlust kommen darfst, wenn du dich langweilst. Sollte deine Schwester Elvira es dir verbieten, wird Mutti sicher imstande sein, sie zu überreden.« Nach dieser optimistischen Prognose vertiefte sich Nick erneut in die Betrachtung von Dr. Bertram Rupps Gesichtszügen. »Du siehst deinem Bruder ähnlich, Herwig«, stellte er fest. »Stärker als deiner Schwester. Ihr gleichst du kaum.«

»Elvira ist ja auch nur meine Halbschwester«, sagte der Bub. »Papa hat sich von ihrer Mutter scheiden lassen und meine Mama geheiratet. Das ist aber schon schrecklich lange her.«

»Aha, das erklärt den großen Al­ters­unterschied«, meinte Nick.

»Aber dein Bruder – der scheint doch auch wesentlich älter zu sein als du«, sagte Pünktchen, die sich ebenfalls über das Farbfoto gebeugt hatte.

»Bertram ist sechsundzwanzig Jahre älter als ich. Er ist dreiunddreißig«, erläuterte Herwig.

»Ach, dann ist er also ebenfalls dein Halbbruder«, schloß Pünktchen.

»Nein.«

Herwigs aufgeschlossene und heitere Miene verdüsterte sich.

»Elvira sagt manchmal, daß ich schuld sei an Mamas Tod«, schüttete er sein Herz aus. »Sie wäre zu alt gewesen, um noch ein Baby zu haben. Bertram sagt so etwas nie. Dabei hat er Mama wirklich gern gehabt. Elvira nicht. Ich meine – Elvira hat meine Mutter bestimmt nicht leiden können. Sie sagt häßliche Dinge über sie, aber nur, wenn Bertram nicht da ist. Sie behauptet, daß Papa unsere Mama nur geheiratet habe, weil sie sehr reich war, und daß sie ihn mit ihrem Geld eingefangen habe. Als Papa noch lebte, hat sie sich nie getraut, solche Sachen über Mama zu sagen, aber seit Papa tot ist und Bertram ständig weite Reisen macht…« Herwig hielt inne und stieß einen langen Seufzer aus.

Nick und Pünktchen tauschten einen nachdenklichen Blick, während Vicky impulsiv ausrief:

»Deine Schwester ist gar nicht nett! Mußt du denn bei ihr wohnen?«

»Natürlich«, erwiderte Herwig verwundert. »Außer Elvira und Bertram habe ich niemanden mehr. Aber es wäre mir lieber, wenn Elvira verreisen und Bertram zu Hause bleiben würde.«

»Das kann ich dir nachfühlen«, sagte Nick. »Was hat deine Schwester übrigens für einen Beruf?«

»Beruf?«

»Ja. Was und wo arbeitet sie?«

»Na sie…, sie gibt Frau Köhler Anweisungen, wo aufgeräumt werden muß, sie paßt auf, daß der Gärtner seine Arbeiten ordentlich macht, und sie geht einkaufen und kocht«, schilderte Herwig die Tätigkeiten seiner Halbschwester.

»Sie führt also den Haushalt«, meinte Pünktchen.

»Ja«, bestätigte Herwig. »Möchtet ihr noch mehr Bilder sehen? Oder vielleicht einen Film?«

»Nein, Herwig. Es ist spät genug geworden. Ein anderes Mal gern«, sagte Nick freundlich. »Borgst du mir also das Buch? Nächste Woche bekommst du es bestimmt zurück. Du brauchst nicht zu befürchten, daß ich es dir nicht mehr zurückgebe.«

Herwig wurde rot und stotterte: »Ich be… befürchte das doch nicht. Elvira… Ich weiß nicht, warum sie das vorhin gesagt hat. Es ist ihr doch ganz egal, was mit dem Buch passiert. Kommt, ich habe es in meinem Zimmer.«

Nachdem Herwig den Stoff für das Biologiereferat an Nick ausgehändigt hatte, begleitete er Nick und die beiden Mädchen bis zum Gartentor. Vicky sah sich um, entdeckte Elvira aber nirgends.

Nach einem hastigen Abschied eilten Nick, Pünktchen und Vicky im Laufschritt zur nächstgelegenen Bushaltestelle, denn es war bereits ziemlich spät geworden. Zufällig kam gerade ein Bus nach Wildmoos. Die drei stiegen ein und ließen sich keuchend auf der letzten Sitzreihe nieder.

»Was haltet ihr von diesen Leuten?« fragte Pünktchen, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war.

Pünktchen brauchte nicht zu erklären, was für Leute sie meinte. Vicky erwiderte prompt: »Herwigs Halbschwester ist gemein. Sie tut es absichtlich. Ich meine, sie…, sie…«

»Ich weiß, was du meinst, obwohl auch ich es nicht präzise ausdrücken kann«, sagte Nick. »Ich habe das Gefühl, daß sie sich Mühe gibt, dem Buben das Leben möglichst schwer zu machen. Herwig wundert sich, wieso seine Spielkameraden ihn meiden, aber ich kann mir den Grund lebhaft vorstellen.«

»Seine Schwester wird ihnen gegenüber ähnliche Bemerkungen fallengelassen haben wie bei uns. Sie wird sie angesehen haben, als seien sie lästige Insekten, sie wird ihnen befohlen haben, sich die Schuhe abzuwischen, sie wird angedeutet haben, daß sie Herwigs Sachen verschleppen und nicht mehr zurückbringen – wer weiß was sie noch alles auf ihrem Repertoire hat, um Herwig von seinen Altersgenossen zu isolieren«, meinte Pünktchen.

»Aber warum tut sie das?« fragte Vicky. »Herwig ist doch nicht unfolgsam oder schlimm. Er ist nett und lustig und sehr hilfsbereit.«

»Hm, möglicherweise…« Nick stockte und schwieg dann.

»Was ist möglicherweise?« drängte Vicky.

»Die Mutter«, äußerte Pünktchen langsam. »Herwig hat uns doch erzählt, daß sie schlecht über ihre Stiefmutter spricht, aber nur zu Herwig. Das bedeutet entweder, daß sie ihn damit quälen will, oder daß sie ihn wegen seiner Mutter haßt. Vielleicht trifft beides zu. Wenn mein Vater meine Mutter verlassen und eine andere Frau geheiratet hätte…« Pünktchen ließ das Ende des Satzes in der Luft schweben und begann geistesabwesend an ihrem Daumennagel zu kauen.

»Dann würdest du deinen hilflosen kleinen Bruder, der doch an der Handlungsweise seiner Eltern vollkommen unschuldig ist, quälen?« erkundigte sich Nick.

»Nein! Selbstverständlich würde ich das nicht tun.«