Verbot und Verzicht - Philipp Lepenies - E-Book

Verbot und Verzicht E-Book

Philipp Lepenies

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Beschreibung

Ein Reflex lähmt die politischen Debatten um den Klimawandel. Sobald es um Maßnahmen geht, die Einschränkungen bedeuten, ist die Empörung groß: Tempolimit? Der sichere Weg in die Ökodiktatur! Veggie-Day? Das war’s mit dem Nackensteak! Dabei waren Verbot und Verzicht lange bewährte Instrumente, um Ressourcen zu schonen oder ökologische Krisen zu bewältigen. Man denke nur an das FCKW-Verbot.

Philipp Lepenies untersucht die Ursprünge dieser eingeübten Fundamentalopposition. Er führt sie auf die neoliberale Haltung zurück, die im Staat einen Gegner sieht und individuelle Konsumentscheidungen über moralische und ökologische Bedenken stellt. Dieser Geist falsch verstandener Freiheit hat allerdings eine Politik des Unterlassens hervorgebracht, die sich scheut, das Offensichtliche auszusprechen: dass eine sozialökologische Transformation ohne Verbot und Verzicht nicht gelingen wird.

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Titel

3Philipp Lepenies

Verbot und Verzicht

Politik aus dem Geiste des Unterlassens

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2787.

Erste Auflage 2022edition suhrkamp 2787© Suhrkamp Verlag Berlin 2022Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Textund Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77302-4

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Die Unausweichlichkeit von Verbot und Verzicht – eine Vorbemerkung

Einleitung Nachhaltige Entwicklung und Verbotspolitik

I

Die Argumente des Unterlassens

Pervertierung

Nutzlosigkeit

Gefährdung

Illegitimität

II

Verzicht – Geldmachen und Affektkontrolle

Entgegenwirkende Leidenschaften

Interesse

Wirtschaftliche Tätigkeit

Doux Commerce und die zivilisatorischen Effekte des Geldmachens

Konsumverzicht und der Geist des Kapitalismus

Eigeninteresse und Allgemeinwohl

III

Verbot – Der Staat als Gegner

Staat versus individuelle Freiheit: Hayek und der Weg in die Knechtschaft

Die Rolle des Individuums

Unerwarteter Erfolg

Das Individuum als Held, der Staat als Teufel: Ayn Rand

Der Kampf um Ideen: Unternehmer, Think-Tanks und die Mont Pèlerin Society

Die 24 Eier des Antony Fisher

Chicago und die Verfassung der Freiheit

Die Rhetorik der Freiheit: Das neorömische Erbe Englands

Atlas

Hayeks Ideen erstrahlen

Milton Friedman

Das amerikanische

Road to Serfdom

:

Capitalism and Freedom

Wettbewerb im Bildungssektor

Die Friedman-Doktrin: Die Rolle von Unternehmern

Stockholm ruft

Fernsehen und

Free to Choose

Umwelt

Der Staat als Problem

Sozialismus, überall Sozialismus!

IV

Konsum

I

– Konsumentensouveränität und Douce Consommation

Wenige konsumieren, alle werden glücklich

Liebe und Geltungskonsum

Konsum und die Vorzüge der Ungleichheit

Von der Rückständigkeit des Geldausgebens

Verbraucherdemokratie

Konsumentensouveränität

Douce Consommation: Der milde, süße Konsum

V

Konsum

II

– Konsumtristesse und ungebremste Affekte

Massenkonsum als Realität und Ideal

Konsumkultur

Konsumkritik der Postmoderne

Wiederkehr des Affekts

Digitalisierung und Affekte: Der Konsument wird zum Tyrannen

Schluss: Politik aus dem Geiste des Unterlassens

Fußnoten

Informationen zum Buch

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7Die Unausweichlichkeit von Verbot und Verzicht – eine Vorbemerkung

Um den Klimawandel aufzuhalten oder zumindest abzuschwächen, müssen wir unsere Art zu leben grundlegend verändern. Wir stehen vor einer umfassenden Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit. Diese wird staatlich gelenkt werden. Verbot und Verzicht werden eine wesentliche Rolle spielen. Nicht die alleinige, aber eine zentrale. In den letzten Jahren hat sich allerdings eine politische Haltung herausgebildet, die Verbote und Verzicht als staatliche Steuerungsinstrumente immer stärker und immer lauter ablehnt. Gleichzeitig wird das Anrecht auf jedwede individuelle Konsumentscheidung als unveräußerliches Freiheitsrecht zunehmend emotionaler, angespannter und aufgeregter verteidigt. Dieses Buch beschreibt, wie es dazu kommen konnte, dass zum einen dem demokratisch legitimierten Staat die Fähigkeit und das Recht abgesprochen wird, das Verhalten seiner Bürger zu regeln, und zum anderen unbegrenzter individueller Konsum als freiheitliche Norm idealisiert wird.

Das Interesse an dieser Frage ist nicht nur historisch. Ich werde zeigen, dass die hier behandelten Glaubensgrundsätze aus einer Haltung resultieren, die Demokratie und demokratische Prozesse kritisch beurteilt. Stattdessen stehen für sie die ökonomische Logik des Wettbewerbsmarktes und die individuelle Nutzenmaximierung als soziale Ordnungsprinzipien an erster Stelle. Die Digitalisierung hat diese Tendenz in den letzten Jahren drastisch verstärkt. Die Folge ist eine starre, mehr und mehr hysterische und in ihren Konsequenzen fatale Abwehrreaktion gegenüber Transformation 8und persönlichen Einschränkungen. Sie gefährdet die Überlebensfähigkeit unserer Demokratie. Schließlich zerstört diese Haltung immer augenscheinlicher die Elemente, auf denen zivilisatorischer und demokratischer Fortschritt beruht: Affektkontrolle und Gemeinwohlorientierung.

9Einleitung Nachhaltige Entwicklung und Verbotspolitik

Vor rund einer Dekade, im Jahr 2011, veröffentlichte der 1992 gegründete Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) ein Gutachten mit dem Titel Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Die Autoren beriefen sich auf das kurz zuvor in einem aufsehenerregenden Fachartikel vorgestellte Konzept planetarer Belastungsgrenzen (planetary boundaries): Wenn die Stabilität des gesamten Erdsystems gewährleistet bleiben soll, dürfen demnach bestimmte tipping points nicht überschritten werden. Um dieser Gefahr vorzubeugen, so die Schlussfolgerung des Gutachtens, sei es dringend nötig, unsere vorherrschenden Konsum- und Produktionsmuster zu verändern.[1] 

Bereits 1987 hatte der Brundtland-Bericht der Vereinten Nationen darauf hingewiesen, dass eine alternative, nachhaltige Entwicklung notwendig sei.[2]  Doch der einzige gemeinsame Nenner, auf den man sich seither politisch hat einigen können, ist die Einsicht, dass ein business as usual nicht zukunftsfähig ist. Eine umfassende Aufforderung zur Transformation wurde damit nie verbunden. »Nachhaltige Entwicklung« war lange eine rhetorische Floskel, zu der sich jeder bekennen konnte, ohne damit wirklich eingreifende 10Maßnahmen zu verbinden. Dank der naturwissenschaftlichen Konkretisierung und indikatorgestützten Quantifizierung der planetaren Belastungsgrenzen wurden die Risiken und Konsequenzen der Beibehaltung des momentanen Lebensstils jedoch plötzlich mit einer viel größeren Dramatik und Präzision sichtbar. Auch der zum damaligen Zeitpunkt medial verbreitete Begriff des Anthropozän für ein vom Menschen dominiertes Erdzeitalter verdeutlichte, dass konkretes Handeln erforderlich war.[3]  Die Behauptung, ein menschengemachter Klimawandel existiere nicht, wurde in dieser Zeit endgültig zur Minderheitenmeinung.

Ein Umsteuern, allen voran eine umfassende Dekarbonisierung zur Begrenzung der Erderwärmung auf höchstens zwei Grad Celsius gegenüber dem Niveau vor Beginn der Industrialisierung – neben anderen Maßnahmen zum Schutz von Biodiversität, Böden, Ozeanen und der Luft –, wurde offenkundig in so vielen Bereichen nötig, dass von einer großen Transformation zu sprechen angemessen schien. Dass diese mit Einschnitten und damit zwangsläufig mit Verbot und Verzicht einhergehen würde, machte der WBGU deutlich, indem er sich in seinem Gutachten für die Aushandlung eines neuen Gesellschaftsvertrags aussprach. So wie sich in der klassischen Vertragstheorie die Menschen aus freien Stücken einer Regierungsform unterwerfen, um dem Chaos des Naturzustandes zu entgehen und somit ein Stück ihrer persönlichen Freiheit aufgeben, so müsse auch heute das gesellschaftliche Leben neu geregelt werden, um den Fortbestand der Menschheit auf dem Planeten Erde zu sichern. In einem wie auch immer gearteten neuen Gesellschaftsvertrag würden sich die Menschen darauf einigen, dass zum Wohl aller 11und zum Wohl zukünftiger Generationen Veränderungen notwendig seien. Ob nun explizit formuliert oder nicht: Das Gutachten legte nahe, dass bestimmte Dinge – aus guten Gründen – in Zukunft verboten würden und die Menschen Verzicht üben müssten.

Die Presseresonanz war schroff. In der Welt sprach ein Autor von »Ökodiktatur pur« sowie von antidemokratischem und jakobinischem Denken.[4]  In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nahm man Anstoß an der Vorstellung eines »gestaltenden Staates«, dessen Aktivitäten nur »einem seltsamen Demokratieverständnis« entsprungen sein konnten. Die Aufforderung zur Transformation wurde als absurde Spinnerei abgetan.[5]  Neben dem immer wieder beschworenen Drohszenario einer Ökodiktatur ist seitdem vor allem die Verbotspolitik zu einer im politischen Diskurs reflexartig und inflationär genutzten rhetorischen Floskel geworden. Sie wird verwendet, um auf vorgeschlagene Maßnahmen zu reagieren, die das Konsumverhalten der Bürger vor dem Hintergrund einer Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit verändern wollen, sei es durch ein Tempolimit auf Autobahnen, die Reduzierung von Fleischkonsum oder das Verbot von Plastikverpackungen oder Inlandsflügen.

Die Empörung über eine Verbotspolitik richtet sich in Deutschland in den meisten Fällen gegen die Vorschläge einer der im Bundestag vertretenen Parteien, die Grünen. Da12her ist häufig auch von »grüner Verbotspolitik« die Rede. Beschleunigendes Ereignis war dabei der kurz vor der Bundestagswahl 2013 von der Partei gemachte Vorschlag, in Kantinen einen wöchentlichen Veggie-Day einzuführen. Die politische und mediale Entrüstung, die auf diese Idee folgte, sucht in der Geschichte der Bundesrepublik ihresgleichen. »Die Grünen wollen uns das Fleisch verbieten«, titelte die Bild-Zeitung, von »Grüner Umerziehung«, vom ersten »Baustein für die grüne Bundes-Verbots-Republik« sprach der damalige CDU-Generalsekretär.[6] 

Prominente Vertreter der Grünen betonten daraufhin, es hätte sich mitnichten um ein Verbot, sondern lediglich um einen Vorschlag gehandelt. Dennoch blieb das Attribut der »Verbotspartei« haften. Das liegt nicht unbedingt daran, dass man der Partei einen besonderen Hang zu Verboten nachsagen könnte. Vielmehr sind es die anderen Parteien, die sich mit konkreten, das Verhalten der Bürger verändernden Transformationsvorschlägen zurückhalten. Sie umgehen so geschickt das Risiko, dass man ihnen denselben Vorwurf machen könnte, den sie nicht müde werden, bei jeder Gelegenheit zu erheben.

Der Vorschlag zur Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen scheint in Deutschland besonders geeignet, um eine lautstarke Gegenwehr hervorzurufen, die den vermeintlich religiösen Fanatismus hinter der Einschränkung der persönlichen Freiheit geißelt. So schrieb der Chefredakteur einer großen Tageszeitung im Jahr 2013 unter der Überschrift: »Tempolimit – Auf dem Weg zum unmündigen Bürger« oh13ne jeden Anflug von Ironie: »Die Autobahn symbolisiert einen Raum maximaler Freiheit – in einem Land, das weitgehend lahmreguliert worden ist. […] Die Existenz aber solcher Freiräume provoziert den eifernden Gegenwarts-Pietismus, der in Gestalt der rot-grünen Opposition den Alltag der Menschen mit einem Katechismus umfassend regeln will.« Anscheinend war das Ideal dieser Parteien »ein Überstaat«, der »möglichst umfassend in die Freiheitsrechte seiner Bürger eingreift, um diese zu einem lahmen, anständigen und naturgefälligen Leben ohne luxuriöse Extravaganzen zu zwingen«.[7] 

In letzter Zeit hat sich der Vorwurf der Verbotspolitik jedoch auf fast jede Form geplanter politischer Veränderungen ausgeweitet – sogar auf die, die von der Regierung in Angriff genommen werden. Der Begriff ist überall. In Verlautbarungen des Bundesverbandes Rind und Schwein (»Verbotspolitik der Bundesregierung gefährdet Landwirtschaft«[8] ) ebenso wie in Statements der Chef-Lobbyistin der Autobauer (»Fortschrittswachstum statt Verbot und Verzicht«[9] ). Selbst Regierungsmitglieder versuchen bewusst, sich in diesem Sin14ne zu profilieren. Bundesratsinitiativen werden von Bundesministern mit der Pauschalbegründung abgelehnt, es gebe schon »genug Verbote«.[10]  Als seien grundsätzlich jedes Verbot und jedes weitere Verbot unangemessen.

Ein Höhepunkt dieser Polemik war die im Juni 2021 lancierte Anzeigenkampagne der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Unter dem Titel »Annalena und die 10 Verbote« war dort die Spitzenkandidatin der Grünen im anlaufenden Bundestagswahlkampf als lächelnder Moses zu sehen, der in seinen Händen nicht die beiden Tafeln des Dekalogs, sondern zwei Tafeln mit zehn drohenden Verboten hielt. Nicht überraschend für eine Lobbygruppe, hinter der zu großen Teilen die Autoindustrie steckt, lautete das erste Verbot auf den Tafeln: »Du darfst kein Verbrennerauto fahren.« Das zweite: »Du darfst nicht fliegen.« Während manche der vermeintlichen anderen Verbote übliche neoliberale Positionen repräsentierten, erschlossen sich andere »Verbote« nicht wirklich. Wie beispielsweise das vierte Verbot: »Du darfst nicht schöner wohnen.« Bedrohlich mahnte das zehnte Verbot: »Du darfst nicht mal dran denken, dass mit 10 Verboten Schluss ist.« In einem extra Textkasten hieß es: »Die Verbote der Grünen lähmen unser Land.« Quer über das Bild des Grünen-Moses verhieß eine Banderole: »Wir brauchen keine Staatsreligion.« In der Version auf der Homepage der Initiative liest man darüber hinaus: »Grüne Verbote führen uns nicht ins Gelobte Land.«[11] 

15Die fanatischen Gegner der Verbotspolitik kennzeichnet eine fatale Überzeugung: Der aktuelle Lebensstil muss nicht angepasst werden. Eine Politik ohne Verbote und Einschränkungen ist nicht nur möglich, sondern selbstverständlich. Damit verbunden ist die Vorstellung, die Herausforderungen des Klimawandels und der Umweltzerstörung ließen sich durch innovativen technischen Erfindergeist und durch die rationalen Dynamiken des Marktes in den Griff bekommen – in jedem Fall ohne staatliche Einschränkungen und »Bevormundungen«.[12]  In diesem Zusammenhang wird gern der Begriff der Freiheit bemüht. Verbote und Verzicht verringerten die persönliche Freiheit – weniger in einem politischen als im Sinne je eigener Konsumentscheidungen.

Der damalige Fraktionschef der Union sah sich 2019 zu der Verlautbarung gezwungen, dass er sich nicht schäme, Menschen zu repräsentieren, die »mit einem Verbrennungsmotor unterwegs sind, Nackensteaks essen und fleißig sind«. Schließlich seien diese »das Rückgrat unserer Gesellschaft«.[13]  Das Bild des »kleinen Mannes« (oder natürlich der »kleinen Frau«), der sich redlich abrackere und dem man wie dem Tabakverehrenden Lehrer Lämpel in Max und Moritz doch bit16te seine kleinen Freuden gönnen solle, ist in diesem Zusammenhang ein von allen »Volksparteien« gern genutzter Topos. Er hilft, um Verbotspolitik als sozial extrem ungerechten Eingriff in ein selbst erarbeitetes und damit zweifelsfrei wohlverdientes Konsumverhalten darzustellen.[14]  Verbotspolitik verliert so jede Berechtigung. Die besondere Spezies des im Schweiße seines Angesichts überlebenden Bürgers genießt absoluten Schutz und verdient maximale Freiheit. Sie darf nicht Ziel von Verboten und Verzicht sein. Die Überzeugung, der Staat dürfe das Leben und damit das Konsumverhalten seiner Bürger nicht regeln, ist jedoch nicht nur ein Glaubensgrundsatz bestimmter politischer Milieus. Sie ist mittlerweile tief in der Gesellschaft verankert.

Eine ehemalige Journalistin der taz schrieb im Spiegel unter dem Titel »Aus Trotz ein Steak. Im Flieger« eine Kolumne, die beispielhaft für das Phänomen ist, das man in der Psychologie als Reaktanz bezeichnet:

Ich esse nicht besonders gern Fleisch, habe kürzlich mein Auto verkauft und nie den Wunsch gehabt, ein Eigenheim mit Garten zu besitzen. Eigentlich. Aber in dem Augenblick, in dem ich diesen Tonfall höre, diesen ganz besonderen Tonfall, den ich als hochmütig und als übergriffig empfinde: In genau diesem Augenblick wünsche ich mir ein SUV, sechsmal in der Woche Steak und eine protzige Villa ohne Solardach. Aus Prinzip. Wenn Leute mich behandeln wie eine trotzige Heranwachsende, dann benehme ich mich auch so. Ist das vernünftig? Nein. Aber ich möchte einfach von niemandem 17regiert werden, der oder die sich ein moralisches Urteil über meine Lebensführung erlaubt.[15] 

Auch die Reaktionen auf die Corona-Maßnahmen haben diese Haltung unmissverständlich deutlich gemacht. Staatlich verordnete Verhaltensregeln wurden von manchen als illegitimer Eingriff in die autonomen Handlungsentscheidungen der Bürger zurückgewiesen. Das Wort »Freiheit«, verstanden als die Erlaubnis, trotz Ansteckungs- und eventuell Lebensgefahr alles tun und lassen zu können, was man möchte, wurde bei Protesten ebenso oft bemüht wie der Begriff und das Schreckensbild der vermeintlich existierenden oder unmittelbar bevorstehenden Diktatur. Die Steigerung war dann der Vergleich mit den Bevormundungen des SED-Regimes der DDR. Die Bewegung der sogenannten Querdenker zeichnet sich dadurch aus, sich nichts vorschreiben lassen zu wollen. In einer demokratischen Regierung erblickt sie eine Tyrannendespotie, die es wagt, Konsumfreiheiten einzuschränken.

Die extreme Haltung, als Individuum im Namen der eigenen Freiheit ungestört tun und lassen zu können, was man will, sich weder einschränken zu müssen noch sein Verhalten zum Nutzen des Allgemeinwohls anzupassen, hat sich über die letzten Jahre immer stärker und in allen Lebenslagen verbreitet. Eine Richterin am Bundesgerichtshof stellte in einem Interview erstaunt fest: »Es ist doch eine Binsenweisheit, dass meine Freiheit immer nur so weit reicht, bis sie die Sphäre der anderen berührt. Ich wundere mich, dass man 18es als Zumutung empfindet, sich ein wenig einzuschränken im Interesse der anderen.«[16]  Die empfundenen Zumutungen lauten Verbot und Verzicht.

Die nach dem WBGU-Gutachten fast schon wieder eingeschlafene Transformationsdebatte bekam mit der Unterzeichnung des Pariser Abkommens sowie der Festlegung universeller Nachhaltigkeitsziele durch die Vereinten Nationen (sustainable development goals) im Jahr 2015 einen neuen und diesmal erstmalig recht konkreten Handlungsrahmen. Kurze Zeit später formierte sich Fridays for Future und demonstrierte der Welt, dass das Wissen um den Klimawandel sowie die Erfahrung ausbleibender Transformationsbemühungen bei gleichzeitiger Verschlechterung elementarer Parameter des Erdsystems eine neue Form sozialer Bewegung hervorrufen kann. Diese bildet nicht nur einen drohenden Generationenkonflikt ab, sondern fordert auch vor dem Hintergrund der Erfahrung der Extremsommer 2018 und 2019 mit historisch neuer Vehemenz klare politische Maßnahmen, die transformativ wirken und Verbot und Verzicht beinhalten.

Der Widerstand gegen eine solche Politik wurde jedoch umso lauter, je organisierter sich Fridays for Future bemerkbar machte. Ein ehemaliger Verfassungsrichter zeigte sich in einer Publikation 2019 nicht nur besorgt ob des Rechtsbruchs durch das freitägliche Schuleschwänzen, sondern ebenso leidenschaftlich wie die Kritiker des WBGU-Gutachtens gut ein Jahrzehnt zuvor ob eines möglichen Abgleitens in eine »Ökodiktatur.« Der Staat dürfe die Bürger nicht mo19ralisierend mit »einer Flut von Ge- und Verboten« überziehen, so sein Fazit.[17] 

Kaum jemand wird bestreiten, dass Verbote ein sinnvolles Instrument der Verhaltenssteuerung sind. Das Gleiche gilt für die Aufforderung zum Verzicht bei Überbeanspruchung einer Ressource. Dass jedoch viele Menschen der Meinung sind, Verbot und Verzicht seien im Grunde keine legitimen staatlichen Instrumente und der individuelle Konsum im Namen der Freiheit sei unantastbar, zeigt, wie stark sich die Ideale des Neoliberalismus in den Köpfen festgesetzt haben. Es sollte daher nicht überraschen, dass es in diesem Buch in großen Teilen um die Geschichte, Konzepte, Strategien und Akteure des Neoliberalismus geht.

Der Grundgedanke des Neoliberalismus lautet, dass das Allgemeinwohl maximal gefördert wird, wenn sich möglichst alle sozialen Transaktionen an der Marktlogik des Wettbewerbs ausrichten. Der Staat soll nur die Rahmenbedingungen für das Funktionieren von Märkten setzen und sich ansonsten am besten aus allem heraushalten. Der Markt wird idealisiert, der Staat verteufelt. Der Markt ist effizient, der Staat ist es nicht. Der Markt schafft Freiheit, der Staat nimmt sie. Der Markt ist der Tummelplatz des wichtigsten Akteurs der neoliberalen Welt: des autonomen Individuums, das tagtäglich bemüht ist, auf der Suche nach dem Glück seinen Eigennutz zu maximieren. Der Neoliberalismus zielt auf »die Entzauberung der Politik durch die Wirtschaft«.[18] 20Elementaren demokratischen politischen Prozessen skeptisch gegenüber eingestellt, sollen Marktnormen zu politischen Normen werden.[19]  Staatliche Aktivitäten sollten nicht nur zurückgefahren werden, sondern der Staat selbst und die ganze Logik des Regierens sollen sich dem Markt anpassen.

Doch der Neoliberalismus ist mehr als eine Idee. Über die Jahrzehnte ist er zu »einem hegemonialen Diskurs geworden. […] Er durchdringt unsere Art zu denken, und das geht so weit, dass er Teil unseres Common Sense geworden ist, mit dem wir die Welt, in der wir leben, verstehen und interpretieren.«[20]  Der Historiker Philip Mirowski spricht in diesem Zusammenhang vom »alltäglichen Neoliberalismus«.[21]  Der Neoliberalismus ist nicht länger eine von vielen möglichen Interpretationen der Welt. Er baut auf Annahmen auf, die von vielen gar nicht hinterfragt, sondern als alternativlos, weil vermeintlich richtig und real verstanden werden. Margaret Thatcher, die als Premierministerin Großbritanniens eine der ersten Extremverfechterinnen des Neoliberalismus in Regierungsverantwortung wurde, sagte einmal sybillinisch, man bediene sich zwar neuer ökonomischer Ideen, aber das Hauptziel sei, »die Seelen der Menschen zu verändern«.[22]  Wie es scheint, ist das gelungen.

Das Besondere am Neoliberalismus ist, dass er in seiner heutigen globalen Ausprägung das Ergebnis einer ausgeklü21gelten Strategie ist, mit der man den Kampf um politische und wirtschaftliche Ideen gewinnen wollte. Seine Grundlagen wurden in einem gezielt geplanten »langen Marsch« durch die Institutionen in einem Zusammenspiel einer Gruppe von Wissenschaftlern, Think-Tanks, Romanautoren, Journalisten und Vertretern des Unternehmertums immer und immer wieder verbreitet, bis sie spätestens mit den Regierungen Thatchers und Ronald Reagans zu einem Teil der politischen Kultur wurden, die sich in der Folgezeit global durchsetzte.[23]  Der Neoliberalismus war immer die »transnationale Bewegung« einer eigenen »Ideologie«, ein langfristiges Projekt mit globalem Anspruch. Die deutsche »Verbot und Verzicht«-Reaktion ist in ihren Bildern, Denkmustern und rhetorischen Floskeln Ausdruck dieser Ideologie. Sie fußt nicht auf eigenen Ideen.

Dabei trägt der missionarische Eifer des neoliberalen »Gedankenkollektivs« durchaus religiös-fanatische Züge.[24]  Vor allem auch deswegen, weil dessen Grundideen mehr auf Glauben beruhen als auf einer akkuraten Beschreibung und Erklärung der Realität. Der Ökonom Joseph Stiglitz hat es so formuliert: »Neoliberaler Marktfundamentalismus war immer ein politisches Dogma, das bestimmten Interessen entgegenkam. Es war nie von wirtschaftlichen Theorien gedeckt.«[25] 

Als ein ideologisches Projekt, das nicht immer diesen Namen trug, wurde der Neoliberalismus vor allem durch zwei Menschen geprägt: Friedrich August Hayek und Milton 22Friedman. Gemessen am langfristigen Erfolg ihres Plans, können Hayek und Friedman zweifelsfrei als unangefochtene neoliberale Masters of the Universe gelten.[26]  Wie es ihnen gelang, das Feindbild des Staates zu zementieren, der das Leben der Bürger nicht beeinflussen, steuern oder regeln darf – also nicht verbieten soll –, und dabei gleichzeitig den Wettbewerbsmarkt als Hort der Effizienz und der individuellen Freiheit zu glorifizieren, ist Gegenstand des dritten Teils dieses Buches. Dabei spielt die Zusammenarbeit von Wissenschaft, Organisationen wie der Mont Pèlerin Society, Unternehmensvertretern sowie Think-Tanks eine besondere Rolle. Dazu gehören auch die noch immer anhaltenden Erfolge von Romanschriftstellern wie Ayn Rand.

Für das Thema Verbot und Verzicht ist der Stellenwert des individuellen Konsums entscheidend. Zum einen weil in den aktuellen Transformationsdebatten ein Verbot immer den individuellen Konsum beschneiden würde; zum anderen weil Konsum und das Recht, ungehindert zu konsumieren, das genaue Gegenteil von Verzicht sind. Im vierten Teil wird daher die Genese des Begriffs der Konsumentensouveränität neoliberaler Autoren wie William Hutt und Ludwig von Mises nachgezeichnet. Mit diesem Konzept wurde nicht nur das Recht auf unbegrenzten und unreglementierten individuellen Konsum abgeleitet. In dieser Vorstellung löste auch der Konsument den politischen Bürger als Souverän ab. Um das Gemeinwesen effizient zu gestalten, war daher unbegrenzter individueller Konsum maximal geboten. Konsum wurde zur ersten Bürgerpflicht. Freiheit wurde zur ungestörten Konsumentscheidung und die Demokratie zu 23einer democracy of the consumer. Der Neoliberalismus fußt auf der Vorstellung dessen, was ich douce consommation nenne – des allseits Nutzen spendenden Effekts des individuellen Konsums. Freie Märkte und damit Freiheit existieren nur, wenn konsumiert wird und der Einzelne nach Herzenslust konsumieren darf.

Die Folgen der Fixierung auf individuellen Konsum sowie dessen Steigerung durch die Digitalisierung sind Gegenstand des fünften Teils. Konsum und veränderte Konsumgewohnheiten führten spätestens ab den siebziger Jahren zu einem spürbaren gesellschaftlichen Wandel, der sich darin ausdrückt, dass der Konsum zum dominanten identitätsstiftenden Merkmal der Individuen postmoderner Gesellschaften geworden ist. Der Aufstieg der Mobiltelefonie sowie des Internets hat die Einengung individueller Entfaltungsmöglichkeiten auf den Konsum nicht nur bedeutend vorangetrieben, sondern hat in der Konsequenz zur Rückkehr und Verstärkung emotionaler, echauffierter und affektierter Verhaltensweisen geführt, die sich besonders dann entladen, wenn die individuelle Konsumhandlung eingeschränkt werden soll. Mit der Digitalisierung verstärkt sich eine individualzentrierte Anspruchshaltung des »Ich darf alles«, die den neoliberal verklärten individuellen Konsumsouverän in das Gegenteil von dem verwandelt, was er eigentlich sein sollte: in einen individuellen Tyrannen, der jeden Eingriff in seine Konsumentscheidungen vehement ablehnt. Die douce consommation ist daher alles andere als douce und verkehrt sich in ihr Gegenteil.

Die extreme Haltung, die Verbot und Verzicht als Instrumente staatlichen Handelns ablehnt, fußt auf drei miteinander verzahnten Aspekten: erstens auf der Ablehnung staatlicher Eingriffe in das Privatleben, gespiegelt im Bild des 24Staates als Gegner, dessen Aktivitäten im Gegensatz zu denen des idealisierten autonomen Individuums grundsätzlich negativ zu bewerten sind. Zweitens auf der Überhöhung des Konsums und der Idee der Konsumentensouveränität als Recht und Motor einer effizienten Marktwirtschaft. Drittens auf einer digital unterstützten und sich verstärkenden individualzentrierten Konsumblase, die nicht nur die affektive und emotionale Ebene besonders anspricht, sondern zu affektgeladenen und emotionalen Reaktionen herausfordert, wenn die eigenen als legitim angesehenen Konsummöglichkeiten behindert werden. Diese drei Aspekte bestimmen die Gliederung dieses Buches.

Da es sich bei den Abwehrargumenten gegen Verbot und Verzicht zunächst immer um rhetorische Floskeln handelt (»Ökodiktatur«, »Bevormundung«), beginnt dieser Text im folgenden ersten Teil mit einer allgemeinen Darstellung rhetorischer Strategien gegen Wandel und Transformation. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist die Behauptung, staatliche Verbote und Verzichtsideen seien grundsätzlich illegitim.

Im zweiten Teil lege ich in einem kurzen ideengeschichtlichen Exkurs dar, dass schon vor Jahrhunderten die Verfolgung individueller wirtschaftlicher Eigeninteressen nicht nur akzeptiert, sondern als gewünschte Verhaltensnorm etabliert war. Im Unterschied zur modernen neoliberalen Konsumfixierung war diese ältere Vorstellung des doux commerce allerdings geprägt von Affektkontrolle und Konsumverzicht. Doux commerce, so hieß es damals, habe nicht nur einen positiven Effekt auf den Umgang der Menschen miteinander, sondern sei eine der Haupttriebfedern der Zivilisation. Außerdem sei er eingebettet in eine Ethik der Allgemeinwohlorientierung. Es sind genau diese Parameter, die durch die 25Individualzentrierung und Konsumfixierung des Neoliberalismus im Sinne der douce consommation verloren gegangen sind und deren Fehlen sich in den Debatten um Verbot und Verzicht so deutlich zeigt.

In den Schlussfolgerungen zeige ich, warum die extremen Reaktionen auf Verbot und Verzicht eine Gefahr für die Demokratie darstellen und auf einem fatalen Politikverständnis beruhen, das notwendige Transformationsschritte hin zu mehr Nachhaltigkeit bremst, wenn nicht gar verhindert: eine Politik aus dem Geiste des Unterlassens.

Abschließend noch einige knappe Bemerkungen bezüglich meines Gebrauchs des Begriffs »Neoliberalismus« sowie der Konzepte von Verbot und Verzicht. Was hier untersucht wird, ist die Entstehung bestimmter Ideen, die sich in den zitierten Äußerungen zur Verbotspolitik widerspiegeln. Es geht mir nicht darum, ein umfassendes Bild aller Ausprägungen des Neoliberalismus zu zeichnen mit all seinen Unterspielarten, Akteurskonstellationen und Bedeutungsverschiebungen. Der Economist konnte 2004 zwar lamentieren, der Begriff des Neoliberalismus sei von einer neuen Spezies von »Markt anbetenden, nihilistischen Soziopathen« pervertiert worden.[27]  Er verschwieg aber, dass dieses Extrem nur durch den Siegeszug neoliberaler Grundideen entstehen konnte. Sie sind es, die in der emotionsgeladenen Reaktion auf Verbot und Verzicht zu Tage treten und hier behandelt werden.

Beim Widerstand gegen Verbot und Verzicht geht es darum, Verhaltenssteuerung als politisches Instrument abzuleh26nen. Unerheblich ist dabei, ob es sich um Verbote im strafrechtlichen Sinne handelt oder um andere Formen, mit denen Verhaltensänderung erreicht werden soll, zum Beispiel durch Preisänderungen. Wenn also statt klassischen Verboten manchmal alternativ Verhaltensregulierung durch Preiserhöhungen bestimmter Güter oder Dienstleistungen gefordert wird, um die sozialen oder ökologischen Kosten besser zu berücksichtigten, macht das zwar einen Unterschied in der Frage, ob es sich dabei um ein originäres Verbot handelt oder nicht. Viele Menschen, die sich dann ihr Konsumverhalten nicht mehr leisten können, sehen diesen Unterschied nicht. Die französischen Gelbwesten-Proteste zeigen deutlich eine mögliche Reaktion auf eine Preispolitik, die bestimmte Dinge nicht mehr möglich macht. Die Frage nach der sozioökonomischen Legitimität des Auflehnens gegen höhere Preise muss hier nicht erörtert werden. Es reicht festzustellen, dass auch in diesem Fall die klare Haltung überwiegt, dass bestimmte Güter und deren Konsum den Menschen zustehen und Verhalten nicht durch staatliches Tun unterbunden werden darf.

27IDie Argumente des Unterlassens

Sich gegen Veränderungen zu stemmen und darauf zu pochen, dass die Dinge so bleiben sollen, wie sie sind, ist im ureigenen Sinn konservativ. Für diese Haltung kann es gute Gründe geben, und so gehört es zur konservativen oder besser: konservierenden Abwehrhaltung, sich mit progressiven Vorstellungen von Wandel auseinanderzusetzen und darauf zu reagieren. Wie man unter anderem in der aktuellen Debatte um Verbote und Aufforderungen zum Verzicht beobachten kann, gibt es zahlreiche Akteure, die einen Wunsch nach Veränderung nicht einfach akzeptieren. Sie suchen und formulieren Gegenargumente. Dabei bedienen sie sich wiederkehrender rhetorischer Muster.

Widerstand gegen eine umfassende gesellschaftliche Transformation formierte sich in Europa erstmals in besonderem Maße im Nachgang zur Französischen Revolution. Seitdem ist »Reaktion« der Ausdruck für eine politische Haltung, die auf transformative Politik verhalten bis abweisend reagiert. Sie ist konservativ, weil ihr die Erhaltung des Status quo, oder wie im Fall der Französischen Revolution: die Wiederherstellung des Status quo ante, am Herzen liegt. Die Reaktion kann mit der Idee einer großen Transformation nichts anfangen. Sie lehnt sie ab, weil sich, so argumentieren ihre Vertreter, in den bestehenden Verhältnissen eine Begründung oder Logik für deren Vorhandensein finde, die sie als valide und gerechtfertigt ansehen. Der Grund für dieses Unbehagen gegenüber Veränderungen ist die Vorstellung, dass sich bestehende institutionelle Strukturen (im Sinne von Regeln 28und Organisationsformen) in der Geschichte bewährt haben und es daher keines Wandels bedürfe. Für die Gegner der Französischen Revolution der ersten Stunde, allen voran Edmund Burke, war der Gedanke unerträglich, dass die französischen Vordenker der Revolution nicht auf Erfahrung und historische Strukturen setzten. Stattdessen glaubten diese im Sinne des Rationalismus und neu formulierter allgemeingültiger Prämissen, ein ganzes Land in seinen Grundfesten erschüttern und verändern zu können. Der Unterschied zwischen britischen Empiristen und französischen Rationalisten wurde selten so instrumentalisiert wie in den Argumenten, die Burke bereits 1790 in seinen Reflections on the Revolution in France (dt. u. ‌a. als: Betrachtungen über die Französische Revolution) gegen den französischen Transformationseifer vorbrachte.[28]  Auch bei neoliberalen Theoretikern, allen voran bei Friedrich Hayek, wird diese historische Dichotomie zwischen Empirismus und Rationalismus immer wieder bemüht.

Ausgehend von der Schrift des Kopernikus über die Umlaufbahnen der Planeten, De revolutionibus orbium coelestium von 1543, verband man mit dem Begriff der Revolution eigentlich eine zirkuläre Bewegung und im übertragenen Sinne die zirkuläre Bewegung der Zeit. Auch die englische Revolution Society, in deren Kreisen Burke sich bewegte und die in Erinnerung an die Glorious Revolution von 1688 ihren Namen erhalten hatte, nutzte den Ausdruck in diesem Sinn. So wollte man deutlich machen, dass vernünftige Politik und vernünftige Institutionen ihre Grundlage in der Geschichte hatten, nicht in Apriori-Vorstellungen von einer 29besseren Gesellschaft und einer besseren Welt. »Revolution« bedeutete für die Mitglieder der Society, dass nicht Theorie die politische Richtschnur spannte, sondern Geschichte. Mit der Französischen Revolution und dem Versuch, einen neuen Menschen und eine neue Ordnung zu schaffen, waren aber nicht länger die Geschichte und die Vergangenheit die Referenzpunkte, sondern die Zukunft. Eine Zukunft, von der die französischen Revolutionäre und die philosophes glaubten, sie aktiv gestalten zu können. Die Befürchtung, es handele sich dabei nicht um ein rein französisches Phänomen und um eine lokal begrenzte soziale Dynamik, sondern um eine »Übertragungskrankheit«, dass also die Revolution auch auf die Britischen Inseln übergreifen könnte, trieb die englischen Eliten jahrzehntelang um. Also musste die Reaktion versuchen, die Ereignisse der Französischen Revolution klein- bzw. schlechtzureden. Die Auswüchse der jakobinischen Terreur machten dies zu einer leichten Aufgabe. So begann der Versuch, Argumente zu finden, um zukunftsgerichtete und weitreichende politische Veränderungen zu verhindern.

In seiner 1991 erschienenen Studie The Rhetoric of Reaction (dt.: Denken gegen die Zukunft. Die Rhetorik der Reaktion) hat Albert O. Hirschman die Argumentationsmuster der Reaktion über einen Zeitraum von zweihundert Jahren untersucht. Dabei nutzte er drei große historische Transformationsmomente als realpolitische Ausgangspunkte, um zu zeigen, dass sich die Abwehrhaltung konservativer Kreise traditionell in drei rhetorischen Mustern äußerte. Die von ihm gewählten Beispiele waren die Französische Revolution (18. Jahrhundert), die Einführung des allgemeinen Wahlrechts (für Männer, im 19. Jahrhundert) sowie die Etablierung des Wohlfahrtsstaates beziehungsweise die Einführung staatlicher 30Unterstützungsmaßnahmen für Arme, Arbeitslose, Kranke etc. (im 20. Jahrhundert).[29] 

Pervertierung

Das erste rhetorische Muster bezeichnet Hirschman als Perversity Thesis. Dieser zufolge ist jedwede revolutionäre politische oder soziale Transformation zum Scheitern verurteilt. Der Grund hierfür seien die nichtintendierten Effekte sozialen Verhaltens.[30]  Wie in der Bienenfabel Bernard Mandevilles könne ein bestimmtes zielgerichtetes Verhalten zu genau dem Gegenteil dessen führen, was eigentlich geplant war. Während in der Gedankenwelt Mandevilles privates Fehlverhalten zu positiven gesellschaftlichen Entwicklungen führte, galt die Französische Revolution konservativen Akteuren als ein Beispiel dafür, dass auch genau das Umgekehrte passieren konnte.[31]  Eine bessere Zukunft war dem Land versprochen worden, doch stattdessen herrschten 1793 Angst und Schrecken. Die alten, Sicherheit garantierenden Strukturen 31waren zerstört worden. Transformative Politik erreichte in dieser Logik perverserweise genau das Gegenteil von dem, was erreicht werden sollte. Fazit: Anstelle von Freiheit bringt Transformation Terror. Anstelle einer effektiveren und moderneren sozialen und politischen Ordnung regiert Chaos. Vormals gut funktionierende Institutionen werden durch defekte ersetzt.

Im Falle wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen wie der finanziellen Unterstützung von Arbeitslosen und Armen lautet ein traditionelles Perversity-Argument, dass die monetäre Hilfe Arbeitslosigkeit und Armut nicht verringere, da diese Menschen durch die Unterstützung den fatalen Anreiz erhielten, sich nicht um eine Verbesserung ihrer Lage zu bemühen. Wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen würden zu Faulheit einladen.[32] 

»Verbotspolitik« führe in letzter Konsequenz stets dazu, dass die verbotenen Dinge mit besonderer Lust trotzdem getan werden – wie es in einer Liedzeile Wolf Biermanns heißt: »Keiner tut gern das, was man tun darf. Was verboten ist, das macht uns gerade scharf.« Man denke nur an die oben zitierten Auslassungen der Spiegel-Kolumnistin zu ihrem Flug- und Essverhalten. Als Musterbeispiel für verfehlte Verbotspolitik muss häufig die Prohibitionszeit in den Vereinigten Staaten herhalten. Verbote riefen, so ein deutscher Wirtschaftsjournalist in einem Artikel mit dem Titel »Was könnte man noch alles so verbieten?«, grundsätzlich »Umgehungsstrategien« auf den Plan.[33]  Es scheint, als sei es unmöglich, 32Menschen von einem einmal etablierten Verhalten abzubringen.

Die Perversity Thesis beruht auf der Annahme, dass der Mensch natürlichen und unveränderlichen Verhaltensmustern folgt. Dementsprechend besteht der Sinn von Politik und Institutionen darin, diese Muster zu erkennen, zu akzeptieren und sie zu nutzen – und nicht darin, sie verändern oder neu formen zu wollen. Davon ausgehend kann man Reformpolitikern dann vorhalten, und das ist die vermeintliche Stärke des Perversity-Arguments, sie würden die Natur des Menschen nicht verstehen. Wer über ein »richtiges« Verständnis der menschlichen Natur verfüge, begreife, dass die Dinge unweigerlich anders laufen werden, als man geplant hat. Die Vertreter der Reaktion positionieren sich also als die wahren Menschenkenner.

Nutzlosigkeit

Das zweite rhetorische Muster ist die sogenannte Futility Thesis. Diese behauptet schlicht, dass geplante transformative Maßnahmen ihr Ziel nicht erreichen werden: Sie sind nutzlos. Bei der Einführung des allgemeinen Wahlrechts (für alle Männer) in mehreren europäischen Staaten ab Mitte des 19. Jahrhunderts kam das Argument auf, dass diese Ausweitung und regelmäßige Wahlen an der etablierten Sozial- und Machtstruktur nichts ändern würden. Wahlen seien Makulatur. 1911 verkündete der Soziologe Roberto Michels sein »ehernes Gesetz der Oligarchie«. Die Eliten eines Landes, so 33Michels, würden immer die Oberhand gewinnen. Man kann sein »ehernes Gesetz« als eine Variante der Nutzlosigkeitsthese deuten.[34]  Gleiches gilt für das Populationsprinzip von Thomas Robert Malthus. Ausgehend von angeblichen Naturgesetzmäßigkeiten behauptete Malthus, es werde unweigerlich und regelmäßig zu Hungerkrisen aufgrund von zunächst stärkerem und dann wieder schwächelndem Bevölkerungswachstum kommen. Jede Politik, deren Ziel darin bestehe, Hunger und Not dauerhaft zu lindern (wie die englischen Old Poor Laws), könne daher keinen wirklichen Effekt haben, denn sie verstoße gegen die »Gesetze der Natur«.[35] 

In den aktuellen Diskussionen rund um mögliche Verhaltensänderungen im Rahmen transformativer Maßnahmen wird die Futility Thesis häufig im Zusammenhang mit der Vorstellung gebraucht, Verbote und die mit ihnen einhergehende Neuausrichtung des Verhaltens einiger Menschen würden insgesamt nicht ins Gewicht fallen; oder die betroffenen Sektoren hätten so wenig Anteil an dem zu lösenden Gesamtproblem, dass jedes geplante Verbot unnütz sei. Man denke, um zwei Beispiele aus Deutschland aufzugreifen, nur an die Debatte, ob ein Tempolimit auf Autobahnen überhaupt signifikant zur Reduzierung des CO2