Johanna, der Sündenbock - Elisabeth Swoboda - E-Book

Johanna, der Sündenbock E-Book

Elisabeth Swoboda

5,0

Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Johanna Willing öffnete nun schon zum fünften Mal das Säckchen, das man ihr in dem Handarbeitsgeschäft ausgehändigt hatte, betrachtete den groben Stramin und die dicke bunte Wolle und seufzte bedauernd. Sie brannte vor Ungeduld. Die fertig geknüpfte Kissenhülle stand bereits vor ihrem inneren Auge, aber sie wusste, dass sie sich zunächst würde damit begnügen müssen, das Muster vorzuzeichnen. Eine große Sonnenblume wollte sie knüpfen, innen braun, die Blütenblätter aus zweierlei Schattierungen von leuchtendem Gelb, der Hintergrund ein dunkles Grün. Ihre Kissenhülle würde mindestens ebenso schön werden wie die, die Karin geknüpft hatte, obwohl Karin in Handarbeiten zurzeit Klassenbeste war. Einige Mitschülerinnen munkelten, dass die eigentliche Urheberin der Prachtstücke, die Karin in der Handarbeitsstunde ablieferte, deren Mutter war, aber Johanna hielt diese Behauptungen für böswillige Verleumdungen. Die Kissenhülle hatte Karin jedenfalls selbst geknüpft. Johanna hatte ihr dabei zugesehen und sich die Technik erklären lassen. Es war mehr ein Sticken als ein Knüpfen, denn Karin verwendete eine große Sticknadel und einen langen Wollfaden. Bevor sie die Knoten schlang, legte sie den Faden über ein flaches Holzstäbchen, damit die Schlingen, die sie später aufschnitt, gleich groß wurden. Und nun hatte Johanna kein derartiges Holzstäbchen bekommen. In dem Handarbeitsgeschäft hatte man nur den Kopf geschüttelt, als sie diesen Wunsch geäußert hatte. Sie musste Karin also fragen, wo man solche Stäbchen bekam. Aber das konnte sie erst am nächsten Tag in der Schule tun, und sie hätte so gern sofort mit der Handarbeit begonnen. Sie war extra mit dem Bus von Bachenau in die Kreisstadt Maibach gefahren, um das Material zu besorgen, und jetzt musste sie mit der Arbeit bis morgen warten. Johanna sah aus dem Busfenster, ohne die Landschaft draußen wahrzunehmen. Ihre Gedanken waren bei dem fehlenden Hölzchen. Sie runzelte die Stirn. Im letzten Winter, als ihr diese lästige Halsentzündung zu schaffen gemacht hatte, war sie beim Arzt gewesen. Als er ihr in den Hals geschaut hatte, hatte er mit einem dieser Hölzchen ihre Zunge niedergehalten und das Hölzchen danach in den Abfalleimer geworfen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 154

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Leseprobe: Die andere Frau

Als die Sonne sich im Osten über die karstige Spitze des Bacher schob, lag das schmale Seitental noch im dichten Nebel. Leise und weit entfernt drang das kratzige Lied eines Rotschwanzes durch den Dunst wie eine verlorene, vergessene Melodie. So erschien es Alexander von Jost jedenfalls in seiner weltabgeschiedenen Einsamkeit. Der ehemalige Diplomat seufzte. Wie war es nur dazu gekommen, wie hatte er sich in eine solch verflixte Lage bringen können? Noch immer erschien ihm seine Situation wie ein schlechter Traum. Er öffnete den Reißverschluss seiner Wetterjacke, denn mit der steigenden Sonne wurde es allmählich wärmer. Er hatte eine empfindlich kalte Oktobernacht hinter sich und fühlte sich völlig steifgefroren. Doch es empfahl sich nicht unbedingt, dies mittels einiger Freiübungen zu ändern. Sein verstauchter Fuß war nicht zu gebrauchen, stark angeschwollen und schmerzte bei der kleinsten Bewegung höllisch. Der schlanke, große Mann mit den klaren, rehbraunen Augen blickte sich aufmerksam um. Der Nebel löste sich allmählich auf, Konturen wurden sichtbar, das Vogelkonzert intensivierte sich. Die Lärchen am gegenüberliegenden Berghang leuchteten in tiefem Gold, dazwischen das intensive Grün der Bergkiefern. Graues Geröll, das sich im Bachbett am Fuß des Hanges fortsetzte, bildete dazu einen aparten Kontrast. Die Natur in den schmalen und oft abgelegenen Tälern rund um den Wörthersee hatte auch im Herbst ihren besonderen Reiz. Aus diesem Grund war er am Vortag zu einer längeren Wanderung gestartet, einem gut beschilderten Steig gefolgt und allmählich wieder mit sich selbst und der Welt in Einklang gekommen. Doch er hatte sich verschätzt, was die Entfernungen anging. Und er hatte nicht berücksichtigt, wie früh die Sonne im Oktober sank und die Dämmerung kam. An einer unübersichtlichen Stelle war er im abendlichen Zwielicht gestolpert und einen Hang hinabgestürzt. Nachdem Alexander den ersten Schrecken überwunden hatte, war ihm bewusst geworden, dass er seinen rechten Fuß nicht benutzen konnte.

Sophienlust – 292 –

Johanna, der Sündenbock

Sie war der Freundin ihres Vaters im Weg …

Elisabeth Swoboda

Johanna Willing öffnete nun schon zum fünften Mal das Säckchen, das man ihr in dem Handarbeitsgeschäft ausgehändigt hatte, betrachtete den groben Stramin und die dicke bunte Wolle und seufzte bedauernd. Sie brannte vor Ungeduld. Die fertig geknüpfte Kissenhülle stand bereits vor ihrem inneren Auge, aber sie wusste, dass sie sich zunächst würde damit begnügen müssen, das Muster vorzuzeichnen.

Eine große Sonnenblume wollte sie knüpfen, innen braun, die Blütenblätter aus zweierlei Schattierungen von leuchtendem Gelb, der Hintergrund ein dunkles Grün. Ihre Kissenhülle würde mindestens ebenso schön werden wie die, die Karin geknüpft hatte, obwohl Karin in Handarbeiten zurzeit Klassenbeste war. Einige Mitschülerinnen munkelten, dass die eigentliche Urheberin der Prachtstücke, die Karin in der Handarbeitsstunde ablieferte, deren Mutter war, aber Johanna hielt diese Behauptungen für böswillige Verleumdungen. Die Kissenhülle hatte Karin jedenfalls selbst geknüpft. Johanna hatte ihr dabei zugesehen und sich die Technik erklären lassen. Es war mehr ein Sticken als ein Knüpfen, denn Karin verwendete eine große Sticknadel und einen langen Wollfaden. Bevor sie die Knoten schlang, legte sie den Faden über ein flaches Holzstäbchen, damit die Schlingen, die sie später aufschnitt, gleich groß wurden.

Und nun hatte Johanna kein derartiges Holzstäbchen bekommen. In dem Handarbeitsgeschäft hatte man nur den Kopf geschüttelt, als sie diesen Wunsch geäußert hatte. Sie musste Karin also fragen, wo man solche Stäbchen bekam. Aber das konnte sie erst am nächsten Tag in der Schule tun, und sie hätte so gern sofort mit der Handarbeit begonnen. Sie war extra mit dem Bus von Bachenau in die Kreisstadt Maibach gefahren, um das Material zu besorgen, und jetzt musste sie mit der Arbeit bis morgen warten.

Johanna sah aus dem Busfenster, ohne die Landschaft draußen wahrzunehmen. Ihre Gedanken waren bei dem fehlenden Hölzchen. Sie runzelte die Stirn. Im letzten Winter, als ihr diese lästige Halsentzündung zu schaffen gemacht hatte, war sie beim Arzt gewesen. Als er ihr in den Hals geschaut hatte, hatte er mit einem dieser Hölzchen ihre Zunge niedergehalten und das Hölzchen danach in den Abfalleimer geworfen. Auf seinem Tisch hatte ein Glasbehälter mit einer Menge dieser Hölzchen gestanden.

Der Bus hielt, Johanna stieg aus. Eigentlich hätte sie noch zwei Stationen weiter fahren müssen, aber sie hatte den plötzlichen Entschluss gefasst, den Arzt aufzusuchen. Doch als sie vor seinem Haus stand, zeigte sich, dass sie einen ausgesprochenen Pechtag hatte. An der Gartentür hing eine handgeschriebene Tafel, auf der stand, dass der Arzt im Urlaub war. Er verwies seine Patienten auf seinen Kollegen Dr. Stefan Frey in Wildmoos.

Wildmoos war der Nachbarort. Zu Fuß hatte man ein gutes Stück zu gehen, bis man hinkam. Johanna überlegte. Morgen würde sie in Geografie drankommen, und die Mathematikhausaufgabe hatte sie auch noch nicht gemacht. Wenn sie sich jetzt auf einen Fußmarsch nach Wildmoos einließ, blieb ihr sowieso keine Zeit mehr, mit der Kissenhülle zu beginnen. Außer sie entschuldigte sich in Geografie mit einer Ausrede, oder sie schrieb die Mathematikaufgabe morgen in der ersten Pause schnell von ihrer Nachbarin ab. Pünktchen war hilfsbereit. Sie würde ihr Heft ohne Weiteres zur Verfügung stellen.

Johanna schwankte, doch dann widerstand sie der Versuchung und lenkte ihre Schritte nicht nach Wildmoos, sondern in die entgegengesetzte Richtung, zur Villa ihres Vaters. Sie war ungefähr hundert Meter weit gegangen, als ihre Blicke wie magnetisch vom Schild eines Tierarztes angezogen wurden. Sicher war es auch bei Hunden und Katzen manchmal notwendig, dass man ihnen in den Hals schaute. Folglich würde auch ein Tierarzt das besitzen, was Johanna so dringend benötigte.

Ohne lange zu zögern betrat Johanna die Praxis von Dr. Hans-Joachim von Lehn. Im Wartezimmer befand sich nur eine ältere Dame, die ein Körbchen auf dem Schoß hielt, aus dem von Zeit zu Zeit ein klägliches Miauen ertönte. Johanna, die Fremden gegenüber weder schüchtern noch gehemmt war, begann sofort ein Gespräch, indem sie sich nach dem Leiden der Katze erkundigte. Doch bevor die Dame dazu kam, ihr zu antworten, wurde sie in den Behandlungsraum gebeten.

Johanna blieb allein zurück. Sie brauchte jedoch nicht lange zu warten. Offenbar fehlte dem Kätzchen nichts Ernstliches, denn seine Besitzerin kam schon bald mit dem Körbchen und einer merklich heitereren Miene als zuvor zurück. Sie nickte Johanna kurz zu und ging. Johanna sah ihr, beziehungsweise dem Körbchen sehnsüchtig nach.

»Haben Sie den Patienten nicht mitgebracht?«, erklang hinter Johanna eine freundliche männliche Stimme.

Das junge Mädchen fuhr herum und stotterte: »Ich – nein. Was für einen Patienten?«

»Das kranke Tier«, erwiderte Hans-Joachim geduldig. Von hinten hatte er das Mädchen für eine Erwachsene gehalten, jetzt sah er, dass es nicht älter als etwa dreizehn Jahre sein konnte. Graublaue Augen blickten ihn bittend an, auf einer leicht gebogenen Stupsnase tanzten lustige Sommersprossen, ein Grübchen am Kinn gab dem noch kindlich-rundlichen Gesicht einen fröhlichen Anstrich.

»Ich habe kein krankes Tier. Auch kein gesundes. Obwohl ich natürlich wahnsinnig gern eines hätte. Aber Vati ist leider dagegen. Er sagt, dass wir Frau Körner die Mehrarbeit nicht zumuten können. Frau Körner ist nämlich unsere Aufräumefrau. Sie kommt jeden Vormittag außer Sonntag und macht die Hausarbeit.«

»Aha«, sagte Hans-Joachim und fragte sich verwundert, was für ein Anliegen seine jugendliche Besucherin wohl vorbringen würde.

»Haben Sie vielleicht so Hölzer, mit denen man in den Hals hineinschaut?«, fragte da Johanna auch schon.

»Hölzer, mit denen man in den Hals hineinschaut?«, wiederholte der Tierarzt leicht verwirrt.

»Ich habe im Handarbeitsgeschäft danach gefragt, aber dort hatte man so etwas nicht«, erläuterte Johanna.

Hans-Joachim hob die Brauen. »Ich bin im Allgemeinen nicht schwer von Begriff, aber ich habe keine Ahnung, worauf du hinauswillst«, erklärte er.

»Ich möchte eine Kissenhülle knüpfen. Dazu brauche ich so ein Holz. Damit die Schlingen gleich groß werden. Man legt den Faden um das Holz, bevor man mit der Nadel in den Stramin sticht. Aber vielleicht haben Sie solche Hölzer doch nicht. Ich habe nur gedacht …, weil doch Tiere genauso einen Hals haben wie Menschen.«

»Oh – du meinst Holzspachtel!«, rief Hans-Joachim, dem indessen die Erleuchtung gekommen war. »Wie viele brauchst du?«

»Eines«, erwiderte Johanna bescheiden.

Hans-Joachim verschwand im Behandlungsraum und kehrte gleich darauf mit drei Holzspachteln zurück. »Hier – nimm drei, damit du etwas in Reserve hast. Falls alle drei zerbrechen, kannst du dir jederzeit Nachschub holen.«

Johannas Dankesbezeigungen wurden durch den Eintritt zweier junger Frauen unterbrochen. Eine von ihnen hielt eine große schwarze Katze im Arm, die andere rief: »Hans-Joachim, wir bekommen Zuwachs für unser Tierheim! Du kennst doch Frau Hofmeister und ihren Kater Kilian, nicht wahr?«

»O ja«, bestätigte der Tierarzt. Er hatte den Kater erst vor Kurzem von einem widerspenstigen Dorn befreit, der tief in die linke Vorderpfote eingedrungen war. Die schmerzhafte Prozedur hatte Kilians Frauchen mehr aufgeregt als das Tier selbst. Hans-Joachim hatte daraus geschlossen, dass Frau Hofmeister sehr an dem Tier hing. Deshalb erkundigte er sich verwundert: »Sie wollen Kilian weggeben, Frau Hofmeister?«

»Nur für vierzehn Tage«, entgegnete die junge Frau. »Von Ihrer Frau habe ich erfahren, dass Sie hin und wieder Schützlinge auf Zeit in Ihrem Tierheim aufnehmen.« Sie wandte sich dabei mit einem hilfesuchenden Blick an Andrea.

»Sehr richtig«, sprang Andrea von Lehn sofort ein. »Du musst einsehen, Hans-Joachim, dass Frau Hofmeister vor einem wirklichen Dilemma steht. Ihre Mutter hat ihren Besuch angesagt, aber die Arme ist gegen Katzenhaare allergisch. Das muss höchst unangenehm sein.«

»Das ist es«, seufzte Veronika Hofmeister. »Mama meint, es genügt, wenn sie Kilian aus dem Weg geht, aber ich weiß, dass das nichts nützt. Ihr letzter Besuch war eine Katastrophe. Er endete mit Mamas überstürzter Abreise. Ihre Nase war rot und verschwollen, sie kam aus dem Niesen gar nicht mehr heraus. Da Mama in Hamburg lebt, sehen wir uns nicht oft, aber natürlich wollen wir uns ab und zu besuchen, und das ist dann jedes Mal ein Problem.«

»In Zukunft nicht mehr. Sie können Kilian jederzeit bei uns unterbringen«, versicherte Andrea von Lehn. »Entschuldige, dass ich so plötzlich hereingeplatzt bin und dich bei deiner Arbeit unterbrochen habe«, fügte sie, an ihren Mann gewandt, hinzu.

»Du hast mich nicht unterbrochen. Für heute sind keine Patienten mehr angesagt«, entgegnete der Tierarzt. Sein Blick fiel dabei auf Johanna, die sich nicht von der Stelle gerührt hatte und den Kater sehnsüchtig anstarrte. »Brauchst du noch etwas?«, fragte er.

»Nein. Nein, danke. Höchstens – darf ich die Katze einmal streicheln? Oder beißt sie?«

»Es handelt sich um einen ›er‹, um einen Kater. Soviel ich weiß, ist Kilian ein geduldiger Bursche. Er beißt nicht und kratzt auch nicht.«

»Du kannst ihn ruhig auf den Arm nehmen. Möchtest du?«, bot Veronika Hofmeister dem Mädchen an und hielt ihm den Kater entgegen.

Johanna nahm ihn vorsichtig auf und kraulte ihn zwischen den Ohren. Kilian schnurrte zutraulich und rieb seinen Kopf an Johannas Schulter.

»Ich glaube, er mag mich«, stellte Johanna erfreut fest.

»Weil er spürt, dass du ihn magst«, meinte Andrea lächelnd.

»Ja, ich mag ihn. Ich würde ihn am liebsten behalten, aber das darf ich ja nicht.«

»Nein, Kilian kannst du nicht behalten. Er gehört Frau Hofmeister. Aber es gibt oft genug herrenlose Kätzchen, die einen guten Platz suchen. Soll ich dir ein Kätzchen verschaffen?«, erbot sich Andrea.

»Nein, mein Vati erlaubt es nicht. Er sagt, Tiere machen nur Arbeit und Schmutz«, entgegnete Johanna bekümmert.

»Du tust mir leid!«, rief Andrea voll Mitgefühl. Dann besann sie sich und fragte: »Ja aber, wenn du kein Tier hast, weswegen bist du dann hergekommen?«

»Ich habe den Herrn Doktor um ein Hölzchen gebeten – für eine Handarbeit. Oh, ich muss mich beeilen. Ich habe noch nichts in Geografie gelernt und noch keine Mathematikaufgabe gemacht!« Johanna gab Kilian seiner Besitzerin zurück, griff nach dem Säckchen mit den Zutaten für die Kissenhülle und verabschiedete sich.

»Kanntest du das Kind?«, fragte Andrea ihren Mann, nachdem Johanna gegangen war.

»Nein. Zuerst wusste ich gar nicht, was sie wollte. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass sie einen Holzspachtel meinte.«

Andrea ging darauf nicht näher ein, sondern sagte nachdenklich: »Das arme Kind hätte so gern eine Katze. Vielleicht sollte man ihm helfen, den Vater umzustimmen. Ich halte es für grausam, einem Kind den Wunsch nach einem Haustier abzuschlagen.«

»Du kennst die Verhältnisse nicht, unter denen das Mädchen lebt«, machte Hans-Joachim seine Frau aufmerksam. »Wahrscheinlich hat der Vater einen guten Grund dafür, ein Haustier zu verbieten.«

»Hm – möglicherweise hast du recht«, räumte Andrea ein. »Da wir nicht einmal den Namen des Mädchens wissen, können wir sowieso nichts tun.«

»Aber für Kilian können wir etwas tun. Willst du Frau Hofmeister hinüber ins Tierheim führen?«

»Ja, gern«, erwiderte Andrea und forderte Veronika Hofmeister auf, ihr zu folgen.

Die beiden jungen Frauen mussten über den Hof gehen, um zu dem langgestreckten Bau des Tierheims Waldi & Co. zu gelangen. Der »Chef« des Tierheims, der dieser Einrichtung auch den Namen gegeben hatte, der Dackel Waldi, kam ihnen schwanzwedelnd entgegen. Als er jedoch merkte, dass es sich bei dem Neuzugang um einen Kater handelte, wandte er sich missbilligend ab.

»Waldi hat leider wie so viele Hunde ein ausgeprägtes Vorurteil gegen Katzen«, erklärte Andrea. »Zum Glück lässt er sie wenigstens in Ruhe und versucht nicht, sie zu jagen.«

»Und wie steht es mit den beiden großen Hunden, die ich in Ihrem Garten gesehen habe?«, erkundigte sich Veronika besorgt. »Für die Dogge wäre es eine Kleinigkeit, Kilian mit einem Biss zu erledigen, und auch der Schäferhund …«

»Severin hat noch nie einem anderen Tier etwas zuleide getan«, nahm Andrea ihre vierbeinigen Hausgenossen in Schutz. »Auch der Schäferhund Munko ist durchaus friedlich. Er wird nur aggressiv, wenn sich jemand meinem kleinen Sohn Peter in feindlicher Absicht nähert. Im Übrigen sind die Boxen, in denen wir unsere Gäste unterbringen, fest verschlossen. Hoffentlich leidet Kilian nicht zu sehr unter dem Eingesperrtsein. Frei herumlaufen lassen können wir ihn nicht. Die Gefahr, dass er ausreißt, wäre zu groß.«

»Er braucht ja nur vierzehn Tage hierzubleiben, dann hole ich ihn wieder«, meinte Veronika.

Kilian bekam von dem Tierpfleger Janosch eine ausreichend große saubere Box zugewiesen. Natürlich war der Kater mit seiner neuen Umgebung ganz und gar nicht einverstanden. Er maunzte, krallte sich am Gitter fest und warf seinem Frauchen aus grünschillernden Augen vorwurfsvolle Blicke zu.

»Er denkt wahrscheinlich, ich lasse ihn im Stich«, bemerkte Veronika bekümmert.

»Kilian wird sich eingewöhnen. Ich werde mit ihm sprechen, sooft ich Zeit habe«, versprach der Tierpfleger in seinem mit einem leichten ungarischen Akzent gefärbten Deutsch.

»Sie können wirklich beruhigt sein«, versicherte auch Andrea. »In zwei Wochen erhalten Sie Kilian wohlbehalten zurück.«

*

In den nächsten Tagen konnte Hans-Joachim sich nicht über Mangel an Arbeit beklagen. Einer seiner Maibacher Kollegen war in den Urlaub gefahren, sodass auch Leute aus der Stadt mit ihren vierbeinigen oder gefiederten Lieblingen in seiner Praxis auftauchten. Einmal wurde er sogar nach Maibach zu einem Hausbesuch gerufen, von einem Aquariumbesitzer, dem ein Teil seiner wertvollen Zierfische eingegangen war. Hans-Joachim brauchte eine Weile, bis er den Grund des mysteriösen Fischsterbens herausgefunden hatte. Er lag bei der falschen Zusammensetzung des Meerwassers.

Danach beschloss Hans-Joachim, sich in der Kreisstadt nach einem Geschenk für Andrea umzusehen. Der Hochzeitstag stand unmittelbar bevor, aber er wusste noch nicht, womit er Andrea eine Freude bereiten konnte.

Vor dem Schaufenster eines Juweliers blieb der Tierarzt stehen. Ein mit kleinen blauen Steinen besetzter Armreifen stach ihm ins Auge. Das Dumme war nur, dass Andrea ein ziemlich ähnliches Schmuckstück von ihren Eltern zu Weihnachten bekommen hatte, während er selbst ihr eine dazu passende Halskette geschenkt hatte. Zugleich hatte eine Tante einen Ring geschickt, und Sascha, Andrea’s Bruder, hatte einen selbstgebastelten Silberschmuck überreicht. Andrea hatte sich mit aufrichtiger Freude für alle Geschenke bedankt, aber gleichzeitig gefragt, ob man sie denn für eine Elster halte, die Glitzerdinge sammle. Nein, diesmal wollte er ihr kein weiteres Glitzerding schenken. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen.

Nachdenklich ging Hans-Joachim weiter. Er kam an mehreren Boutiquen vorbei, verwarf aber die Ideen, auf die ihn diese Läden brachten, sogleich wieder. Kleidungsstücke mussten anprobiert werden. Sie waren daher für ein Überraschungsgeschenk ungeeignet. Gänzlich ungeeignet erschienen ihm auch nützliche Geräte für den Haushalt oder Garten. Es musste ein richtiges Geschenk sein, etwas Hübsches, Überflüssiges, etwas, was Andrea nicht brauchte, woran sie aber Gefallen fand.

Plötzlich zog das Schaufenster eines Antiquitätengeschäftes Hans-Joachims Aufmerksamkeit auf sich. Da gab es hübsche überflüssige Dinge in reicher Auswahl. Das heißt – nicht alle waren hübsch. Etliche fand Hans-Joachim bei näherer Betrachtung eher hässlich. Möglicherweise bot ein mit violetten Weintrauben besetzes Trinkglas für einen Sammler großen Anreiz, Hans-Joachim gefiel es nicht. Ebensowenig konnte er sich für die verschiedenen Becher, Vasen und Döschen, die sich, gefällig arrangiert, seinen Blicken darboten, begeistern. Wirklich schön fand er jedoch eine bemalte Porzellandose, deren Deckel in der Mitte von einer anmutigen Rosenknopse gekrönt wurde.

Ohne lange zu überlegen, betrat Hans-Joachim den Laden und erkundigte sich nach dem Preis der Dose.

»Sie meinen die Zuckerdose aus Meißner Porzellan? Im Augenblick eines meiner schönsten Stücke. Billig ist sie allerdings nicht.« Der Mann, an den sich Hans-Joachim mit seiner Frage gewandt hatte, nannte den Preis, und der Tierarzt stimmte ihm innerlich zu: Billig war die Dose nicht. Doch falls sie Andrea gefiel, würde ihn der Preis nicht vom Kauf abhalten. Nur – er war sich über den Geschmack seiner Frau keineswegs sicher.

Während Hans-Joachim zögernd überlegte, holte der Ladenbesitzer die Dose aus der Auslage und stellte sie auf den Ladentisch. »So, jetzt können Sie sie genau betrachten«, sagte er. »Sie ist über hundertfünfzig Jahre alt und vollkommen unbeschädigt. Das ist bei Gebrauchsporzellan eine Seltenheit. Oft ist irgendwo ein Sprung oder eine angeschlagene Stelle.«

»Hm, ich weiß nicht …«, murmelte Hans-Joachim.

»Selbstverständlich muss man sich einen solchen Kauf gründlich überlegen«, meinte der Händler zuvorkommend. »Vielleicht möchten Sie sich noch andere Sachen ansehen? Falls Sie Sammler sind – ich hätte einige interessante Teller anzubieten. Frühes Biedermeier …«

»Nein, ich bin kein Sammler«, unterbrach der Tierarzt ihn. »Ich suche nach einem Überraschungsgeschenk für meine Frau, und die Überraschung soll positiv ausfallen, nicht negativ.« Er besah sich eingehend die zarte Malerei, ohne jedoch zu einem Entschluss kommen zu können.

Da rief plötzlich eine frische Stimme: »Guten Tag, Herr Dr. von Lehn! Wie geht es Ihnen? Was macht der Kater?«

Irritiert blickte Hans-Joachim auf. Dann erkannte er die Sprecherin. Er wunderte sich, was sie hier machte, doch er wurde rasch aufgeklärt. »Das ist mein Vati, Herr Willing«, stellte das Mädchen den Händler vor. »Und das ist Herr Dr. von Lehn, der so freundlich war, mir drei Hölzchen für meine Handarbeit zu schenken. Ich habe die Kissenhülle schon beinahe fertig, habe Karin überholt. Übrigens hat mir ein Mädchen aus meiner Klasse erzählt, dass Sie in Ihrem Tierheim sogar einen Schimpansen haben.«

»Das stimmt. Möchtest du ihn dir ansehen?«

»O ja! Wann kann ich kommen? Gleich heute?«, ging das Mädchen begeistert auf das Angebot ein.