Alles nur ein Spiel - Elisabeth Swoboda - E-Book

Alles nur ein Spiel E-Book

Elisabeth Swoboda

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Die Nachmittagsvorstellung des Maibacher Stadttheaters war bis zum letzten Platz ausverkauft, ein Umstand, der nicht häufig eintrat. »Puh, ist mir heiß!«, stöhnte Heidi Holsten nach dem ersten Akt, als der Vorhang gefallen und der Applaus für die Darsteller verebbt war. »Zieh deine Strickjacke aus«, riet Angelina Domin, die ihrer lustigen Sommersprossen wegen von allen Pünktchen gerufen wurde. Heidi entledigte sich des überflüssigen Kleidungsstückes, quengelte jedoch weiter: »Ich habe einen Riesendurst. Wann fahren wir nach Hause? Warum bleibt ihr alle sitzen? Das Theaterstück ist doch zu Ende.« »Nein, Heidi, es ist nicht zu Ende«, belehrte Irmela Groote das kleine Mädchen. »Wir haben erst den ersten Akt gesehen. Kennst du denn nicht das Märchen vom Schneewittchen? Du musst es kennen, Schwester Regine hat es dir schon oft vorgelesen.« »Hm«, brummte Heidi und gähnte herzhaft. »Wir haben bis jetzt nur gesehen, wie sich die böse Stiefmutter ärgerte, weil Schneewittchen soviel schöner ist als sie, wie sie dem Jäger den Auftrag gibt, Schneewittchen zu töten, und wie der Jäger Schneewittchen dann laufenlässt. Praktisch hat das Stück ja erst angefangen!« »Aber warum sind die anderen Leute alle fortgegangen?«, fragte die Fünfjährige.

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Sophienlust (ab 351) – 353 –

Alles nur ein Spiel

Kann Stefanie die Pläne ihrer intriganten Freundin verhindern?

Elisabeth Swoboda

Die Nachmittagsvorstellung des Maibacher Stadttheaters war bis zum letzten Platz ausverkauft, ein Umstand, der nicht häufig eintrat.

»Puh, ist mir heiß!«, stöhnte Heidi Holsten nach dem ersten Akt, als der Vorhang gefallen und der Applaus für die Darsteller verebbt war.

»Zieh deine Strickjacke aus«, riet Angelina Domin, die ihrer lustigen Sommersprossen wegen von allen Pünktchen gerufen wurde. Heidi entledigte sich des überflüssigen Kleidungsstückes, quengelte jedoch weiter: »Ich habe einen Riesendurst. Wann fahren wir nach Hause? Warum bleibt ihr alle sitzen? Das Theaterstück ist doch zu Ende.«

»Nein, Heidi, es ist nicht zu Ende«, belehrte Irmela Groote das kleine Mädchen. »Wir haben erst den ersten Akt gesehen. Kennst du denn nicht das Märchen vom Schneewittchen? Du musst es kennen, Schwester Regine hat es dir schon oft vorgelesen.«

»Hm«, brummte Heidi und gähnte herzhaft.

»Wir haben bis jetzt nur gesehen, wie sich die böse Stiefmutter ärgerte, weil Schneewittchen soviel schöner ist als sie, wie sie dem Jäger den Auftrag gibt, Schneewittchen zu töten, und wie der Jäger Schneewittchen dann laufenlässt. Praktisch hat das Stück ja erst angefangen!«

»Aber warum sind die anderen Leute alle fortgegangen?«, fragte die Fünfjährige.

»Ach, die sind wahrscheinlich in den Pausenraum gegangen, um zu rauchen oder etwas zu trinken«, erwiderte Irmela.

Trinken war für Heidi das Stichwort, prompt rief sie: »Ich möchte auch etwas trinken! Wo ist dieser Raum?«

»Äh – ich habe kein Geld mit«, wandte Pünktchen ein. »Tante Isi hat mir zwar beim Weggehen einen Geldschein zugesteckt, doch ich habe ihn auf den großen Tisch in der Halle gelegt und dummerweise dort vergessen.«

»Können wir das Geld nicht schnell holen?«, schlug Heidi vor.

»Heidi, du Dummerchen. Sophienlust ist in Wildmoos, und das ist ein schönes Stück von Maibach entfernt.«

»Die Fahrt mit dem Bus war aber ganz kurz«, wandte das Mädchen ein.

»Ja, weil Hermann uns mit dem Schulbus hergefahren hat«, sagte Pünktchen. »Der öffentliche Bus braucht länger, weil er an jeder Haltestelle stehenbleiben muss, damit die Leute ein- und aussteigen können. Außerdem verkehren nicht viele Busse, überhaupt jetzt, am Samstagnachmittag. Du musst dich gedulden, Heidi, und deinen Durst verdrängen bis zum Schluss der Aufführung.«

»Hoffentlich bin ich dann nicht verdurstet«, bemerkte die Kleine.

»So schnell verdurstet man nicht«, tröstete Pünktchen und strich Heidi über die hellblonden Löckchen. Für gewöhnlich wurde Heidis Haar von Regine Nielsen, der Kinderschwester, am Morgen zu einem Pferdeschwänzchen gebändigt, aber heute, zur Feier des Theaterbesuchs, trug das Mädchen ihr Haar offen.

Irmela hatte während des Disputs zwischen Pünktchen und Heidi in ihrer Umhängetasche gekramt und ihre Barschaft gezählt. Das Ergebnis befriedigte sie. Sie verkündete triumphierend: »Ich habe genug Geld mit. Es reicht aus. Wir können uns jeder eine Flasche Cola beim Büffett kaufen.«

Die Schwestern Vicky und Angelika Langenbach, die sich halblaut über das Stück und die Schauspieler unterhalten hatten, horchten auf.

»Reicht es wirklich?«, fragte Vicky. »Im Theaterbüfett ist sicher alles teurer als im Laden. Wir könnten ja zu zweit oder zu dritt eine Flasche trinken. Durstig bin ich nämlich auch, aber ein paar Schluck würden mir reichen.«

»Ich habe genug Geld«, wiederholte Irmela. »Ich lade euch alle ein. Meine Mutter hat mir erst unlängst mein Taschengeld geschickt, daher bin ich gut bei Kasse.«

»Na fein!«, rief Angelika »Dann nichts wie hin!«

Die Mädchen erhoben sich von ihren Sitzen, aber ausgerechnet in diesem Augenblick ertönte die Klingel.

»Die Pause ist um«, sagte Pünktchen und kehrte zu ihrem Platz zurück. Alle außer Heidi folgten ihrem Beispiel.

»Was ist mit meiner Cola?«, jammerte das jüngste der Kinder.

»Du bekommst es in der nächsten Pause«, vertröstete Irmela die Kleine.

»Aber ich bin jetzt durstig«, wandte Heidi ein.

»Bis zur nächsten Unterbrechung wirst du es schon aushalten«, sagte Pünktchen ein wenig unwillig.

»Komm, setz dich wieder auf deinen Platz, du stehst sonst den anderen Leuten im Weg herum.«

Heidi gehorchte, jedoch nicht ohne aufzubegehren. »Warum bist du so unfreundlich zu mir, Pünktchen?«, stellte sie das ältere Mädchen zur Rede.

»Ich bin nicht unfreundlich«, stritt sie ab.

»Doch, du bist unfreundlich«, beharrte die Kleine. »Ich habe Durst, aber du erlaubst Irmela nicht, dass sie mir etwas zum Trinken kauft.«

»Das stimmt nicht«, entgegnete Pünktchen hitzig. »Erstens habe ich Irmela keine Vorschriften gemacht, zweitens bin ich froh, dass sie Geld mithat und unsere Getränke bezahlen will. Ich bin nämlich zufälligerweise ebenfalls durstig. Aber ich mache deswegen keinen Wirbel. Ich gedulde mich bis zur nächsten Pause. Das Stück geht gleich weiter. Die anderen Zuschauer kommen alle zurück. In ein paar Sekunden wird es dunkel werden und der Vorhang wird aufgehen. Interessiert dich denn nicht, was als nächstes passiert?«

»Nein«, entgegnete Heidi unumwunden. »Ich bin durstig. Mein Mund ist innen ganz ausgetrocknet. Ich …«

Sie verstummte plötzlich und lehnte sich so weit über die Brüstung, dass die neben ihr sitzende Irmela sie erschrocken an ihrem Kleid packte und zurückzog.

Denise von Schoenecker, die für die Kinder die Theaterkarten besorgt hatte, hatte nicht geknausert. Sie hatte ausgezeichnete Sitzplätze in der Mitte der ersten Reihe gekauft. Demzufolge hatten die Kinder nicht nur freie Sicht auf die Bühne, sondern auch auf die seitlichen Logen.

»Dort drüben sitzt Filzchen«, krähte Heidi, winkte eifrig zu einer Loge hinüber und versuchte sich aus Irmelas Griff zu befreien. »Sie sieht mich nicht. – He, Filzchen! Hallo Filzchen!«

»Willst du wohl still sein, Heidi!«, zischte Irmela. »Die Leute gucken schon alle. Was sollen die von uns denken?«

Heidi achtete nicht auf Irmelas Ermahnung, sondern winkte und schrie weiter. Ihre Rufe gingen im allgemeinen Lärm unter, denn da es sich um eine Märchenvorstellung handelte, bestand das Publikum hauptsächlich aus Kindern, von denen sich die meisten nicht weniger lebhaft als Heidi gebärdeten.

Erst als die Lichter verloschen, gab Heidi ihre Bemühungen, Filzchens Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, auf. Sie setzte sich manierlich hin, vergaß ihren trockenen Gaumen und verfolgte das Geschehen auf der Bühne. Beim neuerlichen Auftritt der bösen Stiefmutter – diesmal in Verkleidung einer Apfelfrau – erhob sich im Zuschauerraum ein allgemeines Gezischel. Einige Kinder riefen dem armen Schneewittchen zu, ja nicht in den vergifteten Apfel zu beißen, natürlich umsonst. Das Spiel auf der Bühne ging weiter, Schneewittchen musste sterben und wurde in den gläsernen Sarg gelegt. Damit war der zweite Akte vorbei, der Vorhang fiel, die Deckenbeleuchtungen und die kleinen Lampen im Logenrund flammten auf.

Diesmal beklagte Heidi sich nicht über Durst, sondern schimpfte lautstark über die böse Königin, welche das arme Schneewittchen skrupellos ums Leben gebracht hatte.

»Ich bitte dich, Heidi, reg dich nicht so auf«, mahnte Pünktchen lachend. »Das Ganze ist doch bloß ein Spiel.«

»So?«, fragte das Mädchen zweifelnd. Ohne richtig Atem zu holen, fügte sie aufgebracht hinzu: »Warum hat Schneewittchen denn nicht auf die Kinder gehört? Sie haben ihm doch zugerufen, dass es nicht von dem Apfel kosten soll.«

»Aber, Heidi, begreifst du denn nicht? Schneewittchen ist nicht wirklich tot.«

»Nein, es wird wieder lebendig, wenn es den vergifteten Apfel ausspuckt«, unterbrach Heidi Pünktchens Erklärung.

»So habe ich das nicht gemeint«, sagte die Sommersprossige. »Ich wollte dir begreiflich machen, dass auf der Bühne Schauspieler agieren. Ganz normale Leute, die für ein paar Stunden in verschiedene Rollen geschlüpft sind. Was wir gesehen haben, ist nicht – ist nicht Wirklichkeit.«

»Nein? – Aber die anderen Leute leben doch! Bis auf Schneewittchen. Schneewittchen ist für eine Weile tot.«

»Heidi, bitte stell dich nicht so an«, seufzte Pünktchen. »Du hast doch schon öfters im Fernsehen Märchenspiele gesehen …«

»Im Fernsehen sind die Leute nicht wirklich. Da stecken sie in einem kleinen Kasten. Das weiß ich. Ich bin ja nicht dumm«, behauptete Heidi.

Pünktchen schüttelte verzweifelt den Kopf.

»Ich dachte, wir wollten zum Büfett«, ließ Irmela sich vernehmen.

»Ja, holen wir uns was zum Trinken«, rief Vicky und Angelika wie aus einem Mund.

Die kleine Gesellschaft trottete in den Pausenraum, wo Irmela für jedes der Kinder eine Flasche Limonade erstand. An den Strohhalmen saugend, blieben sie für eine Weile stumm, bis Heidi rief: »Ah, da ist ja Filzchen und ihre Tante Elise.«

Während des zweiten Aktes hatte Heidi nicht mehr an ihre Freundin in der Loge gedacht, doch als sie sie jetzt im Pausenraum entdeckte, eilte sie spontan auf sie zu.

Filzchen hieß eigentlich Felicitas und war das Töchterchen des in Wildmoos ansässigen Arztehepaares Dr. Frey. Sie kam oft nach Sophienlust und war mit den dort wohnenden Kindern bestens vertraut. Daher freute sie sich Heidi zu treffen und begann sogleich angeregt mit ihr zu plaudern.

Auch die anderen Mädchen begrüßten nun Elise Karsten und Filzchen und wechselten einige Worte mit ihnen. Dabei mussten sie feststellen, dass Filzchen der gleichen Ansicht wie Heidi war und die Machenschaften der bösen Königin lauthals verdammte.

»Ich freue mich schon, wenn sie zum Schluss so lange auf glühenden Kohlen tanzen muss, bis sie tot umfällt«, verkündete Filzchen rachsüchtig.

»Aber, Filzchen, wer wird denn so grausam sein«, rügte Elise Karsten ihre Großnichte.

»Ich bin nicht grausam. Die böse Königin ist grausam, und dafür muss sie bestraft werden«, erklärte das Kind.

»Eigentlich ist es eine undankbare Aufgabe, die Rolle der bösen Königin zu spielen«, meinte Pünktchen versonnen zu Irmela.

»Ach, ich weiß nicht«, entgegnete diese. »Mir würde die Rolle Spaß machen. Sie ist viel interessanter als die des Schneewittchens. Übrigens habe ich eine Idee! Wir könnten doch auch wieder einmal ein Theaterstück aufführen. Eines, das wir selbst gedichtet haben.«

»Ich glaube nicht, dass die Jungen von deiner Idee begeistert sein werden«, meinte Angelika skeptisch. »Bei unserer letzten Aufführung mussten wir Nick beinahe mit Gewalt dazu bringen, die Rolle des Königs zu übernehmen. Er fand das ganze Getue albern, und die übrigen Jungen pflichteten ihm bei.«

»Aber immerhin haben dann doch alle mitgemacht«, trumpfte Irmela auf.

»Ja, das ist richtig«, gab Angelika zu. »Wir hatten die Jungen davon überzeugt, dass sie sich nicht ausschließen dürfen.«

»Was uns ein Mal gelungen ist, wird uns auch ein zweites Mal gelingen«, meinte Irmela zuversichtlich. »Als erstes müssen wir Nick herumkriegen. Er ist der Älteste, daher werden alle seinem Beispiel nacheifern wollen. Wenn wir Nick einmal für unseren Plan gewonnen haben, ist alles Weitere ein Kinderspiel.«

»Hm – ich weiß nicht so recht«, zweifelte Pünktchen. »Habt ihr vergessen, was die Jungen für einen Radau geschlagen haben, als Tante Isi mit ihrem Vorschlag herausrückte, wir könnten uns eine Nachmittagsvorstellung von Schneewittchen anschauen? Sie waren alle dagegen – selbst die Kleinsten. Keiner von ihnen wollte mitkommen.«

»Na ja, irgendwie kann man es ihnen nicht verübeln«, sagte Angelika Langenbach. »So eine Märchenaufführung ist ja wirklich eine ziemlich kindische Angelegenheit. Für so kleine Kinder wie Heidi und Filzchen mag es ja ganz unterhaltsam sein, aber ich selbst finde es ehrlich gesagt, langweilig.«

»Tu nicht so erhaben, Angelika«, rügte Irmela das Mädchen. »Ich bin älter als du, und ich finde die Darstellung nicht kindisch. Mir gefällt sie.«

»Ja, weil du doch für diese Schauspiele­rin …« Angelika hielt inne und blätterte wild in ihrem Programmheft. »Weil du für Stefanie Wotke schwärmst«, fuhr sie fort.

»Na und? Stefanie Wotke ist doch tatsächlich eine fantastische Schauspielerin«, erklärte Irmela hitzig.

Angelika zuckte mit den Schultern.

»Du hättest sie als Gretchen im Faust sehen sollen oder als Jungfrau von Orleans, oder als Katharina in ›Der Widerspenstigen Zähmung‹, oder …«

»Für solche Theaterstücke bin ich noch zu jung«, unterbrach die Zwölfjährige Irmelas Aufzählung klassischer Rollen.

»Ach! und für Schneewittchen fühlst du dich nicht zu alt. Was interessiert dich eigentlich?«

»Zirkus Und Wildwestfilme«, beantwortete Angelika die etwas spöttisch gestellte Frage voller Offenheit

*

Nach der Vorstellung standen die Kinder unschlüssig vor dem Portal des Theaters, dort sollte sie der Chauffeur Hermann abholen. Irmela blickte auf ihre Armbanduhr und seufzte.

Heidi gähnte. »Ich bin müde«, quengelte sie. »Ich möchte in mein Bettchen. Wann kommt Hermann denn endlich?«

»Erst in einer halben Stunde«, erwiderte Irmela. »Wir haben alle gedacht, das Stück würde länger dauern«, fügte sie erklärend hinzu.

»Filzchen und Tante Elsie sind mit dem Bus nach Wildmoos gefahren. Könnten wir das nicht ebenfalls machen?«, schlug Vicky vor.

»Nein. Wir müssen auf Hermann warten«, entgegnete Pünktchen.

»Aber eine halbe Stunde – das ist ja eine Ewigkeit«, rief Vick.

»Gehen wir ein Stück die Straße hinunter und schauen uns die Sachen in den Auslagen an«, schlug Irmela vor. »Dabei vergeht uns die Zeit schneller.«

»Nein, ich mag nicht gehen. Mir tun meine Füße weh«, jammerte Heidi.

»Wovon denn? Du hast die ganze Zeit über gesessen. Erzähl uns ja nicht, du hättest vom vielen Herumlaufen Blasen bekommen«, brummte Pünktchen.

»Nein, Blasen habe ich keine«, gab Heidi zu. »Aber meine Füße sind gewachsen. Heute Mittag haben mir meine Schuhe noch gepasst, jetzt sind sie mir zu klein.«

»So ein Unsinn«, platzte das sommersprossige Mädchen heraus, besann sich jedoch und räumte ein, dass Heidis Füße wahrscheinlich durch die Wärme ein bisschen angeschwollen waren und jetzt nicht mehr in die engen Lackschuhe passten.

Irmela blickte neuerlich auf ihre Armbanduhr und verkündete, dass die Wartezeit nunmehr auf fünfundzwanzig Minuten geschrumpft sei.

»Das bedeutet, dass wir erst fünf Minuten hinter uns haben«, bemerkte Angelika düster.

»Sehr gut. Du bist eine ausgezeichnete Rechnerin«, lobte Irmela.

»Frozzle nicht. Sonst …«

»Ich hab’s!« Pünktchens plötzlicher Ausruf verschlug Angelika die Sprache. »Wir gehen zum Bühneneingang und warten, bis Stefanie Wotke herauskommt. Dann bitten wir sie um ein Autogramm«, sprudelte die Dreizehnjährige hervor.

»Um was bitten wir?«, fragte Heidi. »Um ein Auto? Wir brauchen kein Auto. Hermann holt uns mit dem Schulbus ab. Und es täte uns auch gar nichts nützen, weil wir nicht fahren können. Nicht einmal Irmela kann das. Dazu braucht man einen Führerschein.«

»Du hast mich falsch verstanden, Heidi. Nicht Auto – Autogramm.«

»Was ist das – ein Autogramm?«, verlangte Heidi zu wissen.

»Eine Unterschrift. Wir bitten Stefanie Wotke, dass sie ihre Unterschrift auf unsere Programme setzt.«

»Au ja, das tun wir«, ging Irmela auf Pünktchens Vorschlag ein. »Beeilen wir uns. Die Schauspieler sind mit dem Abschminken und Umziehen vielleicht schon fertig.«

Wohl oder übel folgten die anderen Kinder den beiden ältesten Mädchen zum Bühneneingang. Dabei murmelte Heidi unaufhörlich das für sie neue Wort »Autogramm« vor sich hin. Je öfter sie es aussprach, desto komischer klang es in ihren Ohren. Gleichzeitig faszinierte es sie.

»Autogramm, Autogramm«, summte Heidi. »Auto – Gramm. Gramm – Auto. Hundert Gramm. Hundert Gramm Käse. Hundert Gramm Wurst. Hundertgramm – Autogramm. Wurstgramm. Käsegramm. Autogramm. Grrramm. Grr-a-a-ammmm.«

»Heidi, halt um Himmels willen den Mund«, stöhnte Irmela. »Heute bist du unausstehlich. Was ist bloß in dich gefahren?«

»Autogra-a-amm«, piepste Heidi.

»Heidi, sei vernünftig«, bat Pünktchen. »Die Leute halten dich sonst für ungezogen.«

»Da sind fast gar keine Leute«, stellte die Kleine fest.

Und diese Feststellung stimmte. Außer ihnen warteten bloß zwei junge Burschen vor dem Künstlereingang. Der erste Schauspieler, der das Theater verließ, war der Darsteller des Prinzen. Von der Nähe betrachtet und in Zivilkleidung wirkte er nicht so jung und strahlend wie auf der Bühne. Sein Blick streifte etwas erstaunt die Mädchengruppe, worauf Pünktchen ihm ihr Programmheft hinhielt und um ein Autogramm bat. Sichtlich geschmeichelt erfüllte er ihr den Wunsch.

Als nächstes kam die Frau zum Ausgang, die das Schneewittchen gespielt hatte. Ihr Anblick war nicht so enttäuschend wie der des Prinzen, sie war eine attraktive junge Dame, schlank, mit langen dunklen Haaren und sorgfältig zurechtgemachtem Gesicht. Um ihre Schultern hing lässig ein weiter Mantel. Die beiden Burschen stürzten auf sie zu, blieben jedoch abrupt stehen, als sie merkten, das die Schauspielerin sich in Begleitung eines hochgewachsenen Mannes mittleren Alters befand. Sie begnügten sich damit, dem Paar nachzusehen, bis es mit einem schnittigen Sportwagen außer Sicht war. »Diese hochnäsige Ziege«, knirschte einer der beiden Burschen. »Heute sind wir Luft für sie. Sie hat sich was Besseres aufgegabelt. Ich habe es satt. Ich renne ihr nicht länger nach und lasse mich von ihr an der Nase herumführen.«

Die beiden jungen Männer trollten sich, nun standen nur noch die Kinder von Sophienlust vor dem Bühneneingang.

Heidi, die Schneewittchens Abgang mit großen Augen verfolgt hatte, fragte: »Warum ist sie nicht mit dem Prinzen zusammen weggegangen? Sie ist doch jetzt mit ihm verheiratet. Wieso hat sie einen anderen Mann?«

Pünktchen setzte zu einer Antwort an, aber da bemerkte sie Stefanie Wotke, die, in der halb geöffneten Tür stehend, mit dem Portier sprach. Nachdem sie dem alten Mann noch einmal freundlich zugenickt hatte, trat Pünktchen ihr beherzt in den Weg und sagte ihr Sprüchlein auf.

Die Schauspielerin lächelte erfreut, es passierte nicht allzu oft, dass sie um ein Autogramm gebeten wurde. »Ihr habt auf mich gewartet? Das finde ich aber nett von euch«, sagte sie mit ihrer klangvollen, angenehmen Stimme, die jetzt, im Privatleben sozusagen, nur noch entfernte Ähnlichkeit mit dem schrillen Organ der bösen Königin hatte.

Trotzdem erkannte Heidi die Frau auf Anhieb, sie streckte anklagend ihren Zeigefinger aus und schrie: »Pfui, die schlimme Stiefmutter! Pfui! Pfui! Wieso ist sie nicht tot?«

»Heidi – du – du kleines Ungeheuer. Du blamierst uns bis auf die Knochen«, zischte Irmela.

Einen Augenblick lang war die Schauspielerin sprachlos, aber dann siegte ihr Humor, und sie musste lachen.

»Bitte, entschuldigen Sie Heidis schlechtes Benehmen«, sagte Pünktchen kleinlaut. Sie wäre am liebsten im Erdboden versunken. »Hei –, Heidi ist noch so klein«, fuhr sie leicht stammelnd fort. »Für gewöhnlich ist sie recht klug. Ich weiß nicht, was heute mit ihr los ist. Sie will den Unterschied zwischen Spiel und Wirklichkeit einfach nicht begreifen.«

»Ich bin nicht beleidigt«, sagte Stefanie Wotke lachend. Sie war eine gut aussehende Frau, allerdings nicht so jung und auch nicht so auffallend zurechtgemacht wie die Kollegin, welche das Schneewittchen verkörpert hatte. »Seid ihr Geschwister?«, erkundigte sie sich, während sie ihre Namenszug auf die Programmhefte der Kinder kritzelte.

»Angelika und Vicky sind Schwestern«, erwiderte Irmela. »Wir anderen sind nicht miteinander verwandt. Aber wir wohnen alle in Sophienlust.«

»Warum erzählst du der bösen Stiefmutter, wo wir wohnen?«, krähte Heidi. »Ich habe Angst, dass sie kommt und uns alle vergiftet mit ihren schlechten Äpfeln.«

»Heidi! Bitte!«, stöhnte Pünktchen und hielt dem kleinen Mädchen einfach den Mund zu, um sie an weiteren beleidigenden Äußerungen zu hindern.

»Ich vergifte euch bestimmt nicht«, erklärte Stefanie Wotke schmunzelnd. »Ich habe auch Schneewittchen nicht vergiftet. Ich bin ein sehr friedlicher Mensch. Außerdem weiß ich gar nicht, wo Sophienlust – ah, ist das nicht ein Kinderheim? In – in Wildmoos?«

»Ja. Kennen Sie es? Es war früher ein Herrenhaus. Wir haben einen großen Park. Gleich daneben liegt Gut Schoeneich, und der Waldsee ist auch ganz in der Nähe«, schwärmte Irmela.

»Der Waldsee ist mir ein Begriff. Ich bade im Sommer manchmal dort. Gut Schoeneich kenne ich nicht. Seid ihr die einzigen Kinder, die in dem Kinderheim leben? Wohnen dort nur Mädchen?«