Wir bleiben bei Vati - Elisabeth Swoboda - E-Book

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Elisabeth Swoboda

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Neben den alltäglichen Sorgen nimmt sie sich etwa des Schicksals eines blinden Pianisten an, dem geholfen werden muss. Sie hilft in unermüdlichem Einsatz Scheidungskindern, die sich nach Liebe sehnen und selbst fatale Fehler begangen haben. Dann wieder benötigen junge Mütter, die den Kontakt zu ihren Kindern verloren haben, dringend Unterstützung. Denise ist überall im Einsatz, wobei die Fälle langsam die Kräfte dieser großartigen Frau übersteigen. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Obwohl der Tag strahlend schön und der Himmel wolkenlos blau war, herrschte im Schatten klirrende Kälte. Denise von Schoenecker zog ihre pelzgefütterten Handschuhe aus und rieb sich ihre gefühllos gewordene Nase warm. Dabei stapfte sie ein paar Schritte weiter, dorthin, wo der Fuß des Rodelhanges in der Sonne lag. Sie trug unter ihrer dicken Jacke aus dunkelgrünem Walkloden noch einen Rollkragenpulli und dazu eine mollige Strickmütze, die über die Ohren reichte. Außerdem eine nicht gerade elegante, aber warme lange Hose, sowie braune Lederstiefel mit dicken Gummisohlen. Dennoch konnte sie nicht behaupten, dass ihr warm war. »Hallo, Tante Isi. Ziehst du mich hinauf? Bitte, Tante Isi.« Heidi Holsten eilte auf Denise zu, ihren Rodel hinter sich her ziehend. »Ja, mach ich«, erwiderte die trotz ihrer Vermummung immer noch attraktiv wirkende Frau. »Vielleicht wird mir dabei warm.« Die kleine Heidi, die einen daunengefütterten hellroten Skianzug trug und eine Wollmütze, bei der an der Stirn hellblonde Ponyfransen hervorlugten, setzte sich auf ihren Rodel. »Schneller, Tante Isi, schneller«, trieb sie gleich darauf Denise an. »Puh, schneller kann ich nicht. Für dein Alter bist du ganz schön schwer«, stieß die Frau nach Atem ringend hervor. Nun schwitzte sie, als sie mit Heidi und dem Schlitten oben am Waldsaum anlangte.

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Sophienlust (ab 351) – 402–

Wir bleiben bei Vati

Bettina und Philipp wollen endlich ein richtiges Zuhause haben!

Elisabeth Swoboda

Obwohl der Tag strahlend schön und der Himmel wolkenlos blau war, herrschte im Schatten klirrende Kälte. Denise von Schoenecker zog ihre pelzgefütterten Handschuhe aus und rieb sich ihre gefühllos gewordene Nase warm. Dabei stapfte sie ein paar Schritte weiter, dorthin, wo der Fuß des Rodelhanges in der Sonne lag. Sie trug unter ihrer dicken Jacke aus dunkelgrünem Walkloden noch einen Rollkragenpulli und dazu eine mollige Strickmütze, die über die Ohren reichte. Außerdem eine nicht gerade elegante, aber warme lange Hose, sowie braune Lederstiefel mit dicken Gummisohlen.

Dennoch konnte sie nicht behaupten, dass ihr warm war.

»Hallo, Tante Isi. Ziehst du mich hinauf? Bitte, Tante Isi.« Heidi Holsten eilte auf Denise zu, ihren Rodel hinter sich her ziehend.

»Ja, mach ich«, erwiderte die trotz ihrer Vermummung immer noch attraktiv wirkende Frau. »Vielleicht wird mir dabei warm.«

Die kleine Heidi, die einen daunengefütterten hellroten Skianzug trug und eine Wollmütze, bei der an der Stirn hellblonde Ponyfransen hervorlugten, setzte sich auf ihren Rodel. »Schneller, Tante Isi, schneller«, trieb sie gleich darauf Denise an.

»Puh, schneller kann ich nicht. Für dein Alter bist du ganz schön schwer«, stieß die Frau nach Atem ringend hervor. Nun schwitzte sie, als sie mit Heidi und dem Schlitten oben am Waldsaum anlangte.

»Hallo, Mutti«, wurde sie von einem etwa neun Jahre alten Jungen angerufen. »Das nächste Mal ziehst du mich, ja?«

»Nein, Henrik«, entgegnete Denise. »Einmal ziehen reicht mir. Ich setze mich dort drüben auf die Bank.«

Denise von Schoenecker war sofort nach dem Mittagessen mit Heidi Holsten und zwei weiteren kleinen Mädchen, die zurzeit in dem Kinderheim Sophienlust lebten, aufgebrochen. Ihr jüngster Sohn Henrik hatte sich ihnen angeschlossen, da er keine Lust gehabt hatte, mit den anderen Kindern auf dem zugefrorenen Waldsee von Wildmoos zum Eislaufen zu gehen.

»Eislaufen finde ich blöd«, hatte er geradeheraus erklärt. »Die Mädchen wollen auf dem Eis nicht richtig herumflitzen, auch nicht Fangen spielen, sondern ständig tanzen, und zwar nur mit Nick. Ich bin ihnen als Tanzpartner nicht gut genug.«

»Du bist ihnen wahrscheinlich noch zu jung«, hatte Denise mit einem ­verständnisvollen Lächeln erwidert. Manchmal wurde Henrik von Eifersucht auf seinen älteren Halbbruder Dominik von Wellentin-Schoenecker gepackt. Im allgemeinen verstanden sich die beiden Jungen jedoch prächtig, sie hielten zusammen wie Pech und Schwefel, wie Alexander von Schoenecker einmal halb ärgerlich, halb belustigt festgestellt hatte, nachdem Henrik etwas ausgefressen und Nick den Jüngeren gedeckt hatte.

Denise nahm ihre Mütze ab, schüttelte ihre halblangen dunklen Haare aus, lehnte sich zurück und genoss die hübsche Aussicht, die sich ihren Blicken bot. Der lange, teils steile, teils sanft geneigte Hang, der nach Schneefällen das bevorzugte Rodelgebiet der Kinder von Wildmoos darstellte, diente im Sommer als Kuhweide. Er war umsäumt von einem bei Ausflüglern beliebten Wanderweg. Am oberen Rand, dort, wo der Wald begann, standen mehrere Bänke und sogar ein aus groben Brettern zusammengefügter Tisch. Im Sommer hielten hier müde und hungrige Wanderer ihre Picknicks ab, jetzt lag auf dem Tisch eine dicke Schneedecke. Die Bänke hingegen waren gesäubert und trocken, denn seit den letzten Schneefällen war über eine Woche vergangen.

Im Stillen hoffte Denise, dass es für diesen Winter der letzte Schnee war. Sie gönnte natürlich den Kindern das Vergnügen des Rodelns und Eislaufens, aber sie selbst freute sich schon riesig auf den Frühling, wenn die ersten grünen Spitzen der Schneeglöckchen, Tulpen und Hyazinthen aus der Erde kamen. Noch war es allerdings nicht so weit, aber der Februar neigte sich seinem Ende zu.

Denise blinzelte. Der Schnee glitzerte in der Sonne und blendete sie. Zum Glück hatte sie vorsorglich ihre dunkle Sonnenbrille eingesteckt. Die holte sie jetzt aus ihrer Jackentasche und setzte sie auf. Ihr Blick schweifte ein Stückchen nach Westen. Dort lag Gut Schoeneich, ihr Zuhause. Von ihrem Platz aus konnte sie den Turm des schlossähnlichen Gebäudes erkennen, der im Sommer mit wildem Wein bewachsen war, jetzt waren die Mauern noch kahl. Hinter Schoeneich befand sich Sophienlust, doch das ehemalige Herrenhaus, welches sie, Denise, zu einem Kinderheim umgewandelt hatte, war von Wirtschaftsgebäuden und Nadelgehölzen verdeckt.

Die Frau auf der Bank holte tief Luft. Ein plötzliches Glücksgefühl durchströmte sie. Ja, hier war ihr Zuhause, auf Gut Schoeneich, das ihrem innig geliebten Ehemann Alexander gehörte, und teilweise auch in Sophienlust, das sie für Nick bis zu seiner Volljährigkeit verwaltete.

Schade, dass das alte Herrenhaus nicht noch geräumiger ist, ging es Denise durch den Sinn. Vielleicht könnte man den Dachboden ausbauen lassen, aber das würde horrende Kosten verursachen, und der Fonds ist schließlich dazu da, mittellosen Kindern den Aufenthalt bei uns zu ermöglichen. Den darf ich nicht für Umbauarbeiten in Anspruch nehmen. Auch würde ein größeres Haus mehr Personal …

»Tante Isi! Tante Isi! Tante Sabine ist da. Sie steht unten mit einer Frau. Die will aber nicht heraufkommen, sie mag nicht durch den tiefen Schnee stapfen, hat sie gesagt. Das da sind die Kinder von der anderen Tante. Sie heißen Philipp und Bettina. Andi ist ihr Freund«, sprudelte Heidi hervor und unterbrach damit Denises Überlegungen.

Denise begrüßte erst einmal Andi, den Sohn des Revierförsters Klaus Schröder und seiner Frau Sabine. Er war ein aufgeweckter kleiner Bursche, ein Jahr älter als Heidi und ebenso wie diese keine Spur verlegen. Im Vergleich zu Heidi und Andi wirkten die beiden anderen Kinder gedrückt und schüchtern. Sie musterten die ihnen fremde Frau mit scheuen Blicken.

Denise reichte den Geschwistern die Hand, aber beide schwiegen, als ob sie stumm wären.

»Du darfst mit meinem Rodel fahren, Tante Isi«, bot Andi der Verwalterin von Sophienlust an.

»Nein, Tante Isi fährt mit mir«, rief Heidi. »Setz dich auf meinen Schlitten, Tante Isi!«

Denise zögerte. Sie wäre ganz gern noch eine Weile auf der Bank sitzen geblieben, auf der anderen Seite aber wollte sie mit der Försterfrau plaudern. Deshalb nahm sie Heidis Angebot an und sauste mit dem kleinen Mädchen zu Tal. »Ah, das ging viel schneller und war weit angenehmer als der Aufstieg«, bemerkte sie lachend, als sie unten waren. Dann sah sie sich um und entdeckte Sabine Schröder, die auf sie zukam.

Nachdem die beiden Frauen einen raschen Händedruck gewechselt hatten, sagte Sabine: »Darf ich Ihnen Frau Herzog vorstellen, Frau von Schoenecker? Wir haben eine Zeit lang gemeinsam studiert. Edeltraud wohnt mit ihren beiden Kindern seit einem halben Jahr in Wildmoos.«

»Die Kinder habe ich vorhin schon kennengelernt«, sagte Denise freundlich und reichte nun auch Edeltraud Herzog die Hand, ohne sich etwas von der leichten Befremdung, die von ihr Besitz ergriffen hatte, anmerken zu lassen. Sabines Bekannte erschien ihr hier in der ländlichen Umgebung völlig fehl am Platz.

Edeltraud Herzog war höchst elegant in eine Waschbärjacke gehüllt. Dazu trug sie einen weitschwingenden Rock aus einem weichen Wollstoff und schwarze Stiefel mit hohen Absätzen. Auf eine Mütze hatte sie verzichtet. Ihr blondes Haar war aufgesteckt und ließ die Ohren frei, die bereits eine bläulich rote Färbung angenommen hatten. Der Aufzug der Frau war für einen Schaufensterbummel in der Innenstadt eher geeignet als für eine Rodelpartie mit kleinen Kindern. Ihre Pelzjacke war gewiss warm, doch an den Zehen und an den Ohren musste sie Denises Meinung nach erbärmlich frieren.

»Soll ich Ihnen meine Mütze leihen, Frau Herzog?«, fragte Denise impulsiv. »Ich habe sie vorhin abgenommen, weil mir da oben in der Sonne warm geworden ist.«

»Nein, danke, ich trage niemals Wollmützen«, wies Edeltraud das gut gemeinte Angebot zurück. »Sie verderben einem die Frisur, und man sieht so lächerlich damit aus.«

»Besser ein lächerliches Aussehen als abgefrorene Ohren«, warf Sabine ein.

»Ach, ich bleibe sowieso nicht mehr lange«, erklärte Edeltraud. In ihren leicht schräg gestellten graugrünen Augen lag ein missmutiger Ausdruck. »Ich hasse diese Kälte. Meine Zehen spüre ich schon gar nicht mehr.«

»Warum hast du dir nicht wärmere Stiefel angezogen? Und einen Mantel oder lange Hosen?«

»Sabine, du weißt recht gut, dass ich keine Lust habe, wie eine Vogelscheuche herumzurennen.«

»Du bezeichnest mich also als Vogelscheuche. Und Frau von Schoenecker ebenfalls«, rief Sabine lachend aus.

»Lass mich zufrieden«, zischte Edeltraud und rief nach ihren Kindern. Sie musste ihre Rufe mehrmals wiederholen, bis Philipp und Bettina schließlich gemächlich herbeitrotteten.

»Könnt ihr euch nicht beeilen, wenn ich euch rufe!«, fuhr Edeltraud die Geschwister an. »Ich bin schon halb erfroren, und ihr lasst euch Zeit. Verabschiedet euch von Andi. Wir brechen auf.«

»Was? Jetzt schon? Wir sind doch erst zweimal heruntergerodelt«, jammerte Philipp.

»Bitte, Mutti, ich mag noch nicht nach Hause«, erklärte Bettina weinerlich. »Mir gefällt es hier. Heidi hat mir versprochen, dass wir später einen Schneemann bauen.«

»Ja, einen Schneemann. Einen riesengroßen Schneemann«, pflichtete Philipp seiner Schwester bei. »Bitte, Mutti, lass uns noch bleiben, bis wir den Schneemann gebaut haben.«

»Kommt nicht infrage. Was bildet ihr euch eigentlich ein? Ich lasse mich auf keine stundenlange Diskussion mit euch beiden ein. Wo käme ich denn da hin? Philipp, hol den Rodel, wir gehen!«

»Ich will aber noch nicht nach Hause!«, schrie der Junge und stampfte mit dem Fuß auf. Im nächsten Moment heulte er auf. Seine Mutter hatte ihm eine Ohrfeige verpasst, die auf seiner Wange deutliche Spuren hinterlassen hatte.

Denise mischte sich nur ungern in die Angelegenheiten Fremder, aber dies hier war so ein Moment, wo sie es nicht lassen konnte. »Warum schlagen Sie Ihren Sohn?«, wandte sie sich vorwurfsvoll an Edeltraud Herzog. »Er hat doch nichts angestellt.«

»Philipp ist unfolgsam und aufsässig«, fuhr die junge Mutter Denise an.

Die Verwalterin von Sophienlust schüttelte den Kopf. »Nein. Unfolgsame und aufsässige Kinder benehmen sich ganz anders als Ihr Sohn, Frau Herzog. Philipp möchte lediglich noch ein bisschen rodeln und sich hinterher am Schneemannbauen beteiligen. Warum gönnen Sie Ihren Kindern nicht dieses harmlose Vergnügen? Heute ist so ein schöner Tag …«

»Was ich meinen Kindern gönne oder nicht gönne, ist allein meine Sache«, unterbrach Edeltraud. »Ich bestimme, und die beiden haben zu gehorchen … Basta!«

»Das sind aber nicht die richtigen Erziehungsmethoden, um …«

Abermals wurde Denise von Edeltraud unterbrochen. »Meine Erziehungsmethoden gehen Sie überhaupt nichts an!«, keifte die junge Frau, wobei ihre grünen Augen zornig funkelten.

»Edeltraud«, mischte sich Sabine warnend ein. »Du vergreifst dich Frau von Schoenecker gegenüber im Ton.«

»Ach, lasst mich doch zufrieden!«, fauchte die Getadelte. »Wenn Frau von Schoenecker mein Ton nicht passt, dann soll sie eben weghören … Philipp! Bettina! Ich gehe jetzt. Ich habe keine Lust, hier anzufrieren.« Ohne sich noch weiter um ihre Kinder zu kümmern oder sich von Sabine und Denise zu verabschieden, drehte sie sich um und stakste über eine festgetretene Spur im Schnee auf die Straße.

Philipp und Bettina griffen gleichzeitig nach der Schnur ihres Rodels und liefen ihrer Mutter nach, während das Gefährt hinter ihnen dreinholperte.

»Sie dürfen Edeltraud ihr Verhalten nicht übel nehmen«, sagte die Försterfrau entschuldigend zu Denise. »Es ist tatsächlich bitterkalt heute.«

»In der Sonne nicht«, machte Denise Sabine Schröder aufmerksam. »Ich saß vorhin oben am Waldrand auf einer Bank, das war recht angenehm.«

»Ziehst du mich noch einmal hinauf?«, meldete sich Heidi zu Wort. »Dann kannst du dich wieder auf die Bank setzen, Tante Isi. Später darfst du dann noch einmal mit mir hinunterfahren.«

»Das ist ein Angebot«, meinte Denise schmunzelnd, deutete der Kleinen an, auf dem Schlitten Platz zu nehmen, und machte sich an den Aufstieg.

Prompt verlangte Andi von seiner Mutter, dem Beispiel Tante Isis zu folgen. Natürlich erfüllte ihm Sabine seinen Wunsch.

Wenig später sanken die beiden Frauen völlig außer Atem auf die Holzbank. Heidi und Andi glitten indessen jauchzend zu Tal.

»Sie hatten recht, Frau von Schoenecker, hier ist es angenehm warm«, bemerkte die Försterfrau und wischte sich mit dem Taschentuch einige Schweißperlen von der glatten Stirn. »Schade, dass Edeltraud es so eilig hatte. Sie war bestimmt noch niemals hier oben und weiß nicht, wie hübsch die Aussicht ist.«

»Sind Sie schon lange mit Frau Herzog befreundet?«, erkundigte sich Denise.

»Befreundet ist nicht ganz der richtige Ausdruck«, erwiderte Sabine. »Wir kennen uns vom Studium her. Edeltraud studierte ebenso wie ich einige Semester Tiermedizin. Sie brach ihr Studium ab, als sie heiratete. Na ja, und da sie mit einem Maibacher verheiratet ist und Maibach nicht gar so weit von Wildmoos entfernt ist, blieben wir miteinander in Verbindung. Es ist allerdings eine eher lose Verbindung. Vor einem halben Jahr etwa ist Edeltraud mit den Kindern nach Wildmoos gezogen. Erwin – Herr Herzog – erwarb eines der Reihenhäuser in der unteren Bachgasse.«

»Herzog? Der Name kommt mir bekannt vor«, murmelte Denise. »In Maibach gibt es einen großen Laden für Geschirr und Haushaltsartikel, der so heißt.«

»Sehr richtig«, bestätigte Sabine. »Dieser Laden gehört Erwin. Er hat ihn von seinen Eltern übernommen, nachdem diese sich zur Ruhe gesetzt hatten. Die Eltern sind dann in eine Neubauwohnung gezogen und haben Erwin und Edeltraud die Wohnung oberhalb des Ladens überlassen. Es ist eine sehr schöne Wohnung. Obwohl das Haus mitten in der Innenstadt liegt, verfügt es über einen großen Hof mit schönen alten Bäumen. Es ist richtig romantisch dort. Wenn man unter den mächtigen alten Nussbäumen sitzt, kann man es kaum glauben, dass wenige Meter entfernt der Verkehrsstrom durch die Straßen fließt. Ich habe Edeltraud einige Male dort besucht.« Sie runzelte ein wenig die Stirn. »Komisch«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, war fest davon überzeugt, dass Edeltraud im höchsten Glück schwelgte. Sie besaß alles, was sich eine Frau nur wünschen kann. Einen sympathischen Ehemann, zwei reizende Kinder, verständnisvolle Schwiegereltern, eine schön eingerichtete Wohnung und so weiter. »Ich wunderte mich, als ich hörte, wie sie Erwin mit ihrem Wunsch in den Ohren lag, nach Wildmoos übersiedeln zu wollen. Ich weiß bis jetzt nicht, was sie dazu bewogen hat. Edeltraud ist eher ein Stadtmensch.«

»Diesen Eindruck erweckte sie auch bei mir«, meinte Denise. »Obwohl man nach einer ersten Begegnung nicht urteilen sollte.«

»Ich fürchte, Edeltraud hat auf Sie keinen guten Eindruck gemacht«, äußerte Sabine bedauernd. »Sie war heute übelster Laune. Hm, irgendwie kann ich ihr das nachfühlen. Ihre Ehe ist gescheitert, die Scheidung scheint sie stark mitgenommen zu haben.«

»Ihre Bekannte ist geschieden?«

»Ja. Seit Kurzem. Den Grund kenne ich nicht. Es ist mir ein Rätsel. Edeltraud sprach von unüberwindlicher Abneigung. Ich kann es mir nicht vorstellen, nachdem sie es sieben Jahre mit ihrem Mann ausgehalten hat. Ja, man weiß eben nie, was in den Mitmenschen vorgeht. Edeltraud neigte schon von jeher zu einer gewissen Rastlosigkeit. Während des Studiums schwärmte sie von fremden Ländern, träumte davon, sich eines Tages in Australien oder Südafrika anzusiedeln. Wir anderen hielten ihre Schwärmerei für ein Hirngespinst, und das war es wohl auch. Jedenfalls hat sie ihre Träume nicht verwirklicht, sondern Erwin Herzog geheiratet und sich in Maibach niedergelassen.«

Denise hatte der Försterfrau nur, mit halbem Ohr zugehört. »Die Kinder tun mir leid«, sagte sie plötzlich aus ihrem eigenen Gedankengang heraus. »Der Vater kümmert sich vermutlich nicht mehr um die beiden, und die Mutter lässt ihre schlechte Laune an ihnen aus.«

»Dass Erwin sich nicht um Philipp und Bettina kümmert, glaube ich nicht. So viel ich weiß, hat er zwar von sich aus auf das Reihenhaus in Wildmoos verzichtet, die Kinder hätte er jedoch gern behalten. Edeltraud musste wie eine Löwin um die beiden kämpfen. So hat sie sich selbst ausgedrückt, als sie mir von der Scheidung erzählte.«

»Merkwürdig«, ließ Denise sich vernehmen. »Mir kam Frau Herzog nicht gerade wie eine liebende Mutter vor.«

Das Gespräch wandte sich anderen Themen zu.

*

Zur gleichen Zeit rekelte sich Edeltraud auf dem weichen Sofa in ihrem teuer eingerichteten Wohnzimmer. Die Kinder hielten sich draußen im Garten auf. Nach ihrer Heimkehr hatten sich die beiden völlig unleidlich gezeigt, sodass die Mutter ihnen schließlich wieder warme Kleidung angezogen und sie hinausgeschickt hatte. Dabei hatte sie ihnen eingeschärft, dass sie den Garten ja nicht verlassen durften. Dennoch fand die Frau keine rechte Ruhe. Sie warf die Illustrierte, in der sie lustlos geblättert hatte, zu Boden, gähnte, dehnte sich und stand auf. Mit wenigen Schritten war sie an der Glastür, die vom Wohnzimmer aus direkt auf die Terrasse führte. Im Sommer mochte diese Tür ja ganz praktisch sein, doch jetzt, in der kalten Jahreszeit, drang ein eisiger Luftzug durch die Fugen.

»Die Tür gehört ordentlich abgedichtet«, sagte die Frau halblaut zu sich selbst. »Ich muss einen Handwerker kommen lassen. Das wird wieder einmal ins Geld gehen. Wenn kein Mann im Haus ist, der so kleinere Reparaturen erledigt …« Sie zuckte ärgerlich die Schultern und schnitt eine Grimasse.

Edeltraud schob den Vorhang beiseite und blickte hinaus in den verschneiten Garten. Philipp und Bettina schaufelten die weiße Pracht mit ihren langstieligen Kinderschaufeln zu einem Haufen zusammen, welcher offensichtlich den Körper eines Schneemannes bilden sollte, denn die beiden hatten aus dem Keller einen Reiserbesen geholt und der Mutter vorhin einen alten Hut abgebettelt.

Eine Weile beobachtete Edeltraud Herzog ihre beiden Sprösslinge, die mit Feuereifer am Werk waren. Die Kälte schien ihnen nichts auszumachen. Sie hatten rote Wangen, und ihr Atem bildete kleine weiße Wölkchen in der Luft.

Die Frau ließ den Vorhang wieder los und kehrte zum Sofa zurück. Einige Seiten der Illustrierten waren den neuen Frühjahrsmodellen gewidmet, beinahe ein Hohn, wenn man nach draußen sah. Trotzdem studierte Edeltraud die Kleider, Overalls, Hosen und Blusen mit äußerster Sorgfalt. So ein graugrünes Kleid mit weißen Paspeln und einem schrägen Verschluss müsste mir eigentlich fantastisch stehen, ging es ihr durch den Sinn. Oder dieser weiße Overall mit den riesigen lilabraun gestreiften Taschen, das wäre etwas für mich. Doch in dieses öde Nest passen diese Sachen nicht, das heißt, warum eigentlich nicht? Sollen doch die langweiligen, konservativen Bürger und vor allem die weiblichen die Augen aufsperren! Ich kaufe mir so einen Overall, dazu einen breiten violetten Gürtel, violette Sandalen … Hm, eine neue Tasche brauche ich ebenfalls. Wenn ich schon in diesem öden Nest sozusagen gefangen bin, möchte ich wenigstens schicke Sachen tragen. Zum Glück ist Erwin nicht knausrig. Als es um die Alimente ging, unternahm er keinerlei Versuche zu feilschen. Tja, eines muss man dem guten Erwin lassen, er ist ein großzügiger Mensch. Bloß schade, dass er mir derart auf die Nerven ging.

Edeltraud seufzte, setzte sich auf und legte die Zeitschrift neben sich auf das Sofa. Dann streckte sie ihre Beine weit aus und betrachtete sie nachdenklich. Sie waren lang und wohlgeformt, das ließ sich nicht bestreiten. Nirgends zeigte sich die Spur einer Krampfader. Trotzdem seufzte die Frau abermals.