Er hätte so gern eine Mutter - Elisabeth Swoboda - E-Book

Er hätte so gern eine Mutter E-Book

Elisabeth Swoboda

5,0

Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Jammerschade, dass du nicht mitgekommen bist«, sagte Ferdinand Haberleitner bedauernd zu seiner Frau. »Die Aussicht war wunderbar. Man konnte bis tief ins Ennstal sehen. Der Aufstieg durch die Klamm war zwar etwas beschwerlich, aber die Mühe hat sich gelohnt. Ich bin beinahe geneigt, die Tour morgen zu wiederholen und euch beide mitzunehmen. Ich könnte Vanessa tragen. Die paar schwierigen Stellen werden wir schon irgendwie überwinden. Der Abstieg durch die Klamm dürfte weniger ratsam sein als der Höhenweg, den ich heute für den Rückweg gewählt hatte. Da gab es schon einige Passagen, bei denen mir einigermaßen schummrig zumute wurde. Der Weg war kaum handbreit. Links gab es nichts als Felsen, rechts hundert Meter tiefe Abgründe.« »Na, wenn man so jung ist wie Sie, machen einem solche Wagnisse noch Spaß«, meinte eine der beiden älteren Damen, die am Tisch des Ehepaares Haberleitner saßen. »Wir begnügen uns mit geruhsamen Spaziergängen durch den Wald. Nicht wahr, Gertrude?« Die andere Dame nickte zustimmend. Gisela Haberleitner, die sich im Gegensatz zu ihrem Mann meist schweigsam verhielt, sagte plötzlich: »Mir sind geruhsame Waldspaziergänge ebenfalls lieber. Ich denke nicht im Traum daran, morgen mit dir auf die Silberkarhütte zu gehen und Vanessa mitzuschleppen. Nach allem, was du uns eben erzählt hast, wäre das viel zu gefährlich.«

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Sophienlust – 287 –

Er hätte so gern eine Mutter

Geht Gustavs Wunsch in Erfüllung?

Elisabeth Swoboda

»Jammerschade, dass du nicht mitgekommen bist«, sagte Ferdinand Haberleitner bedauernd zu seiner Frau. »Die Aussicht war wunderbar. Man konnte bis tief ins Ennstal sehen. Der Aufstieg durch die Klamm war zwar etwas beschwerlich, aber die Mühe hat sich gelohnt. Ich bin beinahe geneigt, die Tour morgen zu wiederholen und euch beide mitzunehmen. Ich könnte Vanessa tragen. Die paar schwierigen Stellen werden wir schon irgendwie überwinden. Der Abstieg durch die Klamm dürfte weniger ratsam sein als der Höhenweg, den ich heute für den Rückweg gewählt hatte. Da gab es schon einige Passagen, bei denen mir einigermaßen schummrig zumute wurde. Der Weg war kaum handbreit. Links gab es nichts als Felsen, rechts hundert Meter tiefe Abgründe.«

»Na, wenn man so jung ist wie Sie, machen einem solche Wagnisse noch Spaß«, meinte eine der beiden älteren Damen, die am Tisch des Ehepaares Haberleitner saßen. »Wir begnügen uns mit geruhsamen Spaziergängen durch den Wald. Nicht wahr, Gertrude?«

Die andere Dame nickte zustimmend.

Gisela Haberleitner, die sich im Gegensatz zu ihrem Mann meist schweigsam verhielt, sagte plötzlich: »Mir sind geruhsame Waldspaziergänge ebenfalls lieber. Ich denke nicht im Traum daran, morgen mit dir auf die Silberkarhütte zu gehen und Vanessa mitzuschleppen. Nach allem, was du uns eben erzählt hast, wäre das viel zu gefährlich.«

»Na, gar so arg ist es auch wieder nicht«, brummte Ferdinand.

Einige der übrigen Pensionsgäste, die Herrn Haberleitners Ausführungen zwangsläufig mit angehört hatten, da seine Stimme bis in die hinterste Ecke der nicht sehr großen Gaststube gedrungen war, warfen einander vielsagende Blicke zu. »Dieser Angeber hat maßlos übertrieben«, sagte ein junger Mann halblaut zu seinem ihm gegenübersitzenden Freund. »Er tut so, als ob er heute den Himalaja bezwungen hätte.«

»Ach, lass ihn doch«, gab der andere junge Mann ebenso leise zurück. »Soll er in seinen Prahlereien schwelgen. Oder möchtest du das Wort ergreifen und lauthals verkünden, welche Gipfel wir heute erklommen haben?«

»Dazu bin ich ehrlich gesagt viel zu müde«, erwiderte Hermann, der Chauffeur von Sophienlust, lachend. »Was ist mit dir, Gustav?«, wandte er sich dann an den Sohn seines Freundes. »War die Strapaze für dich nicht doch zu groß? Kannst du überhaupt noch die Augen offenhalten?«

»Müde bin ich schon«, gab der elfjährige Junge zu. »Aber es hat mir gefallen. Ich freue mich, dass Ferien sind. Am liebsten würde ich immer hierbleiben und nie wieder nach Hause fahren.«

»Mir geht es genauso«, pflichtete sein Vater ihm bei.

»Und wie ist es mit dir, Onkel Hermann?«, forschte Gustav. »Möchtest du auch nie mehr nach Hause zurück?«

Einen Augenblick lang schwieg Hermann, dann riss er sich zusammen und sagte betont munter: »Also, ich verstehe dich nicht, Gustav. Wieso redest du jetzt schon vom Nach-Hause-Fahren? Wir haben noch vierzehn Tage Urlaub vor uns, die wir genießen werden. An das Ende des Urlaubs wollen wir jetzt noch nicht denken.«

»Aber nach vierzehn Tagen geht der Urlaub zu Ende«, beharrte der Junge. »Vati und du, ihr habt es gut. Ihr habt eure Arbeit. Aber ich muss zu Hause bleiben und kann nicht einmal in die Schule gehen, weil die erst wieder im Herbst beginnt. Vati wird tagelang unterwegs sein, und ich … Ich werde mich langweilen.« Gustavs Unterlippe zitterte, in seinen grauen Augen glitzerte es verdächtig. Beiden Männern war klar, dass der Junge nur mit Mühe die aufsteigenden Tränen unterdrückte.

»Du bist übermüdet, Gustav«, sagte Harald Grohe ein wenig unsicher. »Nach langen anstrengenden Fahrten geht es mir genauso. Da sieht man dann alles grau in grau. Vor fünf Minuten hast du dich noch gefreut, weil Ferien sind, weil du mit mir und Hermann im Urlaub bist …«

»Aber dann ist mir eingefallen, dass der Urlaub nicht ewig dauert«, unterbrach Gustav seinen Vater.

»Alles Schöne geht einmal zu Ende«, ergriff Hermann das Wort. »Aber das ist kein Grund, jetzt schon Trübsal zu blasen. Ich sage dir etwas, Gustav: Wenn dir zu Hause langweilig ist, dann besuche einfach mich.«

»Geht denn das? Ich will dir nicht lästig fallen. Mama schimpft oft mit mir. Sie sagt, dass ich ihr auf die Nerven gehe und lästig bin. Vati schimpft nie, aber ihm kann ich ja nicht lästig sein, weil er nur selten zu Hause ist.«

»Mir bist du auch nicht lästig«, betonte Hermann. »Und falls ich gerade keine Zeit habe, was natürlich leicht der Fall sein kann, werden sich die Kinder von Sophienlust um dich kümmern. Die heißen jeden Spielgefährten freudig willkommen.«

»Erzähle mir von Sophienlust«, bat Gustav.

Hermann kam diesem Wunsch gern nach. Er hatte Mitleid mit dem Jungen, ärgerte sich aber zugleich ein bisschen über seinen Freund Harald, der seit Jahren eine Situation in Schwebe hielt, die er selbst längst beendet hätte. Harald Grohes zweite Ehe war von Anfang an ein Fehlschlag gewesen, aber Harald schien unfähig zu sein, einen sauberen Schlusstrich zu ziehen. Vielleicht brachte es auch sein Beruf als Fernfahrer mit sich, dass er die Augen vor der Wirklichkeit verschloss. Er war meist von zu Hause abwesend. Möglicherweise war ihm dadurch das wahre Wesen seiner Frau bisher verborgen geblieben. Derjenige, der tatsächlich unter ihr litt, war Gustav. Aber wie sollte er, Hermann, als Außenstehender dem Kind helfen? Er konnte nichts weiter tun, als Gustav aus seiner trüben Stimmung herauszureißen, indem er heitere Episoden aus dem Alltag des Kinderheims Sophienlust schilderte.

Gustav lauschte mit leuchtenden Augen. Hin und wieder warf er eine Frage ein, die Hermann ausführlich beantwortete. »Und das ganze Kinderheim – das große Haus und der Park – gehört einem Jungen?«, fragte Gustav jetzt atemlos. »Ist dieser Junge so alt wie ich?«

»Nein, Nick – Dominik von Wellenstein-Schoenecker – ist ungefähr fünf Jahre älter als du«, entgegnete Hermann. »Übrigens verwaltet seine Mutter das Heim für ihn. Bis zu Nicks Großjährigkeit wird sie das tun. Derzeit leben zwanzig Kinder in Sophienlust, und für manche von ihnen ist das Kinderheim zu einer echten Heimat geworden. Ich hätte dich schon längst einladen sollen, Gustav. Wenn ich nur früher daran gedacht hätte! Mit einem kleinen roten Schulbus fahre ich die Kinder, die das Gymnasium in Maibach besuchen, jeden Morgen in die Kreisstadt, und zu Mittag hole ich sie wieder ab und bringe sie nach Wildmoos zurück. Du hättest schon längst einmal mitkommen und den Nachmittag in Sophienlust verbringen können. Ab Herbst, sobald die Schule wieder begonnen hat, wollen wir dieses Versäumnis nachholen.«

»N-nein, lieber nicht«, murmelte Gustav und ließ den Kopf hängen.

»Warum nicht? In Sophienlust wirst du dich nicht langweilen, selbst wenn ich keine Zeit habe, mich mit dir zu beschäftigen. Du kannst mit den Kindern spielen.«

»Nein, die werden mich nicht wollen«, meinte Gustav mutlos.

»Warum sollen sie dich nicht wollen?«

»Weil …, weil …, ich gehe doch bloß in die Hauptschule. Du hast gesagt, dass du die Kinder vom Gymnasium abholst. Und die vom Gymnasium sind alle furchtbar eingebildet. Die lachen einen Hauptschüler aus.«

»Nein, die Kinder von Sophienlust gewiss nicht«, widersprach Hermann dem Jungen. »Keines von ihnen ist eingebildet. Hast du etwa einen Minderwertigkeitskomplex, weil du nicht das Gymnasium besuchst?«

»Mama sagt dauernd, dass ich dumm und unbegabt bin«, klagte Gustav. »Schon in der Volksschule habe ich schlechte Noten bekommen. Und im vergangenen Schuljahr, in der ersten Klasse Hauptschule, war es noch schlimmer. Ich kenne mich bei den Hausaufgaben oft nicht aus. Wenn ich Mama frage, wird sie böse und sagt, dass ich in der Schule besser aufpassen soll. Deshalb traue ich mich gar nicht mehr, sie zu fragen. Ein paarmal hat mich die Englischlehrerin erwischt, als ich vor der Stunde schnell die Aufgabe von meinem Nachbarn abgeschrieben habe. Deshalb habe ich in Englisch eine Vier bekommen. Wenn ich mich nicht zusammennehme, wird nächstes Jahr eine Fünf daraus, hat die Englischlehrerin gesagt.«

Hermann unterdrückte ein Lächeln und meinte beschwichtigend: »Nimm es nicht so tragisch. Ich war auch nie ein Vorzugsschüler und bin trotzdem bis jetzt nicht verhungert.«

»Hermann hat recht«, schaltete sich Harald ein. »Gute Schulnoten sind nicht das Wichtigste im Leben. Wenn ich daran denke, dass ich in Geographie beinahe durchgefallen wäre, weil ich nicht wusste, wo Izmir liegt! Und jetzt kenne ich mich in der Türkei beinahe genauso gut aus wie in Deutschland.«

Harald Grohe lachte, aber sein Sohn sah betreten drein und platzte heraus: »Mama sagt, dass ich meine Faulheit und meinen …, meinen mangelnden Ehrgeiz von dir geerbt habe.«

»Was? Gustav, es ist Zeit zum Schlafengehen. Wir sind beinahe die Letzten, die hier sitzen und herumtrödeln. Marsch, hinauf in unser Zimmer. Ich komme gleich nach.«

Mit einem gemurmelten: »Gute Nacht, Onkel Hermann«, erhob sich der Elfjährige und verließ die Gaststube.

»Gute Nacht«, erwiderte Hermann und widmete seine Aufmerksamkeit nach Gustavs Abgang einem Bierdeckel, den er zum Kreiseln zu bringen versuchte, was aber infolge der rauhen Tischdecke immer wieder misslang.

Schließlich unterbrach Harald das unbehagliche Schweigen mit einem Räuspern. »Gustav hat gelogen«, brummte er. »Nicht mit Absicht. Ich nehme an, er hat Mechthild irgendwie missverstanden.«

»So? Hm – du musst es ja wissen«, sagte Hermann. »Trotzdem würde ich an deiner Stelle versuchen, den Buben vor unguten Einflüssen zu bewahren. Du solltest dich mehr um ihn kümmern.«

»Ich tue, was ich kann«, verteidigte sich Harald. Er blickte sich um, sah, dass die Mitglieder der vierköpfigen Familie, die sich als Einzige außer ihm und Hermann noch in der Gaststube aufhielten, in ein Gesellschaftsspiel vertieft waren, und fuhr fort: »Du hast leicht reden, denn du besitzt weder Frau noch Kind. Mechthild hat möglicherweise ihre Fehler, und benimmt sich manchmal ziemlich sonderbar. Es gibt Zeiten, da kann man ihr nichts recht machen. Auch beharrt sie selbst dann gern auf ihrem Standpunkt, wenn sie im Unrecht ist, wie zum Beispiel bei der leidigen Urlaubsgeschichte. Aber sonst sorgt sie recht gut für Gustav. Der Bub ist gesund, ist immer sauber angezogen, und Mechthild achtet darauf, dass er pünktlich nach Hause kommt und sich nicht herumtreibt. Als Stiefmutter hat sie es nicht immer leicht mit ihm. Gustav kann manchmal ganz schön aufsässig sein. Wäre die arme Ursula noch am Leben, dann wäre alles anders.« Harald verstummte und brütete vor sich hin.

Auch Hermann schwieg. Es gab für ihn nichts zu sagen. Der einunddreißigjährige Harald Grohe war etwas älter als er. Die beiden kannten sich, seit sie vor vielen Jahren bei einem Taxiunternehmen beschäftigt gewesen waren. Hermann hatte dann die Stelle als Chauffeur in Sophienlust angenommen. Harald hatte einen guten Posten bei einem Transportunternehmen gefunden. Eine Zeit lang hatten sie einander aus den Augen verloren, aber vor Kurzem war Harald nach Maibach gezogen. Durch Zufall war er in einem Laden für Autozubehör Hermann wiederbegegnet. Da erst hatte dieser erfahren, dass Gustavs Mutter einer zu spät erkannten Lungenentzündung zum Opfer gefallen war und Harald ein zweites Mal geheiratet hatte.

Harald hatte den wiedergefundenen Freund zu sich nach Hause eingeladen, wo Hermann Mechthild Grohe kennengelernt hatte. Es gab für ihn keinen Zweifel, Mechthild war hübscher als die verstorbene Ursula, von der Gustav außer den blonden Haaren auch die um eine Spur zu breite Nase und den etwas zu großen Mund geerbt hatte. Doch abgesehen von ihrem unbestreitbar guten Aussehen besaß Haralds zweite Frau nach Hermanns Meinung keine Vorzüge. Er erinnerte sich noch gut an Ursulas heitere Warmherzigkeit. Im Vergleich dazu kam Mechthild ihm doppelt kalt und arrogant vor.

In der Folgezeit hatten sich Hermann und Harald einige Male getroffen. Zusammen mit Gustav hatten sie verschiedene Sportveranstaltungen besucht, an denen Mechthild kein Interesse hatte. Und Harald hatte hie und da Bemerkungen fallen lassen, denen Hermann entnommen hatte, dass es in Haralds zweiter Ehe Reibereien am laufenden Band gab.

Und dann war die Sache mit dem Urlaub passiert. Mit Mechthilds Einverständnis hatte Harald nach längerem Wühlen in Reisekatalogen das Urlaubsquartier in der Ramsau bestellt. Für sich und Mechthild ein Zweibettzimmer, für Gustav ein Einbettzimmer. Er hatte eine entsprechende Anzahlung geleistet, und es hatte so ausgesehen, als wäre alles in bester Ordnung. Harald hatte Wanderkarten, feste Schuhe, Regenkleidung und Wanderhosen für die ganze Familie gekauft. Gustav hatte anhand der Karten diverse Touren zusammengestellt, die sie zu bewältigen gedachten.

Drei Tage vor der Abreise hatte Mechthild erklärt, dass sie es sich überlegt habe. Wenn schon ein Urlaub in Österreich, dann käme für sie nur ein Aufenthalt an einem See infrage, und eigentlich würde sie viel lieber ans Meer fahren.

Zuerst waren Harald und Gustav sprachlos gewesen, dann hatte der Vater geschimpft und der Sohn geweint. Harald hatte seinen Urlaubszuschuss teilweise in die Ausrüstung investiert, und Gustav hatte sich schon so sehr auf die Wanderungen gefreut. Schulterzuckend hatte Mechtheld erklärt, dass dann eben Vater und Sohn allein in die Ramsau fahren sollten. Sie könnten dazu sogar das Familienauto benutzen, denn sie selbst wolle eine Flugreise nach Ceylon buchen.

Harald hatte nach Luft geschnappt und dann hervorgestoßen: »Ceylon? Bist du wahnsinnig? Wer soll das bezahlen?«

»Ich selbst natürlich«, hatte Mechthild kühl erwidert. »Schließlich arbeite ich halbtags als Schreibkraft. Ich habe mir genug Geld für eine schöne Reise zusammengespart.«

»Ja, aber … ich dachte … wir wollten das Wohnzimmer neu einrichten?«, hatte Harald seiner Frau leicht stotternd entgegengehalten, aber dann schnell hinzugefügt: »Selbstverständlich ist es dein Geld, und du kannst es ausgeben, wie du willst.«

»Eben«, hatte Mechthild gemeint, und damit war für sie der Fall erledigt gewesen.

Harald, der halb und halb gehofft hatte, dass seine Frau nachgeben würde, hatte sich in dieser Hoffnung getäuscht gesehen. Es hatte so ausgesehen, als würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als zum Reisebüro zu pilgern, das Einbettzimmer abzubestellen, und die Stornogebühr in Kauf zu nehmen.

Da war Hermann eingesprungen. Er hatte bis dahin für seinen Urlaub noch keine Pläne geschmiedet, und als Harald ihm sein Leid geklagt hatte, hatte er angeboten, an Mechthilds Stelle mitzufahren. Er wanderte gern und hatte das von Gustav zusammengestellte Tourenprogramm so verlockend gefunden, dass er sich über Mechthilds Sinnesänderung nur wundern konnte. Dann hatte sich in ihm der Verdacht geregt, dass Gustavs Stiefmutter von vornherein nicht vorgehabt hatte, zusammen mit ihrem Mann und Sohn zu verreisen. Aber er hatte geschwiegen, und das tat er auch jetzt, obwohl er der Ansicht war, dass Harald zu sehr unter dem Pantoffel seiner herrschsüchtigen Frau stand, dass Mechthild die Geduld ihres Mannes noch öfters auf die Probe stellen würde.

Durch ein vierstimmiges ›Gute Nacht!‹ wurden Hermann und Harald aus ihren Gedanken gerissen. Nun waren sie die letzten, die in der Gaststube saßen.

Harald strich sich eine dunkelblonde Haarsträhne aus der Stirn und murmelte: »Wir wollen ebenfalls zu Bett gehen. Das Grübeln ist sinnlos. Wahrscheinlich haben andere Leute ebenfalls ihre Probleme.«

»Wenn ich dir irgendwie helfen kann …«, begann Hermann, verstummte aber, als Harald den Kopf schüttelte.

Vor Hermanns Zimmertür trennten sich die beiden Freunde mit der Vereinbarung, am nächsten Tag länger zu schlafen und erst um neun Uhr zum Frühstück zu kommen.

*

Haralds Mutmaßung, dass auch andere Leute ihren Sorgen hätten, traf haarscharf auf eine junge Frau zu, deren Zimmer genau über dem seinen lag.

Gisela Haberleitner beugte sich über ihr schlafendes Kind, zog die Decke zurecht und zischte ihrem Mann zu: »Stell den Kassettenrekorder ab! Du störst Vanessas Schlaf mit dem Gedudel.«

»Ach, sei nicht so übermäßig besorgt. Vanessa schläft tief und fest. Vor morgen früh wacht sie nicht auf. Oh, das bringt mich auf eine Idee. Komm, zieh dich wieder an! Wir gehen tanzen.« Ferdinand Haberleitners dunkle Augen glänzten unternehmungslustig. Er griff nach seiner Brieftasche und zählte die daran enthaltenden Banknoten. »Für einen Barbesuch reicht es noch. Morgen muss ich ohnedies auf die Sparkasse und einen Reisescheck einlösen. Na, mach schon, Gisela! Worauf wartest du? Zieh das blaugetupfte Kleid und die weißen Sandalen an. Für die Kuhstallbar brauchst du keine große Toilette. Schade, dass du kein Dirndl hast. Hier gehen die meisten Frauen und Mädchen im Dirndl. Wir könnten eines für dich aussuchen. Heute ist es dazu allerdings schon zu spät. Warum starrst du mich so an?«

Gisela, die bereits ihr Nachthemd übergestreift hatte, starrte ihren Mann tatsächlich fassungslos an. »Du willst tanzen gehen und Vanessa allein lassen?«, fragte sie bestürzt.

»Na, warum denn nicht? Wir sind seit Jahren nicht mehr miteinander ausgegangen. Genau genommen seit über zwei Jahren, seit das Kind da ist. Jetzt ist Vanessa alt genug, um ein paar Stunden allein zu bleiben.«

»Alt genug?«, wiederholte Gisela. »Du musst verrückt geworden sein. Sie ist zwei Jahre alt, beinahe noch ein Baby. Ich denke nicht daran, sie allein zu lassen. Was ist, wenn sie aufwacht und uns vermisst? Oder wenn sie aus dem Bett fällt und sich verletzt? Oder …«

»Mach Schluss mit diesen Hirngespinsten!«, fuhr Ferdinand seine Frau an. »Mit dir habe ich überhaupt keinen Spaß mehr. Ständig machst du ein verdrossenes Gesicht, jammerst und nörgelst und stichelst an mir herum. Nichts kann ich dir recht machen. Kaum mache ich einen Vorschlag, lehnst du ihn auch schon ab. Du willst keine Touren unternehmen und hörst mir nicht einmal zu, wenn ich davon erzähle …«

»Weil dir genug andere Leute zuhören«, fiel Gisela ihm ins Wort. »Du benimmst dich unmöglich. Musst du denn immer prahlen und versuchen, dich zum Mittelpunkt zu machen? Andere Leute unternehmen ebenfalls Bergwanderungen, aber sie reden nicht so viel und so laut darüber wie du. Und dann – was sollte dieses Gerde heute nach dem Abendessen, dass du vorhättest, dich selbstständig zu machen?«

»Darf ich denn nicht einmal mehr über meine Pläne reden? Willst du mir den Mund verbieten? Ich bin eben kontaktfreudig und rede gern mit meinen Mitmenschen. Wenn alle Leute so muffig und selbstgerecht wären wie du …«

»Ich bin weder muffig noch selbstgerecht, aber ich lehne es ab, Unsinn daherzureden, nur um die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.«

»Ich habe keinen Unsinn geredet!«

»Oh! Soll das heißen, dass du wirklich vorhast, wieder einen eigenen Frisiersalon zu eröffnen?«