Sophienlust Staffel 10 – Familienroman - Judith Parker - E-Book
SONDERANGEBOT

Sophienlust Staffel 10 – Familienroman E-Book

Judith Parker

0,0
18,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren: Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. E-Book 91: Pflegekind Barbi E-Book 92: Tante Andreas Tierheim E-Book 93: Kerstin verliert ihren Hass E-Book 94: Mit Mutti ist die Welt erst schön E-Book 95: Alles Glück der Erde E-Book 96: Verzauberter Sommer E-Book 97: Ein Nest für Steffi E-Book 98: Ein Nest für Steffi E-Book 99: Wo sind deine Elter, kleiner Tim? E-Book 100: Wo ist mein Elternhaus?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1501

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Pflegekind Barbi

Tante Andreas Tierheim

Kerstin verliert ihren Hass

Mit Mutti ist die Welt erst schön

Alles Glück der Erde

Verzauberter Sommer

Ein Nest für Steffi

Einem Fremden überlassen

Wo sind deine Elter, kleiner Tim?

Wo ist mein Elternhaus?

Sophienlust – Staffel 10–

E-Book 91-100

Judith Parker Aliza Korten Isabell Rohde Bettina Clausen

Pflegekind Barbi

Wer gibt der Kleinen endlich Geborgenheit und Liebe?

Roman von Parker, Judith

Vergnügt kletterten die Kinder von Sophienlust aus dem roten Schulbus. Sie kamen vom Sonntagsgottesdienst, den sie in Begleitung des Musik- und Zeichenlehrers Wolfgang Rennert und dessen Frau Carola in der Kirche von Wildmoos besucht hatten.

Die Heimleiterin, Frau Rennert, flankiert von dem Bernhardiner Barri und der schwarzen Dogge Anglos, erwartete die Kirchgänger auf der Freitreppe. Carolas erste Sorge galt – wie meist, wenn sie etwas länger fort gewesen waren – ihren Zwillingen. Auf ihre besorgte Frage antwortete ihre Schwiegermutter: »Alexandra und Andreas haben fast die ganze Zeit geschlafen.«

»Gott sei Dank!«, rief die junge Frau. »Dann hast du nicht viel Arbeit mit den beiden gehabt?«

»Aber nein, mein Kind.« Die Heimleiterin lächelte ihre bildhübsche Schwiegertochter an. »Außerdem macht es mir große Freude, sie zu versorgen.«

»Jedenfalls danke ich dir sehr, dass du auf sie aufgepasst hast, Mutter.« Carola gab der älteren Dame einen Kuss auf die Wange, betrat das weitläufige Haus und eilte zu ihrer kleinen gemütlichen Wohnung, die sich in einem Anbau des Herrenhauses befand. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass ihre Lieblinge tatsächlich friedlich schliefen, atmete sie befreit auf.

Vielleicht komme ich heute endlich wieder einmal dazu, mich mit meiner Malerei zu beschäftigen, dachte sie und betrat das kleine Atelier. Seitdem sie zwei Kinder hatte, kam das Malen etwas zu kurz. Aber ihre Kinder bedeuteten ihr eben noch mehr als die Kunst.

Nachdenklich betrachtete Carola das angefangene Bild auf der Staffelei. Eigentlich hatte sie vorgehabt, dieses Landschaftsbild auszustellen. Aber wenn sie weiterhin so wenig daran arbeitete, würde es wohl niemals fertig werden.

Als sie mit der Arbeit beginnen wollte, fing einer der Zwillinge an zu weinen. Seufzend legte Carola Pinsel und Palette wieder fort und eilte ins Kinderzimmer.

Die meisten Kinder des Kinderheims waren inzwischen in den Park gelaufen, um den herrlichen Vormittag im Freien zu verbringen. Nur Angelina Dommin, ein reizendes, ungefähr elfjähriges Mädchen mit langen rotblonden Haaren und unzähligen Sommersprossen, die ihr den Spitznamen Pünktchen eingebracht hatten, hatte sich den Kindern nicht angeschlossen.

Auch der zukünftige Herr von Sophienlust, der fünfzehnjährige Dominik von Wellentin-Schoenecker, der von allen Nick genannt wurde, war zurückgeblieben. »Kommst du denn nicht mit in den Park?«, fragte er seine kleine Freundin, die er als Fünfjährige sozusagen von der Straße aufgelesen hatte, weshalb er sich für das Mädchen in gewisser Weise auch jetzt noch verantwortlich fühlte.

»Nein, Nick. Ich möchte gern die Huber-Mutter besuchen. Gestern Abend hat sie mir von ihrem Fenster aus zugewinkt. Ich glaube, sie wollte mir etwas sagen. Aber gestern war es für einen Besuch bei ihr schon viel zu spät.«

»Ich komme mit«, entschloss sich der Junge und sprang schon die Stufen der Freitreppe hinauf. Pünktchen folgte ihm.

Die Huber-Mutter, eine Kräuterfrau mit hellseherischen Fähigkeiten, bewohnte ein hübsches Zimmer im Herrenhaus von Sophienlust. Obwohl ihr Alter aus den Kirchenmatrikeln des Dorfes leicht feststellbar gewesen wäre, lag es dennoch im dunkeln. Fest stand jedoch, dass sie das achtzigste Lebensjahr bereits weit überschritten hatte. Trotzdem war sie immer noch sehr rüstig und auch geistig rege. Nach einem Zeitungsbericht war ihre prophetische Gabe bekannt geworden. Damals war sie von so vielen Leuten, die sie für eine Wahrsagerin gehalten hatten, bestürmt worden, dass Denise von

Schoenecker die Greisin nach Sophienlust geholt hatte, um sie vor weiteren Belästigungen zu schützen. Die alte Frau genoss nun ihren Lebensabend in Ruhe und Frieden in Sophienlust. Über die Besuche der Kinder, die ihr jedes Wort glaubten, freute sie sich stets. Besonders Nick war fest überzeugt, dass die Huber-Mutter tatsächlich in die Zukunft blicken konnte.

Der sonst so kecke Junge klopfte jetzt zaghaft an die Tür. Auch Pünktchens Mundwerk stand still, als Nick nach dem leisen »Herein« die Klinke herunterdrückte und vor Pünktchen das Zimmer der alten Frau betrat, in dem ein feiner Duft nach Kräutern lag.

Die Huber-Mutter saß in ihrem Lieblingssessel am Fenster. Als die Kinder eintraten, wandte sie ihnen ihr runzliges Gesicht mit den tiefliegenden, noch erstaunlich klaren Augen zu. »Kommt nur weiter«, forderte sie das Mädchen und den Jungen freundlich auf. »Ich freue mich über euren Besuch.«

»Guten Morgen, Huber-Mutter.« Nick ergriff die trockene Hand der Greisin ehrfürchtig. »Ich hoffe, wir stören dich nicht«, sagte er leise.

»Aber nein, Nick.« Sie lächelte ihn an und wandte sich dann Pünktchen zu, um sie ebenfalls zu begrüßen. »Du wirst immer hübscher, meine Kleine«, stellte sie fest.

Pünktchen errötete über das Kompliment bis zu den Haarwurzeln.

»Setzt euch«, bat die Huber-Mutter und deutete auf das geblümte Sofa. »Ich bin froh, dass ihr gekommen seid. Nick, kommt deine Mutter heute nach Sophienlust?«

»Ich weiß es nicht genau, HuberMutter. Möchtest du Mutti sprechen?«

»Ja, Nick. Ich möchte sie um etwas bitten. Gestern war ich wieder einmal in Bachenau, um einige meiner Bekannten aufzusuchen. Eine sehr gute Freundin von mir ist krank und braucht Hilfe. Anna Kunert ist eine einfache alte Frau. Seit einigen Monaten hat sie ein Pflegekind. Aber nun muss sie ins Krankenhaus und ist dadurch gezwungen, das kleine Mädchen jemandem zu geben, bei dem es gut aufgehoben ist.«

Nick sprang wie elektrisiert auf. »Ich rufe Mutti sofort an!«, rief er. »Sie wird ganz bestimmt noch heute kommen. Pünktchen, warte hier auf mich. Bis gleich!« Schon war er draußen.

»Wie alt ist das Kind denn?«, fragte Pünktchen die alte Frau.

»Es ist noch sehr klein, etwa drei Jahre alt, vielleicht aber auch schon vier.«

»Also in Heidis Alter. Glaubst du, dass das Kind nach Sophienlust kommt, Huber-Mutter?« Aufgeregt rutschte Pünktchen auf dem Sofa jetzt hin und her.

»Wenn Frau von Schoenecker es im Kinderheim aufnimmt, dann wird es wohl hierherkommen, Pünktchen.«

»Erzähle mir doch etwas mehr von dem kleinen Mädchen, Huber-Mutter.«

»Leider weiß ich auch nicht viel von dem Kind.«

*

Während Pünktchen versuchte, mehr über das kleine Mädchen zu erfahren, eilte Nick in das Büro des Kinderheims, wo sich das Telefon befand. Aufgeregt wählte er die Nummer von Schoeneich.

Zu seinem Kummer erfuhr er von der ehemaligen Kinderfrau Marie, die jetzt den Posten einer Haushälterin ausfüllte, dass seine Mutter, sein Vater und Henrik ausgeritten seien.

»Zu dumm«, erwiderte er. »Bitte, Marie, richte Mutti doch aus, dass ich ihren Anruf in Sophienlust erwarte. Ja, bestelle ihr, es handle sich um etwas sehr Wichtiges.«

»Wird gemacht, Nick.«

Nick legte enttäuscht auf, dabei fiel sein Blick aus dem Fenster. Seine finstere Miene hellte sich auf, und sein Herz vollführte einen Freudensprung, als er die drei Reiter erblickte, die soeben den Gutshof erreichten. Es waren seine Mutter, sein Stiefvater und sein kleiner Bruder Henrik, der stolz auf einem kräftigen Shetlandpony saß.

»Prima!«, rief Nick und stürmte aus dem Büro. In der Halle rannte er fast das Hausmädchen Ulla um.

»Was ist denn in dich gefahren?«, rief sie ihm kopfschüttelnd nach.

Nick drehte sich nicht einmal um. Er war schon draußen und sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Freitreppe hinunter.

»Ihr kommt wie gerufen!«, rief er seinen Eltern zu.

»Wo brennt’s denn schon wieder?«, fragte Denise, eine bildschöne schwarzhaarige Frau mit dunklen Augen und einem ovalen Madonnengesicht. Sie war noch immer gertenschlank. Der elegante Reitdress betonte ihre mädchenhaft schmale Taille noch mehr.

»Unterstehe dich nicht, die sonn­tägliche Ruhe deiner Mutter zu stören, mein Sohn!«, rief Alexander von

Schoenecker, ein hochgewachsener Mann mit klugen dunklen Augen. Dabei drohte er seinem Stiefsohn, den er ebenso wie seine eigenen beiden Söhne Sascha und Henrik liebte, scherzhaft mit dem Zeigefinger.

»Leider geht es nicht anders, Vati! Die Huber-Mutter möchte Mutti sprechen. Sie hat etwas auf dem Herzen. Mutti, nicht wahr, du stattest ihr einen Besuch ab?«

»Alexander, du siehst, ich muss mich der Gewalt beugen«, scherzte Denise und glitt aus dem Sattel. »Ich beeile mich!«, rief sie noch und eilte dann die Freitreppe hinauf.

Auch Alexander stieg vom Pferd. Henrik dagegen gab seinem Pony die Sporen. »Ich reite zur Ponykoppel!«, rief er seinem Vater zu.

»Aber reite nicht so wild!«

»Keine Angst, Vati.« Der Siebenjährige hob grüßend seine Reitgerte und spornte das Pferdchen an.

»Nick, musste das wirklich sein?«, fragte Alexander nun ganz vorwurfsvoll. »Hatte das nicht Zeit bis morgen?«

»Vati, ich weiß ja, dass Mutti auch mal Ruhe braucht. Aber eine kranke Frau befindet sich in Not. Außerdem handelt es sich um ein kleines Kind. Aber Genaues weiß ich auch noch nicht. Ich laufe mal schnell zur Huber-Mutter.«

»Tu das, mein Sohn!« Alexander schmunzelte. Er kannte Nicks Neugierde und Ungeduld. Meist konnte der Junge es kaum erwarten, Genaues über alle Geschehnisse in Sophienlust und Schoeneich zu erfahren.

Als Nick das Zimmer der HuberMutter wieder betrat, saß seine Mutter der alten Frau gegenüber und unterhielt sich mit ihr. Pünktchen stand am Fenster und strahlte Nick an, als er erschien.

»Anna Kunert ist die Tochter einer Freundin von mir«, sagte die Greisin gerade und blickte vor sich hin. »Meine Freundin ist ja schon lange tot, denn Anna ist bereits über Sechzig. Ja, ja, die Zeit vergeht. Die Stunden, Tage, Monate und Jahre fliegen nur so dahin.« Die Huber-Mutter blickte wieder auf Denise. »Nun muss Anna ins Krankenhaus. Der Arzt besteht darauf. Aber seit einigen Monaten hat sie ein kleines Mädchen in Pflege …« Wieder verlor sich der Blick der alten Frau in der Ferne. »Ich sehe eine junge Frau, verzweifelt und …« Verwirrt fuhr sie sich über die Augen. »Es wäre nett, wenn Sie sobald wie möglich Frau Kunert besuchen würden, Frau von Schoenecker. Hier habe ich die Adresse aufnotiert.« Sie reichte Denise einen Zettel.

Denise versprach der alten Frau, sich um Anna Kunert und ihr Pflegekind zu kümmern. »So, Kinder, nun kommt«, bat sie ihren Sohn und Pünktchen.

Die beiden Kinder verabschiedeten sich von der Greisin, nachdem auch Denise ihr zum Abschied die Hand gedrückt hatte.

Nur ungern folgten die Kinder Denise. »Wenn wir noch ein Weilchen bei der Huber-Mutter geblieben wären, wüssten wir jetzt mehr über das Kind«, beschwerte sich Nick draußen. »Du hast doch auch bemerkt, dass sie einen Blick in die Zukunft geworfen hat. Nicht wahr, Mutti?«

»Ja, Nick, allerdings. Aber sie wollte nicht darüber reden.«

»Ich habe es auch bemerkt«, erklärte Pünktchen eifrig. »Die Huber-Mutter hat immer einen so seltsamen Ausdruck in den Augen, wenn sie in die Zukunft sieht. Dann ist sie mir richtig unheimlich. Weißt du, Tante Isi, ich kann mir ganz einfach nicht vorstellen, dass sie auch einmal jung gewesen ist.«

»Jeder Mensch ist mal jung gewesen, Pünktchen. Die Huber-Mutter ist sogar einmal ein Baby gewesen«, spottete Nick gutmütig.

»Aber das weiß ich doch!« Pünktchen kränkte sich über die spöttische Belehrung ihres großen Freundes. »Nur kann ich mir das schwer vorstellen.«

»Ich kann das verstehen, mein Kleines.« Denise strich dem Mädchen liebevoll über die samtweiche rosige Wange.

»Ob ich auch einmal so viele Runzeln wie die Huber-Mutter bekomme, wenn ich alt bin?«, überlegte Pünktchen weiter.

»Ganz bestimmt!«, rief Nick übermütig.

»Aber du bekommst ebenfalls ein runzeliges Gesicht, ätsch!«

»Ich nicht!« Der helle Schalk blitzte aus den dunklen Jungenaugen. »Ich werde immer jung bleiben. So wie Dorian Gray!«

»Dorian Gray? Wer ist denn das?«, fragte Pünktchen verwundert.

»Ein Romanheld, Pünktchen. Der Schriftsteller Oscar Wilde hat das Buch geschrieben. Aber dafür bist du noch zu klein. Später, wenn du älter bist, leihe ich es dir einmal. Dann kannst du es lesen.«

Lächelnd hörte Denise der Debatte zu, doch ihre Gedanken beschäftigten sich bereits mit dem kleinen Mädchen, das vermutlich in Kürze zu den Kindern von Sophienlust gehören würde.

Als sie mit ihrem Mann über diesen Fall sprach und ihm sagte, sie wolle auf der Stelle nach Bachenau fahren, bot er an, sie zu begleiten.

»Alexander, das ist lieb von dir. Dann reiten wir sofort nach Schoeneich zurück, damit ich mich umziehen kann. Wo steckt denn Henrik?«

»Er ist zu der Ponykoppel geritten.«

»Mutti, darf ich mitfahren?«, fragte Nick.

»Nick, es ist mir lieber, wenn du hierbleibst und dich um deinen kleinen Bruder kümmerst.«

»Um ihn brauchst du dir gewiss keine Sorgen zu machen, Mutti. Henrik reitet bereits wie der Satan.«

»Das ist es ja, mein Junge. In allem eifert er dir nach. Alexander, bitte, hilf mir in den Sattel.«

Enttäuscht schaute Nick den beiden nach, als sie durch das Tor ritten. Dann aber rief er nach Pünktchen. Gemeinsam liefen die beiden Kinder zu den Koppeln, um nach Henrik zu suchen.

*

Barbi kniete auf einem Schemel und presste ihre Nasenspitze an der Fensterscheibe platt.

Anna Kunert beobachtete die Kleine vom Bett aus mit kummervoller Miene. Was sollte nur mit Barbi geschehen, wenn die Huber-Mutter ihr Versprechen vergessen haben sollte?, fragte sie sich sorgenvoll. Wenn sie nur die geringste Ahnung davon gehabt hätte, dass sich ihr Rheumatismus so verschlechtern würde, hätte sie das Kind gar nicht erst in Pflege genommen. Das Schlimme war, dass sie nicht einmal die Adresse von Barbis Mutter hatte.

»Tante Kunert, ein Auto kommt!« Barbi riss die alte Frau, der die Tränen gekommen waren, aus ihren traurigen Gedanken. »So ein schönes Auto habe ich noch nie gesehen!« Das Kind kletterte von dem Schemel herunter und lief zum Bett der Kranken.

»Tante Kunert, vielleicht kommt meine Mami und holt mich.«

»Das glaube ich kaum, Barbi. Sie hätte gewiss vorher geschrieben und ihre Ankunft angekündigt.«

»Ja, Tante Kunert.«

»Möchtest du denn, dass deine Mami kommt?«

»Ich weiß nicht.« Ein nachdenklicher Ausdruck trat in die blauen Kinderaugen. »Mami ist immer so nervös. Sie mag es nicht, wenn ich laut bin. Ich muss immer still sitzen.«

»Und das gefällt dir wohl nicht?«, fragte Anna Kunert lächelnd. Dabei umfasste ihr Blick zärtlich das reizende blondhaarige Mädchen.

»Nein, Tante Kunert, ich spiele viel lieber mit anderen Kindern. Darf ich ein bisschen hinauslaufen?« Die Vierjährige hob bittend die Händchen.

»Jetzt nicht, mein Schätzchen. Später, wenn die Kinder von nebenan auf dem Hof sind, darfst du zu ihnen hinunterlaufen.«

»Fein, Tante Kunert. Barbi hat Hunger.«

»Ich mache sofort das Essen warm.« Anna Kunert richtete sich mühsam auf. Ächzend schob sie die Bettdecke zurück und griff nach ihrem Morgenmantel. Im selben Augenblick läutete es an der Wohnungstür. Sofort sank sie wieder in die Kissen zurück. »Wer mag das wohl sein?«, fragte sie. »Barbi, mach’ bitte auf.«

Ob die Huber-Mutter ihr Versprechen wahr gemacht und mit der Besitzerin von Sophienlust gesprochen hatte? fragte sie sich, als sie allein war.

Barbi öffnete die Tür und musterte die elegante Dame mit dem lieben Lächeln erstaunt.

»Bist du die Barbi?«, fragte Denise und blickte gerührt auf das winzige Persönchen hinunter.

»Ja, ich bin die Barbi. Und wer bist du?«

»Ich bin Tante Isi.«

»Oh.« Barbi schien sich unschlüssig zu sein, ob sie die fremde Tante hereinbitten durfte.

»Barbi, wer ist denn gekommen?«, rief Anna Kunert aus dem Schlafzimmer.

»Die Tante Isi ist da!« Barbi lächelte Denise scheu an. Dann lief sie aufgeregt zu ihrer Tante Kunert. »Sie ist eine liebe Tante und …«

»Entschuldigen Sie bitte mein Eindringen hier«, unterbrach Denise das Kind, dem sie gefolgt war. »Ich bin Frau von Schoenecker. Die Huber-Mutter hat mir …«

»Oh, dann hat sie ihr Versprechen gehalten«, fiel die Kranke der Besucherin lebhaft ins Wort. »Ich bin ja so froh, dass Sie zu mir gekommen sind, Frau von Schoenecker. Nur dürfen Sie sich hier im Zimmer nicht so genau umsehen. Seitdem ich bettlägerig bin, bleiben alle Hausarbeiten liegen.«

»Ich habe aber Staub gewischt, Tante Kunert«, warf Barbi vorwurfsvoll ein.

»Aber ja, mein Schätzchen, ich weiß, das hast du getan. Dafür bin ich dir auch sehr dankbar«, lobte Anna Kunert das Kind. Aus dem liebevollen Tonfall ihrer Stimme erkannte Denise, dass die alte Frau das kleine Mädchen sehr lieb behandelte.

»Bitte, nehmen Sie doch Platz, Frau von Schoenecker«, bat Anna Kunert. »Ich wollte gerade das Mittagessen aufwärmen. Aber bei mir dauert jede Arbeit entsetzlich lange, seitdem ich mich kaum bewegen kann. Ich hoffe nur, dass mir die Ärzte im Krankenhaus Linderung verschaffen können. Denn mit diesen Schmerzen vergeht einem jede Freude am Leben«, fügte sie seufzend hinzu.

»Heutzutage vollbringen die Ärzte oft Wunder, liebe Frau Kunert«, sprach Denise ihr Mut zu. »Wann müssen Sie denn ins Krankenhaus?«

»Sobald wie möglich. Sowie ich Barbi in guten Händen weiß, werde ich mich von meinem Arzt ins Krankenhaus einweisen lassen.«

Barbi warf einen schnellen Blick aus dem Fenster, aber die Nachbarskinder waren noch immer nicht zu sehen. Deshalb setzte sie sich still auf den Schemel und lauschte mit großen Augen auf die Unterhaltung der Erwachsenen. Tante Kunert hatte ihr bereits gesagt, dass sie wahrscheinlich in ein Kinderheim kommen würde, damit sie selbst in das Krankenhaus gehen könne. Ob Tante Isi gekommen war, um sie abzuholen?

»Wenn es Ihnen recht ist, nehme ich Barbi gleich mit«, schlug Denise vor.

»Würden Sie das wirklich tun? Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen. Nicht wahr, Barbi, du würdest gern mit Tante Isi nach Sophienlust fahren?«, wandte sie sich an das Kind.

»Ist das ein Kinderheim?«, fragte Barbi ernst.

»Ja, mein Schätzchen. Sophienlust ist ein Kinderheim.«

»Es ist ein wunderschönes Kinderheim, Barbi«, versicherte Denise und schilderte dem Kind das Leben dort in den leuchtendsten Farben. Sie erzählte von dem riesigen Park mit dem Gartenpavillon, der als Spielraum diente, von dem Weiher und dem Waldsee, in dem man im Sommer baden konnte. Sie berichtete von dem sprechenden Papagei Habakuk und dem Aquarium mit den vielen exotischen Fischchen. Sie erwähnte auch die Pferde und die Ponys, sprach von den Kühen und Ochsen.

»Oh«, flüsterte Barbi, fassungslos über so viele Herrlichkeiten.

»Wir haben aber auch Hunde und Katzen. Und die Kinder in Sophienlust freuen sich sehr, wenn du nach Sophienlust kommst.«

»Wirklich?«, staunte die Kleine. »Aber sie kennen mich doch gar nicht.«

»Sie wissen, dass du ein liebes kleines Mädchen bist, Barbi.«

»Dann sind sie lieb zu mir?«

»Ja, Barbi, das sind sie gewiss.«

»Nicht wahr, Tante Kunert, du bist mir nicht böse, wenn ich gern dorthin fahren möchte?«

»Aber nein, mein Schätzchen. Im Gegenteil, ich bin sogar froh darüber. Dort weiß ich dich in guten Händen.« Anna Kunert wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augenwinkeln fort. Niemals hätte sie für möglich gehalten, dass ihr der Abschied von dem kleinen Mädchen so schwer fallen würde. Das Kind war ihr in den wenigen Monaten ans Herz gewachsen. Das sagte sie auch Denise, die verständlicherweise mehr über Barbis Familie wissen wollte.

»Viel kann ich Ihnen nicht erzählen«, erwiderte Anna Kunert betrübt. »Ich habe Frau Ada Matray und ihr Töchterchen in einem Gasthof hier in Bachenau kennengelernt. Mir war damals sofort aufgefallen, dass die junge Frau sehr krank aussah. Sie erzählte mir dann auch, dass sie vorhabe, in ein Sanatorium zu gehen. Aber dazu brauche sie jemanden, der für Barbi sorge. Anfangs hatte ich gezögert, Barbi in Pflege zu nehmen. Denn es hätte ja auch sein können, dass mit den beiden irgendetwas nicht stimmte. Man liest doch genug über Kindesentführungen, Erpressungen und so weiter. Aber schließlich überzeugte mich Barbis Verhalten ihrer Mutter gegenüber, dass in dieser Beziehung alles in Ordnung war. So habe ich Frau Matray versprochen, Barbi für unbestimmte Zeit zu mir zu nehmen. Die junge Frau hatte mir einige große Geldscheine gegeben, sodass ich annehme, dass Frau Matray in guten Verhältnissen lebt. In den ersten Wochen rief sie regelmäßig meine Nachbarin, die als einzige im Haus ein Telefon hat, an und erkundigte sich nach Barbi. Auch schickte sie regelmäßig Geld für das Kind. Das Schlimme ist nur, dass ich keine Ahnung habe, wo Frau Matray lebt und wie ich sie erreichen kann. Denn das Geld kam aus den verschiedensten Orten der Bundesrepublik. In einem Briefumschlag«, fügte Anna Kunert erklärend hinzu. »Wüsste ich die Anschrift von Frau Matray, hätte ich ihr sofort geschrieben, als man mir sagte, dass ein Krankenhausaufenthalt für mich unbedingt erforderlich sei. Ich hätte sie gebeten, Barbi abzuholen.«

Barbi hockte nun wieder auf dem Schemel und presste ihr Näschen an der Fensterscheibe platt. Ihr Interesse galt einem Bierwagen, vor dem zwei riesige Pferde gespannt waren. Deshalb achtete sie auch nicht mehr auf das Gespräch hinter sich.

Trotzdem dämpfte Denise ihre Stimme, als sie fragte: »Hat Frau Matray denn niemals ihren Mann erwähnt? Oder etwas von ihrer Familie erzählt?«

»Nein, Frau von Schoenecker. Mir ist aufgefallen, dass sie sehr nervös war. Frau Matray ist sehr hübsch. Ja, man könnte sie für eine Aristokratin halten mit ihrem schmalen Gesicht und den großen hellen Augen. Glauben Sie, ich habe mir immer wieder den Kopf über Barbis Eltern zerbrochen. Aber allem Anschein nach hat Frau Matray keine Familie. Hätte sie sonst ihr Kind einem wildfremden Menschen überlassen? Barbi ist für ihr Alter sehr gescheit. Bei ihren Erzählungen von früher kommen eine Menge Tanten vor, bei denen sie abwechselnd gewesen zu sein scheint!«

»Möglicherweise war Barbi schon bei verschiedenen Frauen in Pflege«, überlegte Denise.

»Das könnte auch sein. Jedenfalls bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass Frau Matray in eine Notlage geraten sein muss.«

»Möglich ist das. Vielleicht sollte ich jetzt einige Sachen des Kindes einpacken«, meinte Denise, die an ihren Mann dachte, der im Auto auf sie wartete.

»Ich mache das schon.« Anna Kunert wollte aufstehen.

»Bitte, bleiben Sie liegen«, bat Denise. »Barbi ist ja schon ein großes Mädchen. Nicht wahr, Barbi?«, fragte sie das Kind, das sich umwandte und dann sofort vom Schemel kletterte.

»Du zeigst mir doch sicher, wo ein Koffer ist und auch, wo deine Sachen liegen.«

»O ja!« Die Kleine begeisterte sich sofort für den Vorschlag. »Und dann fahren wir zu den vielen Kindern und zu den Ponys und Pferden!«

»Ja, mein Kleines.« Denise nickte dem Kind zu, das voller Eifer in die Kammer lief und sogleich mit einem leeren Koffer zurückkehrte. Dann half sie Denise beim Packen.

Denise stellte fest, dass Barbis Garderobe von bester Qualität war. Auch die wenigen Spielsachen dürften nicht billig gewesen sein.

»Das ist meine Biggy«, stellte Barbi ihre große schwarzhaarige Puppe vor. »Mami hat sie mir geschenkt, weil ich ihr versprochen habe, nicht zu weinen, wenn sie mich zu Tante Kunert bringt.«

»Deine Biggy ist ein sehr hübsches Puppenkind«, bewunderte Denise die Puppe lächelnd.

»Nicht wahr? Sie kann richtig schlafen. Schau!« Barbi legte die Puppe flach auf das Sofa, damit die Augendeckel zuklappten.

Denise nickte und nahm dann das blau-weiß karierte Mäntelchen aus dem Schrank. »Komm, Barbi, wir müssen jetzt fahren, damit wir pünktlich zum Mittagessen in Sophienlust sind.«

»O ja. Barbi hat großen Hunger!«, rief die Kleine und klopfte sich auf den Bauch.

Denise zog das Kind an und verabschiedete sich dann von Anna Kunert.

»Ich wünsche Ihnen alles Gute, Frau Kunert. Sie dürfen nicht den Mut verlieren. Sie werden gewiss wieder ganz gesund werden.«

»Hoffentlich, Frau von Schoenecker. Und noch einmal vielen Dank, dass Sie mir Barbi abgenommen haben.«

»Das habe ich gern getan.«

Barbi gab ihrer Tante Kunert einen herzhaften Kuss. »Ich besuche dich im Krankenhaus«, versprach sie. »Und wenn du wieder ganz gesund bist, komme ich wieder zu dir.«

»Das ist fein, mein Schätzchen.« Anna Kunert tätschelte die Wange der Kleinen. Dabei wechselte sie einen schnellen Blick mit Denise, die ihr zunickte. Wahrscheinlich würde Barbi nicht mehr zu ihr zurückkommen. Dessen war sie auf einmal ganz sicher. Einesteils war sie sogar froh über diese Lösung. Denn Barbi war ein sehr aufgewecktes und lebhaftes Kind und dementsprechend anstrengend für sie. Auch wenn sie wieder gesund werden sollte, was sie jedoch nicht glauben konnte, würde sie ihre Ruhe dringend benötigen. Schließlich wurde sie ja nicht jünger, dachte sie mit stiller Wehmut. Barbi würde sich aber schnell in dem Kinderheim einleben und sich letzten Endes dort viel wohler fühlen, als hier in der kleinen Wohnung auf dem Hinterhof.

Jugend gehört nun mal zu Jugend, sagte sich Anna Kunert und suchte nach ihrem Taschentuch, als sich die Tür hinter ihrem Pflegekind und Denise von Schoenecker geschlossen hatte. Wie still es auf einmal war, fast unerträglich still. Hoffentlich würde sie recht bald vom Krankenwagen abgeholt werden.

*

Barbi stieg voller Erwartung neben Tante Isi die Treppe hinunter. Vertrauensvoll schmiegte sie ihr Händchen in die Hand der neuen Tante, als sie mit ihr auf die Straße trat.

Alexander stieg sogleich aus dem Auto und kam den beiden entgegen. Er nahm seiner Frau den Koffer ab und begrüßte dann Barbi.

Das Kind betrachtete ihn nachdenklich. Endlich fragte es: »Bist du mein Papi?«

»Aber nein, Barbi!« Alexander lachte amüsiert.

»Mami hat gesagt, mein Papi wird bald kommen und mich abholen.«

»Hast du deinen Papi sehr lieb?«, hakte Denise sofort ein, in der Hoffnung, dadurch mehr über Barbis Eltern zu erfahren.

»Weiß nicht.« Barbi fixierte noch immer Alexander. »Ich mag dich sehr. Wohnst du auch im Kinderheim?« Sie ließ nun Denises Hand los und fasste nach der Hand von Alexander. »Schau, ich habe eine schöne Puppe«, fügte sie schnell hinzu.

»Sie ist wunderschön. Barbi, ich wohne ganz in der Nähe des Kinderheims«, beantwortete Alexander ihre Frage.

»Darf ich dich besuchen?«

»Darfst du.«

»Wie heißt du denn?«

»Onkel Alexander.«

»Onkel … Xander«, wiederholte die Kleine langsam.

»Von mir aus auch Onkel Xander.« Alexander war ganz hingerissen von der Kleinen, die anbetungsvoll zu ihm aufblickte.

»Mir scheint, du hast eine Eroberung gemacht«, meinte Denise lachend. »So, nun fahren wir aber auf dem schnellsten Weg nach Sophienlust.«

»Wollen wir nicht noch schnell bei Andrea vorbeifahren? Ich habe in der Zwischenzeit mit ihr telefoniert. Sie würde sich über unseren Besuch sehr freuen.«

»Also gut«, gab Denise nach. Sie wusste, wie sehr Alexander an seiner einzigen Tochter hing, die mit dem jungen Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn verheiratet war. Seitdem er wusste, dass Andrea ein Kind erwartete, war er sehr besorgt um sie, obwohl kein Anlass dafür bestand. Denn Andrea erfreute sich bester Gesundheit.

Auf der Fahrt nach Bachenau erzählte Denise dem Kind von dem Tierheim Waldi & Co.

»Darf ich die vielen Tiere sehen?«, fragte Barbi aufgeregt.

»Ja, Barbi.« Denise hoffte, dass der Tierpfleger Helmut Koster etwas Zeit für Barbi haben würde, damit sie sich ein Weilchen mit ihrer Stieftochter unterhalten konnte, die sie wie ein eigenes Kind liebte.

Helmut Koster nahm sich der Kleinen an, die dem neuen Onkel voller Aufregung zum Tierheim folgte.

Der junge Tierpfleger war ein großer Kinderfreund. Es bereitete ihm immer wieder große Freude, einem Kind »seine Tiere« zu zeigen.

Barbis Wangen glühten vor Begeisterung, als sie die Schimpansen Luja und Batu und die Braunbärin Isabell mit ihren beiden Kindern Taps und Tölpl bewunderte. Auch von dem alten Esel Benjamin war sie ganz hingerissen. Dann zeigte Helmut Koster ihr noch die Rehe, den Hasen Langohr, die Ringelnatter Olga und die Füchse Pitt, Pat und Spezi.

Lange stand Barbi auch vor den verschiedenen Vögeln, die in einem riesigen Käfig umherflogen. »Und alle diese Tiere gehören dir?«, fragte sie staunend. »Dann bist du ein sehr reicher Mann?«

Helmut Koster unterdrückte ein Lächeln. »Das Tierheim gehört Herrn Doktor von Lehn und seiner Frau«, erwiderte er so ernst wie möglich. »Aber ich komme mir trotzdem wie ein reicher Mann vor.«

*

Während Barbi mit dem Tierpfleger Helmut Koster Freundschaft schloss, saßen Denise und Alexander bei Andrea und Hans-Joachim. Zuerst erkundigte sich Denise natürlich nach dem Zustand der jungen Frau.

»Mir geht es unverschämt gut, Mutti«, antwortete Andrea lachend. »Vati, möchtest du einen Whisky?«

»Auf nüchternen Magen? Na ja, meinetwegen«, gab er nach. »Denn euer Whisky ist einmalig gut.«

»Meine Eltern haben uns vor ein paar Tagen wieder eine Kiste geschickt, Vater«, mischte sich der Tierarzt ein. »Ich gebe dir zwei Flaschen mit.«

»Das ist eine prächtige Idee, mein Junge«, entgegnete Alexander vergnügt.

Hans-Joachim genehmigte sich ebenfalls einen Drink.

Dann aber blickte Denise auf ihre Armbanduhr. »Mein Gott, wir müssen fahren, Alexander!«, rief sie. »Ich wollte Barbi doch pünktlich zum Mittagessen in Sophienlust abliefern.«

»Gut, Denise, dann fahren wir.«

»Ich werde Betti bitten, die kleine Barbi zu holen«, erklärte Andrea und erhob sich, um ihrem Hausmädchen Bescheid zu sagen.

Kurz darauf war sie wieder da. »Mutti, du hast gar nichts von dem Kind erzählt.«

»Viel gibt es da nicht zu erzählen, Andrea. Eine gewisse Frau Kunert hatte die kleine Barbi Matray in Pflege. Nun muss die Pflegemutter ins Krankenhaus. Nick würde sagen, dass Barbi von einem Geheimnis umgeben ist. Denn Frau Kunert weiß kaum etwas über Barbis Familie.«

»Hoffentlich erfährst du bald mehr, Mutti.«

»Das hoffe ich auch! Da kommt ja Barbi!«

Das Kind strahlte übers ganze Gesicht, als es von dem Tierheim erzählte. Auch auf der Fahrt nach Sophienlust berichtete es noch begeistert von den Tieren. Lächelnd hörten Denise und Alexander zu.

*

Als die drei in Sophienlust eintrafen, hallte gerade der Gong durch das Haus, der die Kinder zum Mittagessen rief. Barbi schaute sich in der großen Halle neugierig um und begrüßte dann artig Frau Rennert und Schwester Regine, die sich sofort des Kindes annahmen.

»Bleibst du denn nicht hier, Tante Isi?«, fragte Barbi, als Denise sich mit einem Kuss von ihr verabschiedete.

»Nein, Barbi. Aber ich besuche dich jeden Tag.«

»Oh«, sagte das Kind leise und lächelte dann Schwester Regine an. »Aber du bleibst hier, nicht wahr?«

»Ja, Barbi. Sicherlich hast du Hunger?«

»O ja, ich habe ganz tollen Hunger. Gibt es etwas Feines?«

»Ich glaube schon, Barbi.«

Die anderen Kinder saßen bereits am Mittagstisch. Als Schwester Regine mit dem kleinen Mädchen erschien, richteten sich aller Augen sofort auf Barbi, die die vielen Blicke mit einem ganz schüchternen Lächeln erwiderte. »Nicht wahr, die Kinder sind alle lieb zu mir?«, fragte sie Schwester Regine mit großen ängstlichen Augen.

»Aber ja, Barbi«, beruhigte die Kinderschwester die Kleine und führte sie zu dem unbesetzten Stuhl zwischen Pünktchen und Angelika. »So, das ist unsere Barbi«, stellte sie dann das kleine Mädchen den anderen Kindern vor.

Schon nach wenigen Minuten fühlte sich Barbi bei den vielen Kindern heimisch. Sie bewunderte Nick und auch das Mädchen mit dem komischen Namen Pünktchen, das sie sogleich in ihr Herz geschlossen hatte. Aber dann entdeckte sie die kleine Heidi und stellte beglückt fest, dass diese im gleichen Alter wie sie selbst war.

Bereits in der ersten Stunde schlossen die beiden kleinen Mädchen Freundschaft. Nach dem Essen fassten sie sich selig bei den Händen. Heidi führte ihre neue Freundin stolz in den Wintergarten, um ihr den Papagei Habakuk zu zeigen, der an diesem Tag in bester Laune zu sein schien.

»Braves Kind«, schnarrte er begeistert. »Heidi! Heidi! Nick. Lena einen runden Po! Banane her! Kommst du endlich her zu mir, du böserrr Schlingel!«, krächzte er.

Anfangs fürchtete sich Barbi ein wenig vor dem sprechenden Vogel, doch schnell überwand sie ihre Angst und trat dichter an den Käfig heran. »Was kann er denn noch sagen?«, fragte sie atemlos.

»Viele, viele Worte, Barbi«, belehrte Heidi sie.

»Bald wird er auch deinen Namen sprechen können, Barbi«, erklärte Nick, der den beiden kleinen Mädchen mit Pünktchen, Angelika und Vicky in den Wintergarten gefolgt war.

»Meinen Namen?«, staunte Barbi. Vor Aufregung steckte sie den Zeigefinger in den Mund.

»Ja, Barbi, deinen Namen«, bestätigte Nick lächelnd. »Habakuk, sag’ Barbi!«

»Nick! Nick!«, kreischte der Papagei. »Was machst du für Sachen?«

»Du sollst Barbi sagen!«, befahl Nick streng.

»Morgen! Morgen!« Habakuk schlug aufgeregt mit den Flügeln.

»Also, dann morgen«, gab Nick lachend nach.

Am Nachmittag dachte Barbi kaum noch an die kleine Wohnung in Bachenau. Frau Rennert und Schwester Regina hatte beschlossen, Barbi das zweite Bett in Heidis Zimmer zu geben. Es war für die Kleine ein erhabenes Gefühl, mit ihrer neuen Freundin in einem Zimmer schlafen zu dürfen. Als man ihr das Zimmer zeigte, wollte sie es gar nicht mehr verlassen, so sehr gefiel es ihr. Sie bewunderte Heidis Puppen, besonders das Negerpüppchen. Das war das letzte Geschenk, das Heidi von ihrer verstorbenen Mutti erhalten hatte.

»Ist denn deine Mutti auch gestorben?«, wollte Heidi wissen.

»Nein, Mami hat wirklich sehr viel zu tun. Sie muss nämlich immer singen. Darum hat sie auch keine Zeit für mich.«

Pünktchen, die zu den beiden kleinen Mädchen gekommen war, spitzte die Ohren. »Ist denn deine Mami eine Sängerin?«

»Weiß nicht.« Barbi kämmte hingebungsvoll das Haar ihrer Puppe Biggy.

Später unterhielten sich die anderen Kinder über Barbi.

»Mutti hat gesagt, sie wisse nicht viel über Barbis Familienverhältnisse«, berichtete Nick.

»Ich glaube, Barbis Mutter ist Sängerin«, sagte Pünktchen.

»Möglich wäre es.« Nick überlegte, wie er es anfangen könnte, mehr über Barbi zu erfahren.

»Vielleicht ist sie ein uneheliches Kind«, meinte Angelika.

»Das glaube ich nicht!«, rief ihre jüngere Schwester Vicky. »So sieht sie gar nicht aus!«

»Du bist dumm!«, fuhr Angelika sie an. »Man kann es einem Kind doch nicht ansehen, ob es ehelich oder unehelich geboren ist.«

»Doch, das kann man!«, rief Vicky erbost.

»Hört mit eurer ewigen Streiterei auf«, bat Pünktchen. »Wisst ihr, was mir aufgefallen ist? Ich glaube, Barbi war niemals lange bei ihrer Mutter. Ich habe sie vorhin ausgefragt. Sie weiß nicht einmal, wie ihre Mutter aussieht. Als ich sie fragte, ob sie blondes Haar habe, sagte sie ja. Und dann fragte ich sie, ob sie schwarzes Haar habe. Wieder hat sie bejaht.«

»Ich glaube, sie war immer in Pflegestellen«, überlegte Nick. »Das kann natürlich bedeuten, dass Barbi …« Er sprach nicht weiter.

»Was kann es bedeuten, Nick?« Gespannt blickte Pünktchen ihn an.

»Ich möchte vorläufig noch nicht darüber sprechen. Ich fahre nachher nach Schoeneich zurück und spreche erst noch einmal mit Mutti über Barbi, bevor ich falsche Behauptungen ausstreue.«

Pünktchen kannte Nick gut genug, um zu wissen, dass sie jetzt nichts mehr aus ihm herausbekommen würde. Sie brachte Nick noch zu seinem Fahrrad und verabschiedete sich traurig von ihm.

Dass Nick fast jeden Tag nach Schoeneich zurückfuhr, passte Pünktchen ganz und gar nicht. Er war zwar dort zu Hause, aber ihr kam Sophienlust ohne ihn leer vor.

Pünktchen blickte Nick, der fest in die Pedale trat, noch ein Weilchen nach. Dann lief sie ins Haus zurück. Sie fand Barbi und Heidi im Spielzimmer. Die Beiden saßen auf dem Boden vor der großen Puppenstube und waren so in ihr Spiel vertieft, dass sie kaum auf Pünktchen achteten. Beleidigt zog sich das Mädchen daraufhin in den Wintergarten zurück, um zu lesen.

*

Barbi benahm sich ganz so, als sei sie schon seit einer Ewigkeit in Sophienlust. Sie aß mit gutem Appetit ihr Abendbrot. Dann brachte Schwester Regine die kleineren Kinder ins Bett, während die größeren noch ein Weilchen aufbleiben und einen Kurzfilm im Fernsehen anschauen durften.

Barbi streckte sich wohlig unter der leichten Daunendecke aus. »So ein schönes Bett habe ich noch nie gehabt«, stellte sie glücklich fest.

»Heidi, tust du auch am Abend beten?«

»Ja, Barbi. Bleibst du für immer bei uns?«

»Weiß nicht.« Barbi gähnte herzhaft.

Schwester Regine erschien, um mit den beiden Kindern zu beten. Zuerst trat sie an Heidis Bett.

Die Kleine faltete die Hände und sprach ihr Abendgebet. Dann fügte sie leise hinzu: »Grüße meine liebe Mutti im Himmel, lieber Gott. Und mach’ bitte, dass meine Mutti wieder zu mir zurückkommt. Amen.« Sie schlang ihre Ärmchen um den Hals der Kinderschwester und fragte: »Glaubst du, dass Mutti wiederkommt?«

»Deine Mutti ist immer bei dir, mein kleiner Liebling.« Zärtlich zog Schwester Regine das kleine Mädchen an sich. Dabei stellte sie wieder einmal voller Wehmut fest, wie sehr Heidi ihrem verstorbenen Töchterchen Elke glich. »Weißt du, deine Mutti sieht dich ganz genau. Nur du kannst sie nicht sehen«, erklärte sie noch.

»Ist das wahr?«, fragte Heidi und streckte sich mit einem glücklichen Lächeln im Bett aus.

Nun ging die Kinderschwester zu Barbi, die sich sogleich aufsetzte und die Hände faltete. Dann sprach auch sie ihr Nachtgebet und schloss mit den Worten: »Lieber Gott, mache bitte Frau Kunert wieder ganz gesund. Und auch meine liebe Mami, Amen.«

»Ist deine Mami denn auch krank?«, fragte Schwester Regine.

»Weiß nicht«, murmelte Barbi schläfrig und legte sieh wieder hin.

»Gute Nacht, Barbi. Schlaf’ gut.« Die Kinderschwester strich liebevoll über das seidenweiche blonde Haar der Kleinen.

Barbi lächelte im Schlaf. Auch Heidi war inzwischen eingeschlafen. Noch einmal warf Schwester Regine einen liebevollen Blick auf die beiden Kinder. Dann knipste sie das Licht aus und verließ leise das Zimmer.

Als sie die Treppe zur Halle hinunterstieg, saßen die größeren Kinder noch vor dem Fernsehapparat. Aber dann, als das Stück zu Ende war, bestürmten sie die Kinderschwester mit Fragen nach dem neuen Kind, von dem man so gut wie gar nichts wusste.

*

Auch Nick machte seine Mutter in Schoeneich fast verrückt mit seinen Fragen.

»Nick, ich kann dir nur immer wieder sagen, dass Frau Kunert mir nicht mehr, als ich dir schon erzählt habe, über Barbis Eltern sagen konnte.«

»Na ja, da kann man eben nichts machen«, seufzte der Junge herzerweichend.

Alexander lachte und blickte auf die Uhr. »Mein Sohn, du solltest schlafen gehen. Morgen musst du wieder früh heraus.«

»Auch das noch«, erwiderte Nick und schnitt eine Grimasse. »Mutti, aber wir müssen nachforschen, woher Barbi kommt.«

»Ja, mein Sohn«, erwiderte Denise lachend und griff in sein dichtes schwarzes Haar. »Ich bin überzeugt, dass sich Barbis Mütter in Sophienlust melden wird.«

»Hoffentlich, Mutti.«

»Nun aber marsch ins Bett!«, rief Alexander und nickte seinem Sohn zu.

»Ich geh ja schon.« Nick gab seiner Mutter einen Kuss und reichte seinem Vater die Hand. Dann lief er die Treppe hinauf.

»In gewisser Weise hat Nick recht«, meinte Denise. »Ich muss versuchen, mehr über Barbis Familie herauszubekommen.«

»Ja, mein Liebes. Aber nun reden wir nicht mehr von Barbi. Schließlich bin ich auch noch da. Jedesmal, wenn ein neues Kind nach Sophienlust kommt, vernachlässigst du mich sträflich.«

»Oh, du Armer!«, rief sie lächelnd. »Ich bin wirklich ein schlechtes Eheweib!«

»Und ob! Komm her zu mir!« Alexander streckte ihr die Hand entgegen.

Mit einem glücklichen Ausdruck in ihren schönen dunklen Augen ergriff Denise die Hand und küsste dann ihren Mann zärtlich.

*

Renate Heitmann fuhr langsamer, als sie in die Allee einbog, die vor dem schmiedeeisernen Tor endete. Beide Flügel des Tores standen weit offen, sodass die junge Frau ungehindert die breite kiesbestreute Auffahrt zu der Villa hinauffahren konnte.

Renate stoppte den Wagen vor der geschwungenen Freitreppe, die zur Haustür hinaufführte. Sie belud sich mit den vielen Päckchen und lief die Stufen hinauf. Kurz darauf betrat sie die mit dicken Teppichen, geschmackvollen Stilmöbeln und kostbaren Bildern ausgestattete Halle.

Jedesmal, wenn Renate heimkam, weitete sich ihr Herz vor Glück. Ja, sie hatte mit Bernd das Große Los gezogen. Als sie vor vier Jahren seine Frau geworden war, hatte sie sich fest vorgenommen, ihr Glück mit beiden Händen festzuhalten. Und sie war sicher, dass ihr das auch gelungen war.

Lächelnd legte Renate die Pakete auf einen der Renaissancesessel. Dabei fiel ihr Blick in den schmalen hohen Spiegel. Wieder einmal stellte sie fest, dass sie trotz ihrer achtundzwanzig Jahre noch immer auffallend hübsch war. Ihr Gesicht war fein gezeichnet, Wangen und Kinn aber waren so sanft gerundet wie bei einer Achtzehnjährigen. Die kleine gerade Nase verlieh ihr etwas Keckes.

Renate dachte daran, dass Bernd ihr später, als sie schon über ein Jahr verheiratet gewesen waren, gestanden hatte, dass er sich zuerst in ihre Nase verliebt hatte. Wieder blickte sie in den Spiegel. Ihre dunklen Augen, die in einem reizvollen Kontrast zu ihrem weißblonden Haar standen, leuchteten in einem intensiven Glanz. Alles in allem war das, was ihr der Spiegel zeigte, sehr erfreulich.

Lucy, die Haushälterin, erschien. Sie war seit über zwanzig Jahren der Familie Heitmann treu ergeben. Bernd hatte die nun fünfzigjährige Frau mit in die Ehe gebracht, sodass Renate sich bisher niemals ernsthaft um den Haushalt hatte kümmern müssen.

»Guten Tag, gnädige Frau«, sagte Lucy. »Glauben Sie, dass der gnädige Herr heute pünktlich zum Essen heimkommen wird?«

»Ich hoffe es, Lucy. War etwas Besonderes los?«

»Zwei Anrufe. Ich habe die Namen der Damen aufnotiert. Die Post habe ich in die silberne Schale in Ihrem Schreibzimmer gelegt.«

»Danke, Lucy. Ich rufe mal schnell in der Fabrik an und frage meinen Mann, wann er nach Hause kommt.«

»Das wäre nett, gnädige Frau.« Die Haushälterin zog sich wieder in die Küche zurück, um sich um das Essen zu kümmern.

Renate betrat ihr Schreibzimmer, das ebenfalls antik eingerichtet war. Sie setzte sich auf den Empiresessel vor dem Schreibschrank, auf dem das Telefon stand, und wählte die Nummer der Lederwarenfabrik, die seit Generationen den Heitmanns gehörte. Bernd hatte die Fabrik nach dem Tod seines Vaters vor drei Jahren übernommen. Seitdem gehörte er zu den vielbeschäftigten Männern, die nur wenig Zeit für ihre Familien haben.

Anfangs hatte Renate darunter gelitten, doch allmählich hatte sie sich daran gewöhnt. Denn Bernd verwöhnte sie maßlos mit seiner Liebe und überhäufte sie auch mit Geschenken. Ihre Schmuckschatulle war gut gefüllt. Sie besaß auch mehrere Pelzmäntel und eine Garderobe, die sich sehen lassen konnte.

Renate brauchte nicht lange zu warten, bis man sie mit ihrem Mann verband. »Hallo, Bernd!«, rief sie. »Entschuldige, dass ich dich störe. Aber du kennst ja Lucy.«

»Ja, mein Liebling, ich kenne sie. Renate, leider ist es mir unmöglich, zum Essen heimzukommen. Ich hatte dich gerade anrufen wollen, als meine Sekretärin deinen Anruf durchstellte. Zwei Herren aus London sind da. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mit ihnen essen zu gehen. Ich hoffe, dass ich gegen fünf Uhr daheim sein kann.«

Renate schluckte ihre Enttäuschung herunter. »Gut, Bernd«, erwiderte sie zärtlich. »Ich werde Lucy Bescheid sagen.«

»Bis bald, Liebling.«

»Ja, Bernd. Auf Wiedersehen.«

Renate legte auf. Dann drückte sie auf den Klingelknopf neben der Tür. Sofort erschien Lucy.

»Tut mir leid, Lucy«, sagte Renate, »aber mein Mann muss mit zwei Herren essen gehen.«

»Na ja, da kann man nichts machen. Wann darf ich auftragen?«

»In einer halben Stunde, Lucy.«

Renate war wieder allein. Jetzt erst schaute sie die Post durch. Meist waren es Werbesendungen. Ein Brief kam jedoch aus Amerika, von ihrer Freundin Jenny, die eine Zeitlang in demselben Schweizer Internat gelebt hatte wie sie.

Als Renate die Zeilen der Freundin las, wurden die Erinnerungen an die fröhlichen Jahre am Genfer See wieder lebendig. Damals hatten ihre Eltern noch gelebt, die beide ständig auf Reisen gewesen waren. Renates Vater war Archäologe gewesen, und ihre Mutter hatte ihn stets begleitet, wenn er irgendwo einen Landstrich erforscht hatte. Dadurch hatten die Beiden nur wenig Zeit für ihre einzige Tochter gehabt. Und dann waren ihre Eltern einem Unfall zum Opfer gefallen. Kurz nach ihrem Tod war Renate Bernd begegnet. Von da an hatte sie wieder Freude am Leben gefunden und sich auch von dem Schock, den der Tod ihrer Eltern in ihr hervorgerufen hatte, wieder erholt.

Lächelnd steckte Renate den Briefbogen in das Kuvert zurück und griff nach einem hellblauen Brief. Er war an ihren Mann adressiert. Doch als Renate den Absender las, fing ihr Herz wild zu schlagen an. Was wollte diese Alida noch von Bernd?, fragte sie sich.

Renate geriet in Panik. Schwer sank sie auf das Empiresofa. Erinnerungen wurden in ihr wach – Erinnerungen, die sie lange gewaltsam aus ihren Gedanken verbannt hatte.

Renate war bereits zwei Jahre mit Bernd befreundet gewesen, als diese bildschöne und blutjunge Sängerin in Bernds Leben getreten war. Sie waren zu diesem Zeitpunkt entschlossen gewesen, sobald wie möglich zu heiraten. Doch dann war Bernd zu ihr gekommen und hatte ihr gestanden, dass er dieses Mädchen leidenschaftlich liebe. Natürlich hatte Renate ihm keine Szene gemacht, sondern sich still zurückgezogen. Aber für sie war damals eine Welt zusammengebrochen. Sie war sicher gewesen, sich niemals von dieser großen Enttäuschung erholen zu können. Sie hatte damals als Dolmetscherin in London und Paris gearbeitet und alles versucht, Bernd zu vergessen. Aber das war unmöglich gewesen.

Ein Jahr später war Renate wieder nach Frankfurt zurückgekehrt. Und kurz darauf hatte sie einen Anruf von Bernd erhalten. Er hatte sie um ein Wiedersehen gebeten. Renate hatte zuerst ablehnen wollen, doch schließlich hatte sie nachgegeben.

Dieses Wiedersehen hatte sie zutiefst erschüttert. Denn Bernd war sehr verändert gewesen. Er hatte ihr offen erzählt, dass Alida sich von ihm getrennt habe, weil sie ihre Karriere als Sängerin nicht hatte aufgeben wollen.

Von da an hatten sie sich wieder öfters gesehen. Als Bernd sie dann gefragt hatte, ob sie trotz allem noch seine Frau werden wolle, hatte sie ja gesagt, weil sie ihn mehr denn je geliebt hatte.

Niemals hatte Renate ihren Entschluss seitdem zu bereuen brauchen. Am Anfang ihrer Ehe hatte sie noch oft darunter gelitten, dass ihr Mann eine andere Frau so sehr geliebt hatte. Doch später war die Wunde in ihrem Herzen geheilt. Sie führte mit Bernd eine sehr harmonische Ehe, auf der aber der Schatten der Kinderlosigkeit lag.

Ratlos blickte Renate jetzt wieder auf das Kuvert. Alida war der Künstlername der Sängerin, die eigentlich Ada Matray hieß. Was würde geschehen, fragte sich Renate, wenn Bernd den Brief seiner ehemaligen Geliebten lesen würde? Sie wusste doch, wie sehr er unter der Trennung von Alida gelitten hatte. Würde er wieder zu ihr zurückkehren?

Bei diesem Gedanken wehrte sich alles in Renate. Nein, sie wollte Bernd nicht verlieren. Ohne ihn würde ihr ganzes Dasein sinnlos werden. Bernd gehörte ihr. Sie würde wie eine Löwin um ihn kämpfen.

Renates Handflächen wurden feucht vor Erregung. Sollte sie den Brief vernichten? Ja, das würde wohl das Beste sein. Dann würde Bernd gar nicht in Versuchung geraten, mit Alida wieder Kontakt aufzunehmen.

Das Kuvert brannte wie Feuer in Renates Hand. Schon erhob sie sich, um den Brief in den offenen Kamin zu werfen. Sie brauchte nur ein Streichholz zu entzünden und ihn zu verbrennen. Ein Häufchen Asche würde dann zurückbleiben, mehr nicht.

Doch plötzlich überlegte Renate es sich anders. Als sie das Kuvert aufschnitt, zitterten ihre Hände. Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Zum erstenmal in ihrem Leben beging sie eine solche Indiskretion. Aber war es nicht ihr Recht, zu erfahren, was diese Frau noch von Bernd wollte? Bernd war schließlich ihr Mann.

Renate las die wenigen Zeilen mit klopfendem Herzen. Sie erfuhr daraus, dass Alida schwer krank war. Sie lag in einem Sanatorium im Schwarzwald und bat Bernd um seinen Besuch.

»Niemals«, sagte die junge Frau laut. »Niemals lasse ich das zu.«

Als es an der Tür klopfte, schob Renate den Brief hastig unter die Schreibmappe. »Ja!«, rief sie danach.

»Das Essen ist angerichtet«, teilte die Haushälterin ihr mit.

»Ich komme sofort.« Renate wartete, bis sie wieder allein war. Dann holte sie den Brief wieder hervor und suchte nach einem besseren Ver­steck. Das Geheimfach im Schreib­schrank schien ihr am geeignetsten zu sein.

Lucy hatte allen Grund, ärgerlich zu sein, denn Renate, deren Magen vor Aufregung wie zugeschnürt war, rührte kaum etwas von den Speisen an.

Nach dem Essen zog sich Renate in Bernds Zimmer zurück. Nach einem tiefen Atemzug öffnete sie die unter­ste Schublade seines Schreibtisches und holte eine Schallplatte heraus.

Renate wusste, dass Bernd im ersten Jahr ihrer Ehe diese Platte oft heim­lich abgespielt hatte. Später schien er sie dann vergessen zu haben.

»Das Glück der Liebe«, las Renate laut. Mit diesem Lied war Alida be­kannt geworden.

Ich sollte die Platte wieder in die Schublade zurücklegen, dachte Rena­te. Wenn ich ihre Stimme höre, wird mir noch schwerer ums Herz sein. Aber sie legte die Platte doch auf und stellte den Plattenspieler an.

»Das Glück der Liebe hat eine süße Melodie, vereint zwei Herzen in seli­ger Liebesharmonie …«, sang Alida. Ihre wunderschöne, zu Herzen gehen­de Stimme erfüllte den Raum, schnitt Renate tief ins Herz, schien es zu zer­reißen. Tränen liefen über die Wan­gen der jungen Frau. Regungslos saß sie da und lauschte wie gebannt.

Renate hatte dieses Lied schon so oft gehört, dass sie den Text auswen­dig kannte. Wie schon oft wurde ihr auch diesmal wieder bewusst, dass ei­ne Frau mit einer so wunderbaren Stimme ein Engel sein musste, ein Mensch, den man nur lieben konnte.

Das war es ja, was Renate so quälte. Wäre diese Alida eine leichtfertige Person, ein Mädchen ohne Skrupel, würde sie heute keine Gefahr mehr für ihre Ehe bedeuten. Aber Alida ge­hörte zu dem Typ der Frauen, dem die Männer zu Füßen lagen, den sie anbe­teten und niemals in ihrem Leben vergaßen.

Abrupt erhob sich Renate. Es hatte keinen Sinn, sich weiterhin schmerz­lichen und sinnlosen Gedanken zu überlassen. Besser war es, Alidas Brief zu vernichten.

Renate steckte die Schallplatte in die Hülle zurück und legte sie wieder in die Schublade. Danach verließ sie das Zimmer ihres Mannes, ging in ihr Schreibzimmer und holte den Brief wieder aus dem Geheimfach. Sie no­tierte die Adresse des Sanatoriums im Schwarzwald in ihrem Notizbüchlein, zerriss dann den Brief und warf ihn in den Kamin. Kurz darauf loderten die Flammen auf, um sogleich wieder zu verlöschen.

Mit dem Feuerhaken stocherte Re­nate in der Asche herum, sodass sie durch das Gitter fiel. Ein tiefer Atem­zug hob nun ihre Brust.

Aber ganz wohl war ihr doch nicht. Ruhelos durchwanderte sie das Haus. Sie versuchte zu lesen, aber schon wenige Minuten später legte sie das Buch wieder fort und ging ins Badezimmer.

Renate hatte die Erfahrung ge­macht, dass ein heißes Bad die Nerven beruhigte. Lange lag sie im Wasser. Danach duschte sie kalt und frottierte ihren Körper so lange ab, bis er krebs­rot war.

Rasch hüllte sie sich in ihren rosa Bademantel und kehrte ins Schlaf­zimmer zurück.

Der Raum war sehr groß und ganz in beige gehalten. Beige waren die Schleiflackmöbel im französischen Stil, ebenso der Teppichboden. Die Vorhänge zeigten allerdings einen goldfarbenen Ton, der auch in der Ta­pete immer wieder vorkam.

Renate setzte sich auf den Hocker vor dem Toilettenspiegel und bürstete lange ihr wunderschönes schulterlan­ges Haar. Dann aber fiel ihr Blick auf den Wecker. »Mein Gott, gleich fünf!«, rief sie und stand auf. Bernd konnte jeden Augenblick kommen.

Renate entschied sich für den neuen Hausanzug aus flaschengrünem Samt mit der Silberstickerei. Die Hosen waren lang und sehr eng, sodass ihre Figur dadurch gut zur Geltung kam. Die Jacke war tailliert und schmiegte sich weich an ihren Körper. Der Stuartkragen umschmeichelte ihren schlanken Hals.

Renate war zufrieden mit ihrer Erscheinung. Bernd sollte sich immer wieder neu in sie verlieben, wünschte sie sich, sodass er keinen Gedanken mehr an diese Alida verschwendete – weder an sie noch an irgendeine andere Frau.

Die junge Frau trat ans Schlafzimmerfenster. Im gleichen Augenblick sah sie den weißen Mercedes ihres Mannes die Auffahrt heraufkommen. Heiße Glückswellen schossen durch ihren Körper, als sie das Zimmer verließ und die leicht geschwungene Treppe, die in die Halle mündete, hinunterlief.

Renate eilte zur Haustür und öffnete sie. »Ich habe dich kommen sehen, Bernd«, erklärte sie nach der zärtlichen Begrüßung. »Noch nie ist mir ein Tag so lang vorgekommen wie dieser.«

»Du tust ja gerade so, als hätten wir uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen«, antwortete Bernd Heitmann in bester Laune und zog den geschmeidigen Körper seiner bildschönen Frau an seine breite Brust.

»Mir kam es tatsächlich wie eine Ewigkeit vor.« Verliebt blickte Renate ihren Mann an. Seine klaren grauen Augen faszinierten sie immer wieder. Sie strich ihm über die schon leicht angegrauten Schläfen.

»Mir auch, mein Liebling«, sagte er und schob sie ein Stückchen von sich fort. Verliebt musterte er sie. »Neu?«, fragte er dann.

»Ja, Bernd, der Hausanzug ist neu. Gefallt er dir?«

»Er ist einfach umwerfend. Dieses Grün ist deine Farbe.« Er schmunzelte. »Mach’ die Augen zu«, bat er und griff in seine Sakkotasche.

Folgsam wie ein Kind schloss sie die Lider. Sie spürte, wie er etwas Kühles um ihr linkes Handgelenk legte. »So, nun darfst du die Augen wieder öffnen«, erlaubte er lächelnd.

»Oh«, brachte sie zunächst nur über die Lippen. Fasziniert betrachtete sie das breite Armband mit den Saphiren und Brillanten. »Bernd, das ist doch das Armband, das wir neulich zusammen bewundert haben!«, rief sie dann, noch immer fassungslos. »Ach, Bernd, das ist doch viel zu schön für mich.«

»Für dich ist nichts zu schön, nichts zu kostbar.« Sein jungenhaftes verlegenes Lächeln, das ihn immer auszeichnete, wenn er seiner Frau ein Geschenk mitbrachte, rührte sie tief. Doch zugleich legte sich die Unterschlagung des Briefes schwer auf ihre Seele. Aber nun war es zu spät. Der Brief war nur noch ein Häufchen Asche. Sollte sie ihrem Mann ein Geständnis ablegen?

»Renate, was ist los mit dir?« Verwundert schaute er sie an. »Du siehst plötzlich so bedrückt aus.«

»Ich? Ach wo!«, rief sie und legte die Arme um seinen Nacken. Zärtlich schmiegte sie ihre Wange gegen die seine. »Bernd, manchmal habe ich schreckliche Angst und …« Sie sprach nicht weiter.

»Angst? Du? Aber wovor denn, mein Liebling?« Tief sah er ihr in die Augen. »Solange ich bei dir bin, brauchst du dich vor nichts und niemandem zu fürchten, Renate.«

»Ich bin wirklich dumm«, murmelte sie und versuchte, nicht mehr an Alidas Brief zu denken. Sie hob den linken Arm, um das herrliche Schmuckstück gebührend zu bewundern. Das Licht der Nachmittagssonne, deren Strahlen schräg durch das breite Panoramafenster fielen, brach sich in den Edelsteinen.

Lächelnd beobachtete Bernd die Freude seiner Frau. Noch keine Minute hatte er bereut, dass er Renate geheiratet hatte. Das Zwischenspiel mit Alida hatte nichts mit der Liebe zu tun, die ihn mit seiner geliebten Frau verband. Alida hatte sein Leben wie ein Komet gestreift, der in der Unendlichkeit verschwunden war. Würde er Alida heute begegnen, würde sein Herz ruhig bleiben. Dessen war er ganz sicher.

»Renate, ich erfrische mich nur ein wenig!«, rief er ihr zu und lief bereits die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf, wo sich die Schlafräume und Badezimmer der komfortablen Villa in dem Frankfurter Vorort befanden.

»Ich warte hier auf dich!« Renate setzte sich in einen der bequemen Sessel, um sich ihren Gedanken zu überlassen, die sich gegen ihren Willen immer wieder mit Bernds ehemaliger Geliebten befassten.

»Aber ich will nicht an Alida denken«, flüsterte sie ärgerlich und erhob sich abrupt, um im Speisezimmer nach dem Rechten zu sehen.

Die Haushälterin war gerade dabei, den Abendbrottisch zu decken.

»Lucy, stellen Sie bitte auch Sektgläser hin«, bat Renate.

»Gut, gnädige Frau«, erwiderte die Haushälterin freundlich.

Renate kehrte in die Halle zurück. Dabei fiel ihr Blick auf den Rost des Kamins. Von dem Brief, der vermutlich einschneidend in ihr Leben eingegriffen hätte, war nichts mehr zu sehen.

Allmählich gelang es der jungen Frau, ihr schlechtes Gewissen zu beschwichtigen. Als Bernd dann fröhlich die Treppe herunterkam, war Renate fest überzeugt, das einzig Richtige getan zu haben.

Bernd mixte seiner Frau einen Cocktail und schenkte für sich selbst einen Whisky ein. Dann setzte er sich mit einem zufriedenen Lächeln auf seinen Lieblingssessel und schlug seine langen Beine übereinander. »Renate, ich habe mir überlegt, dass wir schon lange nicht mehr Urlaub gemacht haben. Sobald der Vertrag mit den Engländern unter Dach und Fach ist, fliegen wir irgendwohin. Das Reiseziel sollst du bestimmen. Es muss aber recht weit vom Schuss sein, damit wir für niemanden zu erreichen sind.«

»Bernd, ist das wahr?«, rief Renate selig. Schon lange hatte sie sich eine solche Traumreise gewünscht. Nun sollte ihr Wunsch endlich in Erfüllung gehen.

»Natürlich ist es wahr, mein Liebling. Kaufe dir recht viele hübsche Kleider und alles, was eine elegante Frau für eine Luxusreise benötigt. Ich will Staat mit dir machen.«

»Bernd, du bist so unendlich lieb zu mir«, flüsterte sie ergriffen.

»Weil ich dich liebe, Renate«, erwiderte er ernst. »Das sollst du niemals vergessen.«

»Nein, Bernd, ich vergesse es nicht.« Doch dabei fragte sie sich bange, ob er sie wirklich so sehr liebte, dass selbst diese Alida seiner Liebe nichts anhaben konnte. Hätte sie es auf eine Probe ankommen lassen sollen?

Nein, und noch mal nein, sagte sie sich. Man soll das Glück nicht herausfordern.

*

Renate wurde mitten in der Nacht wach. Die Gedanken überfielen sie wie ein summender Bienenschwarm. Ruhelos wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Schließlich hielt sie es nicht mehr im Bett aus. Sie lauschte auf die ruhigen Atemzüge ihres Mannes, stand dann leise auf und schlich auf Zehenspitzen zur Tür, die sie so leise wie möglich hinter sich zuzog.

Unten in der Halle sank Renate erschöpft auf den Sessel vor dem Kamin. Sie kannte Alida oder Ada Matray, wie die Sängerin mit bürgerlichem Namen hieß, nur von Fotografien. Doch jetzt sah sie deutlich das herzförmige Gesicht mit den hellen Augen, die reizvoll zu dem schwarzen Haar kontrastierten, vor sich. Ob die Sängerin in Wirklichkeit so hübsch war wie auf den Bildern?

Plötzlich stieg in Renate der Wunsch auf, Alidas Gesicht ungeschminkt kennenzulernen. Vielleicht war Alida gar nicht krank? Vielleicht verbrachte sie nur ihren Urlaub in dem Sanatorium im Schwarzwald, um dort ihre Nerven aufzupolieren? Vielleicht sollte Bernd ihr die Langeweile angenehm vertreiben?

Aber wenn Alida doch krank war? Wenn sie Hilfe brauchte?

Aber auch dann hatte sie, so überlegte Renate weiter, wirklich nicht das Recht, störend in Bernds Ehe einzugreifen.

Aber vielleicht würde Alida, wenn sie keine Antwort auf ihren Brief erhielt, Bernd in der Fabrik anrufen? Oder ihren nächsten Brief an diese Adresse schicken? Bernd würde sie dann zur Rede stellen und fragen, was mit Alidas erstem Brief geschehen war. Sollte sie es so weit kommen lassen? Natürlich konnte sie behaupten, keine Ahnung von diesem Brief zu haben. Aber Lucy? Ja, Lucy war über alles gut informiert. Als sie ihre Stellung bei den Heitmanns angetreten hatte, war Bernd noch ein grüner Junge gewesen. Selbstverständlich kannte Lucy auch seine Liebesgeschichten. Außerdem hatte er Alida mehrmals hierher eingeladen. Immerhin hatte er beabsichtigt, sie zu heiraten.

Gewiss kannte Lucy also Alidas Namen genau, ebenso ihre Handschrift. Dann musste sie auch Alidas Brief gesehen haben. Aber warum hatte sie ihn in ihr Zimmer gelegt, obwohl er an Bernd adressiert gewesen war?

Das ist wirklich merkwürdig, überlegte Renate. War es Absicht gewesen? Oder ein Versehen? Jedenfalls würde Lucy, sollte Bernd sie in die Zange nehmen, ihm die Wahrheit gestehen. Dann würde ihre, Renates, Unterschlagung herauskommen. Wie peinlich das dann für sie wäre! Bernd würde jedes Vertrauen zu ihr verlieren.

Renates Erregung wuchs. Fröstelnd zog sie den dünnen Morgenmantel fes­ter um sich. Dabei brannten heiße Tränen unter den Lidern.

»Da bist du?«, hörte sie plötzlich Bernds Stimme hinter sich und zuckte zusammen. Als er die Stehlampe anknipste und sie besorgt ansah, wich sie seinem Blick aus und sagte: »Ich konnte nicht schlafen. Ich glaube, ich habe etwas zu viel Sekt getrunken.«

»Hier unten kannst du aber auf keinen Fall sitzen bleiben, sonst erkältest du dich.« Er umfasste ihre Hände und zog sie aus dem Sessel hoch. »Komm wieder ins Bett«, bat er.

Als er seinen Arm um ihre Taille legte und sie so die Treppe hinaufführte, hätte nicht viel gefehlt, dass sie ihm alles gestanden hätte. Aber letzten Endes wagte sie es doch nicht.

Bernd setzte sich zu ihr auf den Bettrand. Ihre Blicke versanken ineinander. In einer Aufwallung ihrer Gefühle legte Renate die Arme um seinen Hals. »Halte mich fest, Bernd, ganz fest«, flüsterte sie erregt und überließ sich dann nur zu gern seinen Liebkosungen.

Als Renate am späten Vormittag aufwachte, war sie allein. Obwohl es schon ungewöhnlich spät war, konnte sie sich nicht aufraffen aufzustehen.

Lucy kam etwas später mit dem Frühstück. Sie stellte das Tablett auf das Tischchen und zog die Vorhänge auf, sodass helles Morgenlicht in das Zimmer flutete.

»Guten Morgen, Lucy.«

»Guten Morgen, gnädige Frau. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, weil ich dachte, Sie seien krank.«

»Mir geht es ausgezeichnet«, erwiderte Renate lächelnd und wandte dann ihr Interesse dem reichhaltigen Frühstück zu, das für sie die liebste Mahlzeit des Tages war.

Renate zwang sich nun, nicht mehr an Alidas Brief zu denken. Für eine Weile gelang ihr das sogar. Nachdem sie geduscht und sich angekleidet hatte, fuhr sie mit ihrem schnittigen Sportcabrio in die Stadt, um einige Besorgungen zu machen. Sie versäumte es auch nicht, sich Reiseprospekte zu besorgen. Auch Illustrierte kaufte sie. Wie gebannt richtete sich ihr Blick auf das Titelfoto der Zeitschrift. Das war doch Alida!

Renates beschwingte Stimmung verflog mit einem Schlag. Als sie die Zeitschrift bezahlte, zitterten ihre Hände. Auf dem schnellsten Weg fuhr sie nach Hause, um dort in Ruhe die Story über die bekannte Sängerin lesen zu können.

Lucy nahm Renate in der Halle die Päckchen ab. Dabei streifte ihr Blick das Foto von Alida. Ängstlich forschte Renate in den Zügen der älteren Frau. Ob sie die ehemalige Geliebte Bernds erkannt hatte?

Renate konnte es nicht feststellen und zog sich in ihr Schreibzimmer zurück. Dort suchte sie fieberhaft nach dem Artikel, der ihr mehr über Alida sagen würde.

Als Renate dann las, dass die Sängerin ein schweres Leiden habe, entschloss sie sich jäh, Alida im Sanatorium zu besuchen. Bernd würde sie sagen, sie fahre für einen Tag zu ihrer Freundin Hilde Messner nach Heidelberg. Natürlich musste sie Hilde verständigen, damit sie auf alle Fälle Bescheid wusste.

So geschah es auch. Als Bernd sich am nächsten Morgen zärtlich von seiner Frau verabschiedete und ihr gute Reise wünschte, konnte Renate kaum ihre Tränen zurückhalten, weil sie sich grundschlecht vorkam.