Stiefkind des Schicksals - Patricia Vandenberg - E-Book

Stiefkind des Schicksals E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Etwas verloren stand die kleine Heidi unter den eifrig diskutierenden Schulkindern. Sie schaute hoch und versuchte sich vergeblich vorzustellen, um was es eigentlich ging. Für die großen Buben und Mädchen schien die Sache sehr wichtig zu sein, denn sie schrien lautstark durcheinander. Heidi hätte hinübergehen können, um mit Barri, dem gutmütigen Bernhardiner, zu spielen, der faul in der Sonne döste. Gleich neben ihm stand ihr Puppenwagen. Doch das kleine Mädchen, das noch nicht zur Schule ging, hatte seine Puppenkinder im Stich gelassen, um sich den älteren Kameraden anzuschließen. Und nun mußte es feststellen, daß es überhaupt nicht beachtet wurde. »Ich will auch mit«, versuchte Heidi sich bemerkbar zu machen. Umsonst. Nick und Irmela, die beiden Ältesten in der Runde, erzählten gerade etwas von einem eigenen Stand, von einer Kasse und Einnahmen, die sie sich erhofften. »Die Klasse, die den höchsten Erlös hat, bekommt ein öffentliches Lob und einen Preis«, erklärte Nick jetzt. »Das sind bestimmt die Kleinen. Ihnen kaufen die Leute viel lieber etwas ab, weil sie so unschuldig dreinschauen können.« Irmela versuchte diesen Blick nachzuahmen, was aber absolut lächerlich wirkte. Denn Irmela besuchte bereits die Oberstufe des Gymnasiums und war schon fast eine junge Dame. »Es kommt ganz darauf an, was wir bieten«, meinte Nick. »Wir müssen alte Sachen bringen, die sonst nirgends mehr aufzutreiben sind.«

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Sophienlust – 272 –

Stiefkind des Schicksals

Warum ist Vati so böse?

Patricia Vandenberg

Etwas verloren stand die kleine Heidi unter den eifrig diskutierenden Schulkindern. Sie schaute hoch und versuchte sich vergeblich vorzustellen, um was es eigentlich ging. Für die großen Buben und Mädchen schien die Sache sehr wichtig zu sein, denn sie schrien lautstark durcheinander.

Heidi hätte hinübergehen können, um mit Barri, dem gutmütigen Bernhardiner, zu spielen, der faul in der Sonne döste. Gleich neben ihm stand ihr Puppenwagen. Doch das kleine Mädchen, das noch nicht zur Schule ging, hatte seine Puppenkinder im Stich gelassen, um sich den älteren Kameraden anzuschließen. Und nun mußte es feststellen, daß es überhaupt nicht beachtet wurde.

»Ich will auch mit«, versuchte Heidi sich bemerkbar zu machen. Umsonst. Nick und Irmela, die beiden Ältesten in der Runde, erzählten gerade etwas von einem eigenen Stand, von einer Kasse und Einnahmen, die sie sich erhofften.

»Die Klasse, die den höchsten Erlös hat, bekommt ein öffentliches Lob und einen Preis«, erklärte Nick jetzt.

»Das sind bestimmt die Kleinen. Ihnen kaufen die Leute viel lieber etwas ab, weil sie so unschuldig dreinschauen können.« Irmela versuchte diesen Blick nachzuahmen, was aber absolut lächerlich wirkte. Denn Irmela besuchte bereits die Oberstufe des Gymnasiums und war schon fast eine junge Dame.

»Es kommt ganz darauf an, was wir bieten«, meinte Nick. »Wir müssen alte Sachen bringen, die sonst nirgends mehr aufzutreiben sind.«

»Darf ich mit zum Flohmarkt?« wiederholte Heidi energisch ihre Forderung. Das letzte Wort hatte sie von den Großen aufgeschnappt, wußte aber nicht viel damit anzufangen. Um ihrer Bitte Nachdruck zu verleihen, zog sie an der Karobluse, die Irmela lose über den Jeans trug.

»Was willst du denn dort?« Etwas mitleidig betrachtete die Gymnasiastin das Kind.

Heidis blonde Zöpfchen, die zu beiden Seiten ihres Kopfes abstanden, wippten. Die blauen Kinderaugen strahlten. »Flöhe kaufen«, antwortete die Kleine laut und deutlich.

Schallendes Gelächter bei den Großen. Fabian schlug sich vor Vergnügen auf die nackten Oberschenkel. »Das ist ein Witz«, prustete er.

Verständnislos schaute Heidi in die Runde. Es war ihr klar, daß sie wieder einmal etwas Dummes gesagt hatte, aber sie konnte sich nicht erklären, was es war.

Pünktchen, das Mädchen mit den vielen lustigen Sommersprossen auf der Stupsnase, das eigentlich Angelina hieß, beugte sich zu Heidi hinab. Kameradschaftlich legte sie den Arm um die Kleine und erklärte: »Auf einem Flohmarkt kauft man keine Flöhe, sondern alte, gebrauchte Sachen. Das Gymnasium in Maibach veranstaltet am Wochenende einen solchen Flohmarkt. Alle Klassen dürfen mitmachen. Die Stände werden in der Pausenhalle und im Schulhof aufgestellt.«

»Und keine Flöhe?« Heidi war etwas enttäuscht. Altes Geschirr, Lampen und Bücher interessierten sie viel weniger als Tiere.

»Nein. Höchstens alte Vogelkäfige und Mausefallen.«

»Verkaufst du Mausefallen?« Zweifelnd schaute Heidi ihrer großen Freundin ins Gesicht.

»Die Mädchen aus unserer Klasse backen Waffeln und bieten Getränke an.«

»Bringst du mir auch etwas mit?« nuschelte Heidi. Für sie war der Flohmarkt, für den sich die Großen so begeistern konnten, nun lange nicht mehr so interessant.

»Na klar«, tröstete Pünktchen die Kleine.

»Wenn wir bloß noch mehr alte Sachen hätten«, stöhnte Nick. »Nun haben wir schon sämtliche Speicher durchstöbert, aber die Auswahl ist immer noch ziemlich kläglich.« Der große Junge mit den intelligenten dunklen Augen pustete sich eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn.

»Ich weiß, wo man genug alte Sachen findet«, meldete sich jetzt Henrik, der bisher nur zugehört hatte, zu Wort.

»Sag’ es schon!« Vicky, die neben Nicks Halbbruder stand, stieß den Jüngeren ungeduldig in die Seite.

»Beim Sperrmüll. Diese Woche ist in Maibach welcher.«

»Puuuh«, ertönte es von allen Seiten.

Henrik zog erschrocken die Schultern hoch und hielt sich die Ohren zu.

»Tante Isi würde doch nie erlauben, daß wir den Abfall fremder Leute durchsuchen«, empörte sich Angelika, Vickys ältere Schwester. Die Langenbach-Geschwister hatten durch ein Lawinenunglück die Eltern verloren und in Sophienlust eine neue Heimat gefunden. Genau wie viele andere Waisenkinder fühlten sie sich sehr wohl hier.

»So dumm ist die Idee gar nicht«, verteidigte Nick den Jüngeren. »Beim Sperrmüll sind oft noch tadellos erhaltene Sachen, die manche Leute nur deshalb auf die Straße stellen, weil sie keinen Platz mehr dafür haben, oder weil ihnen die Sachen nicht mehr passen.«

Alles, was Nick sagte, fand unter den Kindern stets besondere Beachtung. Einmal war er der älteste und somit erfahrenste Junge von allen und zum anderen war er der künftige Erbe des schloßartigen Besitzes von Sophienlust.

Seine Urgroßmutter hatte ihm das ehemalige Gut hinterlassen. Sie war gestorben, als Nick noch ein kleiner Junge gewesen war. Nach ihren Vorstellungen hatte Nicks Mutter, Denise von Schoenecker, das Kinderheim Sophienlust gegründet und leitete es seitdem für ihren Sohn. Seit vielen Jahren hatte sich diese private Einrichtung hervorragend bewährt. Vielen Waisenkindern hatte Sophienlust schon Trost und Hilfe gegeben, viele Kinder aus zerrütteten Familien hatten Liebe und Geborgenheit in Sophienlust gefunden.

»Tante Isi wird nichts dagegen haben, weil wir die alten Sachen ja nicht für uns, sondern für die Schule suchen«, pflichtete Pünktchen Nick bei. Sie war stets auf der Seite des hübschen Jungen und bewunderte ihn sehr.

Heimlich wünschte sie sich, daß Nick mehr in ihr sehen möge als nur das kleine, hilfsbedürftige Mädchen. Pünktchen wollte Nick gefallen und bedauerte nur, daß sie noch immer so kindlichen aussah. Das Erwachsenwerden ging ihr viel zu langsam.

»Und die Schule stiftet das Geld, das wir durch den Flohmarkt erhalten, für das neue Altenheim«, ergänzte Fabian wichtig.

Heidi wurde die Unterhaltung jetzt zu langweilig. Sie zog einen Schmollmund und trottete mit gesenktem Köpfchen hinüber zu ihrem Puppenwagen.

Barri blinzelte schläfrig in die Sonne und gähnte ausgiebig. Doch sein weit aufgerissener Rachen mit den starken Zähnen konnte Heidi nicht schrecken. Rasch ließ sie sich neben dem Bernhardiner auf dem Rasen nieder und legte beide Ärmchen um den Hals des zottigen Spielkameraden. »Wir beide können nie mitreden, Barri. Nur, weil wir noch nicht zur Schule gehen«, klagte Heidi dem Bernhardiner ihr Leid.

Barri ließ ein behagliches Knurren hören.

»Ich weiß, dir macht das nichts aus. Aber mir.« Heidi patschte mit der rechten Hand auf Barris wuchtigen Kopf. »Wenn ich groß bin und zur Schule gehe, mache ich auch einen Flohmarkt. Aber mit richtigen Flöhen und nicht mit alten Sachen.«

*

Irmela mußte kräftig in die Pedale treten, um mit ihrem Fahrrad neben Nick zu bleiben. Da sich zwischen Bachenau und Maibach ein breiter Radweg neben der Straße befand, konnten die beiden nebeneinander fahren.

»Ich finde es dufte von deiner Mutti, daß sie uns erlaubt hat, in Maibach beim Sperrmüll nach alten Sachen zu suchen«, erklärte Irmela.

»Mutti ist überhaupt okay«, brummte Nick mit unüberhörbarem Stolz. Er liebte seine hübsche Mama innig, obwohl er es ihr in der letzten Zeit nicht mehr so offen zeigte. Denn er war in dem Alter, in dem aus übermütigen Lausbuben junge Männer wurden. Und in diesem Übergangsstadium hielten Jungen es eher mit der rauhen Herzlichkeit. In Nicks Klasse gab es welche, die bereits eine Freundin hatten. Doch davon wollte der künftige Erbe von Sophienlust nichts wissen. Noch fühlte er sich für fröhliche Kinderspiele nicht zu groß, noch war er jener unbesorgte Lausbub, der alle Herzen im Sturm gewann.

»Ja. So wie sie möchte ich auch einmal werden«, schwärmte Irmela. »So klug und charmant, so lieb und hilfsbereit.« Wie alle anderen Schützlinge von Sophienlust, so hing auch Irmela mit schwärmerischer Zärtlichkeit an der mütterlichen Frau, die sie alle »Tante Isi« nennen durften.

Obwohl es eine Heimleiterin und eine geschulte Kinderschwester im Kinderheim gab, war Nicks Mutter die Seele von Sophienlust. Sie verstand es, traurige Buben und Mädchen zu trösten, verzagten Kindern Mut und Selbstvertrauen zu geben. Vor Tante Isi hatten die Kinder keine Geheimnisse. Mit ihr konnten sie über alles sprechen. Auch Irmela hatte schon oft die Güte dieser Frau erfahren. Und deshalb hing sie mit rührender Dankbarkeit an ihr.

»Wir sind gleich da.« Irmela deutete hinüber zu den Hochhäusern am Stadtrand.

»Fangen wir dort an?«

»Nein. Wir überlassen diesen Bezirk Fabian und Vicky und übernehmen die Altstadt.«

»Aber dort wohnen nicht so viele Leute«, gab Irmela zu bedenken.

»Dafür gibt es mehr Geschäfte.« Nick fuhr jetzt noch schneller. Er befürchtete wohl, daß ihnen jemand zuvorkommen könnte.

Der Radweg war zu Ende, Irmela mußte sich hinter Nick halten. Durch die Anstrengung ging ihr Atem immer rascher. Ihr Kopf war heiß und rot. Das blieb auch noch so, als die beiden Schüler die Kartons durchsuchten, die die Bewohner der Altstadt auf die Straße gestellt hatten.

Freiwillig ging Irmela in die Häuser und bat dort um die Erlaubnis, die Sachen mitnehmen zu dürfen. Zuerst war ihr das sehr peinlich, doch dann wurde sie immer mutiger. Eine Menge Dinge kamen zusammen. Neben alten Haushaltsgegenständen fanden sie altmodische Radios, unmoderne Skiausrüstungen und kitschige Bilder.

Nick hatte alle Hände voll zu tun, die oft recht sperrigen Sachen in einen Abstellraum des Gymnasiums zu transportieren. Da es heiß war, schwitzte er beachtlich.

Zwei Stunden später waren Nick und Irmela kaum wiederzuerkennen. Ihre Gesichter und Hände waren schmutzig, ihre Kleider wiesen Rußspuren auf, ihre Haare waren zerzaust.

»Die Ausbeute ist besser, als ich je gedacht hätte«, keuchte Nick und verlud gerade eine alte Lampe auf sein Fahrrad. Das Messinggestell war noch tadellos, nur der Lampenschirm war verblichen und brüchig.

»Man braucht nur ein Stückchen Vorhangstoff für den Schirm, und schon hat man eine neue Lampe.« Irmela wickelte das Kabel um die Hand und band es zusammen.

»Du, wir haben am Samstag bestimmt den besten Stand.« Nick strahlte in der Vorfreude. »Das bedeutet die meisten Einnahmen für unsere Klasse.« Er rieb sich die Hände.

»Für meine Klasse«, widersprach Irmela ihm.

»Ach du liebe Zeit, wir müssen ja teilen. Zu dumm, daß du in eine andere Klasse gehst.« Nick verzog das Gesicht.

»Das finde ich nicht. Es ist mir ganz recht, daß du es nicht hörst, wenn ich mich in Mathe blamiere.«

»Mensch, es macht doch jeder einmal Mist«, erklärte Nick burschikos.

»Reden wir lieber nicht von der Penne.« Irmela schüttelte sich. »Was ist mit den Kartons da drüben?«

»Die werden wir gleich untersuchen.« Nick lief bereits quer über den breiten Bürgersteig.

Irmela folgte ihm. »Aber wen soll ich hier denn fragen? Das Haus ist gar nicht mehr bewohnt.« Besorgt schaute Irmela an der grauen, rissigen Fassade des abbruchreifen Hauses empor. Die Fensterscheiben waren schmutzig, zum Teil auch zerbrochen.

»Keine Ahnung.« Nick öffnete den ersten Karton. Es war nur Verpackungsmaterial darin. Plastiktüten, Wellpappe, Zeitungspapier. Der zweite Karton enthielt Holzwolle und Sägemehl. »Das ist ohnehin nichts«, brummte der Junge. Den letzten Karton wollte er eigentlich gar nicht öffnen, doch dann stutzte er.

»Schau einmal hierher!«

Irmela beugte sich über die umfangreiche Schachtel. »Spieltiere«, murmelte sie erstaunt. »Sie sehen noch sehr gut erhalten aus. Fast wie neu.«

Nick hatte inzwischen eines der Plüschtiere aus dem Karton genommen, das aus zweifarbigem Teddystoff gearbeitet war.

»Ein Hase. Niedlich!« Irmela nahm Nick das Stofftier ab und untersuchte es von allen Seiten. »Er ist überhaupt nicht kaputt.«

»Vielleicht hat er einem sehr lieben Kind gehört.« Nick durchwühlte den Karton und förderte mindestens zwanzig ähnliche Tiere zutage.

»Es mag ja Kinder geben, die sehr vorsichtig mit ihren Spielsachen umgehen, aber kein Kind bekommt so viele gleichartige Stofftiere.«

»Hm! Vielleicht hat hier einmal jemand gewohnt, der solche Stofftiere hergestellt hat. Schau einmal, besonders gut sind sie nicht verarbeitet.« Nick zeigte auf lange Stiche zwischen dem Fell.

»Wer so etwas herstellt, will es doch wohl verkaufen. Zumindest nimmt er es mit, wenn er auszieht.« Bedächtig wiegte Irmela den Kopf hin und her. Immer wieder schaute sie den Passanten nach, als erwarte sie von ihnen Aufklärung. Doch niemand kümmerte sich um die beiden Schüler.

»Vielleicht hat er sie vergessen, oder er lebt gar nicht mehr.«

»Und wer hat die Kartons auf die Straße gestellt?«

»Weiß ich nicht«, brummte Nick. »Will ich auch gar nicht wissen. Wir nehmen jedenfalls diese Stofftiere mit.«

»Ich weiß nicht… Sie sehen gar nicht aus, als gehörten sie zum Sperrmüll. Sie sind nicht schmutzig, nicht alt und nicht kaputt.«

»Aber sie stehen hier. Und wenn die Leute von der Müllabfuhr kommen, laden sie den Karton bestimmt auf. Sie schauen doch überhaupt nicht hinein.« Entschlossen packte Nick die Stofftiere wieder in den Karton.

»Wir sollten zuerst fragen. Vielleicht ist es ein Irrtum.« Ängstlich schaute sich Irmela um.

»Schön. Dann klingele einmal am Nachbarhaus.«

»Das habe ich doch vorhin schon. Es macht niemand auf. Ich glaube, das Haus ist geräumt. Schau doch, alle Fensterläden sind zu.«

Nick war lange nicht so ängstlich wie Irmela. Er dachte bereits daran, daß ihnen die Stofftiere eine Menge Geld einbringen würden. Diejenige Klasse des Gymnasiums, die beim Flohmarkt den höchsten Erlös erzielte, würde für einige Tage mit zwei Lehrern in den Schwarzwald fahren dürfen. Wenn das kein Anreiz war… Nick hatte sich jedenfalls vorgenommen, so viel wie nur irgend möglich zur Erreichung dieses Zieles beizutragen.

»Wir könnten für jedes Stofftier mindestens fünf Mark verlangen«, überlegte der Junge halblaut.

»Und wenn sie jemandem gehö­ren?« warnte Irmela.

»Dann würden sie doch nicht hier auf der Straße beim Sperrmüll stehen.« Nick hob bereits den Karton hoch. »Komm’, hilf mir, die Lampe wieder abzuladen. Wir binden sie später obendrauf.«

Irmela rührte sich nicht. »Du, Nick, ich meine, wir sollten die Stofftiere hierlassen. Wir können doch nicht einfach…«

»Seit wann bist du so ängstlich? Wenn wir sie nicht mitnehmen, tut es ein anderer. Du wirst sehen, wir verkaufen sie ohne Schwierigkeiten. Es gibt bestimmt genug Eltern oder Omas, die ihren Kleinen damit eine Freude machen wollen. Im Laden kostet so ein Ding mindestens zwanzig Mark.« Nick mühte sich mit dem schweren Karton ab.

Erst jetzt half Irmela ihm. Sie tat es widerwillig, denn sie hatte das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit waren die obersten Grundsätze in Sophienlust. Waren sie nicht im Begriff, dagegen zu verstoßen?

Irmela blieb für den Rest des Nachmittages schweigsam. Sie war froh, als sie mit Nick nach Sophienlust zurückradeln konnte.

Nick war dagegen allerbester Laune.

*

Am schulfreien Samstag startete der rote Kleinbus mit der Aufschrift »Kinderheim Sophienlust« früher als gewöhnlich nach Maibach.

Im Hof und in der Pausenhalle des dortigen Gymnasiums herrschte bereits reges Treiben. Da wurden von den Schülern Verkaufsstände zusammengezimmert, da wurde mit Krepp-Papier und bunten Bändern improvisiert.

Aus Getränkekisten, die sie mit farbigen Kissen polsterten, bauten die Mädchen aus Pünktchens Klasse eine Cafeteria auf. Papierdecken wurden über die Schultische gebreitet, die ausgedienten Sonnenschirme einer Eisdiele spendeten Schatten.

Eine Schülerband sollte für Stimmung sorgen und übte jetzt ihre Stücke ein. Es klang schauderhaft, doch niemand störte sich daran. Alle waren mit sich selbst beschäftigt. Mit voller Absicht überließen die Lehrer des Gymnasiums den Schülern die gesamte Organisation. So hatte jeder Schüler seine Aufgabe, entwickelten sich erstaunliche schöpferische und organisatorische Talente.

Die Sache machte nicht nur den jüngeren, sondern auch den älteren Gymnasiasten großen Spaß. Jede Klasse versuchte die andere durch Ideenreichtum zu übertrumpfen.

Zur Mittagszeit glich das Schulgelände einem wahren Schlachtfeld. Da lagen Holzplatten, Kartons, Papier, Stoff, Werkzeug, Farb- und Leimtöpfe bunt durcheinander. Doch dann nahm der »Flohmarkt« langsam Gestalt an. Die Stände wurden geschmückt, die Waren ausgelegt, die kleinen Mädchen probierten ihre Waffelrezepte aus, und die Schulband einigte sich endlich auf die Melodien, die man spielen wollte.

Gemeinsam wurde aufgeräumt, wurden die Hinweisschilder am Gebäude angebracht.

Punkt zwei Uhr war die Eröffnung durch den Direktor.

Selbstverständlich waren viele Eltern gekommen, und sie zeigten sich nicht kleinlich. Sie kauften Dinge, für die sie eigentlich keine Verwendung hatten. Sie kauften sie, um den Freunden ihrer Kinder eine Freude zu machen und um eine gute Sache zu fördern.

Selbstverständlich waren auch Denise und Alexander von Schoenecker da. Wie ein junges Liebespaar bummelten sie Hand in Hand durch den farbenprächtigen Markt, auf dem ein unbeschreiblicher Lärm herrschte. Die Kinder versuchten sich nicht nur durch ihre Waren, sondern vor allem mit ihren Stimmen zu übertrumpfen. Die Schulband, die fleißig spielte, war in diesem Krach kaum noch zu hören.

Denise lobte die von Pünktchen gebackenen Waffeln, und Alexander trank eine Tasse Kaffee, obwohl ihm ein Glas Bier viel lieber gewesen wäre. Natürlich kaufte Denise auch ein und unterstützte so den Einsatz der Kinder für eine gute Sache.

Am Stand von Nick und Irmela, der einer der größten des Marktes war, erstand Denise jene alte Stehlampe, deren Schirm frisch bezogen werden mußte.

»Sie paßt ausgezeichnet in die Halle von Schoeneich«, versicherte Nick, obwohl er dessen gar nicht so sicher war. Gut Schoeneich, der Wohnsitz seiner Eltern, war ein großes, sehr geschmackvoll ausgestattetes Haus.

»Ich kann den Schirm neu beziehen«, erbot sich Irmela.

Dieses Angebot zog. Das Ehepaar von Schoenecker erstand das alte Stück zu einem ansehnlichen Preis.

Doch nicht nur Denise und Alexander, sondern auch die übrigen Bewohner und Freunde von Sophienlust kauften tüchtig ein.

Andrea von Lehn, Nicks große Stiefschwester, kam mit ihrem Mann und dem Söhnchen Peterle. Andrea, die selbst noch sehr jung und begeisterungsfähig war, machte die Veranstaltung des Gymnasiums viel Spaß. Spontan stellte sie sich neben Nick und Irmela hinter den Stand und half tatkräftig beim Verkauf.

Dr. Hans-Joachim von Lehn, der tüchtige junge Tierarzt, hatte viel Verständnis für seine temperamentvolle Andrea. Er setzte sich mit Peterle in die Cafeteria und wartete, bis Andrea ihre temperamentvolle Mitwirkung beendet hatte.

»Noch eine Stunde, und wir haben kaum noch etwas zu verkaufen«, seufzte Irmela, nachdem Andrea sich verabschiedet hatte.

»Dafür ist unsere Kasse randvoll«, gab Nick zufrieden zurück.

»Du, wir haben diese kleinen Stofftiere alle verkauft.« Irmela räumte den leeren Karton weg.