Sozusagen Liebe - Marijke Schermer - E-Book

Sozusagen Liebe E-Book

Marijke Schermer

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Beschreibung

Seit fünfundzwanzig Jahren sind sie verheiratet, sie haben zwei Kinder, gehören einfach zusammen. Zumindest denkt das David. Dann verliebt sich Terri in einen anderen – und für David bricht eine Welt zusammen. Terri hingegen empfindet das Familienleben zunehmend als einengend, fühlt sich beschnitten in ihrer Individualität. Kein Wunder also, dass sie sich ausgerechnet zu dem freiheitsliebenden Lucas hingezogen fühlt, der sich nur um sich selbst zu kümmern braucht. Für die pubertierende Krista ein unverzeihlicher Verrat. Sie hat gerade selbst zum ersten Mal ihr Herz verloren, an den schönen Rafik, aber trotzdem kein Verständnis für die Liebeseskapaden ihrer Mutter. Und dann ist da noch Sev, für die sich "glücklich" und "Familie" ganz grundsätzlich ausschließen. Eine feste Beziehung will sie nicht, einen Liebhaber schon, sie will David. Und so treibt alle die Frage um, was sie eigentlich von der Liebe erwarten, was sie glücklich macht und ob nicht vielleicht auch alles ganz anders sein könnte.

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Marijke Schermer

Sozusagen Liebe

Roman

Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers

Kampa

Sommer

Aus den Fugen

Es vollzieht sich immer mehr oder weniger gleich: Sie sagen das eine und andere zueinander, sie trinken ein Glas Bier oder Tonic oder Wasser, manchmal duscht er, und dann gehen sie ins Bett. Es hat das richtige Verhältnis zwischen Leichtigkeit und Ernst. Es ist erregend, ungeniert, aber auch emotional. Manchmal schluchzt er in ihren Armen. Danach sind sie entspannt. Manchmal schlafen sie um ein Haar ein. Sie reden über ihre Arbeit, über ihre Kinder, er erzählt von der Naturkatastrophe, sie nimmt seine Frau in Schutz. Beim Essen bewundern sie die Aussicht. Sev wohnt sehr weit oben, von ihrem Fenster aus blickt man auf die Stadt, sieht, wie sich der Fluss durch sie hindurchschlängelt. Wenn die Zeit ausreicht, gehen sie danach wieder ins Bett. Er bringt nie etwas mit, keinen Wein, keine Blumen. Er bleibt nie über Nacht. Er sagt jedes Mal, dass es das letzte Mal sei. Sie ruft ihm ein Taxi und schaut zu, wie er unten einsteigt und sich wegfahren lässt.

Die Balkontür steht offen, aber der Vorhang ist gegen die Sonnenhitze zugezogen. Sev lehnt in der halbdunklen Küche an der Arbeitsplatte und schreibt David eine Nachricht. Sie stellt sich ihn bei ihm zu Hause in der Gorterlaan, wo sie nie gewesen ist, in seiner Küche vor. Wie er der Verzweiflung damit zu Leibe rückt, dass er seine Töchter umsorgt. Die sich das gerne gefallen lassen, alt genug, sich auch das Ihre dabei zu denken. Sev ist ihnen nie begegnet; alles, was sie über sie, über ihn und seine Frau weiß, weiß sie von ihm. Sie stellt sich alles vor.

Sie selbst hat an diesem Nachmittag ihren achtjährigen Sohn Hendrik zu seinem Vater gebracht. Nun hat sie gemischte Gefühle, einerseits verspricht die anstehende Woche mehr Freiraum, andererseits fehlt ihr auch etwas. Sie wartet darauf, dass David ihre Worte sieht und sie wissen lässt, dass sie angekommen sind, sie weiß, dass ihre Worte ankommen, genau deswegen hat sie sie versandt. Ein kabelloses Audiosystem füllt die Zimmer ihrer Wohnung mit Satie. David sagt, dass seine Ehe fünfundzwanzig Jahre lang glücklich gewesen sei, dass sein Leben glücklich gewesen sei, bis zu der Naturkatastrophe. Sie nimmt sich eine Flasche Bier, überlegt, was sie essen soll, etwas scharf Gewürztes, etwas Nicht-Kindgerechtes. Legt ihre Tasche auf den Tisch, sie könnte noch etwas arbeiten, später, wenn es endlich kühler geworden ist. Fünfundzwanzig Jahre Glück in Scherben, Sev weiß nicht, welches das größere Mysterium für sie ist, diese fünfundzwanzig Jahre oder der Gnadenstoß.

 

Bauch leuchtet auf dem Display ihres Handys auf. Sie schmunzelt. In vierundzwanzig Stunden wird David seine Hände auf ihren Körper legen. Darum ging es in ihrer Nachricht, um seine Hände, dass sie sie schon fühlt und wo. Sie denkt an das erste Mal, als sie mit ihm schlief, bevor sie sein Gesicht gesehen oder seine Stimme gehört hatte. Ein sorgfältig vorbereiteter Ablauf, sie hatte ihm jeden Schritt beschrieben, den er in ihrer Wohnung machen sollte. Sie hatte ihre Handlungen beschrieben, was sie tun würde, was sie von ihm erwartete. In der immer kürzer werdenden Spanne, bis er kommen würde, realisierte sie, dass sie trotz der Korrespondenz mit ihm nichts von ihm wusste. Als sie an jenem Nachmittag Wein einkaufte, kam ihr der Gedanke, dass er womöglich der schmuddelige Kerl mit dem schaumigen Speichel in den Mundwinkeln und einer Flasche Wodka in der Hand sein könnte. Sie dachte: Ein Lustmörder hätte ihrem Kennenlernen niemals so ausführlich und detailliert so viele Worte gewidmet, hätte niemals so intensiv und effektiv Sprachbalz betrieben. Sie war stark, physisch, kein Opfertyp, sie könnte ein Messer neben ihrem Bett deponieren.

Als er ihr verdunkeltes Schlafzimmer betrat, im Türrahmen auftauchte, dachte sie: Ein Mann, es ist kein Jüngling, sondern ein Mann. Er zog neben ihrem Bett seine Schuhe, sein Oberhemd und seine Hose aus, sie roch seinen Geruch, er schlüpfte unter die dünne Einziehdecke und legte den Kopf auf ihre Brust.

 

Es folgt ein Foto von seiner Pfanne. Er schickt oft Fotos von den Gerichten, die er zubereitet, sie zoomt die Dinge darum herum näher heran, probiert, das Puzzle durch Nebensächliches zu vervollständigen, durch Gewürze, die er verwendet, Zutaten, die er eingekauft hat, Messer, mit denen er schneidet, herumliegende Sachen von seinen Kindern, Trivialitäten des Alltagslebens, das er ihr vorenthält. Sie hat auch gleich Appetit auf Scampi.

 

Er hat noch nie gesagt, dass sie schön sei, oder etwas benannt, was er schön an ihr findet. Das gefällt ihr. Sie hat Freunde gehabt, die sie schön fanden, und sie hat Freunde gehabt, denen sie nicht schön genug war. Derartige Beurteilungen sind, auch wenn sie positiv ausfallen, immer erniedrigend. Wie er sie ansieht, wenn er sie berührt, wie er sich zurücklegt und sich ihr hingibt, wie er sich ihr Essen schmecken lässt und von seinem Leben berichtet, das ist es, worauf es ihr ankommt. Er sagt, dass ihre Unkonventionalität und ihr Ungebundensein eine Art Schutz vor dem Urteil anderer seien. Er sagt, dass er sie um ihre Freiheit beneide. Er sagt, dass es kein Unvermögen sei, keine Beziehung zu haben, als sie mal so etwas suggeriert, sondern dass sie einfach keine Beziehung wolle. Gerade in seinen Fehleinschätzungen klingt seine Bewunderung für sie durch. Sie macht ein Foto von ihrer Flasche Bier, schreibt etwas über seine Zunge und seinen Kopf zwischen ihren Schenkeln. Sie will ihn stören, den hingebungsvollen Vater.

 

Sie kennt ihn seit vier Monaten, und sie hat ihn nie in Gesellschaft erlebt, ist nie jemand aus seinem Leben begegnet, hat noch nie in der Öffentlichkeit mit ihm verkehrt. Lernt man einander so auf die reinste Weise kennen? Oder bleiben dadurch Seiten verborgen, die genauso bestimmend dafür sind, wie jemand ist? Auf einer Party hätte sie ihn sich vielleicht nicht herausgepickt. In ihrem Freundeskreis hätte sie ihn wahrscheinlich eher als den Mann von Terri gekannt, wenn überhaupt. Er ist wortgewandt und kann seine Gedanken auf den Punkt bringen, sie weiß, dass er kein Blender ist, dass er geistreich und schlagfertig ist, dass er liest und sich auf dem Laufenden hält und eine Meinung zu aktuellen Fragen hat, die sich nur in Nuancen von der ihren unterscheidet, sodass es sich gut diskutieren lässt. Aber sie glaubt auch zu wissen, wie reserviert er normalerweise in Gesellschaft ist, wie sehr er sich in seiner Familie verschanzt hatte und von etwas umgeben war, was man bei Leuten mit Familie häufiger antrifft: einer gewissen Unantastbarkeit. Da ist etwas, was sie zu Hause lassen, etwas, das sich der Außenwelt nicht mehr zu stellen und in seinem Umfang nicht an einem andern zu messen braucht. Genau deswegen hätten sie einander zu keinem anderen Zeitpunkt als jetzt, im Epizentrum seiner Krise, kennenlernen können. Weil seine Innenwelt so lange so gut geborgen war, weil jede Turbulenz in ihr durch Zufriedenheit, durch Selbstbeherrschung und Moral bezwungen war, ist sie jetzt, mitten im Sturm, eine schimmernde Perle. Sev kann nicht genug davon bekommen.

 

Er sagt, dass ihm durch sie neue Gefilde erschlossen worden seien. Sev fürchtet, dass er bloß den Sex meint, aber diese Angst hat sie nur, wenn sie zulässt, dass sie sich ganz klein macht. In Wahrheit sind all die Segmente nicht zu trennen: Sex, Liebe, Intimität, Erkenntnis, Heimweh. Und das ist auch die Schwierigkeit. Nur das hier, du, ich und diese Insel in der Zeit … Sie weiß nicht, ob sie sich an diese Abmachung halten kann.

 

In der Gorterlaan schneidet David den Knoblauch, die Peperoni, die Schalotten und gibt sie ins Öl. Liebe. Er tupft die Scampi trocken und stellt die Spaghetti ins kochende Wasser. Liebe. Er frittiert die Petersilie kurz in der kleinen Pfanne und legt die Scampi in die andere Pfanne. Liebe für die Kinder. Er kippt ein Glas Wein hinunter. Doppelt so viel Liebe, doppelt so viel Fürsorge. Alles, was sie brauchen, und mehr wird er liefern. Sein Oberhemd klebt ihm am Rücken. Er schenkt sich Wein nach. Von dem Tag an, da Terri in sein Leben kam, vor fünfundzwanzig Jahren, wandelten er und sie sich allmählich zu einem Wir, und dieses Wir erweiterte sich im zweiten Jahrzehnt ihrer Verbindung zum Kollektiv einer Familie, jenem vielköpfigen Organismus. Er und sie lösten sich auf, wie Wellen im Meer. Deswegen hat er jetzt nicht mehr die geringste Ahnung, wer er ist, weiß nur, wo er ist: hier, in seinem Haus. Wie das Erstaunen in Sevs Gesicht explodiert, wenn er so etwas sagt. Er pflückt Blätter von der Basilikumpflanze auf der Fensterbank. Das Fenster ist schmutzig, er muss es putzen, wenn die Sonne nicht darauf scheint. Die Kugel Mozzarella auf der Arbeitsplatte lässt ihn unwillkürlich an ihren Körper denken. Ein Schauer durchrieselt ihn. Er legt den Deckel genau zur richtigen Zeit schräg auf den Topf, in dem die Pasta kocht. Er findet das richtige Messer und legt es bereit. Er kocht, wie er heimwerkt, an einen Funken Inspiration schließt sich eine straffe Folge präziser Handlungen an.

Als Ally Terri gebeten hat, Papa nicht länger wehzutun, war ihm kurz so, als gerate die Welt in Schieflage. Als müssten seine Kinder ihn beschützen und nicht er sie. Doch dann ging ihm auf, dass es noch mal anders war. Von beschützen oder beschützt werden kann in dem Pfuhl, zu dem ihr Leben geworden ist, keine Rede mehr sein. Er und Krista und Ally sind ein Körper, ein Organ, und als Ally von seinem Schmerz gesprochen hat, war auch ihr eigener Schmerz gemeint. Aber die Liebe, die Fürsorge und die Spaghetti werden den Schmerz lindern und vergessen machen. Es soll ihnen an nichts, aber auch gar nichts fehlen. Ihr Haus soll voller Leben, Liebe und Freude sein. Nun, da sie nicht mehr Terris hohen Erwartungen gerecht werden müssen, wird das sogar leichter sein. Nun, da es nicht mehr schlimm ist, dass Krista auf die Realschule geht und kein Abitur machen wird und Ally zwar eine höhere Schule besucht, aber eben kein altsprachliches Gymnasium, nun, da er nicht mehr in allerlei Hinsicht an seiner Selbstoptimierung zu arbeiten braucht – joggen, etwas Neues, eine Sprache, ein Instrument lernen, das Demütigende ihrer Vorschläge –, nun, da er tun und lassen kann, was er will, und die Kinder seelenruhig ihr nicht herausragendes Selbst sein können, ist das Glück greifbarer denn je. Eigentlich ist es nur gut so. Eigentlich ist es ein Rätsel, warum er immer bemüht war, sich Terris Wünschen zu fügen. Jetzt erst, jetzt, da es nicht mehr nötig ist, spürt er, was für ein Krampf das war. Welche Entspannung über ihn gekommen ist oder zumindest im Begriff ist, über ihn zu kommen. Er wischt Schalen und Krümel von der Arbeitsplatte in seine Hand und leert sie in den blitzenden zylindrischen – furchtbar unpraktischen, er hört es sie sagen – Abfalleimer aus. Mit dem gezähnten Messer, das er für die Tomaten benutzt, schneidet er sich in den Finger. Einen Augenblick lang, ehe er den Schmerz spürt und das Messer fallen lässt, stellt er sich vor, er würde weiterschneiden. Blut tropft auf das Holzbrett und vermengt sich mit dem Saft der Tomaten, bevor er den Finger in den Mund steckt. Er schmeckt den Eisengeschmack, fühlt seinen Speichel in der Wunde beißen. Spürt, wie ihn eine saugende Leere von innen beschleicht. Er würde am liebsten schreien: So war das nicht abgemacht. So war das verdammt noch mal nicht abgemacht.

Er legt Besteck auf den Tisch. Ihn durchzucken Erinnerungsbilder von der Suche nach dem Tisch, dem perfekten Tisch, einem Tisch zum Haus, den Gesprächen darüber, den Gesprächen daran, mit ihr, mit anderen, vor allem mit ihr. Er schiebt die Zeitung beiseite. Hitzewelle hält an titelt die erste Seite, die im Luftstrom des Ventilators raschelt. Ein Blick zwischen den halb zugezogenen Vorhängen hindurch auf die verlassene Straße, das harte weiße Licht, die über dem heißen Asphalt flirrende Luft, die Kritzeleien auf den Gehwegplatten: Straßenkreide, eine Erinnerung, die weg ist, bevor er sie zu fassen bekommt. Seine Hände auf der Tischplatte. Hände, die nicht zu seinem Körper passen, das hat Sev gesagt. Ein Blutfleck bleibt zurück. Er sucht in der Schrankschublade nach einem Pflaster, ruft die Namen seiner Töchter in den Treppenflur. Wenn er an Sev denkt, spürt er das im Bauch. Er hat Schuldgefühle, aber er weiß nicht, wem gegenüber, er geht fremd, aber seine Frau ist nicht mehr seine Frau. Er begreift nicht, wie Sev so anders sein kann, zwar nah, aber doch so anders, so erschreckend anders als er, als Terri. Keine Beziehung, nur diese Insel in der Zeit. Ihre Worte. Liebhaber. Er verteilt den Käse auf die Tomaten.

»Was essen wir?« Ally setzt sich. Mager ragen ihre Schultern aus ihrem Shirt hervor. Die glatten langen Haare verbergen den größten Teil ihres Gesichts.

»Pasta. Wo bleibt deine Schwester?« Er stellt einen vollen Teller vor sie hin und einen halb vollen auf Kristas Platz ihr gegenüber. Er zerpflückt die Basilikumblätter für den Salat.

»Ich hab keinen Hunger«, sagt Krista, noch bevor sie die Treppe hinunter ist.

»Da«, verweist Ally, ohne aufzuschauen, auf ihre Schwester.

»Was da?«

»Da ist sie.«

»Sie?«

Krista wirft ihr Handy in den Korb auf dem Sideboard – Terris Regel – und setzt sich mit verschränkten Armen an den Tisch. David stellt seinen eigenen Teller hin, sein Glas, Wasser für die Kinder.

»Ich hab keinen Hunger«, wiederholt Krista, während sie mit einem Ausdruck, der am ehesten Wut gleicht, auf ihre Scampi starrt. Falsches Timing, denkt er. Gerade jetzt, da sie dabei sind, sich von ihm abzunabeln, ihre Identität in Opposition zu ihren Eltern abzustecken, gerade jetzt braucht er sie wie ein Schiffbrüchiger sein Stück Wrackholz. Kein Weg zurück, es führt kein Weg zurück. Wären sie doch wieder klein, wäre Terri doch noch hier, hätte er doch nur beizeiten das Steuer herumreißen können, keine Ahnung wann denn, keine Ahnung wohin denn, er dachte ja die ganze Zeit, sie seien auf Kurs – um diese lächerliche Metapher durchzuziehen. Er versucht, das mürrische Gesicht seiner Ältesten zu ignorieren. Ally saugt eine Nudel ein.

»Lecker, Papa.«

»Schön, mein Spatz.«

»Darf ich aufstehen?« Krista sieht ihn gequält an.

»Nein.«

»Mir wird schlecht von diesem Geruch.«

»Ich möchte, dass du einfach einen Bissen isst.«

»Weil?«

»Ich habe nicht für nichts gekocht.«

»Hab dich doch nicht drum gebeten.«

»Du kannst nicht nichts essen.«

»Warum nicht?«

»Dann stirbst du.« Ally sagt das ganz ernsthaft.

Krista isst ein winziges Fitzelchen Petersilie. Sie denkt an Rafiks nackte braune Arme. Seine Haut schimmert, vielleicht schmiert er Öl drauf, sie denkt an das Schild vor dem Laden mit exotischen Sachen. Marokkanische Seife, das flüssige Gold. Rafiks Augen. Die Haare in seinem Nacken. Sie würde alles dafür geben zu wissen, was er denkt, sie ist sich sicher, dass alles, was er denkt, lohnend ist. Sie würde es vielleicht nicht verstehen. Aber bestimmt hat er viele Gedanken, erhabene Gedanken, und viele Gefühle, schöne Gefühle, keine so banalen wie sie selbst. Sie denkt daran, wie er getanzt hat, wie ihm die Dschellaba um die Beine wirbelte. Sie denkt an seinen Mund, seine Lippen, und ihre Lippen. Wie er sie küssen würde. Aber daran will sie nicht denken, nicht jetzt, später erst, wenn sie allein ist und ganz darin aufgehen kann, nicht hier, wo ihr Vater und ihre kleine Schwester dabei sind und den Gedanken mit ihrer Anwesenheit entreinigen – falls es das Wort gibt. Sie riecht die Scampi, sie riecht den Schweiß ihres Vaters, sie sieht die vom Öl glänzenden Spaghetti auf ihrem Teller. Seit ihre Mutter abgehauen ist, ist ihr Leben in den Augen anderer interessanter geworden. Nicht in seinen Augen, oder vielleicht doch auch in seinen Augen. Er sieht sie an, aber sie hat keine Ahnung, was er da sieht. Seine Augen, seine Augen. Nein, sie will nicht denken, nicht jetzt. Ally und ihr Vater haben ihre Teller ganz leer gegessen. Er hat Fett am Kinn. Ihre Mutter hat ihn verlassen. In einem Gespräch, das eigentlich nicht für Kristas Ohren bestimmt war, hat ihre Mutter gesagt, dass er sie anwidert. Ally wollte das nicht glauben, als sie es ihr erzählt hat, weinte aber trotzdem darüber. Ally ist ein Kind, die will nur, dass alles wieder gut wird, die hat noch keinen blassen Schimmer, dass die Ehe, eine Ehe, eine, wie ihre Eltern sie hatten, überhaupt nichts ist, worum man die Leute beneiden sollte. Sondern was Sterbenslangweiliges. Wenn ihr Vater wüsste, wie sehr Terri ihm zuwider sein müsste, wenn der wüsste, was sie weiß.

»Darf ich morgen bei Tirza schlafen?«

»Kann Tirza nicht bei dir schlafen?« Dutzende Male haben Terri und er sich darüber unterhalten, mit welcher untrüglichen Sicherheit man sie herauspicken kann, die Kinder aus zerrütteten Familien, und dass Ausnahmen die Regel höchstens noch bestätigen. Über Tirza, die viel zu frühreif ist, raucht und trinkt und sich hinter dieser ungerührten Miene versteckt. David erinnert sich nicht, dass sie darüber je unterschiedlicher Meinung waren. Bei Sev ist alles anders. Sie bemüht sich, dem Thema einen neuen Stellenwert beizumessen, in ihrem Freundeskreis gibt es lauter alternative Familien und Scheidungen mit gutem Ausgang. Doch das stimmt ihn nur noch trauriger, auch ihre Beispiele, denn er glaubt so sehr daran, hat immer von ganzem Herzen so daran geglaubt, er weiß nicht, wie sonst als unter ein und demselben Dach sich Kinder zu Hause fühlen sollen, wie sonst als im Gespann man Kinder großziehen sollte, wie die Liebe funktionieren könnte, wenn der Verbund aus den Fugen ist. Er kann sich seine Zukunft nicht anders vorstellen denn als gähnenden Abgrund am Ende seines Auftrags, sie im Erwachsensein abzuliefern.

»Warum darf ich nicht bei ihr schlafen?«

»Ich sage nicht, dass du das nicht darfst.«

»Also darf ich?«

»Ich möchte lieber, dass sie hier schläft.«

»Why?« Gedehnt, in dieses Wort passt mehr Widerwillen als in ein Warum.

Krista raucht nicht, da ist er sich sicher. Und sie trinkt auch nicht, da ist er sich auch sicher. Er muss jetzt doppelt so streng sein. Er möchte doppelt so lieb sein. Wie kann jemand eine gute Mutter sein und das eines Tages einfach bleiben lassen? Was ist ihm entgangen?

»Ich vertraue ihr nicht.«

»Du vertraust mir nicht.«

»Ich vertraue ihr nicht.«

»Wenn ich nicht bei ihr schlafen darf, vertraust du mir nicht.«

»Ich vertraue dir sehr wohl.«

Kurz bevor Terri dann wirklich das Haus verließ, ihn verließ, sie alle verließ, führte sie in ihren Gesprächen auf einmal neue Ausdrücke ein, Aufrichtigkeit zum Beispiel nannte sie auf einmal sincerity. Dadurch war ihm klar, dass das nicht von ihr selbst stammte. Dass es von ihm stammte. Mit wem redete er nun eigentlich?

»Und? Also?«

»Was?«

»Pap!«

»Ja!«

»Wir gehen nicht aus.«

»Was macht ihr denn dann?«

»Nichts Besonderes.«

»Was heißt nichts Besonderes?«

»Was weiß ich. Nichts Besonderes. Chillen. Quasseln. Netflixen.«

»Nicht rauchen.«

»Okay.«

»Nicht trinken.«

»Okay.« Wie leicht sie ihn beruhigen kann. Wie naiv Eltern sind.

David räumt den Tisch ab. Ally stellt alles in die Geschirrspülmaschine. Er gießt sich den Rest Wein aus der Flasche in sein Glas. Der Flasche, die mittags noch voll war. Vor einem oder vielleicht zwei Jahren beschloss Terri, dass wochentags kein Alkohol mehr getrunken werde. Das war kein Vorschlag, und das galt nicht nur für sie selbst. Auch wurde ihm der Beschluss im Übrigen gar nicht vermittelt, sondern war mit einem Mal da und wurde angeführt, als sei das Fakt. Nein, heute ist Mittwoch, konnte sie sagen, wenn er fragte, ob sie ein Glas Wein wolle, und zwar so, dass er dachte, ach ja, heute ist Mittwoch, und selbst auch keinen Wein nahm, sondern an der Spüle ein Glas Wasser trank, wie um sich vorzumachen, dass sein Gedanke etwas mit Durst zu tun hätte. Wie kann es sein, dass er nicht protestierte und kein Problem darin sah, nie wirklich einen Gedanken daran verschwendete, sondern manchmal heimlich in der Küche ein Glas Wein trank oder auf dem Nachhauseweg ein Glas Bier in einer Kneipe. Heimlich. Wie kann es sein, dass diese Dinge jetzt erst für Verwunderung sorgen? Wie kann er Sev erklären, wie so etwas funktioniert, wie funktionierte, wer er war – wer er vielleicht immer noch ist, doch nun verloren in zu viel Freiraum.

Er nimmt eine Packung Vanillepudding aus dem Kühlschrank, Pudding wird sie doch wohl essen, er wird Frühstücksflocken daraufstreuen …

»Krista!« Unendlich träge hebt sie den Blick. Sieht ihn an.

»Ja?«

»Hast du den Pudding aufgegessen?« Die Packung ist leer, sie stand leer im Kühlschrank.

»Ja.«

»Warum?«

»Es war nichts anderes da!«

»Wie meinst du das: Es war nichts anderes da?«

»Manno, wie kann ich das sonst meinen als genau so, wie ich es sage!« Dieser Blick, dieser tranige Augenaufschlag, diese totale Teilnahmslosigkeit. Er würde sie am liebsten anschreien. Dass er verdammt noch mal alles für sie tut. Dass sie früher so lieb war. »Ich geh nach oben.« Er sagt nichts, lässt sie gehen, schaut ihr nach, ihrer schlaksigen Gestalt, halb Kind, halb … ja, was eigentlich? Er versucht ein zweites Mal, sich den Rest Wein aus der Flasche ins Glas zu gießen.

»Ich brauche keinen Nachtisch.« Ally schmatzt ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verzieht sich ebenfalls. Keine zwanzig Minuten, nachdem sie heruntergekommen sind, hocken sie wieder oben. Er leckt mit dem Finger den Pfannenrand aus und macht die Espressomaschine an. Aufzuckende Erinnerung an eine Diskussion über diesen Apparat. Bloß nicht. Bloß nicht wie ein Idiot alles abgehen, das Aufgebot von Alltagsfragmenten, das eine Ehe ist. Er nimmt sein Telefon aus dem Korb, das er mechanisch dort hineingelegt hat, wie er sich wohl tausend Dinge nie mehr abgewöhnen wird.

Drei Nachrichten. Er liest nur die von Sev. Morgen Abend geht er zu ihr, in das kleine Appartement mit der phänomenalen Aussicht. Sie schenkt ihm ein Glas Wein ein. Sie heißt ihn, sich ins Bett zu legen. Sie zieht sich aus, nicht sinnlicher, als es der Akt selbst ist. Sie lässt ihrer Begierde freien Lauf. Sie macht Sachen, die Terri nicht machte. Er vergeht zuerst vor Scham, und dann lässt er sich von seinem zeitweiligen Glück packen. Morgen.

»Pap?« Er fühlt sich ertappt.

»Ally?«

»Ich gehe noch kurz zu Isabel.«

Sie nimmt ihren Tennisschläger. Zieht die Haustür hinter sich zu. Geht auf dem schmalen Streifen Schatten an den Häusern entlang, hüpft über die weiß-rosa Kritzeleien auf dem Gehweg. Es ist heiß, schon so lange, dass es einem endlos vorkommt. Wegen der Blaualgen kann im Wasser in der Nähe von ihrem Haus nicht gebadet werden. Wegen der Zustände fahren sie nicht in Urlaub. Es ist der seltsamste Sommer, den sie je hatte. Sie lässt ihren Tennisschläger bei jedem Schritt mit dem linken Bein auf ihrem Knie abprallen. Wenn man alle Stunden, die sie den Tennisball gegen die fensterlose Wand der Schule geschlagen haben, aneinanderkleben würde, käme man auf eine Woche ununterbrochenes Tennisspiel. Sie stellt es sich vor. Dann müsste der Ball Licht haben, oder vielleicht könnte man fluoreszierende Farbe draufmachen, aber die würde vielleicht nicht lange genug für die ganze Nacht leuchten, oder man würde die Leuchtschicht vielleicht runterschlagen. Isabel und sie rechnen immer alles Mögliche aus, wie zum Beispiel, wie viele Stunden sie zusammen verbracht haben, oder wie viele Minuten sie bist jetzt gelebt haben, aber das Komische bei lebenden Wesen ist ja, dass sich die Summe schon geändert hat, während man noch zusammenrechnet. In letzter Zeit will Isabel meistens nicht, weder Tennis spielen noch etwas ausrechnen, sondern sie will quasseln. Aber Ally weiß nicht, was sie sagen soll, denn meistens geht es um Jungs oder um Schauspieler aus Oases Parcs, die Ally nicht auseinanderhalten kann, weil sie sich das nicht oft genug anguckt, denn sie weiß wirklich nicht, was man daran gut finden soll. In der Schule tut Isabel meistens so, als wäre Ally gar nicht da. Hier in der Straße und auf dem Platz sind sie dauernd voneinander enttäuscht. Sie denkt an früher, an eine bestimmte lila Bluse von Mama, die so weich an ihrer Wange war, wenn sie auf Mamas Schoß lag, sie kann sich fast nicht mehr vorstellen, dass sie da mal lag, dass sie mal genau einen Meter groß war, der Strich an der Wand neben der Wohnzimmertür ist der Beweis, fünf Jahre, genau hundert Zentimeter. Als Terri sagte, dass sie weggehen würde, weil das Leben mit ihnen sie ersticke, als sie das sagte und Ally beschloss, sie nicht mehr Mama zu nennen, stand ihre Mutter neben diesem Meterstrich, neben der Markierung von Ally als Fünfjähriger. Das war ich, ich war dort, ich war irgendwann mal genau das Stück unter dem Strich, dachte sie. Wie kann man eine Erinnerung bewahren, die nur ein Gefühl ist? Das ist wie einen Vogel fangen, und wenn man ihn gefangen hat, kann man ihn sich gut anschauen, aber was ihn zum Vogel macht, kann er dann nicht mehr tun. Wie sehr sie zu ihrer Mutter gehörte, früher, verbindet sich mit der lila Geschmeidigkeit dieser Bluse. Dadurch dass Terri nicht da ist, muss sie außer über sie auf einmal auch über ihren Vater nachdenken, ihren Vater, der in der Küche heimlich weint. Sie läuft am Haus von Isabel vorbei zum Platz bei ihrer alten Schule. Ihn nennt sie Papa, ihn schon. Sie lässt sich trösten, auch weil ihn das tröstet. Auf dem Mäuerchen schräg gegenüber hocken die Jungs, die da immer hocken. Marokkaner, sagt Krista, Afghanen, sagt Isabel. Ally weiß nur, dass diese Länder nicht gerade nebeneinanderliegen. Sie legt zwei Tennisbälle zu ihren Füßen hin und schlägt den dritten gegen die Wand. Hoch, tief, ein Aufpraller, kein Aufpraller. Ihr Pferdeschwanz tanzt auf ihrem Rücken.

 

In ihrem Haus um die Ecke wischt David den Fußboden auf, er denkt an die Theorie von Kahneman, wonach man einen Lebensabschnitt, wie etwa eine Ehe, nicht mehr so sehen kann, wie er wirklich war, weil sich sein Ende auf das mit ihm verbundene Gefühl auswirkt. Über ihm begutachtet Krista mithilfe des Spiegels aus dem Flur und des Spiegels, der auf der Innenseite ihrer Schranktür angebracht ist, ihren Po.

 

Auf der anderen Seite des Wassers, in der spartanisch eingerichteten Mietwohnung in derselben Straße, in der sie als Studentin wohnte, rasiert Terri sich die Beine. Sie liebt diese rituelle Form der Vorbereitung, sie hat schöne Beine, eine gute Haut. Sie trimmt ihr Schamhaar zu einem straffen Ganzen. An diesem Nachmittag hat sie einen zweiten Brief an Krista angefangen, der der endgültige Gnadenstoß sein wird, doch das weiß sie noch nicht, sie glaubt jetzt noch, es wäre ein guter Zug, ihrer fünfzehnjährigen Tochter alles zu erklären. Sie kann immer noch nicht ermessen, wie groß der Scherbenhaufen ist, und weiß nicht, dass sie mit allem, was sie unternimmt, um die Wogen zu glätten, nur noch mehr Öl ins Feuer gießt. Es ist alles eine Frage der Zeit, denkt sie, eine Frage der Zeit, bis sich alles zu etwas Neuem fügt, etwas Ruhigem, dem Leben, wie sie es sich vorgestellt hat, so wie Tausende Menschen es tun. Getrennt, aber mit Anstand; angeschlagen, aber am Leben; unter Wahrung von Liebe und Fürsorge für die Kinder, aber losgelöst von der Familie, zurück zum Sein als Individuum. Verantwortlich, aber frei. Sie reibt ihre Beine mit Öl ein, Bauch und Busen mit Vitamin-E-Creme, Gesicht und Hals mit etwas anderem, und auf Lippen und Augenlider kommt wieder etwas anderes, ein Vermögen hat sie für all das ausgegeben, früher hat sie sich so etwas nicht genehmigt.

Manchmal bespringt sie die Angst, dass alles ein Irrtum ist, wie aus dem Nichts taucht eine Erinnerung auf, David mit fünfundzwanzig, dreißig, wie verliebt sie in ihn war, obwohl, sie? Die Terri, die sie damals war, ist ganz weit weg, wie kann man sich seines jüngeren Selbst anders denn als Traumbild erinnern? Sowie sie es näher heranzuzoomen versucht, verliert es gänzlich seine Gestalt. Sie bekämpft solche Momente effektiv damit, dass sie den Fokus auf das Individuum richtet, das sie jetzt wieder ist, auf den Körper, den sie hat, auf das Verlangen, von dem sie sich leiten lässt. Oder sie konzentriert sich kurz, aber intensiv auf den neunundvierzigjährigen David, der vor allem und jedem Schiss hat, der seine Führungsposition zurückgegeben hat, der in einem Stau klaustrophobische Anwandlungen kriegt, der nach dem Essen auf dem Sofa einschläft, der schon seit fünfundzwanzig Jahren die gleiche Sorte Hosen trägt und die gleichen Witze macht. Wenn sie sich darauf verlegt, verflüchtigt sich das Gefühl, dass sie einen Fehler gemacht hat, dann spürt sie wieder, von welcher Last es sie befreit hat, David zu verlassen. Dann gehen ihre Gedanken nahtlos zu Lucas über, der gleich kommen wird, der Davids Meinung nach die Ursache ist für das ganze Unglück, womit er nur sein eigenes Unglück meint. Lucas war höchstens der Katalysator. David fing an zu schreien, als sie das Wort gebrauchte.