4,99 €
Immer mehr Menschen verlieren wegen einer psychischen Erkrankung den von ihnen erstrebten Platz in der Gesellschaft. In diesen prekären Situationen einen Genesungsprozess einzuleiten, ist Aufgabe der sozialen Rehabilitation, die in Deutschland von der Eingliederungshilfe organisiert wird. Sie setzt jedoch bisher allein auf die individuelle Beratung der Betroffenen. Es könnte an dieser Methodik liegen, dass sich die Zahl der Betroffenen nicht verringert, sondern weiter wächst. Das vorliegende Buch berichtet von einem Praxisprojekt, das nach dem Grundsatz handelt: "Erst in Gruppen integrieren, dann sozial rehabilitieren." Neben sehr praxisnahen Schilderungen jedes einzelnen Programmschrittes wird der neue Ansatz in allen wichtigen Aspekten in den aktuellen Diskurs über Geschichte und Entwicklung der Psychiatrie gestellt. Er erörtert seine Besonderheiten im Hinblick auf frühere gruppentherapeutische Konzepte wie beispielsweise die themenzentrierte Interaktion TZI. Es wundert nicht, dass dieses Gruppenprogramm nach Beendigung seiner Pilotphase nicht beim Modell-Abfall gelandet ist wie so viele andere innovative Ansätze in der psychiatrischen Praxis. Kommunale Kostenträger der Eingliederungshilfe in Niedersachsen haben dies verhindert und dafür gesorgt, dass eine anerkannte Leistungsvereinbarung hierüber geschlossen wurde, die heute von allen in Deutschland angewendet werden kann. Damit ist ein Gruppenprogramm entstanden, das die Praxis der sozialen Rehabilitation nachhaltig verändern wird.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 492
Veröffentlichungsjahr: 2017
„Der Einzellne ist meistens allein,
und wenn er sich in Gesellschaft befindet,
ist er Gesellschaftler.“
(Ernst Herbeck)
Hansgeorg Ließem
Gruppenprogramm zur sozialen Rehabilitation von psychisch Erkrankten
Impressum
© 2017 Hansgeorg Ließem Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISDN Paperback 978-3-7439-1716-3 ISDN Hardcover 978-3-7439-1717-0 ISDN e-Book 978-3-7439-1718-7
Das Werk, einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Das gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.deabrufbar.
Darüber scheint fachliche Einigkeit zu bestehen: Die psychische Erkrankung hat viel mit persönlicher Verletzlichkeit zu tun. Weshalb jedoch unangenehme Erfahrungen bei dem einen Menschen tiefe Krisen auslösen, während andere sie locker wegstecken, scheint viele Ursachen zu haben. Jeder hat eine eigene körperliche Konstitution, seine Hirntätigkeit geht unterschiedlich mit Eindrücken um. Jeder hat besondere psychische Stärken und Empfindlichkeiten. Jeder lebt in seiner eigenen sozialen Welt, die ihm Unterstützung gewährt oder versagt.
Psychiater betrachten die Ursachen der psychischen Erkrankung nach dem „Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modell“1 . Das medizinische Handeln sucht in diesem Zusammenhang eher nach der Beeinflussbarkeit der körperlichen Faktoren. Psychologen behandeln die emotionale Seite des Problembündels. Beide sprechen von Therapie und verweisen auf eindrucksvolle Behandlungserfolge.
Soziale Aspekte der Erkrankung werden in besonderer Weise im Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung von Kindern und Jugendlichen untersucht und beschrieben. Da deren Situation unmittelbar in die Erwachsenenwelt hinübergeht, lohnt es sich, sich hiermit zu befassen. Im 10. Kinder- und Jugendbericht an die Bundesregierung sind im Jahre 1998 die besonderensozialen Bedingungen dieser Personengruppe, soweit sie Erkrankungen mit verursachen könnten, recht übersichtlich zusammengestellt worden:
1.„Eine steigende Zahl von Kindern in Deutschland lebt in (relativer) Armut. Dabei bedeutet das Aufwachsen in einem Milieu materieller Unterversorgung heutzutage weniger, unmittelbare materielle Not zu erleiden, als vielmehr verstärkt gesundheitlichen Belastungen und psychosozialen Benachteiligungen ausgesetzt zu sein wie psychische Erkrankung eines Elternteils, konflikthafte Familienbeziehungen oder ein negatives Wohnumfeld.
2.Auf der anderen Seite geht der steigende Wohlstand der Mehrheit der Bevölkerung mit einer zunehmenden Verunsicherung der Eltern einher. Mit dem Überangebot an Möglichkeiten und Chancen wachsen die Ängste der Eltern, ihr Kind falsch zu erziehen oder der Rolle als Mutter oder Vater nicht gerecht zu werden.
3.Mit Sorge registriert die Öffentlichkeit die zunehmende Gewaltbereitschaft unter Jüngeren (ablesbar am Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität), aber auch innerhalb der Familien (steigende Zahlen von Kindesmisshandlungen).
Weitere Kennzeichen der Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen, die in dem Bericht aufgeführt werden, sind
4.die Auflösung traditioneller familiärer Strukturen und Bindungen (die sich in steigenden Scheidungsraten und der wachsenden Zahl allein erziehender Eltern niederschlägt),
5.die zunehmenden Leistungsansprüche an Kinder und Jugendliche im schulischen und privaten Bereich (erkennbar beispielsweise an der großen Zahl von Kindern, die Nachhilfeunterricht erhalten) und
6.der immer früher einsetzende Einfluss jugendlicher Subkulturen und die damit verknüpften frühen Erfahrungen beispielsweise im Bereich der Drogen.“2
Die Entwicklung eines Programms zur sozialen Rehabilitation wird bei den erwachsenen psychisch Erkrankten, vor allem wenn sie sich schon mehr als 2 Jahre mit Krankheitssymptomen quälen, von ähnlichen sozialen Lebensbedingungen ausgehen können. Auch sie sind in ihrer Mehrheit (relativ) arm, leben vom Arbeitslosengeld II bzw. von Grundsicherung. Auch sie erleben die gut gemeinten Angebote von Jobcenter und Sozialarbeit, also die Chancen und Möglichkeiten eher als Bedrängnis und Irritation. Ihre Gewaltbereitschaft drückt sich in der wachsenden Zahl von forensischen Patienten aus. Manche Gewalt richtet sich auch gegen die eigene Person. Auch die familiären Strukturen bildensich mit dem Eintritt der Volljährigkeit nicht neu. Aus verunsicherten Kindern werden bindungsgestörte Eheleute, Lebenspartner und Eltern. Nicht nur in der Schule, gerade im Berufsleben hat die Leistungserwartung erheblich zugenommen. Deshalb glaubt die Schule ja auch, ihren Druck drastisch verstärken zu müssen. Und nach dem Rückzug aller traditionellen Bindungsstrukturen bleibt neben der Einsamkeit nur noch die Subkultur der Außenseiter, sei es beispielsweise als Kunde bei der „Tafel“ oder als Gast sozialpädagogischer Freizeitveranstaltungen.
Das „Vulnerabilität-Stress-Coping-Modell“ zur Erklärung psychischer Erkrankungen vermeidet eindeutige Ursache-Wirkungs-Muster. Irgendwie treffen bestimmte körperliche, psychische und soziale Faktoren aufeinander und lösen die Erkrankung aus. Es handelt sich um einen Mix aus vielen Elementen. Keine der an der Therapie beteiligten Fachgruppen, Mediziner, Psychologen und Soziologen/Sozialarbeiter sind zu wirklich wirksamen Heilungskonzepten gekommen. Immerhin haben die Ärzte ein ausgearbeitetes Behandlungsprofil entwickelt3 , das sich insbesondere mit der pharmakologischen Therapie beschäftigt. Die Psychologen bzw. Psychotherapeuten haben seit Sigmund Freud verschiedene psychotherapeutische Behandlungsverfahren ausgearbeitet und erprobt, die in verschiedenen Therapieschulen optimiert werden. Nur die gesellschaftlichen Aspekte der Erkrankung haben bisher zu keinen beachtenswerten Behandlungskonzepten geführt.
In Deutschland hängt diese Zurückhaltung damit zusammen, dass die sozialen Aspekte der Krankheitssituation in die Obhut der Eingliederungshilfe und damit der Sozialhilfe gegeben wurde.4 Ausgangspunkt dieser Regelung ist die Betonung der sozialen Folgen der psychischen Erkrankung und nicht der Ursachen und Bedingungen für ihre Entstehung. Die Sozialhilfe ist ihrem eigenen Verständnis nach vorrangig eine Versorgungs- und keine Behandlungsinstanz. Sie wird tätig, wenn sozialer Notstand droht.
Das Gesundheitssystem hätte spätestens seit dem Jahre 2000 Gelegenheit, die sozialen Aspekte der psychischen Erkrankung in die Behandlung einzubeziehen, wenn es die seitdem in das Sozialgesetzbuch V eingefügte Soziotherapie5 in Deutschland eingeführt hätte. Dies unterblieb ganz offensichtlich aus wirtschaftlichen Gründen. So aber ergaben sich keine ausreichenden strukturellen Voraussetzungen, um den soziotherapeutischen Möglichkeiten der Behandlung psychischer Erkrankungen mit Engagement nachzugehen.
Es blieb Außenseitern der Behandlung psychisch Erkrankter, einem traditionellen Träger der Sozialarbeit (Albert-Schweitzer-Familienwerk e.V. in Uslar/Südniedersachsen) mit Unterstützung des niedersächsischen Sozialministeriums vorbehalten, aus dem strukturellen Zusammenhang der Eingliederungshilfe heraus ein Programm zur sozialen Behandlung von psychisch Erkrankten zu entwickeln.
Zum Verständnis der nachfolgenden Programmdarstellung ist von Belang, in aller Kürze die zu Beginn der Arbeit vorgefundene Arbeitsstruktur zu beschreiben.
Das Albert-Schweitzer-Familienwerk (ASF) bietet in der Stadt und im Landkreis Göttingen sowie im Landkreis Northeim vier unterschiedliche Dienstleistungen an: Gesetzliche Betreuung für mehrere Zielgruppen darunter auch und in erster Linie psychisch Erkrankte, ambulante Hilfe (in vielen Bundesländern als Ambulant Betreutes Wohnen bezeichnet) für psychisch Behinderte sowie für dieselbe Zielgruppe eine Tagesstätte in Northeim und ein Wohnheim in Bad Gandersheim. Partner der gesetzlichen Betreuung sind verschiedene Gerichte sowie die kommunalen Betreuungsstellen, die ambulante Hilfe arbeitet mit kommunalen Kostenträgern zusammen. Partner der beiden Einrichtungen sind die Kommunen und das niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie als überörtlicher Sozialhilfeträger. Insgesamt werden in diesem Rahmen mehr als 500 psychisch Erkrankte vom ASF betreut.
Wie in Niedersachsen und in allen anderen Bundesländern üblich, werden die Eingliederungshilfen nach dem Gesichtspunkt des individuellen Hilfebedarfs gewährt. Hierzu sind je nach der Hilfeart unterschiedliche Hilfeplan-Verfahren eingeführt, bei denen es vornehmlich um die Entscheidung geht, wie viel professionelle Betreuungszeit dem einzelnen Hilfeberechtigten zugewendet werden darf. Das Ziel ist dabei nicht nur Stabilisierung der sozialen Situation des Erkrankten, sondern auch die Besserung seiner Lageeinschließlich eines sozialen Beitrages zur Überwindung der Erkrankung.
Die soziale Rehabilitation psychisch Erkrankter ist in diesem Falle keine nachrangige Aufgabe der Sozialhilfe, sondern eine primäre Leistung im Sinne des § 6 Abs. 1 Ziff. 7 SGB IX. Sie wird gesetzlich als „Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“6 bezeichnet. Das Engagement eines Eingliederungshilfe-Trägers zur Ausarbeitung eines Programms zur sozialen Rehabilitation hat also durchaus seine rechtliche Berechtigung. Dennoch handelt es sich um das Tätigwerden eines Außenseiters im deutschen System der Behandlung psychisch Erkrankter. Und nur die Tatsache, dass sich die allermeisten längerfristig Erkrankten in der Obhut der Eingliederungshilfe befinden, gibt diesem Engagement eine realistische Perspektive, Nachahmer zu finden und hierdurch wirksam zu werden.
Mit Blick auf eine gute Übertragbarkeit des neuen Programms für andere Träger der Eingliederungshilfe wurde darauf verzichtet, für seine Entwicklung ein von außen rekrutiertes wissenschaftliches Team zusammenzustellen. Der Autor dieses Buches war die einzige Kraft, die zusätzlich verpflichtet wurde. Seine Arbeitszeit für dieses Vorhaben lag zwischen 20 und 30 Stunden wöchentlich. Die hauptsächliche Last der Neuentwicklung lag auf den Schultern von ASF-MitarbeiterInnen, die hierfür erst einmal nicht von ihren Standard-Aufgaben entlastet wurden.
Ihre Mitarbeit erfolgte freiwillig. Meistens handelte es sich um nicht voll beschäftigte MitarbeiterInnen, denen für ihre Projekttätigkeit Mehrarbeitsstunden ermöglicht wurden. Die Leitungskräfte verkrafteten den Mehraufwand, indem sie an anderen Stellen etwas reduzierten. Zur Entlastung der Abteilungsleiterin wurde halbtags eine Assistentin eingestellt, um die rein organisatorischen Aufgaben bewältigen zu können.
Bei dieser personellen Ausstattung wird man keine umfangreiche wissenschaftliche Evaluierung erwarten können. Die Wirksamkeit des neuen Programms ergibt sich aus den Rückmeldungen der Betroffenen, ihrer Lust, am Programm trotz vieler innerer und äußerer Widerstände teilzunehmen, und aus der realen Entwicklung der einzelnen Persönlichkeit. Auch für die Erkrankten war das neue Angebot ganz unverbindlich. Es wurde aus verschiedenen Gründen, die später eingehend dargelegt werden, keinerlei Druck auf sie ausgeübt. Ihre Selbstbestimmung bildet einen ganz fundamentalen Baustein ihrer sozialen Rehabilitation.
Es gibt viele fachliche Wege, um sich dem Programm zur sozialen Rehabilitation zuwenden zu können. Nachfolgend sollen vier etwas näher beschrieben werden: der medizinisch sozialpsychiatrische, der neurobiologische, der salutogenetische und der sozialarbeiterische Zugang.
Als Psychiater einen Zugang zu den sozialen Bestandteilen des Gesundungsprozesses zu finden, bedeutet, zu dem gerade in Deutschland typischen Wissenschaftsverständnis der Medizin selbstkritische Distanz zu gewinnen. Idealbild des Mediziners ist immer noch eine Laborsituation, bei der alle die wissenschaftliche Fragestellung „störenden“ Faktoren ausgeschlossen werden. Am liebsten hat man, um beispielsweise ein neues Heilmittel auszuprobieren, eine in allen Aspekten kontrollierte Untersuchungssituation, bei der weder der Arzt selbst, noch der Patient oder irgendwelche Fremdeinwirkungen die Untersuchungsanordnung stören können. Wenn der Wissenschaftler in der Lage ist, die Wirkung der jeweiligen Intervention beliebig oft unter ähnlich idealen Rahmenbedingungen zu wiederholen, und es führt immer wieder zu den gleichen Ergebnissen, dann betrachtet er diesen neuen Behandlungsschritt als „evident“, also wirksam.
Da sich ab einem gewissen Grad von Komplexität die Evidenz einer Behandlung nicht labormäßig untersuchen lässt, hat die Medizin ein erweitertes Verfahren der Evidenzbestimmung entwickelt, die „kontrollierte randomisierte Studie“ (randomized controlled trial RCT). Mit Randomisierung beschreibt man eine Untersuchungsanordnung, die nach dem Zufallsprinzip arbeitet. Gleichzeitig versucht man, möglichst viele Menschen in die Untersuchung einzubeziehen. Die dahinter liegende Überlegung ist einfach: Wenn ich schon viele Faktoren meiner Untersuchung nicht kontrollieren kann, sie vielfach nicht einmal kenne, dann möchte ich vermeiden, dass ich bewusst oderunbewusst eine bestimmte Vorauswahl treffe. Deshalb wähle ich meine Patienten nach dem Zufallsprinzip aus. Je mehr Personen ich dabei in meine Untersuchung einbeziehe, umso stärker nivelliert sich die Bedeutung der mir unbekannten Faktoren.
Mit dem Begriff „kontrolliert“ meint der Wissenschaftler eine Untersuchungsanordnung, bei der zur untersuchten Gruppe eine ebenso zufällig ausgewählte möglichst gleich große Kontrollgruppe in die Untersuchung einbezogen wird, bei der die zu untersuchende Behandlung nicht durchgeführt wird. Bekannt ist die Medikamentenstudie, bei der die Kontrollgruppe statt des Medikamentes ein Placebo bekommt, ohne dies selbst zu wissen. Wenn dann etwa zur Hälfte der Untersuchungszeit die beiden Gruppen getauscht werden (crossover-design), dann ist nach diesem Wissenschaftsverständnis der höchste wissenschaftliche Standard erreicht.
Dieses Wissenschaftsverständnis stößt auf ganz erhebliche Schwierigkeiten, wenn ihre Vertreter nicht umhin können, eine Erkrankung nach dem „Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modell“ zu untersuchen. Denn wenn emotionale und soziale Faktoren mit ausschlaggebend für Entstehung und Behandlung einer Erkrankung sind, dann kommt der subjektiven Seite, dem ganz Persönlichen, Kultur- und Gesellschaftsbezogenen eine fundamentale Bedeutung zu. Diese subjektiven Faktoren wissenschaftlich dadurch nivellieren zu wollen, dass ich nach dem Zufallsprinzip und mit quantitativ aufgeblähten Untersuchungsgruppen verfahre, versucht gerade jenen mit entscheidenden persönlichkeitsbezogenen subjektiven Aspektauszuschalten, dessen Wirksamkeit man verstehen und den man durch die Behandlung erreichen und beeinflussen möchte.
Es ist daher kein Zufall, dass in einer aktuellen sehr umfangreichen Untersuchung über die wissenschaftlichen Studien, die sich mit dieser methodischen Problematik befassen, das Fazit gezogen wird: „In Deutschland wurden bisher vergleichsweise wenige Anstrengungen unternommen, komplexere Versorgungsangebote bei psychischen Erkrankungen mittels experimenteller wissenschaftlicher Studien zu untermauern.“7 Diese Versuchsmüdigkeit hängt möglicherweise weniger mit dem fehlenden Wissenschaftsinteresse hierzulande zusammen, als mit der Standfestigkeit des überkommenen medizinischen Wissenschaftsverständnisses.
Mangels eigener Studien wendet sich der Blick des deutschen Psychiaters auf die internationale wissenschaftliche Diskussion, die für ihn weitgehend durch den britischen und nordamerikanischen Diskurs repräsentiert wird. Dabei stößt man auf Untersuchungen, die sich mit der Reaktion von psychisch Erkrankten auf unsere Standardmedikamente beschäftigen, die nicht unserem sozialen und kulturellen Kontext angehören. Da es sich hierbei um Psychopharmaka handelt, die nach dem gängigen Verständnis der höchsten Evidenzstufe zuzuordnen sind, müssen diese Untersuchungsergebnisse mehr als stutzig machen. „ImBereich der Psychopharmakologie wird zunehmend bekannt, dass Patienten mit nichtwesteuropäischem ethnischem Hintergrund einen anderen Medikamentenstoffwechsel aufweisen können und daher einer spezifischen Therapie und Überwachung (z.B. Therapeutisches Drug Monitoring) bedürfen. Beim Ansprechen auf die Behandlung mit Psychopharmaka bestehen aufgrund pharmakokinetischer und – dynamischer Unterschiede deutliche Schwankungen zwischen verschiedenen Ethnien.8 Eine große Studie mit schwarzen und lateinamerikanischen Ambulanzpatienten9 zeigte, dass Angehörige ethnischer Minderheiten insbesondere Schwarze, auf die Behandlung mit Antidepressiva (in dieser Studie Citalopram) weniger stark ansprachen. Für einzelne ethnische Gruppen sind inzwischen pharmakogenetische Unterschiede gut bekannt, die bei der Verordnung von Psychopharmaka und bei der klinischen Beurteilung der Response beachtet werden müssen. Dazu zählen insbesondere die genetischen Polymorphismen des Cytochrom-P-450-Systems, das an der beschleunigten oder verlangsamten Metabolisierung von Psychopharmaka beteiligt ist.10 Eine auf das einzelne Individuum zugeschnittene Psychopharmatherapie sollte im Sinne eines integrativenBehandlungsansatzes neben den biologischen bzw. genetischen auch die ethnischen und kulturellen Unterschiede eines Patienten berücksichtigen.“11
Wenn die wissenschaftliche Forderung aufgestellt wird, dass der Eingriff mit Medikamenten in das körperliche Geschehen des einzelnen Patienten nicht nur nach „evidenten“, d.h. die subjektiven Gesichtspunkte ausschließenden Gesichtspunkten erfolgen soll, sondern „auf das einzelne Individuum zugeschnitten“ wird, dann stellt sich doch die wissenschaftstheoretische Frage, weshalb ich diese individuellen Faktoren in meinem Evidenz-Begriff ausschließen will. Hier entsteht ein beträchtlicher Widerspruch. Da das Wissenschaftsverständnis in jeden einzelnen Behandlungsschritt einfließt, beispielsweise das Gesprächsgeschehen zwischen Arzt und Patient bestimmt, handelt es sich hier keineswegs um eine nur theoretische Frage.
Ist der Psychiater sich bewusst, das der „Medikamentenstoffwechsel“ von der individuellen Persönlichkeit des Patienten abhängt, kann er sich nicht mehr auf die „evidente“ Wirksamkeit bestimmter Präparate verlassen und sich im Gespräch mit dem Patienten darauf beschränken, eventuelle unerwünschte Nebenwirkungen zu thematisieren. Er braucht einen Austausch mit dem Patienten, der ihm diejenigen körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren offenbart, die prägend für den Stoffwechsel diesesbesonderen Menschen sein könnten. Doch nach allgemeiner Erfahrung gestaltet sich in Deutschland die Beziehung zwischen Arzt und Patient nicht so, dass ein solcher Austausch möglich wäre.
Bei aller Schwierigkeit, aus dem eigenen wissenschaftlichen Selbstverständnis heraus einen Zugang zur vollen Lebenswirklichkeit der Patienten zu finden, haben sich in den westlichen Psychiatrien Entwicklungen ergeben, die eine Wandlung des Behandlungsalltags bewirken könnten. Sie stellen für einen Dialog zwischen medizinischer und sozialer Therapie eine Brücke her. Diese Entwicklungen lassen sich an den Begriffen Milieutherapie, Therapeutische Gemeinschaft, Recovery und Empowerment festmachen.
„Mit Milieutherapie sind unterschiedliche Maßnahmen gemeint, die zur Gestaltung einer Atmosphäre beitragen, von der angenommen wird, dass sie den Heilungsprozess positiv beeinflussen kann. Damit wird durch die Milieutherapie ein geeigneter Rahmen für andere Therapieformen und die Wiedererlangung von Selbstständigkeit und Kompetenzen geschaffen.“12 Milieutherapie ist ein wichtiger therapeutischer Ansatz zur Gestaltung einer Umgebung im stationären und teilstationären Bereich, welcher soziale Fertigkeiten über eine Teilnahme der Patienten an wichtigen täglichen Aktivitäten während des Klinikaufenthaltes heranbilden und verbessern möchte.13
„Das Ziel der Milieutherapie ist nicht nur die Gestaltung des äußeren Rahmens, sondern auch die Vermeidung von Passivität und die Schaffung von Ablenkung. Die bewusste Gestaltung therapeutischer Milieus kann auch in ambulanten (z.B. Institutsambulanzen) und teilstationären Settings dem Patienten neue Bedeutungsräume erschließen und zu mehr Selbstverantwortung führen. Um positive Effekte zu erreichen, müssen die Settings und Milieus unter psychologischen, sozialen und baulichen Gesichtspunkten gezielt behandlungsförderlich gestaltet werden. Die Bedeutung des ökologischen Milieus (bauliche und architektonische Aspekte eines therapeutischen Milieus) für den Therapieerfolg stationärer Behandlungen wurde immer wieder betont.“14
In dieser kurzen Beschreibung der Milieutherapie tauchen einige Begriffe auf, die für die soziale Rehabilitation Bedeutung erlangen werden: Selbstständigkeit, Kompetenz, soziale Fertigkeiten, Vermeidung von Passivität (also Aktivität) und Selbstverantwortung. Die damit verbundene Aussage, dass die Gestaltung eines Milieus, in dem sich diese Begriffe realisieren lassen, den „Heilungsprozess positiv beeinflussen“ kann, schafft eine gute Voraussetzung füreinen fruchtbaren Dialog zwischen medizinischer und sozialer Rehabilitation.
Die Entstehungsgeschichte der Therapeutischen Gemeinschaften war eher einer kriegsbedingten personellen Notsituation geschuldet, als einer bewussten therapeutischen Innovation. Während des letzten Weltkrieges fehlten in den britischen Krankenhäusern viele Therapeuten, die als Soldaten eingezogen waren. Hierdurch bedingt musste man die Patienten vielfach sich selbst überlassen,15 regte sie aber dazu an, nach einem vorgegebenen oder selbst entwickelten Konzept ein Tagesprogramm aufzustellen und im Rahmen gegenseitiger Unterstützung zu realisieren.
„Ein systematischer Review von Lees und Rawlings (1999) untersuchte speziell die Wirksamkeit von Therapeutischen Gemeinschaften bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen. Betrachtet wurden 58 Studien unterschiedlicher Designs. Die Metaanalyse zeigt, dass Patienten in Therapeutischer Gemeinschaft gegenüber der Standardgruppe eine signifikante Erhöhung der Selbstachtung (self-esteem) erreichten. Außerdem konnten Effekte auf weitere Outcome-Parameter, wie die Reduzierung von Gewalttätigkeit und negativer Verhaltensmerkmale, erzielt werden. Es gab einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Dauer der Inanspruchnahme einer Behandlung innerhalb einer Therapeutischen Gemeinschaft und der Reduzierung von Negativ-Symptomen. Damit konnten bei Patienten,die nicht frühzeitig entlassen wurden, generell positive Effekte beobachtet werden. Zusammenfassend zeigte sich eine starke Evidenz für die Wirksamkeit einer Behandlung in Therapeutischen Gemeinschaften.“16
Die Erfahrungen mit therapeutischen Gemeinschaften schaffen ebenfalls einen guten Zugang zum Gruppenprogramm zur sozialen Rehabilitation, wobei beide Gesichtspunkte, die Stärkung der Selbstachtung wie der Wert einer möglichst lange bestehenden Gemeinschaft, bei der Entwicklung des soziotherapeutischen Konzeptes eine hohe Bedeutung erlangen.
Betrachtet man die psychische Erkrankung einmal ausnahmsweise nicht von den Symptomen her, sondern aus der Sicht des Betroffenen, so kommt man vielfach zu anderen Zielen für die Behandlung. Dann nämlich kommt nicht mehr alles darauf an, dass die Symptome restlos verschwinden und ein Zustand erreicht wird, als hätte es nie eine Erkrankung gegeben. Dann trachtet man vielmehr danach, eine Lebensqualität zu erreichen, bei der wertvolle Lebensperspektiven wieder erreichbar werden. Auch wenn der Patient bestimmte Empfindlichkeiten nie ganz überwinden wird, wenn seine Einstellung zu sich selbst und zu seiner Umgebung Schwankungen unterworfen ist, muss ihn das nichthindern, in ausreichendem Maße für seine wirklich wichtigen Bedürfnisse zu sorgen.
Vom Beginn der achtziger Jahre an entstand in der Sozialpsychiatrie für diese andere Sicht auf die Behandlungszielsetzung der Begriff „Recovery“. Ursprünglich als Zielparameter eingeführt, beschrieb er jedoch zunehmend einen Behandlungsprozess hin zu einem vom Patienten als sinnhaft erfassten Leben.17 “Obwohl der Einfluss der Recovery-Orientierung auf die Gestaltung der psychiatrischen Dienste wächst, besteht derzeit noch eine Unschärfe, was der Begriff bei verschiedenen psychischen Erkrankungen konkret bedeutet. Kritiker des Begriffs betonen einen Mangel an Klarheit, aber auch eine mögliche Realitätsferne und die Gefahr einer zu optimistischen Beurteilung des Verlaufs schwerer psychischer Erkrankungen, was aufgrund nicht gerechtfertigter Hoffnungen auch zu Enttäuschungen führen könne. Die Verwendung des Recovery-Prozesses als Leitprinzip für das Ziel der besseren Teilhabe in der Gesellschaft trotz Erkrankung ist allerdings in vielen Ländern und Gesundheitssystemen Konsens und ist zunehmend auch durch die Literatur gestützt. Ein konzeptioneller Rahmen für die Einordnung der verschiedenen Dimensionen von Recovery wurde erarbeitet und trägt zur Klärung des Begriffes bei.“18
Recovery beschreibt damit einen Prozess, durch den die Betroffenen die persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Folgen einer psychischen Erkrankung überwinden und zurück zu einem erfüllten Leben finden. Recovery bedeutet nicht zwangsläufig Heilung, sondern meint eine Teilhabe in der Gesellschaft trotz Erkrankung. Damit ist Recovery ein längerer Prozess, der u.a. den Umgang mit der Erkrankung und den Aspekt sozialer Inklusion beinhaltet.19
„Hoffnung als eine wichtige Komponente im Recovery-Prozess kann definiert werden als der persönliche Glaube daran, dass Recovery (Genesung) überhaupt möglich ist. Hoffnung finden und erhalten bedeutet unter anderem:
- erkennen und akzeptieren, dass ein Problem besteht
- Prioritäten ordnen
- sich um Veränderungen bemühen
- sich auf die eigenen Stärken konzentrieren statt auf Schwächen
- nach vorne blicken und Optimismus üben
- kleine Schritte feiern
-an sich selbst glauben“.20
Das Recovery-Verständnis von psychiatrischer Behandlung bildet eine ganz hervorragende Brücke zur sozialen Rehabilitation. Es sieht die entscheidenden Komponenten für eine nachhaltige Besserung des Krankheitszustandes beim Patienten selbst und nicht bei Heilmitteln, die von außen in den Krankheitsprozess eingreifen. Es müssen nicht erst professionell eingesetzte Helfer die Symptome wegschaffen, damit der Betroffene sein Genesungswerk an sich selbst vollbringen kann. Es ist vielmehr die Aufgabe des Behandlers, dem Patienten Hoffnung zu machen, dass er bei sich selbst die entscheidenden Antriebe zur Verbesserung seiner Situation findet.
Damit wird die Selbsttätigkeit des Betroffenen nicht auf die Aufgabe reduziert, die sozialen Folgen seiner psychischen Erkrankung aufzuarbeiten. Die hoffnungsvolle Aktivierung seiner noch vorhandenen Kräfte bildet einen bedeutenden Kern des Behandlungsprozesses. Hierdurch wird die Vorstellung, dass die psychische Erkrankung durch eine unglückliche Verkettung von körperlichen, psychischen und sozialen Ursachen entsteht, in die Behandlungsmethodik übernommen. Es bleiben nicht die psychischen und insbesondere die sozialen Komponenten außen vor.
„Ein weiterer zentraler Grundsatz von Recovery ist die Selbstbefähigung (Empowerment). Die Datenlage zeigt,dass Empowerment einen Einfluss auf Recovery haben kann.21 Warner (2009) weist darauf hin, dass Empowerment sowie Mitbestimmung der Betroffenen wichtige Bestandteile des Recovery-Prozesses sind. Ein aktives Mitbestimmungsrecht bei
Behandlungsentscheidungen führt bei vielen Betroffenen zu einer Erhöhung der Selbstbefähigung.22 Die Bedeutung von Hoffnung, Optimismus und Empowerment für Recovery konnte in wissenschaftlichen Untersuchungen bestätigt werden.“23
Mit Empowerment wird ein Brückenbegriff geschaffen, welcher der sozialen Rehabilitation die Aufgabe stellt, initiier- und steuerbare soziale Prozesse zu entwickeln, welche die vorhandenen Kräfte der Patienten aktivieren und auf den körperlichen, psychischen und sozialen Genesungsprozess bei sich selbst wie bei anderenMenschen lenken. Mit Empowerment und damit dem Blick auf vorhandene Interessen und Fähigkeiten des Betroffenen wird ein ganz entscheidender Richtungswechsel bei der Behandlung vollzogen. Während die klassische medizinische Behandlung stets auf die Krankheitssymptomatik schaut, auf das, was auf etwas Krankes und eben nicht Normales hindeutet, kommt nun das noch Gesunde in den Blick. Der Erkrankte ist nicht mehr nur hilflos und von der Behandlungskunst des Arztes und Therapeuten abhängig. Er ist potentiell in der Lage, die Behandlung mindestens mitzugestalten.
Wenn der Patient Hoffnung genug hat, seine Genesung selbst wollen kann, findet er auch bei sich selbst und in seiner nächsten sozialen Umgebung genügend Kräfte, die ihm eine Besserung seiner Lage erstreben lassen. Hierbei kommen soziale Prozesse in die Betrachtung, die sich nicht automatisch ergeben, dem Patienten gleichsam in den Schoß fallen, sondern die beispielsweise von Soziotherapeuten gestaltet werden müssen. Damit wird aus sozialpsychiatrischer Sicht die Aufgabe beschrieben, welche die soziale Rehabilitation anzugehen hat.
Die Erkenntnis, dass Menschen sich untereinander verstehen können, gehört sicher zu den Urerfahrungen menschlicher Existenz. Empathie stammt aus dem Altgriechischen. Wahrscheinlich hatten Inder undChinesen schon sehr viel früher ähnliche Begriffe für Phänomene, die man täglich im menschlichen Umgang beobachten kann. Trotz dieser ungeheuren Menge an Praxiserfahrungen scheint manchen Menschen die Empathie erst durch die Entdeckung der Spiegelneuronen im Jahre 1990 richtig verständlich zu werden.
Die bis zu dieser Entdeckung vorherrschende naturwissenschaftliche Meinung über die Funktionsweise des Hirns beruhte darauf, dass sich verschiedene Sektoren bestimmte Aufgaben teilen und diese nacheinander in Funktion treten. Ein Sektor verarbeitet beispielsweise die visuellen Eindrücke der Netzhaut: Ein Kind tritt an die Straße. In einem anderen Sektor werden diese Eindrücke inhaltlich verarbeitet: das Kind will offensichtlich die Straße überqueren. Ein weiterer Sektor beurteilt die Situation als potentiell gefährlich. In einem anderen Gehirnteil bildet sich der Entschluss, das Kind zurückzuhalten. Und wieder ein anderer Sektor setzt meine Muskulatur in Bewegung, um den Entschluss auszuführen. Alles geschieht in einem Bruchteil von Sekunden durch das Zusammenspiel von Neuronen.
„Die Entdeckung der Spiegelneuronen veränderte diese Auffassung von der Arbeitsteilung im Gehirn….Die einfache Dichotomie von Input- und Output-Funktion ergab plötzlich keinen Sinn mehr, weil die Forscher herausfanden, dass in bestimmten Hirnregionen Tun und Sehen offensichtlich dasselbe ist.“24 Es reicht vielfach, wenn ich andere Menschen in einer bestimmtenSituation beobachte, damit ich gerade das tue, was ich in derselben Situation als unmittelbar Betroffener tun würde.
„Sobald ich den Anblick von jemandem, der nach einem Stück Schokolade greift und es zum Mund führt, mit meiner Fähigkeit, das Gleiche zu tun, verknüpfe, ist das, was ich sehe, kein abstrakter, bedeutungsloser Eindruck. Das Wissen, wie man Schokolade isst, wird mit dem Bild der Handlung (das beobachtete Schokoladenessen) verknüpft, wodurch das, was das Sehsystem entdeckt, eine sehr pragmatische Bedeutung erhält. Wenn ich Ihnen einen neuen Segelknoten zeigte und Sie fragte: „Kapiert?“, könnten Sie mir am überzeugendsten beweisen, dass Sie meine Demonstration verstanden hätten, indem Sie den Knoten vor meinen Augen knüpfen würden. Spiegelneuronen, die den Anblick einer Handlung mit dem an ihr beteiligten motorischen Programmen verbinden, leisten genau dies, indem sie, was Sie sehen, umwandeln in das Wissen, wie es getan wird.“25
In diesen beiden Beispielen spielt rationales Wissen keine Rolle. Ich brauche keine rationale Logik, die zunächst einmal alles Wissen über die Physik der Segeltaue und die Geschichte der Segelknoten auswertet, um dem Zuschauer eine wissenschaftliche Grundlage zu schaffen, den vorgeführten Knoten nachvollziehen zu können. Ich brauche die Erfahrung, selbst einmal ähnliche Bewegungen ausgeführt zu haben, wie ich sie beim Knotenknüpfen durch den Partner gesehen habe. Denn durch die Spiegelneuronen bin ich in der Lage, das Gesehene sofort in Handlung umzusetzen.
Spiegelneuronen sind auch daran beteiligt, dass Menschen sich miteinander verbinden können. „Würde ich Sie beispielsweise bitten, einen gedeckten Esstisch mit mir zusammen an eine andere Stelle zu tragen, muss er waagerecht gehalten werden. Ich beginne, den Tisch zu heben, was einen Informationsfluss von meinen prämotorischen Arealen zu meiner Sehrinde auslöst. Gleichzeitig sehe ich, wie auch Sie beginnen, den Tisch anzuheben, wodurch ein Informationsfluss von Ihrem prämotorischen Kortex zu Ihrem Körper in Gang gesetzt wird – und von dort zu meinen Augen, meiner Sehrinde und meinen prämotorischen Neuronen. Wenn ich sehe, wie Sie heben, werden meine Hebe-Spiegelneuronen aktiviert, wodurch meine korrekte Reaktion gebahnt wird – den Tisch etwas höher zu heben, damit er waagerecht bleibt -, was wiederum dazu führt, dass Information von meinem prämotorischen Kortex zu meiner Sehrinde fließt, aber auch von meinem prämotorischen Kortex zu Ihrer Sehrinde, während Sie meine Bewegungen verfolgen und so fort. Dabei handelt es sich weniger um einen sequenziellen Informationsaustausch als vielmehr um einen einzigen Regelungsprozess, in dem zwei Gehirne zusammengeschaltet sind. Dabei sind unsere Gehirne deshalb miteinander verbunden, weil Spiegelneuronen in ganz besonderer Weise für Handlungen und für die Wahrnehmung der Handlungen anderer verantwortlich sind. Aus der Sicht des Gehirns wird die aus Körpern und Tisch bestehende Außenwelt zu einer Schnittstelle zwischen unseren Gehirnen, und der komplexe Informationsfluss ist so fein abgestimmt, dass es uns häufig gelingt, nicht einen einzigen TropfenWein aus den Gläsern auf dem Esstisch zu verschütten.“26
Das Funktionieren dieses fein abgestimmten Kooperationsprozesses hängt natürlich auch davon ab, in welchem emotionalen Zusammenhang das Tischerücken stattfindet. Wenn wir uns vorstellen, dass Vater und Sohn diese gemeinsame Unternehmung beginnen, nachdem der Sohn erklärt hat, er wolle an diesem gemeinsamen Essen nicht teilnehmen, so wird das Zusammenspiel der beiden Personen ganz empfindlich gestört werden. Das aber heißt, dass auch Hirnsektoren beteiligt sind, die für die gefühlsmäßige Bewertung des Geschehens zuständig sind. Bei der Untersuchung dieser emotionalen Seite der empathischen Schaltung des Hirns wurde deutlich, dass auch für die Emotion gilt, was bei den Bewegungen beobachtet wurde: Man kann bei anderen Menschen nur die Gefühle verstehen, die man selbst schon einmal empfunden hat.
Bei dem schon immer gewussten, jetzt aber experimentell nachweisbaren Zusammenhang zwischen meiner eigenen Erfahrung und der Wahrnehmung von anderen Menschen, ist es folgerichtig anzunehmen, dass die Empathiefähigkeit gesteigert werden kann. Je mehr ich im achtsamen Umgang mit anderen Menschen Erfahrung sammle, umso empathischer werde ich, umso besser kann ich mich auf andere einstellen. „Aus dem Umstand, dass zwei Gehirnareale, die das Verstehen anderer auf verschiedenen Ebenen vermitteln, mit unterschiedlichen Subskalen korrelieren, folgt, dass wir uns Empathie oder das Verstehen anderer Menschen nicht als ein einziges Phänomen vorstellen dürfen. Prämotorische Areale spiegeln die Handlungen anderer Menschen und ermöglichen uns, die Ziele und Beweggründe anderer aus deren Perspektive wahrzunehmen. Die Insel dagegen spiegelt die viszeralen Zustände anderer Menschen und versetzt uns möglicherweise in die Lage, die Gefühle anderer Menschen mitzuempfinden. Im Leben interagieren diese beiden Komponenten häufig und tragen zu einem generellen, intuitiven Gefühl der inneren Verfassung der Menschen um uns herum bei, einschließlich ihrer Ziele und Gefühle. Allerdings kann diese Fähigkeit in mehr oder weniger trennbare Teilaspekte zerfallen. Einige Menschen scheinen eine besondere Fähigkeit zum Spiegeln von Handlungen zu haben, andere zum Spiegeln von Emotionen, wieder andere für beides oder nichts von beiden. Wir sollten Empathie als ein Mosaik von Teilaspekten begreifen, die sich zu einem Gesamtbild dessen zusammenfügen, was in anderen Menschen vor sich geht.“27
Die Hirnforschung steht wie jede Wissenschaft unter dem Einfluss des allgemeinen gesellschaftlichen Diskurses. Nachdem sich spätestens mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Lagers die westliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung endgültig durchzusetzen schien, waren alle Forschungsergebnisse, welche die Überlegenheit des Individualismus zu bestätigen schienen, gesellschaftlich gut zu vermitteln. Und so waren auch die neurobiologischen Vorstellungen von der Unabhängigkeit der individuellen Hirntätigkeit von den Einflüssen des Umfeldes eine Bestätigung der allgemeinen Meinung. „Natürlich konnte nach dieser Auffassung auch die Umgebung Einfluss auf die persönlichen Hirnareale ausüben, doch dieser Einfluss blieb indirekt und strikt unterschieden vom fortwährend ausgeübten Handlungsvermögen des Individuums. Das Individuum besaß eine klare Grenze in der Gesellschaft wie im Gehirn.
Im Licht neuerer Forschung sind die Menschen um uns her nicht mehr nur Teil der „Welt draußen“ – eingeschränkt auf die sensorischen Hirnareale. Durch die gemeinsamen Schaltkreise finden diese Menschen, ihre Handlungen und ihre Emotionen Eingang in viele Regionen unseres Gehirns, die einst ein sicherer Hort unserer Identität waren: unser motorisches und unser emotionales System. Die Grenzen zwischen Individuen werden durchlässig, die soziale und die private Welt mischen sich. Emotionen und Aktionen erweisen sich als ansteckend. Das unsichtbare Band gemeinsamer Schaltkreise schließt unsere Empfindungen und Gefühle zusammen und schafft ein organisches System, das über das Individuum hinausreicht.“28
Das Zusammenwirken von Aktivitäten und Gefühlen im Hirn und seine empathische Verschaltung mit anderen Menschen sind sehr komplexen Einflüssen unterworfen. Soldaten im Krieg beispielsweise können ihr Empathie-Vermögen gegenüber dem „Feind“ deutlich vermindern. Angst um die eigene Existenz, die durch ihn gefährdet erscheint, die durch den öffentlichen Diskurs entstehende Herabwürdigung seiner menschlichen Qualitäten helfen mit, die ansonsten gut funktionierenden Spiegelneuronen zum Schweigen zu bringen.
Umgekehrt ist Empathie lernbar, kann sich bei entsprechenden Voraussetzungen erheblich entfalten. Diese Erkenntnis geht auf eine Theorie des kanadischen Neurowissenschaftlers Donald Hebb zurück. Er hatte erkannt, dass Neuronen, die miteinander gleichzeitig aktiviert werden, die Tendenz besitzen, sich miteinander zu vernetzen. „Wenn ein Axon der Zelle A der Zelle B nahe genug ist, um sie zu erregen, und wiederholt oder ständig an ihrer Erregung teilnimmt, so finden in einer oder in beiden Zellen Wachstumsprozesse oder Stoffwechselveränderungen statt, die bewirken, dass sich As Effizienz als eine der an Bs Erregung mitwirkenden Zellen erhöht.“29
Ein häufig beobachtetes Phänomen ist beispielsweise die kindliche zeichnerische Darstellung eines Menschen. Das sog. Strichmännchen reduziert den Menschen auf eine vertikale Anordnung von symbolischen Darstellungen von Kopf, Rumpf sowie zwei Armen und Beinen. Wenn diese Bildelemente gezeichnet werden, weiß jeder, dass ein Mensch gemeint ist. Diese Interpretation wird schon dann möglich, wenn das Kind nur einen Kopf und darunter zwei Arme oder einen Rumpf mit zwei Beinen andeutet. Den Rest vollendet jeder Betrachter mit seinem eigenen Hirn. Und schon ist der Mensch wieder fertig.
Das bedeutet, dass sich zwischen den zur Bedeutungserfassung der verschiedenen Elementezuständigen Nervenzellen eine relativ feste Verbindung hergestellt hat. Sie benötigt nicht mehr die gesamte Fülle aller Elemente, sondern fügt auch aus Teilen ein komplettes Bild zusammen. Wie kann man sich vorstellen, dass wir die Neuronen so miteinander vernetzen, dass hieraus zielgerichtete Handlungen entstehen?
Der junge Mensch ist am Beginn seines Lebens mit sich selbst beschäftigt. Er nimmt wahr, sieht, hört, betastet, empfindet es kalt oder heiß, und was er mit sich selbst macht, geschieht zufällig. Zufällig steckt das kleine Wesen seine Hand in den Mund, schmeckt seine Haut, fühlt den Druck seines Mundes, spürt die Wärme des Speichels. Es hat auf irgendeine Weise seine Muskulatur benutzt, um die Hand zum Mund zu führen. Diesen Ablauf kann es zunächst nicht wiederholen. Die gemeinsame Aktivität verschiedener Neuronen geschah rein zufällig.
Doch die als angenehm erfahrenen Eindrücke der sensorischen Neuronen lassen das Kind mit den unendlich scheinenden Möglichkeiten der Armbewegungen experimentieren. Irgendwann gelingt es wieder, die Hand in den Mund zu bringen. Und wieder stellen sich die verschiedenen sensorischen Wirkungen ein. Und so bildet sich durch das immer wieder neu gefundene Zusammenspiel unterschiedlicher Neuronen eine bestimmte Vernetzung zwischen ihnen heraus. Sie kann später durch ein einzelnes Element angesprochen werden, das eine Kettenreaktion auslöst, die eine gezielte Handlung hervorbringt. Die Hand findet ohne jede Schwierigkeit den Weg zum Mund.
Der kleine Mensch ist nach der Durchtrennung der Nabelschnur auf äußere Zuwendung existenziell angewiesen. Hunger löst neuronale Reaktionen aus, die wiederum Einfluss nehmen auf die ersten, genetisch mitgebrachten Kommunikationsmöglichkeiten. Das Kind schreit. Das Schreien löst bei der Bezugsperson das Bedürfnis aus, dieses Schreien richtig zu interpretieren. Ist es Hunger, sind es Schmerzen, ist es ein allgemeines Unwohlsein?
Im Hirn des Erwachsenen werden verschiedene empathische Netze abgefragt. Rationale Neuronen werden aktiviert. Wann hat das Kind zum letzten Mal Milch bekommen? Könnte es sich erkältet haben? Erklärungsmuster im Hirn werden abgefragt, die sich mit zunehmenden Elternerfahrungen mit diesem besonderen Kind immer spezieller vernetzen. Durch die Beobachtung der Wirkungen der jeweiligen Reaktionen entwickelt sich die Empathie für das kindliche Schreien. Die Eltern können nach einiger Lernzeit unterscheiden zwischen dem Schreien vor Hunger, Schmerz, Unwohlsein oder richtiger Wut auf die Eltern, weil sie nicht auf die gewünschte Weise reagiert haben.
Wendet man die Hebbsche Theorie auf die Empathie an, so kann man sich kein Verstehen vorstellen ohne eigene Erfahrungen darin. Ein Kleinkind, das erst mit 6 Monaten in der Lage ist, gezielt zu greifen, kann mit 3 Monaten noch nicht verstehen, wieso die Eltern einen Löffel ergreifen, um hiermit Essen in seinen Mund zu schieben. Auch das spätere Sprechen und damit das Verstehen von Sprache entwickeln sich zunächst aus der Beobachtung des eigenen Tuns. „Bei Kleinkindern gibt es ein typisches Verhalten, die so genannte Lallphase.
In den ersten Lebensmonaten geben Babys spontan Gurgel- und Gluckslaute von sich, die Vokalen ähneln („aaah“, „oooh“). Mit ungefähr vier Monaten beginnen sie, Konsonanten hinzuzufügen („gaga“ und „dada“). Vom sechsten bis zum zwölften Monat erproben die Kinder spielerisch verschiedene stimmliche Äußerungen, um herauszufinden, was für Laute sie erzeugen können. Lallen ist kein Kommunikationsversuch, trotzdem muss es irgendeinem Zweck dienen, sonst fände es nicht statt.
Aus Hebbscher Perspektive entspricht das Lallen der Selbstbeobachtung. Wenn ein Kind lallt, dürften die Neuronen im prämotorischen Kortex, die für die Hervorbringung stimmlicher Laute verantwortlich sind, gleichzeitig mit den Neuronen im sensorischen Kortex feuern, die auf das Geräusch – den Laut – der Handlung reagieren. Wie oben beschrieben, wird das die Neuronen, die für die Repräsentation bestimmter Stimmlaute im sensorischen Kortex zuständig sind, veranlassen, sich mit Neuronen zu verschalten, die an der Hervorbringung dieser Laute im prämotorischen und parietalen Kortex beteiligt sind. Das Kind trainiert sein Gehirn also gezielt, um herauszufinden, welche motorischen Programme sich zur Erzeugung eines bestimmten Lautes eignen. Wenn das Kind später hört, wie ein Erwachsener diesen Laut hervorbringt, ist der Apparat vorhanden, der die entsprechenden motorischen Programme aktiviert und den Laut reproduziert.“30
Besonders interessant ist beim Sprachelernen der Umstand, dass sich die Kinder beim Sprechen selbst nicht sehen können. Es reicht ganz offensichtlich dersensorische Eindruck des Hörens. Gleichzeitig ist es jedoch auffallend, dass Kinder ihre Bezugspersonen gerne ins Gesicht sehen und sie gerade auch beim Sprechen intensiv beobachten. Später als Erwachsene wird den Menschen gelegentlich bewusst, dass man tatsächlich manches gesprochene Wort verstehen kann, auch wenn die äußeren Bedingungen es nicht zulassen, das Gesprochene akustisch aufzunehmen. Man liest sie der SprecherIn „von den Lippen“ ab. Auch diese Fähigkeit setzt ein gehöriges Training voraus, das bei normal Hörenden in früher Kindheit stattfand, bei Hörbehinderten aus verständlichen Gründen auch im Erwachsenenalter weiter entwickelt wird.
Ein ganz bedeutender Aspekt der Hebbschen Erklärung für die Bildung der Schaltkreise im Gehirn bezieht sich darauf, dass sie ganz offensichtlich nicht angeboren sind. Sie bilden sich vielmehr sehr individuell entsprechend der Erfahrungen, die das einzelne menschliche Wesen mit sich selbst und mit den seine Umwelt ausmachenden Personen und Gegenständen machen kann. Das Gehirn ist insofern plastischer Natur.
„Die Neurowissenschaftlerin Amir Lahav und ihre Kollegen von der Havard University warben für ein Experiment Teilnehmer ohne musikalische Vorbildung an, die noch nie Klavier gespielt hatten. Dann brachten sie ihnen bei, ein bestimmtes Klavierstück zu spielen. Die Teilnehmer brauchten am ersten Übungstag rund eine halbe Stunde, um das Stück korrekt zu spielen, und die Übungen wurden an fünf aufeinander folgenden Tagen fortgesetzt. Außerdem hörten sich die Versuchspersonen zwei weitere Klavierstücke an, die entweder aus denselben Tönen in veränderterReihenfolge komponiert waren oder aus vollkommen neuen Tönen. Am fünften Tag wurden die Teilnehmer gescannt, während sie Passagen aus den drei Stücken lauschten. Zwar erregten alle drei Stücke auditive Hirnregionen, doch nur das erlernte Stück aktivierte durchgehend die prämotorischen „Spiegel“-Regionen. Diese glichen den Arealen, die auch bei der Ausführung und dem Geräusch von Handlungen aktiv sind.
Eindrucksvoll stellt dieses Experiment unter Beweis, dass fünf Übungstage, in denen Fingerbewegungen mit Klaviertönen verknüpft werden, Hebbsche Assoziationen zwischen auditiven Hirnregionen, die den Klang von Klaviermusik repräsentieren, und prämotorischen Regionen, die die motorischen Programme für Sequenzen von Fingerbewegungen encodieren, schaffen. Diese extreme Flexibilität stattet unsere gemeinsamen Schaltkreise mit der Fähigkeit aus, sich rasch an die Erfordernisse unserer in ständigem Wandel begriffenen Umwelt anzupassen.“31
Diese Erkenntnisse geben der allgemein verbreiteten Erfahrung eine biologisch plausible Grundlage, dass sich der Mensch bis zu seinem Tode neuen Situationen anpassen kann, „plastisch“ bleibt. Er ist und bleibt lernfähig, wenn sich Interessen ergeben, die ihm zu einer neuen Sicht und/oder zu einem neuen Verhalten raten. Damit ist und bleibt er von seinen ersten Lebensmonaten an bis zum Lebensende ein Wesen, das auch in ständig wechselnden Lebensumständen seine Handlungsfähigkeit erhält.
Doch was kann uns die Hirnforschung über das soziale Lernen mitteilen? In wieweit spielt hierbei die Empathie eine Rolle, wo hilft sie aber allein nicht?
Wenn ich einen anderen Menschen verstehen möchte, so geht dies normalerweise in zwei Schritten: Zunächst versetzen wir uns in seine Lage. Das geht nur, wenn wir selbst schon über ähnliche Erfahrungen verfügen. Wir spiegeln das, was wir beim Anderen sehen oder beispielsweise im Gespräch hören, in uns hinein und empfinden dabei genau das, was wir in seiner Situation spüren würden, immer jedoch vorausgesetzt, wir haben so etwas schon einmal erlebt. Dann verarbeiten wir das Gesehene und Gehörte in der Form, wie wir es in uns selbst gespiegelt vorfinden. Wir durchdenken dabei das Problem des Anderen als wäre es unser Eigenes. Dafür brauchen wir dann den Anderen nicht mehr.
Der große Vorteil dieses Vorgangs liegt darin, dass ich durch die Verinnerlichung des Problems eines anderen Menschen die ganze Fülle von Verschaltungen in meinem Hirn anzapfen und einsetzen kann. Wenn man nicht so vorginge, müsste man dauernd weitere Informationen des Anderen einholen, um sein Problem besser verstehen und hierauf angemessen reagieren zu können.
In dieser Bearbeitung der Erfahrungen anderer Menschen anhand der eigenen Erlebnisse liegt natürlich eine große Gefahr. Da unser Hirn die Neigung hat, Einzeleindrücke zu einem Gesamtbild zu ergänzen, kann es leicht dazu kommen, dass ich aus der Wahrnehmung eines einzelnen Eindruckes beim Andern ein Gesamtbild konstruiere, das exakt meinen eigenen Musternentspricht. Das kann aber insofern falsch sein, als die wirkliche Situation ganz anders aufgebaut sein kann. Weil ich nicht genügend Geduld hatte, zunächst einmal ohne Abspiegelung in meinen eigenen Erfahrungen die Situation des Anderen möglichst vollständig in mich aufzunehmen, reflektiere ich nur mich selbst.
Es ist nachvollziehbar, dass wir mit Menschen dann am besten auskommen, wenn sie uns in vielerlei Hinsicht ähnlich sind. So erklärt es sich, dass beispielsweise Juristen oder Mediziner am liebsten mit Juristen oder Medizinern verkehren. Wenn man bei einem Lehrerehepaar zur Party eingeladen wird, dann kann man sicher sein, dass man dort vielen anderen Lehrern begegnet. Man sagt, dass „die Chemie stimmt“. In Wirklichkeit ist es die Neurobiologie. Ich fühle mich bei Menschen mit ähnlichen Erfahrungshintergründen sicherer, weil unsere Schaltkreise miteinander eng kooperieren können.
Die moderne Neurobiologie bildet zur sozialen Rehabilitation sehr wichtige Brücken, die sich auch in deren Zusammenhängen als belastbar erweisen werden. Die grundlegende Erkenntnis, dass ich zum Verstehen eines anderen Menschen sehr von meinen eigenen Erfahrungen abhängig bin, spielt gerade im Umgang mit psychisch Erkrankten eine wichtige Rolle. Viele Erlebnisse, die nur durch die konkrete Erkrankung ausgelöst werden, kann die BetreuerIn mangels eigener Erfahrungen nicht nachvollziehen. Hier versagt die Empathie.
Aus der intensiven Beschäftigung mit dem Krankheitserleben allein kann daher keineverständnisvolle Beziehung entstehen. Die Erkrankte und ihre TherapeutIn stoßen immer wieder an die Empathie-Schranke der ungleichen Krankheitserfahrung. Dies kann man auch durch Rationalität nicht kompensieren. Das Wissen um depressive Symptome ersetzt kein Mitgefühl. Ich kann meine Symptomkenntnisse mit Wirkungsparametern von Medikamenten verknüpfen, die ich als Arzt der leidenden PatientIn verordne, doch wenn sie nicht wirken, bin ich ihrer Situation kein Stück näher gekommen.
Statt die therapeutische Beziehung allein auf das Krankheitserleben zu fokussieren, schafft die soziale Rehabilitation neue gemeinsame Erfahrungsfelder. Sie werden inhaltlich dort zu gestalten versucht, wo die Erkrankte noch Interessen bei sich entdeckt, die erfüllt sind von handlungsintensiven und angenehmen Erfahrungen. Die Auswahl der TherapeutIn erfolgt dann nicht nach dem Krankheitsbild, bei dem sich die Empathie kaum entfalten kann, sondern nach einem möglichst identischen Interesse und ebensolchen positiven Erfahrungen. Gleichzeitig werden weitere KlientInnen gesucht, die ebensolche Erfahrungen und Interessen bei sich entdecken können.
Wenn es gelingt, Menschen mit gemeinsamen Interessen und handlungsintensiven Erfahrungen zu einer Gruppe zusammenzubringen, dann entsteht ein Handlungsraum, in dem trotz der Krankheitssymptome ein empathischer Gruppenprozess entstehen kann.
Krankheit ist ein Notstand, der in Menschen Hilfsbereitschaft auslöst. Wer die Krankenhilfe zu seinem Beruf macht, kann daher mit einem hohen sozialen Ansehen rechnen. Der Arzt erfüllt ganz unabhängig davon, dass er seinem Beruf nachgeht, eine besondere menschliche Aufgabe. Hierfür erhält er große gesellschaftliche Anerkennung.
Die hohe gesellschaftliche Wertigkeit der Krankheits“bekämpfung“ verstärkt nicht unbeträchtlich die Neigung der Mediziner, ihr berufliches Können in besonderer Weise auf die Krankheitssymptome zu konzentrieren. Für den Kranken stehen bei seinem Arztbesuch seine Schmerzen und sonstige Symptome im Mittelpunkt des Geschehens. Er wie auch sein Arzt sehen Krankheit als das Gegenteil von Gesundheit an und nicht als Teilaspekt von Gesundheit, also einer Art „Un-Gesundheit“. Mit der zunehmenden Erfahrung im Umgang mit Krankheiten hat man gelernt, die Symptome und ihre Behandlung immer feiner zu differenzieren. Es entstehen immer neue medizinische Fachrichtungen mit jeweils besonderer Diagnostik und therapeutischen Konsequenzen. Einige meinen, man brauche inzwischen schon einen Mediziner als Lotsen, um sich im Dickicht der Fachmedizinen noch zurecht zu finden.
Die Salutogenese ist der Versuch, dieser einseitigen Entwicklung Einhalt zu gebieten. Ihre Kritik richtet sich auf zwei weit verbreitete Aspekte der klassischen Schulmedizin: „Erstens wird die Aufmerksamkeit auf die Pathologie gerichtet, nicht auf den Menschen mit einem bestimmten medizinischen Problem. Dieser Ansatz ist vermutlich in medizinischen Notfällen, wie sie inFernsehdramen beliebt sind, gerechtfertigt und wirksam. Aber in den meisten Fällen ist Blindheit gegenüber dem Kranksein der Person, ihrer gesamten Lebenssituation und ihrem Leiden nicht nur inhuman. Sie führt vielmehr zu einem Verkennen der Ätiologie des Gesundheitsstatus der Person. Zweitens wird der Pathogenetiker zu einem beschränkten Spezialisten für eine bestimmte Krankheit, anstatt dass er ein Verständnis von Ent-Gesundung gewinnen würde, ganz zu schweigen von Gesundheit.“32
Für den salutogenetischen Denkansatz gibt es keinen Gegensatz zwischen gesund und krank. Niemals schließt das Eine das Andere aus. Auch wenn ich krank bin, bin ich in vielerlei Hinsicht auch gesund. Wie könnte ich auch sonst die Krankheit überwinden, wenn ich nicht irgendwo Kraftreserven besäße, also gesunde Anteile? Deshalb geht die Salutogenese von einem Kontinuum aus zwischen gesund und krank. Manchmal sind wir mehr krank, manchmal mehr gesund. Manche Menschen fühlen sich gesünder, als andere Menschen mit ähnlichen Krankheitssymptomen. Und umgekehrt natürlich. Der Hypochonder sieht sich selbst auf dem Kontinuum immer in gefährlicher Nähe zur schweren Erkrankung.
„Der salutogenetische Ansatz sieht vor, dass wir die Position jeder Person auf diesem Kontinuum zu jedem beliebigen Zeitpunkt untersuchen. Epidemiologische Forschung würde sich auf die Verteilung von Gruppen auf dem Kontinuum konzentrieren. Klinische Medizinerwürden dazu beitragen wollen, dass sich einzelne Personen, für die sie verantwortlich sind, in Richtung des Gesundheitspols verändern.“33
Die einseitige Konzentration auf Krankheitssymptome fördert die Suche nach Krankheits-„Erregern“. Etwas außerhalb des eben noch Gesunden muss gefunden werden, das als Ursache für das Übel herangezogen werden kann. Besonders bei psychischen Erkrankungen sucht man das Übel vor allem im Stress. Belastende Drucksituationen sind Risikofaktoren, die es zu vermeiden gilt. „Im Gegensatz hierzu wird man durch die salutogenetische Orientierung dazu veranlasst, über die Faktoren nachzudenken, die zu einer Bewegung in Richtung auf das gesunde Ende des Kontinuums beitragen. Wichtig ist, dass es sich hierbei oftmals um verschiedene Faktoren handelt. Man bewegt sich nicht allein dadurch in diese Richtung, dass man ein geringes Maß an Risikofaktoren A, B oder C aufweist. Im Bereich der Stressforschung wird der Gedanke am ehesten verständlich, wenn man der Zentrierung auf Stressoren die Ausrichtung auf Coping-Mechanismen entgegensetzt. Aber selbst in diesem Bereich fragt man am häufigsten, wie man einen gegebenen Stressor bewältigt anstatt zu fragen, welche Faktoren nicht nur als Puffer wirken, sondern direkt zur Gesundheit beitragen.“34
Es gibt für die Salutogenese auch positiven Stress. Er ist beispielsweise in der Lage, den Körper zu mobilisieren. Die Diagnose einer bedrohlichen Krankheit, beispielsweise Krebs, löst bei vielen Betroffenen einennachhaltigen Impuls aus, die Ernährung gesünder zu gestalten, sich mehr zu bewegen, aktivierenden Hobbys wieder nachzugehen. Diese Verhaltensänderungen überdauern manchmal den Gesundungsprozess, werden Teil des gewöhnlichen Lebensstandards und beugen so neuen Erkrankungen vor.
Im Rahmen der Diagnostik ermahnt die Salutogenese den Arzt, nicht allein Krankheitserreger und Risikofaktoren zu suchen, sondern die ganze Geschichte des Menschen zu betrachten und damit seine momentane Position auf dem Kontinuum zwischen gesund und krank. Die Therapie wird bei einer solchen Blickrichtung nicht nur Bestandteil der medizinischen Fachbehandlung, also abhängig von Heilmitteln, die von außen zugeführt werden, sondern auch zu einer Anpassungsleistung des Betroffenen und seines Umfeldes an die eingetretene Belastungssituation. Pathogenese und Salutogenese gehen eine komplementäre Beziehung ein:
Die Salutogenese entsteht „aus dem fundamentalen Postulat, dass Heterostase, Altern und fortschreitende Entropie die Kerncharakteristika aller lebenden Organismen sind. Daraus folgt:
1.Sie führt uns dazu, die dichotome Klassifizierung von Menschen als gesund oder krank zu verwerfen, und diese stattdessen auf einem multidimensionalen Gesundheits-Krankheits-Kontinuum zu lokalisieren.
2.Sie verhindert, dass wir der Gefahr unterliegen, uns ausschließlich auf die Ätiologie einer bestimmten Krankheit zu konzentrieren, stattimmer nach der gesamten Geschichte eines Menschen zu suchen – einschließlich seiner oder ihrer Krankheit.
3.Anstatt zu fragen: „Was löste aus (oder „wird auslösen“, wenn man präventiv orientiert ist), dass eine Person Opfer einer gegebenen Krankheit wurde?“, das heißt, anstelle uns auf Stressoren zu konzentrieren, werden wir eindringlich zu fragen gemahnt: „Welche Faktoren sind daran beteiligt, dass man seine Position auf dem Kontinuum zumindest beibehalten oder aber auf den gesunden Pol hin bewegen kann?“. Das heißt, wir stellen Copingressourcen ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit.
4.Stressoren werden nicht als etwas Unanständiges angesehen, das fortwährend reduziert werden muss, sondern als allgegenwärtig. Darüber hinaus werden die Konsequenzen von Stressoren nicht notwendigerweise als pathologisch angenommen, sondern als möglicherweise sehr wohl gesund – abhängig vom Charakter des Stressors und der erfolgreichen Auflösung der Anspannung.
5.Im Gegensatz zu der Suche nach Lösungen nach Art der Wunderwaffe müssen wir nach allen Quellen der negativen Entropie suchen, die die aktive Adaptation des Organismus an seine Umgebung erleichtern können.
6.Letztlich führt uns die salutogenetische Orientierung über die in pathogenetischen Untersuchungen erworbenen Daten dadurch hinaus, dass sie immer die in solch einerUntersuchung ermittelten abweichenden Fälle ins Auge fasst.“35
Wer erkrankten Menschen in der Absicht gegenübertritt, mit ihnen gemeinsam eine Positionsbeschreibung vorzunehmen, wo sie sich auf dem Kontinuum zwischen gesund und krank momentan befinden, sucht nach einem hilfreichen Instrumentarium hierfür. Auf welche Faktoren kommt es dabei in besonderer Weise an? Was verbessert die Position der Erkrankten, was aktiviert ihre eigenen Bewältigungs-Potenziale? Antonovsky entwickelte zur Beantwortung dieser Fragen den Begriff des „sense of coherence“ (SOC), für das seine Übersetzer den Begriff „Kohärenzgefühl“ fanden.
„Das SOC (Kohärenzgefühl) ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass
1.die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind;
2.einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen;
3.diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen.“36
In welcher Beziehung können diese 3 Faktoren zueinander stehen und welche Vorhersage ergibt sich daraus für die Fähigkeit des jeweiligen Menschen, mitseiner aktuellen Situation zu Recht zu kommen? Für Antonovsky ergeben sich 8 mögliche Varianten, die einen dynamischen wechselseitigen Zusammenhang bilden können:
„Die beiden Typen (1 und 8), die in allen Komponenten entweder hohe oder niedrige Werte haben, machen keine Probleme. Wir können voraussehen, dass sie ein recht stabiles Muster aufweisen, nachdem sie die Welt entweder als sehr kohärent oder inkohärent ansehen. Aber wie sieht es mit den anderen Kombinationen aus? Zwei weitere (2 und 7), so meine ich, sind kaum zu finden: diejenigen, die ein geringes Ausmaß an Verstehbarkeit mit einem hohen an Handhabbarkeit kombinieren. Mir scheint eindeutig, dass ein hohes Ausmaß an Handhabbarkeit stark vom hohen Maß an Verstehbarkeit abhängt. Eine Voraussetzung für das Gefühl, dass man über Ressourcen verfügt, um vor Anforderungen bestehen zu können, ist, dass man eine klare Vorstellung von eben diesen Anforderungen hat. In einer Welt zu leben, die man für chaotisch undunberechenbar hält, macht es höchst schwer zu glauben, dass man gut zu Recht kommt.
Ein hohes Ausmaß an Verstehbarkeit jedoch bedeutet nicht notwendigerweise, dass man glaubt, die Dinge gut handhaben zu können. Dies bringt uns zu den Typen 3 und 6. Ich betrachte sie als inhärent instabil. Ein hohes Ausmaß an Verstehbarkeit in Kombination mit einem niedrigen an Handhabbarkeit bedingt einen starken Veränderungsdruck. Die Richtung der Veränderung wird durch die Komponente der Bedeutsamkeit bestimmt. Wenn man die Dinge sehr ernsthaft angeht und glaubt, die Probleme, mit denen man konfrontiert ist, zu verstehen, wird man sehr motiviert sein, Ressourcen ausfindig zu machen und man wird diese Suche ungern aufgeben, bevor man sie gefunden hat. Ohne irgendeine solche Motivation jedoch hört man auf, auf Reize zu reagieren, und die Welt wird bald unverständlich; man wird auch nicht dazu angetrieben, nach Ressourcen zu suchen….
Aus der Betrachtung der beiden letzten Typen wird gleichermaßen der zentrale Stellenwert der Komponente der Bedeutsamkeit ersichtlich. Selbst wenn man hohe Werte sowohl in Verstehbarkeit als auch in Handhabbarkeit aufweist, die Spielregeln also kennt und glaubt, dass man Ressourcen zur Verfügung hat, um erfolgreich zu spielen, wird man ohne ein tatsächliches Interesse (Typ 5) bald mit seinem Verständnis in Verzug geraten und die Verfügungsgewalt über seine eigenen Ressourcen verlieren. Im Gegensatz dazu ist jemand mit niedrigen Werten in Verstehbarkeit und Handhabbarkeit aber hohen in Bedeutsamkeit (Typ 4) vielleicht der interessanteste Fall. Er ist wahrscheinlich eintiefgründiger Mensch, der sich intensiv um Verstehen bemüht und nach Ressourcen sucht. Es gibt zwar keine Erfolgsgarantie, aber es gibt eine Chance. …
Sofern sich aus diesem kleinen Spiel eine Erkenntnis gewinnen lässt, so scheint es die zu sein, dass die drei Komponenten des SOC zwar alle notwendig, aber nicht in gleichem Maße zentral sind. Die motivationale Komponente der Bedeutsamkeit scheint am wichtigsten zu sein. Ohne sie ist ein hohes Ausmaß an Verstehbarkeit und Handhabbarkeit wahrscheinlich von kurzer Dauer. Die Person, die sich engagiert und sich kümmert, hat die Möglichkeit, Verständnis und Ressourcen zu gewinnen. Verstehbarkeit scheint in der Reihenfolge der Wichtigkeit an nächster Stelle zu stehen, da ein hohes Maß an Handhabbarkeit vom Verstehen abhängt. Das bedeutet nicht, dass Handhabbarkeit unwichtig ist. Wenn man nicht glaubt, dass einem Ressourcen zur Verfügung stehen, sinkt die Bedeutsamkeit, und Copingbemühungen werden schwächer. Erfolgreiches Coping hängt daher vom SOC als Ganzem ab.“37
Das Kohärenzgefühl ist etwas dynamisches, das sich je nach der Biographie der Persönlichkeit verändert. Um diese Veränderungen konkretisieren zu können, hat sich die Salutogenese darum bemüht, ein passendes Messinstrument zu entwickeln. Es entstand ein Fragebogen mit 29 Fragen, der in ganz unterschiedlichen Settings mit den verschiedensten Zielgruppen ausprobiert wurde. Es zeigte sich seine Verwendbarkeit sogar dann, wenn die untersuchtenPersonen ganz verschiedenen Schichten und Kulturen angehörten.
Das bewegende Element bei der Bildung des Kohärenzgefühles ist die persönliche Lebenserfahrung. Je nach der Zugehörigkeit zu einer sozialen und kulturellen Schicht, folgt diese Lebenserfahrung bestimmten Mustern. Jeder Mensch gehört einem bestimmten Lebensraum an, dessen Grenzen er nicht ohne weiteres überschreiten kann. Diese sozial strukturierte Lebenserfahrung entwickelt sich durch das Auftreten von Stressoren, die das Leben bereichern oder auch schwächen. Sie beeinflussen das Kohärenzgefühl positiv wie negativ.
Es ist plausibel, dass Menschen mit einem niedrigen Kohärenzgefühl eher durch Stressoren weiter geschwächt werden. Verfügen sie bereits über ein starkes Kohärenzgefühl, bewältigen sie Stressoren sehr viel leichter, profitieren also eher von ihnen. Wer auf dem Kontinuum zwischen gesund und krank stärker auf der Seite der Krankheit platziert ist, steht in großer Gefahr, diesem Pol durch neue Belastungen weiter näher zu kommen.
Welche Qualität von Lebenserfahrungen kann sich auf die drei Faktoren des Kohärenzgefühles positiv auswirken?
„Konsistente Erfahrungen schaffen die Basis für die Verstehbarkeitskomponente, eine gute Balastbalance diejenige für die Handhabbarkeitskomponente und, weniger eindeutig, die Partizipation an der Gestaltungdes Handlungsergebnisses diejenige für die Bedeutsamkeitskomponente…..
Viele Lebenserfahrungen können konsistent und ausgeglichen sein, sind aber nicht auf unser eigenes Tun oder eigene Entscheidungen zurückzuführen. Hinsichtlich jeder einzelnen Lebenserfahrung kann man fragen, ob wir mitentschieden haben, ob wir diese Erfahrung machen wollen, nach welchen Spielregeln sie verlaufen soll und wie die Probleme und Aufgaben gelöst werden sollen, die aus ihr erwachsen. Wenn andere alles für uns entscheiden – wenn sie die Aufgaben stellen, die Regeln formulieren und die Ergebnisse managen – und wir in der Angelegenheit nichts zu sagen haben, werden wir zu Objekten reduziert. Eine Welt, die wir somit als gleichgültig gegenüber unseren Handlungen erleben, wird schließlich eine Welt ohne jede Bedeutung. Dies gilt für direkte persönliche Beziehungen, für die Arbeit und für alles andere, was innerhalb unserer Grenzen liegt…. Es ist wichtig hervorzuheben, dass die Dimension nicht „Kontrolle“ sondern „Partizipation an Entscheidungsprozessen“ ist. Ausschlaggebend ist, dass Menschen die ihnen gestellten Aufgaben gutheißen, dass sie erhebliche Verantwortung für ihre Ausführung haben, und dass das, was sie tun oder nicht tun, sich auf das Ergebnis auswirkt.“38
Die für das Kohärenzgefühl bedeutenden Lebenserfahrungen bilden sich von Geburt an, möglicherweise sogar schon vorgeburtlich. Sie entwickeln sich im engen Austausch mit den lebenswichtigen Bezugspersonen und beziehen mitzunehmendem Alter immer mehr Personen und gesellschaftliche Strukturen mit ein. Diese biographische Abhängigkeit gibt dem Kohärenzgefühl eine hohe innere Festigkeit. Es ist nicht leicht, es durch therapeutische Beeinflussung zu verändern. Antonovsky sieht zwei Möglichkeiten, wie professionelle Helfer das Kohärenzgefühl verbessern könnten.
Die erste Möglichkeit entsteht aus der Art der Kommunikation zwischen Profi und Klient. Wird in der Art des Austausches von Meinungen und Informationen darauf geschaut, dass der Klient sich hierbei als konsistent erlebt, dass belastende Informationen ausgleichbar erscheinen und er sie verstehen kann, so kann sein Kohärenzgefühl stabil bleiben. Doch diese Wirkung ist meistens nur temporär. Wenn ein Arzt beispielsweise auf rechte Weise dem Patienten die erschreckende Nachricht überbracht hat, dass er bei ihm Krebs diagnostiziert hat, so kann er im Sprechzimmer diese Nachricht noch relativ gelassen akzeptieren. Doch hiernach wird ihm bewusst, welche Folgen diese Information auf seine ganze soziale Situation und seine wichtigsten Beziehungen haben wird. Dann gerät sein Kohärenzgefühl unter starken Druck und die Wirkung des Arztgespräches baut sich schnell ab.
Die andere Möglichkeit besteht darin, die realen Lebenserfahrungen der Klienten langfristig zu verändern. Diese Chancen ergeben sich, wenn Therapeuten ihre Klienten über Jahre begleiten und hierbei die Möglichkeit haben, auf ihre Lebenserfahrungen nachhaltigen Einfluss auszuüben. Diese Rahmenbedingungen ergeben sich bei chronischen Erkrankungen und der Notwendigkeit, die Behandlung im Rahmen vonEinrichtungen durchzuführen, deren Lebensbedingungen therapeutisch kontrolliert und beeinflusst werden können.
Solche Rahmenbedingungen ergeben sich beispielsweise im Zusammenhang mit der Begleitung von psychisch Erkrankten im Rahmen der Eingliederungshilfe. Aus diesem Grunde stellt das Konzept der Salutogenese eine ganz wichtige Brücke zur sozialen Rehabilitation dar.
Wie die salutogenetische Sichtweise achtet die soziale Rehabilitation weniger auf die Verhaltensprobleme des psychisch Erkrankten, sondern sehr viel stärker auf diejenigen Aspekte, die neuen sozialen Erfahrungen förderlich sein könnten. Nicht der soziale Rückzug ist beispielsweise die Quelle einer inneren Bewegung zu anderen Menschen hin, sondern persönliche Interessen, die sich ohne die aktive Beteiligung Anderer nicht verwirklichen lassen.
Auch für die soziale Rehabilitation ist positiver Stress unerlässlich. Denn auch eine im eigenen Interesse gestaltete neue soziale Situation erzeugt Stress, beispielsweise Ängste, ob die beabsichtigte Wirkung einer bestimmten Aktivität auch tatsächlich eintritt.
Verbesserungen in der Teilhabefähigkeit bedürfen ständiger Anpassungsprozesse, deren Wirkungen umso bedeutender sind, je stärker sie vom Betroffenen aktiv mitgestaltet werden. Die Bereitschaft hierzu ist umso kraftvoller, je stärker sich das eigene Bewältigungsverhalten mit ureigenen Motivationen verbindet. Auch für die soziale Rehabilitation ist dieBedeutsamkeit einer Aktivität wichtiger als ihre Versteh- und Handhabbarkeit.
Große Übereinstimmung mit der Salutogenese besteht auch darin, eine biografisch angelegte Persönlichkeitsproblematik nur durch neue Erfahrungen bewältigen zu können. Dabei ist entscheidend, dass der Betroffene an der Gestaltung dieser neuen Erfahrungen unmittelbaren Anteil hat. Eine von außen hergestellte gesunde soziale Umgebung hilft hierbei nicht. Sie bleibt eine Form gemeinschaftlicher Überwältigung, solange sie dem Einzelnen nicht gangbare Wege aufzeigt, sie zugunsten eigener Vorstellungen zu verändern.
Ausgangspunkt der Entwicklung von Gemeinwesenarbeit innerhalb des Fachgebietes Sozialarbeit in Deutschland war eine besonders in den größeren Städten wahrgenommene Problemsituation, die vordergründig als Folge der hohen Wohnungsverluste im letzten Weltkrieg entstanden war. Viele Menschen wurden innerhalb behelfsmäßig errichteter Notunterkünfte untergebracht. Während spätestens seit der Währungsreform 1948 und der sich hiernach entfaltenden Wohnungsbaumaßnahmen ein großer Teil der ausgebombten Bevölkerung wieder in akzeptablen Wohnungen Unterkunft fand, verblieb ein Teil der Bevölkerung in den Behelfsunterkünften, deren Zahl von Jahr zu Jahr zunahm. Diese Menschen wiesen einige soziale Gemeinsamkeiten auf: Sie waren vielfach ohne geregelte Arbeit, ihren wirtschaftlichen Unterhalt bestritten die Meisten durch öffentliche Zuwendungender Fürsorge, die Wohnungen waren sehr beengt, häufig ohne eigene Bäder und Toiletten. Die Bewohner waren mit den zumeist öffentlichen Vermietern durch einen „Nutzungsvertrag“ rechtlich verbunden, der zwar monatliche Nutzungsentgelte vorsah, jedoch zumeist keine Regelungen enthielt, die mit einem Mietvertrag vergleichbar waren.