Angst machte sie stumm - Elisabeth Swoboda - E-Book

Angst machte sie stumm E-Book

Elisabeth Swoboda

5,0

Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Der Mann richtete sich keuchend auf und fluchte wütend vor sich hin, denn dieser eine Ski versank immer tiefer in dem schweren Nassschnee. Nun waren schon über fünf Minuten vergangen, seit seine rechte Bindung aufgegangen war, und er hatte es noch immer nicht geschafft, den Ski wieder anzuschnallen. Durch eine kleine Unachtsamkeit war die Bindung aufgesprungen, der Ski hatte sich vom Schuh gelöst und war sofort im Schnee versunken. Inzwischen lag er noch viel tiefer vergraben im Schnee als zuvor. Otto Ecker war nahe daran, die Nerven zu verlieren. Die Dämmerung sank schon herab. In kurzer Zeit würde es stockfinster sein, und die verlassene Almhütte war noch ein gutes Stück entfernt von hier. Welch eine Ironie des Schicksals wäre es, wenn er sich tatsächlich im Dunkeln verirren und im Wald erfrieren würde. Nein, das durfte nicht geschehen. Schließlich war er ein geübter und erfahrener Skiläufer. Er durfte sich nur nicht aus der Ruhe bringen lassen. Otto Ecker nahm beide Stöcke in die linke Hand, rutschte mit dem linken Ski seitlich ab, legte sich in den Schnee und grub den zweiten Ski aus. Dann rutschte er weiter, bis er zu einigen dicht nebeneinanderstehenden Bäumen kam. Dort fand er Halt. Es gelang ihm, in den rechten Ski zu steigen, die Bindung klickte ein. Das war geschafft! Otto Ecker atmete auf. Er grinste hämisch. Jetzt würde nichts mehr den Erfolg seines bis ins Detail ausgetüftelten Planes vereiteln. Den Weg zur Hütte konnte er, solange es noch halbwegs hell war, nicht verfehlen.

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Leseprobe: Neuanfang

Auf dem kleinen Flugplatz herrschte emsiges Treiben. Viele Hobbypiloten waren gekommen, um das Wochenende und das schöne Wetter für ein paar Flugstunden zu nutzen oder um die Maschinen zu pflegen und durchzuchecken. Soeben wurde ein motorloser Segelflieger von einem Schleppflugzeug in die Höhe gezogen. Wenke Hellström beobachtete fasziniert, wie sich die Fahrwerke der beiden Flugzeuge von der Startpiste lösten und ihren Flug nach oben aufnahmen; der leichte Segler durch ein Schleppseil mit seinem größeren, motorisierten Bruder verbunden. Irgendwann würde er sich von ihm trennen und in ein hinreißendes Wechselspiel aus elegantem Gleitflug und dem Steigen im Aufwind eintauchen. Als begeisterte Seglerin wusste Wenke einen guten Wind zu schätzen und liebte das Spiel mit ihm – allerdings auf dem Wasser und nicht in der Luft. Schon als kleines Kind war das Segelboot ihr zweites Zuhause gewesen. Diese Leidenschaft hatte sie nie verloren, auch wenn man das nach den jüngsten Ereignissen vermuten dürfte. Es waren fast zwei Wochen vergangen, seit sie zusammen mit Lars bei einem schweren Unwetter in Seenot geraten war. Während es ihm gelang, am gekenterten Boot zu bleiben, wurde sie abgetrieben und galt vier endlos lange Tage als vermisst. Seit etwas mehr als einer Woche war Wenke nun zurück. Lars, ihr Lars hatte sie gerettet! Aus den Händen des merkwürdigen Karl Aresson, der Strandgut sammelte und sie nicht von seinem Hof hatte fortlassen wollen. Nein, verständlicherweise hatte Wenke bislang noch keinen großen Drang verspürt, wieder eine Segeltour zu unternehmen. Seit sie wieder in Lündbjorg war, fühlte sie sich wie in einem Kokon eingesponnen, aus dem sie nicht richtig herauskam. Obwohl sie sich bemühte, es niemanden merken zu lassen. Die Ereignisse auf der abgelegenen Landzunge auf dem Hof von Karl Aresson hatte sie tief in sich verschlossen. Etwas in ihr weigerte sich, darüber zu sprechen. Selbst mit Lars konnte sie darüber nicht reden. Ihr Wiedersehen mit ihm war unaussprechlich und innig gewesen.

Sophienlust – 290 –

Angst machte sie stumm

Was ist der kleinen Mimi zugestoßen?

Elisabeth Swoboda

Der Mann richtete sich keuchend auf und fluchte wütend vor sich hin, denn dieser eine Ski versank immer tiefer in dem schweren Nassschnee. Nun waren schon über fünf Minuten vergangen, seit seine rechte Bindung aufgegangen war, und er hatte es noch immer nicht geschafft, den Ski wieder anzuschnallen.

Durch eine kleine Unachtsamkeit war die Bindung aufgesprungen, der Ski hatte sich vom Schuh gelöst und war sofort im Schnee versunken. Inzwischen lag er noch viel tiefer vergraben im Schnee als zuvor.

Otto Ecker war nahe daran, die Nerven zu verlieren. Die Dämmerung sank schon herab. In kurzer Zeit würde es stockfinster sein, und die verlassene Almhütte war noch ein gutes Stück entfernt von hier. Welch eine Ironie des Schicksals wäre es, wenn er sich tatsächlich im Dunkeln verirren und im Wald erfrieren würde. Nein, das durfte nicht geschehen. Schließlich war er ein geübter und erfahrener Skiläufer. Er durfte sich nur nicht aus der Ruhe bringen lassen.

Otto Ecker nahm beide Stöcke in die linke Hand, rutschte mit dem linken Ski seitlich ab, legte sich in den Schnee und grub den zweiten Ski aus. Dann rutschte er weiter, bis er zu einigen dicht nebeneinanderstehenden Bäumen kam. Dort fand er Halt. Es gelang ihm, in den rechten Ski zu steigen, die Bindung klickte ein. Das war geschafft!

Otto Ecker atmete auf. Er grinste hämisch. Jetzt würde nichts mehr den Erfolg seines bis ins Detail ausgetüftelten Planes vereiteln. Den Weg zur Hütte konnte er, solange es noch halbwegs hell war, nicht verfehlen. Erst vor zwei Tagen war er dort gewesen und hatte sich davon überzeugt, dass die Hütte seit dem letzten Winter nicht abgerissen worden war.

Nach einer viertelstündigen Skiwanderung durch den stillen einsamen Wald erreichte Otto Ecker das kleine, aus dicken Stämmen fest zusammengefügte Häuschen. Er drückte die Türklinke herab, denn er wusste, die Tür war unversperrt. Von einem Wandsims neben der Tür nahm er eine dicke weiße Kerze. Auch Streichhölzer waren, wie er wusste, vorhanden. Er brauchte nicht einmal sein Feuerzeug benützen. Im Schein der Kerze sah er sich um und nickte befriedigt. Alles war noch so wie vor zwei Tagen. Neben dem alten eisernen Ofen lagen Holzscheite und ein Stoß alter Zeitungen, säuberlich zusammengefaltete Decken waren auf einer rohen Holzpritsche aufgestapelt.

Offensichtlich diente diese Hütte einem Wildhüter gelegentlich zum Übernachten. Otto Ecker hatte sie durch einen Zufall vor ein paar Jahren entdeckt, aber danach bald wieder vergessen und niemandem davon erzählt. Dies erwies sich jetzt als ein unschätzbarer Vorteil. Morgen früh konnte er angeben, dass er die Hütte erst an diesem Tag gefunden und dass sie ihm das Leben gerettet habe, nachdem er stundenlang im Wald umhergeirrt und bereits halb erfroren gewesen sei.

Otto Ecker entledigte sich seines Anoraks, nahm aus der Brusttasche eine Tafel Schokolade und zwei Orangen und legte diesen Proviant neben die Pritsche. Er hätte den beiden Orangen einen tüchtigen Schluck Whisky vorgezogen, aber er hatte beim Aufbruch bewusst darauf verzichtet, die flache Touristenflasche zu sich zu stecken. Er durfte nichts riskieren. Eine Alkoholfahne am Morgen konnte er nicht brauchen. Sie würde, wenn schon nicht Misstrauen, so doch Abneigung hervorrufen. Er aber wollte Sympathie und Mitleid erwecken. Zu einem verzweifelten Vater, der sich anklagte, durch eigene Schuld sein einziges, innig geliebtes Kind verloren zu haben, passte Whiskydunst einfach nicht.

Otto Ecker krempelte sich die Ärmel auf und heizte ein. Bald flackerte ein lustiges Feuer in dem Eisenofen. Die Fichtenscheite knisterten und verbreiteten einen angenehmen Geruch sowie eine wohlige Wärme. Otto rieb sich zufrieden die Hände. Dann öffnete er die Haustür einen Spalt und sah hinaus.

Draußen war es inzwischen finster geworden. Im Lichtschein, der durch die Tür ins Freie fiel, sah Otto, dass es zu schneien begonnen hatte. Der Schnee fiel in dichten großen Flocken vom Himmel.

Morgen bin ich eingeschneit, dachte Otto Ecker. Da ich meine Ski habe, schadet es nichts. Im Gegenteil, der Neuschnee verwischt meine Spur. Niemand wird beweisen können, dass ich nicht stundenlang herumgeirrt bin, bevor ich die Hütte gefunden habe. Ich hatte eben unwahrscheinliches Glück, während Monika, das arme hilflose Kind, leider Pech hatte, keinen Unterschlupf fand und in der kalten Winternacht erfrieren musste. Ob es schon so weit war? Ob sich das Mädchen, von Müdigkeit überwältigt, in den Schnee gekauert hatte und eingeschlafen war? Oder stolperte es noch immer umher und schrie nach seinem Vater?

Ein plötzlicher Windstoß wirbelte Otto Ecker einige nasskalte Schneeflocken ins Gesicht, ein Schauer lief über seinen Rücken. Hastig schlug er die Tür zu und legte Holz nach, bis das lange schwarze Ofenrohr zu glühen begann. Mit Gewalt unterdrückte er die aufkeimenden Regungen seines Gewissens und damit die letzten Reste seines besseren Ichs. Jetzt war es sowieso schon zu spät. Es hatte keinen Sinn, in den Schneesturm hinaufzulaufen und nach Monika zu suchen. Er musste an sich selbst, an sein eigenes Überleben denken. Der Abstieg morgen früh ins Tal würde schwierig genug sein. Er würde aufpassen müssen, dass er nicht in unwegsames Gelände geriet und in einer Felsenschlucht landete. Er kannte sich zwar hier in Südtirol aus, aber trotzdem war Vorsicht geboten. Selbst eine verhältnismäßige Kleinigkeit wie ein gebrochener Fuß konnte ihm hier das Leben kosten. Und dieses Leben sollte erst ab morgen so richtig beginnen. Natürlich würde er sich anfangs zurückhalten und den leidgeprüften Vater spielen müssen, schon Herta zu Gefallen und um keinen Argwohn zu erregen.

Otto Ecker schnitt eine Grimasse. Eigentlich war Herta, seine Frau, an allem schuld. Sie hatte ihn dazu gebracht, dass er nur noch Hass gegenüber Monika empfunden und die Gegenwart des Kindes kaum mehr hatte ertragen können.

Otto Ecker schüttelte nun jeglichen Gedanken an das Kind ab, dem er hier im Urlaub auf einer abgelegenen unmarkierten Tiefschneerinne in einer waghalsigen Schussfahrt davongefahren war. Er dachte jetzt an seine Frau. Warum hatte sich Herta zu einem Geizkragen entwickelt und ihm keinen Cent vom Vermögen ihrer Schwester gegönnt? Aber nein, sie hatte sich nicht von der fixen Idee abbringen lassen, dass alles Monika gehöre und für sie aufgehoben werden müsse. Und dabei war sie selbst doch die rechtmäßige Erbin. Aber sie wollte nichts davon hören, dass er sich das Leben mit dem Geld leichter machen könnte. Er sollte sich weiter als Angestellter abrackern, statt eine eigene Firma zu gründen. Eine Reise in die Südsee hatte Herta als verwerfliche Verschwendung bezeichnet, ein neuer, größerer Wagen war für sie nicht infrage gekommen. Alles sollte im alten Trott weitergehen. Das Geld sollte nicht angerührt werden. Was für ein Narr war er doch gewesen, dass er das Kind, das nicht sein eigenes war, fast sechs Jahre hindurch ernährt und gekleidet hatte. Damit war nun endgültig Schluss.

Otto Ecker breitete eine Decke über die Pritsche, streckte sich darauf aus und verzehrte genüsslich die Schokolade und die beiden Orangen. Bald danach lag er in einem tiefen traumlosen Schlaf.

*

Fabian Schöller gähnte herzhaft, dann tätschelte er seiner Dogge Anglos freundschaftlich den Kopf. Daraufhin stupste der Hund sein jugendliches Herrchen auffordernd mit der Schnauze an und winselte leise. Das kluge Tier wusste, dass lautes Gebell zu einer so frühen Stunde unerwünscht war. In dem alten weiträumigen Herrenhaus, das das Kinderheim Sophienlust beherbergte, herrschte noch morgendliche Stille.

Außer Fabian und Anglos war auch die Köchin Magda schon auf. Sie war bereits mit den Vorbereitungen für das Frühstück beschäftigt. Bis zu dieser Mahlzeit war jedoch noch eine knappe Stunde Zeit, die Fabian zu einem Morgenspaziergang mit Anglos nützen wollte.

Magda hatte für Fabian das Tor, das von der großen Halle ins Freie führte, aufgeschlossen und den Buben ermahnt, seinen Mantel ordentlich zuzuknöpfen, da in der Nacht die Temperatur wieder unter Null gesunken war. Fabian hatte gehorcht und zog sich nun auch die Mütze fest über die Ohren, bevor er das Tor öffnete.

Der Park war in fahles Dämmerlicht getaucht, rosa Wölkchen im Osten kündigten den baldigen Sonnenaufgang an. Anglos, der zu gut erzogen war, um ohne Erlaubnis von der Seite seines Herrchens zu weichen, knurrte plötzlich.

»Was ist los, Anglos? Was passt dir nicht?«, fragte Fabian.

Der Hund antwortete mit einem tiefen Bellen und trottete ein paar Schritte von dem Jungen weg auf die oberste Stufe der Freitreppe zu.

Fabian folgte ihm und erblickte nun den Grund für das sonderbare Verhalten. Einige Stufen unter ihm kauerte eine kleine, dick vermummte Gestalt.

Mit wenigen Sprüngen war Fabian bei ihr und beugte sich über sie. Weit aufgerissene blaue Augen blickten ihm angstvoll entgegen. Sonst war von dem Wesen, das in eine dicke Wolldecke eingehüllt war, nicht viel zu sehen.

»Wer bist du? Woher kommst du? Was machst du hier? Ist dir nicht kalt?« Fabians Fragen übersprudelten sich, aber er erhielt keine Antwort darauf.

»Verstehst du mich nicht? Bist du ein Mädchen oder ein Bub? Wer hat dich hierhergebracht?«

Schweigen. Fabian runzelte die Stirn. Er hielt Anglos vorsichtshalber am Halsband fest, um zu verhindern, dass die Dogge das fremde Kind beschnüffelte. Dass es sich um ein Kind handelte, stellte Fabian trotz der Vermummung fest.

Anglos traf übrigens keinerlei Anstalten, sich dem Kind zu nähern. Etwas anderes erregte seine Aufmerksamkeit. Er stand mit hocherhobenem Kopf und gespitzten Ohren da. Irgendwo raschelte es in einem Gebüsch. Zweige knackten. Der Hund knurrte von Neuem.

»Ist da jemand?«, rief Fabian mit etwas zittriger Stimme in den Park hinein. Angestrengt blickte er in die Richtung, aus der das Knacken gekommen war, aber dieser Teil des Parks lag noch in tiefem Dunkel.

Dem Jungen war etwas mulmig zumute. Er überlegte kurz, ob er Anglos losschicken sollte, um den eventuellen Eindringling zu fassen, entschied sich jedoch dagegen. Anglos war kein scharfer Wachhund, sondern gutmütig und ein idealer Spielgefährte. Er war nicht dazu geschaffen, einen gefährlichen Einbrecher zu stellen.

»Komm«, forderte Fabian das fremde Kind auf, »hier kannst du nicht bleiben. Steh auf und komm mit ins Haus.«

Fabian hatte diese Aufforderung hastig hervorgestoßen. Mit halbem Ohr lauschte er nach verdächtigen Geräuschen, aber alles blieb still. Oder auch nicht? Waren da nicht leise verstohlene Schritte? Fabian schauderte zusammen. Er zögerte nun nicht länger, sondern fasste das Kind an der Schulter und rüttelte es. »Sag doch etwas! Oder steh wenigstens auf und komm!«, drängte er. Zu seiner Erleichterung schälte sich das Wesen aus seiner Decke, stand auf und entpuppte sich als zirka sechsjähriges Mädchen. Fabian nahm es an die Hand und eilte mit ihm die Stufen empor. Im nächsten Augenblick stand er aufatmend in der sicheren, warmen Halle von Sophienlust.

Lena, das ältere der beiden Hausmädchen, erschien gerade, mit einem großen Korb über dem Arm, um vom Bäcker die Frühstückssemmeln zu holen. Fabian rannte auf sie zu und keuchte: »Lena, gut, dass Sie da sind. Draußen im Park ist jemand. Und ich habe ein kleines Mädchen gefunden. Es ist stumm. Oder es versteht kein Deutsch. Vielleicht ist es eine Ausländerin. O Lena, draußen war es so unheimlich. Ich hatte richtig Angst.«

»Langsam, Fabian. Wo hast du das Mädchen gefunden?«

»Es kauerte auf der Freitreppe. Bitte, Lena, gehen Sie nicht hinaus. Draußen lauert jemand.«

»Unsinn!« Mit einem Ruck öffnete Lena resolut das Tor und spähte hinaus. Nichts Verdächtiges war zu sehen oder zu hören, nur das Geräusch eines startenden Motors, aber das kam von der Straße, die außerhalb des Parks von Sophienlust durch Wildmoos führte.

»Da ist jemand mit einem Auto weggefahren«, bemerkte Fabian alarmiert.

»Na und? Wahrscheinlich jemand, der zeitig zur Arbeit muss«, meinte Lena. »Da draußen ist alles in Ordnung. Hier aber …« Sie stockte und wandte sich dem kleinen Mädchen zu, das mit gesenktem Kopf und leise vor sich hinschluchzend neben Fabian stand. »Wie heißt du? Wer hat dich hierhergebracht? Wie bist du überhaupt in den Park gekommen? Das Tor ist doch nachts verschlossen. Willst du nicht antworten?«

Auch Lena hatte mit ihren Fragen kein Glück. Das fremde Kind schwieg beharrlich. Fabian, der bereits das Gymnasium in der nahegelegenen Kreisstadt Maibach besuchte, erinnerte sich an seine Englischkenntnisse und fragte: »Do you speak English?« Er tat es in der Hoffnung, eine kleine Engländerin oder Amerikanerin vor sich zu haben. Doch das Kind zeigte keinerlei Reaktion.

»Ich hole Frau Nielsen«, erklärte Lena entschlossen. »Vielleicht gelingt es ihr, diesem sonderbaren Kind ein paar Worte zu entlocken.«

Aber auch die Kinderschwester,die gleich darauf vom ersten Stock herab in die Halle hastete – mit wirrem blondem Haar und bekleidet mit einem langen mittelblauen Morgenrock –, stand vor einer unüberwindlichen Barriere.

Das kleine Mädchen ließ sich wohl aus seinem Mantel schälen und nahm sogar selbst die Mütze ab, sprach jedoch kein Wort. Alle Bemühungen der Kinderschwester blieben erfolglos.

Inzwischen erwachte das Haus zum Leben. Eilige Schritte vieler kleiner Füße tappten durch die Korridore des oberen Stockwerks, in dem die Schlaf- und Waschräume lagen. Stimmen wurden laut, aufmunternde Zurufe, Lachen und Quietschen erklang. Und dann kamen die Kinder die Treppe herabgepoltert, gefolgt von Frau Rennert, der Heimleiterin. Im Nu war die kleine Gruppe in der Halle umringt, und jetzt prasselten erst recht Fragen auf das unbekannte Mädchen hernieder. Endlich reagierte es, jedoch nicht mit einer Erklärung, sondern indem es sich an die Kinderschwester klammerte und das Gesicht in den weichen Falten des Morgenrocks der jungen Frau verbarg.

»Geht frühstücken!«, befahl Frau Rennert. »Und du, Fabian, bring Anglos zurück zu Justus, und dann geh ebenfalls frühstücken.«

Die Kinder gehorchten, wenngleich etwas widerwillig. Normalerweise stürzten sie sich mit gesundem Appetit auf das Frühstück, doch jetzt vergaßen sie vor lauter Fragen, laut geäußerten Vermutungen und Überlegungen beinahe, dass sie frühstücken sollten.

Fabian wurde mit Fragen förmlich durchlöchert, aber er konnte so gut wie nichts zur Aufklärung des Rätsels beitragen. »Sie hat auf einer Stufe gesessen und war in eine Decke eingewickelt. Mehr weiß ich nicht«, sagte er immer wieder, wobei er darauf verzichtete, die seltsamen Geräusche, die aus dem Park gekommen waren, zu erwähnen. Lena hatte ihm keinen Glauben geschenkt. Allmählich meinte er selbst, dass er sich das Knicken der Zweige und die verstohlenen Schritte nur eingebildet habe.

»An irgendjemanden erinnert mich das Kind«, sagte Pünktchen, ein dreizehnjähriges Mädchen, auf dessen Stupsnase lustige Sommersprossen saßen, nachdenklich.

»An wen? An wen?«, riefen die anderen wie aus einem Munde.

»Das kann ich eben nicht sagen«, erwiderte Pünktchen. »Ich konnte mir das Mädchen ja nicht genau ansehen. Es hatte sich zu schnell bei Schwester Regine versteckt.«

In der Halle wechselten währenddessen die Kinderschwester und Frau Rennert einen ratlosen Blick.

»Eine merkwürdige Geschichte«, meinte die Heimleiterin kopfschüttelnd. »Es gibt immer wieder einmal Findelkinder, die an Türschwellen abgelegt werden, aber dabei handelt es sich immer um Säuglinge. Dass uns so etwas Ähnliches passieren würde … Hm, Sophienlust ist in der Umgebung ziemlich bekannt. Für jemanden, der nicht mehr aus noch ein weiß, ist es vielleicht naheliegend, ein unerwünschtes Kind an unserer Schwelle zu deponieren. Aber das Kind hier ist mindestens sechs Jahre alt. Wo hat es bisher gelebt? Es muss doch Leute geben, die es kennen und vermissen. Außerdem – warum spricht es nicht? Glauben Sie, dass es taubstumm ist?«

»Taubstumm. Möglich«, erwiderte die Kinderschwester, der ein ähnlicher Verdacht bereits gekommen war. Aber diese Vermutung beantwortete nur eine der vielen Fragen, die das rätselhafte Auftauchen des Mädchens mit sich brachte.

»Ich werde Frau von Schoenecker über den Vorfall informieren«, beschloss Schwester Regine und strich dem kleinen Mädchen, das sich fest an sie geschmiegt hatte, über die dunklen Haare. Sie nahm es mit in den büroähnlichen Empfangsraum, um von dort Denise von Schoenecker anzurufen.

Frau Rennert ging in den Speisesaal und trieb neunzehn der sich dort befindlichen zwanzig Kinder zur Eile an. Im Moment war nämlich die kleine Heidi die Einzige, die noch nicht die Schule besuchte. Alle anderen jugendlichen Bewohner von Sophienlust wurden mit dem roten Schulbus entweder zum Gymnasium in Maibach oder zur Volksschule in Wildmoos gebracht. Und mittlerweile war es höchste Zeit zum Aufbruch geworden.

*

Aufgescheucht durch den Anruf der Kinderschwester kam Denise von Schoen­ecker auf schnellstem Weg von Gut Schoeneich nach Sophienlust. Sie fand die Kinderschwester und das nach wie vor stumme Kind im Empfangsraum vor. Auch Frau Rennert und Heidi hatten sich zu den beiden gesellt.

Nun versuchte Denise das Kind zum Reden zu bringen, aber auch sie scheiterte. Ihre warmherzige Freundlichkeit schien an dem kleinen Mädchen, das scheu vor ihr zurückwich, vergeudet zu sein.

Seufzend gab Denise ihre Bemühungen nach einer Weile auf. »Haben Sie schon die Polizei verständigt?«, erkundigte sie sich schließlich bei Frau Rennert.

»Nein«, entgegnete die Heimleiterin überrascht, »daran habe ich noch nicht gedacht. Ja, natürlich, die Angelegenheit ist ein Fall für die Polizei. Sie muss die Sache untersuchen und nach den Angehörigen des Mädchens forschen. Ich werde sogleich …«