Souveräne Entscheidungen - Philipp Lepenies - E-Book

Souveräne Entscheidungen E-Book

Philipp Lepenies

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie gelang in England, den USA oder in Frankreich einst der Systemwechsel zur parlamentarischen Demokratie? Welche Gründe führten ihre Befürworter an? Und warum vollzog sich dieser Wandel in Deutschland erst relativ spät?

Um diese Fragen zu beantworten, befasst Philipp Lepenies sich mit Wegmarken der Demokratiegeschichte. Zu seinen Protagonisten zählen die englischen Levellers, der Amerikaner James Madison und der Franzose Abbé Sieyès, Georg Forster in Mainz, Friedrich Jucho in Frankfurt und Hugo Preuß in Weimar. Aus dem Wissen um das Werden der Demokratie lassen sich Erkenntnisse gewinnen, die helfen, sich gegen ihr drohendes Vergehen zu stemmen – in einer Zeit, in der sich der Souverän immer häufiger gegen das System entscheidet, das ihm die höchste politische Macht einräumt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 298

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover

Titel

3Philipp Lepenies

Souveräne Entscheidungen

Vom Werden und Vergehen der Demokratie

Suhrkamp Verlag

Impressum

Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.

Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

Zur Gewährleistung der Zitierfähigkeit zeigen die grau gerahmten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Um Fehlermeldungen auf den Lesegeräten zu vermeiden werden inaktive Hyperlinks deaktiviert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der xx. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2844.

© Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: nach Entwürfen von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-78274-3

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Einleitung Wer entscheidet?

Demokratiegeschichten

I

(Länder)

England Planlose Republikaner mit Hang zum Diskutieren

Ein Parlament für fast alle

König, Kirche, Puritaner

London und die Levellers

Reden, anstatt zu kämpfen – die Putney-Debates

Regizid und Rubens

Amerika Einen neuen Staat erfinden – die Vereinigten Staaten

Der Tempel an der Verfassungsallee

Regeln des Regierens

Verfassungsverschwörung bei Schwarzbier

Bloß keine Demokratie!

Die Verfassungserklärer von New York

Glück durch Tugend

Anderen die Verfassung nahebringen

Frankreich Sieyès, der erhabene Schöpfer und Ausrotter der Demokratie

Was ist der Dritte Stand? Alles.

Die Entdeckung der Mehrheit

Ein neuer Mohammed auf den letzten Drücker

Die Demokratie in der Tennishalle

Legitimierung durch das Volk

Verfassungsrealitäten

Konvent, Republik und neue Verfassungen

Soziale Kunst kontra Soziale Mathematik

Verfassung der Thermidorianer

Angst statt Demokratie und Berliner Tage

Demokratiegeschichten

II

(Städte)

Mainz Général Moustache bringt den Mainzern die Republik

Der Befreier aus Metz

Demokratie lehren

Zwang und Eid

Das stupide Volk

Nationalkonvent und Freistaat

Was bleibt, ist eine

bol

Frankfurt Frustrierte Bürger und Handwerker in Not

Ausbreitung von West nach Ost

Eine Woche Vorparlament

Gewählte Studierte

Parlament gegen Krawallsouveränität

Was in der Verfassung stehen soll

Angst vor Anarchie

Endlich Grundrechte

Vom König, der nicht Kaiser werden wollte

Auf dem Müllhaufen des Jungfernsees

Weimar Nicht länger Obrigkeitsstaat

Vom Vertrauen des Volkes getragen

Der akademisch ausgebremste Witzbold

Der Staat als Genossenschaft

Das Ende der Souveränität und die

constituante

im Kleinen

Neue Verfassung zur Leistungssteigerung

Schlappheit und Servilität

Staatssekretär und Verfassungsentwurf

Die normative Kraft des Faktischen

Und das Grundgesetz?

Schluss Tugend, Taten, Totemismus

Wehrhafte Demokratie

Illusionen, Fiktionen, Reduktionen

Die Tugend der Tat

Wissen und Erziehung

Die Tugend des genossenschaftlichen Assoziierens

Der Souverän hat das letzte Wort

Anmerkungen

Demokratiegeschichten

I

(Länder)

Demokratiegeschichten

II

(Städte)

Bildnachweise

Informationen zum Buch

3

9

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

25

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

100

101

102

103

104

105

106

107

108

109

110

111

112

113

114

115

116

117

118

119

120

121

122

123

124

125

126

127

129

131

132

133

134

135

136

137

138

139

140

141

142

143

144

145

146

147

148

149

150

151

152

153

154

155

156

157

158

159

160

161

162

163

164

165

166

167

168

169

170

171

172

173

174

175

176

177

178

179

180

181

182

183

184

185

186

187

188

189

190

191

192

193

194

195

196

197

198

199

200

201

202

203

204

205

206

207

208

209

210

211

212

213

214

215

216

218

219

220

221

222

223

224

225

226

227

228

229

230

231

232

233

234

235

236

237

238

239

240

241

242

243

244

245

247

248

249

250

251

252

253

254

255

256

257

258

259

260

261

262

263

264

9

Einleitung Wer entscheidet?

Vielleicht zögert der Mann noch. In Ganzkörperansicht, mit offenem Hemd und Schürze wendet er sich dem Betrachter zu. Sicher kein Adliger. Kein hoher Militär. Kein Mitglied des Klerus. Er ist ein Mann des Volkes, der arbeitenden Bevölkerung. In der rechten Hand hält er einen zusammengerollten Zettel. Regungslos verharrt die Hand mit der Papierrolle über einer auf einem Podest stehenden, hüfthohen Urne. Auf ihr erkennt man die Worte »Suffrage universel«: allgemeines Wahlrecht. Der Mann steht mit dem Rücken vor einer Wand, an der Plakate angebracht sind. Sie rufen zur Wahl auf oder preisen bestimmte politische Kandidaten an. Der linke Arm des Mannes streckt sich nach hinten in Richtung eines an der Wand lehnenden Bajonetts. Seine Hand berührt die Waffe nicht. Aber fast. Es fehlt nicht viel, und er könnte sie ergreifen. Ist er kurz davor? So wie die andere Hand kurz davor sein könnte, den Wahlzettel in die Urne zu werfen, aber innehält. Im abgebildeten Moment wird nicht oder noch nicht gewählt. Es wird auch nicht, noch nicht oder sogar nicht mehr zur Waffe gegriffen. Der Blick des Mannes geht weder in Richtung Urne noch in Richtung Bajonett. Auch den Betrachter blickt er nicht an. Er schaut gedankenversunken zur Seite. Er ist dabei, eine Entscheidung zu treffen. Eine fundamentale. Die Entscheidung für oder gegen die Demokratie.

Abbildung 1: Französische Lithografie aus dem Jahr 1848, ohne Titel, bekannt als »Suffrage universel« oder »Wahl oder Waffe«.

Die in Richtung des Gewehrs ausgestreckte Hand wirkt allerdings so, als würde der Mann sich der Existenz der Waffe 11lediglich rückversichern wollen. Damit ist seine Entscheidung für die Demokratie eigentlich schon gefallen. Das wird auch dadurch unterstrichen, dass die Urne vor dem Mann, das Bajonett aber hinter ihm steht. Er wendet sich der Urne zu und von der Waffe ab. Er hat sie buchstäblich hinter sich gelassen. Der französische Historiker Maurice Agulhon verwendet die Abbildung in seinem Buch über die quarante-huitards, die französischen Revolutionäre des Jahres 1848. Agulhon war sich sicher, dass der Mann die Demokratie bereits gewählt hatte: »Das Recht substituiert die Gewalt«, schreibt er. Und: »Der Arbeiter lässt das Gewehr zu Gunsten der Wahl liegen.«1

Das Bild drückt einen einzigartigen Moment aus – nicht nur für Frankreich. Es ist der Moment der Zeitenwende, des Systemwechsels. Die Geburtsstunde der Demokratie als realer Praxis – nicht als intellektuelle oder politphilosophische Idee. Die Zeit, in der einige unhinterfragt über andere politisch bestimmen konnten, ist vorbei. Stattdessen bricht die Ära der demokratischen Mitbestimmung an, in der jeder Bürger (aber noch lange nicht jede Bürgerin), egal ob reich oder arm, ob gebildet oder ungebildet, eine gleichberechtigte Stimme hat, sie abgeben kann und damit Teil der Politik, ja sogar Grundlage aller Politik wird. Es ist auch der Moment einer bewussten Akzeptanz dieses Systems. Vielleicht der historisch wichtigste Moment der westlichen Gesellschaften überhaupt. Der Moment des Triumphes des eigentlichen Souveräns. Volkssouveränität wird Wirklichkeit. Was wir sehen, ist nicht ein schlichter Arbeiter bei der Stimmabgabe, sondern ein Vertreter der höchsten politischen Gewalt. Über den Bürgern gibt es keine andere Macht. Sie sind sich dessen bewusst. Es ist ein Moment des Triumphes, aber auch immer noch der Skepsis. Der Mann auf dem Bild kann sein Glück, 12sein neu gewonnenes Recht, noch gar nicht fassen. Lässt die linke Hand deswegen nur widerwillig von der Waffe ab?

Eine Wahl zu haben ist das Kernelement der Demokratie. Die Wortbedeutung als »Herrschaft des Volkes« kennzeichnet in ihrer einfachsten, aber wichtigsten Definition, dass sich Bürger ihre Regierungen und Vertreter wählen und diese regelmäßig durch Wahlen bestätigen oder – das entscheidende Merkmal – auch abwählen können.2 Damit verbunden sind fundamentale Rechte. Nicht nur das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, sondern auch das Gleichheitsprinzip, eine freie Presse, freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit etc. Demokratie beruht auf einem Prinzip der freien Wirtschaft: dem Wettbewerb – um Stimmen und Ideen, verbunden mit dem Risiko, aus dem politischen Markt gedrängt zu werden, sofern man den Bürgern kein befriedigendes Angebot macht oder die Qualität des politischen Produktes missfällt.

Demokratie heißt repräsentative Demokratie. Vertreter werden gewählt, um im Namen des Volkes in Parlamenten Politik zu machen. Kein entwickeltes, diversifiziertes und flächenmäßig über die Grenzen einer Kleinstadt reichendes Gemeinwesen kann sich effizient und bei jeder anstehenden politischen Entscheidung in Form einer direkten Demokratie organisieren, bei der Regierte und Regierende miteinander identisch sind und alle Entscheidungen von allen gemeinsam getroffen werden. Die parlamentarische Demokratie spiegelt ein weiteres, ebenso fundamentales Wirtschaftsprinzip wider: eine hoch ausdifferenzierte gesellschaftliche Arbeitsteilung. Man muss schlicht anderen überlassen, zu regieren.

Wenn Agulhon schreibt, das Recht löse die Gewalt ab, meint er, dass zuvor Spielregeln des demokratischen Mitein13anders in Form einer Verfassung festgelegt und akzeptiert wurden. Eine Verfassung, die von den Bürgern selbst, das heißt von ihren eingesetzten Vertretern, geschaffen wurde. Eine Verfassung, die Demokratie begründet, vom Volk abgesegnet und damit legitimiert wurde, wie es die Idee der Volkssouveränität vorsieht. Das Volk ist als höchste Gewalt auch der pouvoir constituant, die konstitutionelle Gewalt, die allein das Recht hat festzulegen, wie das politische System aussehen soll, unter dem es leben will. Demokratie ist regelgebunden. Wenn die Bürger das Instrument der Wahl akzeptieren, akzeptieren sie die Verfassung.

Es ist kein Zufall, dass auf dem Bild nicht eine Menschengruppe oder eine Menschenmasse zu sehen ist. Mit der demokratischen Zeitenwende beginnt das Zeitalter des politischen Individuums. Die Stimmabgabe ist die Aktion eines Einzelnen. Die individuellen Grund- und Freiheitsrechte, die in den Verfassungen festgelegt und garantiert werden, richten sich an Einzelne, sie schützen den Einzelnen und erlauben ihm, Dinge zu tun und Dinge zu sagen, ohne dafür belangt zu werden. Sie erlauben ihm auch, Entscheidungen über sein Leben selbst zu fällen. Das Individuum bildet die »Grundeinheit der Rechtsordnung«.3

Für den Staatsrechtler Carl Schmitt musste eine solche Rechtsordnung eine einzige Frage unmissverständlich klären: »Quis judicabit?« Wer entscheidet? Beziehungsweise grammatikalisch korrekt: Wer wird entscheiden?4 Also, wer erlässt die Regeln und Gesetze? Artikel 20, Absatz 2 des Grundgesetzes macht zumindest für die Bundesrepublik deutlich, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Das Volk entscheidet darüber, wer in seinem Namen entscheiden darf. Ohne Legitimierung durch das Volk ist niemand entscheidungsbefugt. In der wohl kürzesten, aber auch wichtigsten 14politischen Rede der Demokratiegeschichte, der Gettysburg Address, die der amerikanische Präsident Abraham Lincoln 1863 noch mitten im Bürgerkrieg hielt, wird diese Bindung aller Entscheidungen an das Volk unterstrichen. Demokratie ist »government of the people, by the people, for the people«.5

In bestehenden Demokratien entscheidet sich der Souverän aber immer zahlreicher gegen das System, das ihm die höchste politische Gewalt zusichert. Die parlamentarische Demokratie erodiert. Die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit der Demokratie sinkt rapide. In einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2023 gaben mehr als die Hälfte der befragten Deutschen an, »weniger großes« oder »geringes« Vertrauen in die Demokratie zu haben.6 Ebenso viele sind wenig oder überhaupt nicht zufrieden damit, »wie die Demokratie in Deutschland funktioniert«, und stimmen zu, dass sich der Zustand der Demokratie in Deutschland »deutlich« oder »eher verschlechtert« hat.7 In das Parlament, den Bundestag, setzten nur 20 Prozent »großes« bis »sehr großes« Vertrauen. Dabei ist diese Unzufriedenheit nicht für bestimmte Schichten charakteristisch. Vielmehr lässt sich eine »inzwischen bis in die bürgerliche Mitte der Gesellschaft vorgedrungene Demokratieverachtung« ausmachen.8 Und das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für einen Großteil der westlichen Welt.

Der Chef der Freien Wähler, dessen persönliche Meinung irrelevant wäre, würde er nicht gleichzeitig als stellvertretender bayerischer Ministerpräsident Regierungsverantwortung tragen, wodurch seine Worte noch bizarrer erscheinen, behauptete in einer Fernsehsendung, die Demokratie existiere in Deutschland nur noch »formell«.9 Es sei von der Regierung »undemokratisch, wenn sie gegen die Mehrheit der 15Bevölkerung Politik macht«.10 Einige Zeit vorher hatte sich dieser Mann als »wackerster Kämpfer für die Demokratie« bezeichnet und im Landtagswahlkampf bei einer Veranstaltung in Erding sogar gefordert, die »schweigende Mehrheit« müsse sich die »Demokratie zurückholen«. Damit bedient er die typische Argumentation fast aller Populisten: In heutigen Demokratien würde eine kleine Macht- und Bildungselite Politik für ihre eigenen Belange betreiben und den Willen der eigentlichen Mehrheit (und damit die Volkssouveränität) nicht respektieren.11

Das politische Individuum unserer Tage hat ein ausgeprägtes, aber mitunter diffuses Bewusstsein dafür, dass die staatliche Gewalt und die Entscheidungsmacht in seinen Händen liegen. Das Wort »zurückholen«, das übrigens auch beim Sturm auf das Berliner Reichstagsgebäude im Jahr 2020 (unter Schwenken der kaiserlichen Reichskriegsflagge) und auf das Kapitol in Washington ein halbes Jahr später (unter Schwenken der Insignien der Amerikanischen Revolution) von den Stürmern eifrig zum Aufpeitschen bemüht wurde, zeugt nicht nur vom Glauben, die Politik habe sich von ihrem eigentlichen Zweck, den Bürgern zu dienen, entfernt und die Dinge müssten wieder zurechtgerückt werden. Vor allem steckt dahinter eine Vorstellung, nicht mehr warten zu wollen, sondern handeln zu müssen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und auch nehmen zu dürfen. Es zeigt ein immer größer werdendes Unvermögen, akzeptieren zu können, dass man in der Demokratie mit der vorherrschenden Politik nicht immer einverstanden sein muss. Oder es zeigt den Glauben, dass Politiker immer tun müssten, was dem einzelnen Bürger gerade passt, und gefälligst zu unterlassen hätten, was ihm nicht passt.

Gewaltausbrüche und destruktives Protestverhalten, das 16sich ganz bewusst außerhalb dessen abspielt, was als normale Form der legitimen Unmutsbekundung akzeptabel ist, sind Teil eines internationalen Phänomens der Brutalisierung des gesellschaftlichen Umgangs in Demokratien. Die »Verrohung der politischen Sitten«12 wird in Frankreich als Prozess der décivilisation beschrieben.13 Darunter versteht man nicht nur die grundsätzlich abnehmende Frustrationstoleranz und mangelnde Affektkontrolle von Menschen, sondern vor allem die Angriffe, verbal und physisch, auf jeden, der vermeintlich ein Vertreter des »Staates« ist – nicht nur Politiker, sondern Verwaltungsangestellte, aber besonders Ordnungshüter, Feuerwehrleute und andere Rettungskräfte, Ärzte und Krankenhausmitarbeiter oder Lehrer.

Ein ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts sagte in diesem Zusammenhang: »Wir erleben schon seit langem eine schleichende Erosion der Demokratie und des Rechtsstaats. […] Viele Menschen stehen dem Staat gleichgültig gegenüber, sie empfinden den Staat zunehmend nicht als die eigene Sache, nicht selten sogar als ihren Feind. […] Eine solche Haltung kann sich dann bis hin zu einer feindlichen Gesinnung gegenüber den demokratisch legitimierten Autoritäten steigern.«14 Allerdings einer Gesinnung, die zu konkreten bedrohlichen Handlungen führt und damit das erschüttert, was durch das Konstrukt »Staat« seit den Überlegungen von Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert eigentlich hauptsächlich gewährleistet werden muss: die Sicherheit von Leib und Leben.

Für den Politikwissenschaftler Adam Przeworski ist die Entscheidung gegen die Demokratie, die viele anscheinend getroffen haben, ein Zeichen ihrer elementaren Bedrohung. Er schreibt: »Die Demokratie steckt in einer Krise, wenn Fäuste, Steine oder Kugeln an die Stelle von Wahlzetteln tre17ten.«15 Wenn also die Entscheidung genau anders getroffen wird, als es der Bürger auf der Darstellung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts tut. Die Krisenhaftigkeit der heutigen Demokratie ist in den letzten Jahren immer detaillierter beschrieben worden. Von der Postdemokratie, einer Demokratischen Regression, einer (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, der Gegen-Demokratie, der Anti-Politik bis hin zur angeblichen Demokratiedämmerung oder dem Ende der Demokratie ist die Rede, um nur einige Schlagwörter der politikwissenschaftlichen Literatur zu nennen. Gemeinsam ist diesen Erklärungsansätzen in den meisten Fällen, dass sie das Bild eines Verfalls zeichnen, der Erosion, der schleichenden Zerstörung der Demokratie von innen. Auch die viel beachtete Studie Wie Demokratien sterben der Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt leitet aus Beispielen der jüngsten Vergangenheit Warnsignale für das Erstarken autoritärer Politik ab, das eine Zerstörung der Demokratie bewirken kann.

Die Debatte über die Krise und die Unzulänglichkeit der Demokratie ist so alt wie die Demokratie selbst. Die breiten Erfolge populistischer Parteien in den Ländern des Westens stellen aber zweifelsfrei eine historisch neue systemische Bedrohung dar. Demokratien laufen immer stärker Gefahr, sich selbst von innen heraus zu zerstören. Mit dem Begriff der souveränen Entscheidungen soll deswegen zum einen umschrieben werden, dass die Bürger, also die Wähler, bewusst Wahlentscheidungen treffen, die zum Aushöhlen, zur Schwächung oder gar zum Vergehen der Demokratie führen können.

Die Idee der Demokratie ist kurios. Wir sprechen von »der Demokratie«, als verstünde man darunter eine kontextfreie und eindeutige Struktur, ein Drehbuch, das alle nutzen und 18nach dem alle mitspielen können. In einer Demokratie sollte jeder leben – in einem System mit Wahlen, Machtwechsel und Grundrechten, die eine freie Entfaltung des Einzelnen ermöglichen. Wer wollte dem mit welchem rationalen Argument widersprechen?

Keine Gemeinschaft ist allerdings von sich aus und automatisch demokratisch. Bei der Etablierung der Demokratie handelt es sich um eine Übernahme von Praktiken, Idealen und Ideen, die zwar normativ wünschenswert sein mögen, die aber fast immer zunächst »von außen« kommen beziehungsweise dort eingeführt werden, wo sie bislang nicht existierten. Das war überall so und wird überall dort so sein, wo man noch nicht demokratisch leben darf. Die angenommene Universalität ist eine Besonderheit der Demokratie. Besonders ist daran auch, dass die meisten vernünftigen Menschen kein Problem mit der Vorstellung haben, dass Demokratie überall funktionieren könnte. Bei jeder anderen oktroyierten oder vermeintlich universellen Idee würde man heutzutage erbitterten Widerstand und Widerspruch erwarten.

Demokratie ist aber nicht nur ein abstrakter, universeller Spielplan. Sie ist eine Mischung aus theoretischen Ideen der europäischen Aufklärung und den praktischen Erfahrungen einer sehr kleinen Gruppe von drei Ländern, den Pionieren der modernen parlamentarischen Demokratie: England, den Vereinigten Staaten und Frankreich. Jeder Staat, der sich demokratisiert oder sich demokratisiert hat, orientiert sich einerseits an den universellen, idealen institutionellen Parametern der Demokratie und andererseits, bewusst oder unbewusst, an den Erfahrungen dieser drei Vorreiter.

Ich möchte nicht weiter aufzeigen, wie bedroht die Demokratie ist oder wie und warum sie sterben könnte. Mich inte19ressiert ein Aspekt, der in dieser Debatte kaum beachtet wird. Mich interessiert, wie Demokratien entstanden sind. Mich interessiert das Werden der Demokratie, und zwar deswegen, weil ich glaube, dass im Wissen um das Werden auch Erkenntnisse gewonnen werden, die helfen, sich gegen das Vergehen der Demokratie zu stemmen. Im Abwehrkampf der bedrohten Demokratie kann man gar nicht genug Waffen zur Verteidigung bemühen. Man braucht ein möglichst großes Arsenal. Elemente daraus können aus dem Wissen um die Entstehung der Demokratie gewonnen werden. Aus den entscheidenden Momenten, in denen einzelne Geburtshelfer der modernen Demokratie versuchen konnten, ihre Ideen Wirklichkeit werden zu lassen. In Abwandlung Carl Schmitts frage ich: »Quis judicabat?« Wer hat eigentlich wie, wann und warum entschieden, dass es zu dem elementaren Systemwechsel hin zur Demokratie kommen soll? Die zweite und für dieses Buch damit entscheidende Bedeutung des Begriffs souveräne Entscheidungen ist daher die des historischen Moments der Entscheidung für Demokratie und ihre Regeln.

Zur Klärung. Mit »Demokratie« ist neuzeitliche Demokratie gemeint. Im weitesten Sinne. Sie bestimmt sich durch die Elemente, die auf den vorhergehenden Seiten bereits und praktisch als kleinster gemeinsamer Nenner meines Demokratieverständnisses genannt wurden. Dazu zählen die Idee der Volkssouveränität, der volkssouverän erarbeiteten und abgesegneten Verfassung, der Vorstellung von Grundrechten sowie von Parlamenten, in denen gewählte Vertreter sitzen und entscheiden dürfen. Dieses breite Demokratieverständnis erlaubt, das eigentlich Revolutionäre des demokratischen Systemwechsels deutlich zu machen. Es erlaubt auch, unterschiedliche zeitliche, lokale und institutionelle Ausprägungen 20der Demokratie aufzugreifen, aber daraus auch allgemeine Rückschlüsse zu ziehen, in Kauf nehmend, dass aktuelle Demokratievorstellungen, Ausprägungen und Begrifflichkeiten in einigen auch sehr wichtigen Aspekten von den historischen Entwicklungen und Idealen abweichen mögen. Für mich sind jedoch dabei die breiten Gemeinsamkeiten relevant, nicht die Unterschiede.

Die Anfänge der modernen westlichen Demokratie mögen uns sehr weit zurückliegend vorkommen. Allerdings macht die Demokratie nur »einen Bruchteil der Menschheitsgeschichte« aus.16 Und da ihre Zukunft nicht gerade rosig aussieht, kann es in den Worten eines weiteren ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts »durchaus sein, dass sich unsere westliche Demokratie nur als eine kurze Phase in der Geschichte der Menschheit erweist«, auf die dann »wieder die dunkle Zeit des Totalitarismus« folgen könnte.17 Wenn das so ist, liegt der Beginn der Demokratie nicht so weit von unseren Tagen entfernt, als dass wir nicht etwas davon lernen könnten. Wer das Glück hatte, in eine Demokratie hineingeboren zu werden, kann oft gar nicht mehr nachempfinden, wie revolutionär der ursprüngliche, erste demokratische Systemwechsel eigentlich war.

Die Entstehung der Demokratie spielt sich an unterschiedlichen Orten unterschiedlich ab. Sie kann nicht allumfassend abgebildet werden. Ich nehme einige wenige Kapitel dieser Geschichte unter die Lupe. Es sind ausgewählte Demokratiegeschichten statt einer Demokratiegeschichte. »Souveräne Entscheidungen« ist bewusst im Plural gesetzt. Diese Geschichten sollen exemplarisch zeigen, wie sich zentrale Grundelemente der Demokratie durchgesetzt haben, und vor allem, welche Erfahrungen man in den Kindertagen der Demokratie gemacht hat. Es geht um die Momente des er21hofften kompletten Systemwandels, in denen mit Verfassungen das Fundament gelegt wurde, auf dem das demokratische Miteinander mit seinen neuartigen Prozessen aufbaut. Diese Entwicklungen sind es, die den wählenden Bürger auf der Lithografie von 1848 überhaupt erst möglich gemacht haben. Oder zumindest ermöglichen wollten. Dabei wird das Augenmerk auf bestimmte Akteure oder Akteursgruppen gelegt und auf ihre Ideen und Handlungen – auch wenn sie sich vielleicht gar nicht wie gewollt durchsetzen konnten. Damit soll mehr angeboten werden als eine Verfassungsgeschichte. In der Geschichte der Demokratie hat der Demos, das Volk, kaum eine Rolle gespielt. Wie sollte er auch. Denn wer ist schon das Volk? Hinter der Demokratie und ihrer Entstehung stehen Gruppen, manchmal auch nur Einzelne, die andere für ihre Ideen gewinnen wollten. Die souveränen Entscheidungen für den Wechsel zur Demokratie wurden nur selten vom eigentlichen Souverän getroffen. Aber der Souverän entscheidet sich dafür, dieses System am Leben zu erhalten – oder eben nicht mehr.

Im ersten Hauptteil werden Demokratiegeschichten aus den drei urdemokratischen Ländern erzählt: aus dem England der Roundheads und Levellers, das unvorbereitet demokratische und republikanische Prozesse ausprobierte, ohne wirklich zu wissen, mit welchem Ziel; aus dem Amerika James Madisons und der Federalists, das widerwillig eine ganz neue Staats- und Regierungsform festlegen musste, und letztendlich aus dem Frankreich, in dem ein Einzelgänger, der Abbé Sieyès aus Fréjus, die Demokratie erst schuf und dann zu zerstören half.

Danach wird im zweiten Hauptteil der Fall Deutschland behandelt. Das Land wurde in seiner Demokratisierung maßgeblich durch die Vorkommnisse und Entwicklungen in den 22anderen drei Ländern geprägt. Aber es tat sich mit dieser Demokratisierung extrem schwer und scheiterte mindestens drei Mal. Im Mainz des Adam-Philippe Custine und des Weltumseglers Georg Forster, in der Frankfurter Paulskirche des Advokaten Friedrich Jucho sowie im Weimar des Rechtsgelehrten Hugo Preuß. Zwei Mal, in zwei Weltkriegen, war die Demokratisierung Deutschlands außerdem Kriegsziel genau der drei Länder, aus denen die Demokratie stammt. Der Fall Deutschland ist daher auch unter dem Gesichtspunkt eines Ideenexports und der System-Oktroyierung von außen interessant. Besonders deswegen, weil klar wird, dass es zu Zeiten, in denen die Demokratie entsteht, wichtig ist, dafür zu sorgen, dass aus Bürgerinnen und Bürgern überzeugte Demokraten werden. Man wird weder als Demokrat geboren, noch bleibt man es automatisch für immer.

Kennzeichnend für die Entstehungsgeschichten der Demokratie ist, dass sie nie und nirgends so funktioniert hat, wie man es in einem Politiklehrbuch idealtypisch beschreiben würde. Und nicht alle wichtigen Ereignisse der Demokratiegeschichte endeten in Triumphen. Die abstrakte Idee der Demokratie mag glasklar sein, die Geschichte des demokratischen Systemwechsels ist es nicht. Sie ist chaotisch, verschwommen, komplex und weit von dem entfernt, was wir mit Demokratie und demokratischen Prozessen verbinden. Aber es lohnt sich, aus diesen Entstehungsgeschichten Elemente herauszusuchen, die für eine Stabilisierung der heutigen Demokratie vielleicht nützlich sein können. Auch deswegen, weil die mit der Demokratie Unzufriedenen sowie die Populisten stets lamentieren, die Realität der Demokratie stimme nicht mit den Idealvorstellungen überein: weder im Fall der Volkssouveränität noch beim Mehrheitsprinzip, dem Parlamentarismus oder den Wahlen.

23Unsere Vorstellung von Demokratie ist von Idealisierungen, Glaubensgrundsätzen und Fiktionen geprägt. Vielleicht mehr, als uns bewusst ist. Demokratie ist, wenn auch in einem ganz anderen Sinne als bei Carl Schmitt, eher politische Theologie als politische Realität. Die Erkenntnis, die sich aus der Betrachtung der Entstehungs- und Frühphase der Demokratie ergibt, ist dann aber, dass es bei der Demokratie vielleicht gar nicht darauf ankommt, ob ihre Prozesse und Institutionen genau mit dem Ideal übereinstimmen. Denn das war wahrscheinlich nie in umfänglich befriedigender Art und Weise der Fall. Vielleicht kann das auch nie gelingen. Das zu wissen kann aber Auswirkungen darauf haben, wie wir auf die Fundamentalkritik an den modernen Demokratien reagieren. Wie wir sie analysieren, aber auch welche politischen Gegenmaßnahmen wir daraus ableiten – immer mit dem Ziel, dass sich die souveränen Bürger für die Demokratie entscheiden, nicht gegen sie. Das hat dann weniger mit institutionellen Abläufen und theoretischen Idealisierungen zu tun als mit Glauben, Wissen und Hoffnung. Mit Tugend und mit Tatendrang. Davon handelt das Schlusskapitel.

25

Demokratiegeschichten I (Länder)

27

England Planlose Republikaner mit Hang zum Diskutieren

Im 17. Jahrhundert war England Schauplatz blutiger Bürgerkriege und unternahm zugleich militärische Feldzüge in Irland und gegen Schottland. Es war aber auch die Arena eines kompletten und eigentlich ungeplanten revolutionären politischen Systemwechsels. Mit der Enthauptung von König Charles I. im Jahr 1649 und der Machtübernahme Oliver Cromwells wurde das Land eine Republik, ohne dass man auf diese neue Regierungsform vorbereitet gewesen wäre. Weder durch moderne Werke der politischen Philosophie (die erst noch geschrieben werden mussten) noch durch eigene Pläne. England wurde eine Republik wider Willen, probierte dabei allerdings noch heute charakteristische Elemente moderner Demokratien aus oder entwickelte diese erstmalig.

In England entstand eine Vorstellung davon, dass der Mensch frei war und Rechte besaß. Dass er sich nicht einfach regieren lassen musste, sondern dass die politischen Institutionen dazu da waren, seine Belange zu verfolgen. Menschen diskutierten leidenschaftlich und bildeten sich durch Printmedien eine politische Meinung und eine Meinung darüber, wie das politische System eigentlich funktionieren sollte. Das geschriebene und das gesprochene Wort waren bedeutsam. Daraus folgte auch die Idee einer Verschriftlichung der allgemeinen Regeln, die Idee einer Verfassung, auf die sich das Volk einigen sollte. Es ging dabei auch darum, wer wählen durfte, aber vor allem um den Abbau ungerechtfertigter Pri28vilegien. Keiner konnte sich herausnehmen zu glauben, mehr zu sein als andere. Als man diesen Gedanken zu Ende dachte, stellten manche unweigerlich fest, dass es eigentlich keinen Grund gab, einen König zu haben. Stattdessen könne man seine Geschicke doch gänzlich selbst in die Hand nehmen beziehungsweise sollten diese vom Parlament geregelt werden. Die Grundprinzipien der Demokratie und des Republikanismus, verstanden als Vorstellung einer Volkssouveränität und der institutionalisierten Repräsentation, entstanden paradoxerweise aus einer Haltung, die geprägt war von religiösem Fanatismus, Gewalt, Intoleranz und Hass.

Ein Parlament für fast alle

England war Hunderte Jahre lang das einzige europäische Land, das mit seinem Parlament eine regelmäßig tagende Institution der nationalen Repräsentation besaß, die fester Teil politischer Entscheidungsprozesse war. Während im Oberhaus nur Angehörige des Hochadels und Bischöfe Platz fanden, saßen im House of Commons Vertreter der Landgemeinden, der counties, und die Repräsentanten der Städte und Marktflecken (borroughs), die durch königliches Privileg berechtigt waren.

Wählen durften in den Landgemeinden laut einem Gesetz von 1429 alle forty shilling freeholders. Darunter verstand man Männer, deren Landbesitz jährlich mindestens vierzig Shilling Ertrag abwarf. Zum aktiven Wählen musste man also Grundeigentum vorweisen können. Ausgeschlossen waren Pächter oder Tagelöhner, Almosenempfänger und ab 1597 auch Nutznießer der unter Elisabeth I. eingeführten steuerfinanzierten kommunalen Armenunterstützung. In den Städ29ten, den borroughs, galten zur Unterhauswahl lokal unterschiedliche Zugangsregeln: »Manche Borroughs billigten es allen Haushaltsvorständen oder jenen zu, die einen eigenen Herd besaßen, in anderen war überhaupt nur der städtische Magistrat wahlberechtigt.«1 Damit war das Wahlrecht in manchen Ortschaften extrem eingeschränkt, in anderen durfte eine recht große Zahl der Männer wählen.

Ein soziales Abbild der gesamten Gesellschaft war das Unterhaus nicht. Es war aber immer noch repräsentativer als die anderen in Europa existierenden Standesvertretungen. Fast alle Regionen Englands und Wales' waren mit Abgeordneten im Parlament vertreten. Und immerhin wurden die Repräsentanten gewählt, nicht ernannt oder per Los bestimmt, auch das im europäischen Vergleich praktisch einzigartig. Im 17. Jahrhundert war die Zahl der Abgeordneten im Unterhaus mit fast 500 so hoch, dass es für die Krone immer schwieriger wurde, das Gremium politisch zu beeinflussen. Außerdem besaß das Parlament eine tradierte und umfängliche legislative Kompetenz. Gesetze konnten nur durch das Ober-, das Unterhaus und den König gemeinsam beschlossen werden. Dieses Konstrukt der Souveränität wurde als King in parliament bezeichnet, womit zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass die beiden Parlamentskammern dem König in diesem Fall praktisch gleichgestellt waren. Darüber hinaus besaß das Parlament das Steuerbewilligungsrecht.

Das Parlament im England der Vorrevolutionszeit war nicht mit einem modernen Parlament vergleichbar. Die etablierte Praxis, dass die Geschicke des Landes nicht nur vom Monarchen, sondern eben auch von einer Vertretungsinstitution mit gewählten Mitgliedern gelenkt wurden, sorgte aber dafür, dass die Institution im Bewusstsein der Menschen in England fest verankert wurde. Das war seit dem Hundert30jährigen Krieg (1337-1453) der Fall, und im 17. Jahrhundert war es vor allem ein willkommener und beruhigender Kontrast zu den absolutistischen und zentralistischen Tendenzen der französischen Krone auf der anderen Seite des Kanals. Der Kleriker William Harrison, der 1577 eine Description of England verfasste, die als Teil der damaligen Universalwissenssammlung, der Holinshed Chronicles, geplant war, sah im Parlament nicht nur »die höchste und absoluteste Gewalt im Staat«, sondern wie selbstverständlich auch »Kopf und Körper des ganzen Staates, worin jede einzelne Person anwesend sein soll, wenn nicht selbst, so doch durch ihren Anwalt und Beauftragten«.2

Im Vergleich zu Ständevertretungen auf dem Kontinent tagte das Parlament zwar seit Generationen, feste und planbare Sitzungsperioden gab es aber nicht. Seine Einberufung, Vertagung oder Auflösung lagen ganz im Ermessen des Monarchen. Keine verschriftlichte oder anders tradierte Praxis regelte die Häufigkeit oder die Dauer der Sitzungen. Da der Monarch jedoch in Finanzierungsfragen auf das Parlament angewiesen war, lag es in seinem eigenen Interesse, es zumindest von Zeit zu Zeit einzuberufen.

Im House of Commons der vorindustriellen Ära – ohne allgemeines Wahlrecht und Parteien im heutigen Sinn – saßen von Seiten der Landgemeinden die Vertreter der Gentry, des niederen Landadels, als Abgeordnete im Parlament. An deren unterster Stelle standen dabei die sogenannten Gentlemen. Genau genommen war auch das Unterhaus größtenteils eine Vertretung des Adels. Nur bedeutete niederer Landadel in England etwas anderes als in den feudalen Gesellschaften Festlandeuropas. Die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe war in England nicht nur eine Frage der Familie oder anderer Privilegien. Sie stand Nicht-Adligen offen. Aus31schlaggebend für die Mitgliedschaft waren »die Nichtausübung manueller Arbeit sowie Besitz, Lebensführung und das Urteil der Nachbarschaft«.3 Wer sich Landbesitz einer gewissen Größe leisten konnte, galt fortan als Teil der Gentry und konnte in das Parlament gewählt werden.4 Wirtschaftlicher Erfolg überwand alle Schranken. Auch darin unterschied sich das englische Königreich von anderen Ländern, in denen wirtschaftliche Betätigung und Handel als etwas galten, auf das man mit nobler Abscheu hinabsah. Die Vertreter im Unterhaus mochten daher vermögend und formell adlig sein. Aber unter ihnen gab es zumindest den einen oder anderen, der aus eigener Anschauung ganz genau wusste, wie sich das Leben der breiten Masse der Bevölkerung darstellte.5

Im 17. Jahrhundert kamen dank Wahlrechtsausweitungen immer mehr Männer, bis zu einem Drittel in England und Wales, in den Genuss des Wahlrechts. Das Parlament war damit in den Augen einer großen Zahl der einfachen Menschen eine Vertretung des Volkes, die das Wort wirklich verdiente. Der König jedenfalls repräsentierte das Volk nicht.6

König, Kirche, Puritaner

Der Grund für die in England sich besonders ausprägende gesellschaftliche Radikalisierung lag in der Reformation und in der von Henry VIII. vollzogenen Abkehr der heimischen Kirche von Rom. Was reformierte und damit wahre und möglichst reine christliche Kirche bedeuten sollte, war im 17. Jahrhundert nicht geklärt. Als Oberhäupter der anglikanischen Kirche setzten die englischen Könige die Gemeinden bewusst zur Kontrolle der Bevölkerung ein. Die Kirch32spiele waren die vom Staat genutzten administrativen lokalen und regionalen Verwaltungseinheiten. In Gottesdiensten wurden den Untertanen königliche Dekrete und ähnliche politische Verlautbarungen und Positionen bekannt gemacht. Durch die Kirche und ihre Vertreter wurden die Gemeindemitglieder außerdem streng überwacht. Der sonntägliche Messbesuch war Pflicht, Abwesenheit wurde geahndet. Die Kirche war nicht nur dazu da, um Seelen zu retten, sondern um Ordnung, Gehorsam und Stabilität zu garantieren. Den Sakramenten und der Liturgie wurde in der anglikanischen Kirche stärkeres Gewicht beigemessen als den Predigten. Mit einem speziellen Book of Common Prayers wurde im ganzen Land die liturgische Praxis vereinheitlicht. Eine Auslegung der Heiligen Schrift durch Laien war ausdrücklich unerwünscht. Von der Staatskirche ging ein immenser Konformitätszwang aus.

Im Gegensatz zur reformatorischen Praxis im Rest Europas erhielt sich die anglikanische Kirche bewusst eine deutliche Nähe zum Katholizismus. Spätestens seit dem Gunpowder Plot von 1605, bei dem Katholiken das Parlament in die Luft sprengen wollten, und der vorherigen Protestantenverfolgung der katholischen Königin Mary Tudor (Bloody Mary) verband die englische Bevölkerung mit dem Katholizismus jedoch etwas Bedrohliches und Fremdartiges, während der Protestantismus als ein Teil der englischen Wesensart aufgefasst wurde. England galt als von Gott auserwählte Nation. Als ebenso typisch englisch galt neben dem Protestantismus das Parlament.

Ein Aspekt, der die Menschen immer stärker gegen ihren König Charles I. aufbrachte, war die Vorstellung, er könnte versuchen, das Land zu rekatholisieren. Anlass zu dieser Sorge gab es genug. Die liturgische Praxis wurde unter dem 33Bischof von Canterbury William Laud im Sinne des Königs noch stärker der katholischen angeglichen. Daneben hatte der Monarch katholische Berater am Hofe, dazu mit Henrietta Maria eine einflussreiche katholische, ausgerechnet französische Ehefrau. Außerdem passte Charles das Hofzeremoniell stärker den großen katholischen Höfen des europäischen Festlandes an.

Wie sein Vater James I. sah sich Charles als Herrscher, der durch das Gottesgnadentum, das divine right of Kings, legitimiert war. Nicht nur wähnte er sich als von Gott eingesetzter politischer und spiritueller Monarch. Er wollte nicht akzeptieren, dass es mit dem Parlament eine Institution gab, mit der er sich arrangieren musste.