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In sieben Essays setzt sich der Autor mit Werken der wichtigsten Vertreter literarischer und musikalischer Popkunst auseinander, nicht nur als Phänomene der Massenkultur, sondern im umfassenden Kontext von Tradition, Moderne und Postmoderne, was ihre eigentliche, größere Bedeutung erst sichtbar macht.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Dieses Buch ist meinen Lehrern und Lehrerinnen gewidmet, ohne deren pädagogisches und wissenschaftliches Engagement wohl kaum einer der darin versammelten Texte verfasst worden wäre, insbesondere Adolf Helmprecht (Gymnasium Münnerstadt), dessen Unterricht Englisch zu meinem Lieblingsfach machte, Gertrud Muth (Gymnasium Münnerstadt), die mir die Möglichkeit gab, die Facharbeit über die Beatles zu schreiben, Prof. Dr. Gerhard Hoffmann (Universität Würzburg), der mir das notwendige literaturwissenschaftliche Werkzeug vermittelte und größere Zusammenhänge zeigte, Dr. Martin Just (Universität Würzburg), der mich in die Philosophie der Neuen Musik einführte, Dr. Lenz Meierott (Universität Würzburg), der mich inspirierte, die Songs der Beatles musikwissenschaftlich zu analysieren, und Professor Eugene Garber (State University of New York at Albany), der mich zum literarischen und essayistischen Schreiben anleitete und motivierte.
Darüber hinaus danke ich auch den Freunden und Verwandten, die mich in Gesprächen und Briefen bei der kritischen Auseinandersetzung mit der Popkultur begleitet haben, allen voran dem Altphilologen und Germanisten Elmar Arnold, der – damals noch Schüler – mir Ende Dezember 1980 bei einem nächtlichen Spaziergang durch das Dorf unserer Großeltern die erstaunliche Frage stellte, ob ich John Lennon für einen Philosophen halte, was einen nicht enden wollenden, mündlichen und schriftlichen Dialog über die Beatles in Gang setzte; dem Künstler und Iyengar-Yogalehrer Christian Klempert, der nicht nur die Cover vieler meiner Bücher gestaltet hat, sondern mit dem mich auch ein jahrzehntelanger intellektueller und spiritueller Gedankenaustausch verbindet; dem Politikwissenschaftler und Journalisten Daniel Schikora, der mir in zahllosen, nicht selten kontroversen Diskussionen half, meine Auffassungen, Thesen und Argumente zu hinterfragen; dem Studienfreund und Fachkollegen Uwe Barthelmes, mit dem der Dialog über Literatur seit der gemeinsamen Examensvorbereitung nicht abgerissen ist; last not least meiner Schwester Angela Dörfler-Selzer, die sich die Mühe machte, die Essays zu lektorieren, und mir mit ihrer theologischen Fachkompetenz wertvolle Korrekturhinweise lieferte.
Selbstverständlich bin ich auch den im Anhang aufgelisteten Geistes- und Gesellschaftswissenschaftlern zu Dank verpflichtet. Ohne ihre Abhandlungen fehlte meinen Aufsätzen das Fundament und sie würden sich in impressionistischen Belanglosigkeiten erschöpfen.
April 2025
VORBEMERKUNG
FUSION DER GETRENNTEN SPHÄREN
Popsongs im Spannungsfeld von Tradition, Moderne, Massenkultur und Postmoderne
ALL DIE EINSAMEN LEUTE
Die Beatles als Dichter
UNERHÖRTE KLÄNGE
Klangfarben- und Lautsymbolik in den Songs der Beatles
DICHTER UND MUSIKER, MYSTIKER UND PROPHET
Bemerkungen zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Bob Dylan
DER TRAUM IM NACHTCAFÉ
Zur Mystik des späten Dylan
JENSEITS DER (POST)MODERNE
Mutmaßungen über den Dämon der Literatur
VOM COWBOY ZUM INDIANER
Die Botschaft der
Winnetou
-Romane Karl Mays im Zeitalter der Aneignungs-, Cancel-und Rassismus-Diskussionen
ANMERKUNGEN
Der Essay ist bekanntlich eine Textgattung, die wissenschaftliches und literarisches, sachliches und kreatives, objektives und subjektives, referentielles und fiktionales Schreiben verbindet und eine Synthese zwischen diesen Gegensätzen anstrebt. Auf einer Skala, welche die genannten Elemente als binäre Oppositionen abbildet, läge der Essay also idealtypisch in der Mitte zwischen der wissenschaftlichen Abhandlung und der fiktionalen Kunstprosa. Auf der Manifestationsebene werden sich die Anteile der konträren Elemente allerdings häufig unterscheiden, so dass sich ein Essay entweder der Abhandlung annähert, im Extremfall ihre Kriterien sogar erfüllt und die strengen, objektiven Maßstäbe nur geringfügig zugunsten einer subjektiven Bewertung des Sachverhalts oder einer persönlichen Stellungnahme hinter sich lässt – oder aber, dass er umgekehrt zum entgegengesetzten Pol der Skala tendiert und die subjektiven, expressiven Elemente betont und sich einer innovativen, originellen, vielleicht sogar poetischen Sprache bedient, die ihn in die Nähe der Kunstprosa führt, auch wenn er selbstverständlich thematisch immer noch an einen objektiven Sachverhalt, also an die außertextliche Wirklichkeit gebunden bleibt.
Die Gegenstände, mit dem sich die im Folgenden versammelten Essays auseinandersetzen, sind unterschiedliche Manifestationen der literarischen und musikalischen Kultur der letzten 150 Jahre, also jener Epochen, die oft als Moderne und Postmoderne bezeichnet werden, wobei sich ja bekannterweise beide Strömungen in ihrer Einstellung zur vormodernen Tradition und zu der parallel zur Moderne entstehenden, den simultanen, trivialen Unterbau der beiden Epochen bildenden Massenkultur unterscheiden. Die Entstehungszeit der Essays umfasst mehr als vier Jahrzehnte, ihre Anordnung folgt allerdings weder der Chronologie ihrer Entstehung noch der Chronologie ihres Gegenstands, sondern orientiert sich an der eingangs beschriebenen Skala, wobei mit dem objektivsten und sachlichsten Text begonnen wird, der die Kriterien einer wissenschaftlichen Abhandlung erfüllt. Eine solche zu verfassen, entsprach auch der Intention des Autors zur Zeit der Entstehung des Textes, handelt es sich doch um den theoretischen Grundlagenteil einer 1982 für die zweite Prüfung für das Lehramt an Gymnasien verfassten Examensarbeit über „Lyrik im Leistungskurs Englisch“, für den hier der Titel „Fusion der getrennten Sphären“ gewählt wurde. Subjektive Elemente wird man am ehesten im Schlussteil des Textes erkennen können, wo das erste Kapitel der ursprünglichen Abhandlung erweitert worden ist, um den Diskurs abzurunden und einen eigenständigen Essay zu formen. Die Perspektive und der Forschungsstand des Jahres 1982 wurden dabei jedoch nicht verlassen.
Die folgenden beiden Essays, die auch auf Ergebnisse zurückgreifen, die der Autor mit einer 1979 an der Universität Würzburg verfertigten literaturwissenschaftlichen Arbeit vorlegte, befassen sich unter Einbeziehung neuerer musikwissenschaftlicher Analysen und Erkenntnisse mit den Beatles, dem bis heute immer noch bedeutendsten Ensemble aus Dichtern, Komponisten und Musikern in der Popkultur. Nach einer knappen Interpretation ihres berühmten Songs „Eleanor Rigby“, bei welcher der Liedtext (lyric) im Mittelpunkt steht, untersucht der Essay „Unerhörte Klänge“ vor allem die Gestaltung und Entwicklung der Klangfarbe in der Musik der Beatles, also des nach Höhe (Frequenz), Dauer und Lautstärke vierten Grundelements des Tons, das durch die Überlagerung der reinen Schwingung, dem so genannten Sinuston, der in der Natur nicht vorkommt, mit Obertönen entsteht. Dadurch, dass die Komponisten und Musiker aus Liverpool dieses in der traditionellen, aber auch der modernen Musik eher untergeordnete Element des Tons entscheidend aufwerteten, ab 1966 sogar zu ihrem wichtigsten Ausdrucksmittel machten und in diesem Bereich bis dahin Ungehörtes, Innovatives, ja unerhört Neues schufen, prägten sie ganz entscheidend den Sound der 60er Jahre und übten darüber hinaus auch auf die Entwicklung der Musik der folgenden Jahrzehnte großen Einfluss aus. In die Analyse werden oft auch die Songtexte einbezogen, deren sensible Gestaltung der Lautebene oft sogar die Sprache zu Musik werden lässt.
Der erste der beiden Essays über Bob Dylan setzt sich, ausgehend von der knappen Begründung des Komitees für die Verleihung des Nobelpreises für Literatur im Jahr 2016, nicht nur etwas genauer mit der außergewöhnlichen Leistung des amerikanischen Songwriters auf dem Gebiet der Dichtkunst und Musik auseinander, sondern erweitert die Perspektive, indem er auch den Mystiker und Propheten Bob Dylan in den Blick nimmt. Der zweite Essay schlägt eine Deutung des 2009 erschienenen Songs „This dream of you“ als Ausdruck mystischer Erfahrungen des Dichter-Sängers vor.
„Jenseits der (Post-)Moderne“ – erstmals 2006 in einer Sammlung von Prosa- und Verstexten des Autors mit dem Titel Auf-/Brüche veröffentlicht – könnte als exemplarischer Essay im Sinne der eingangs erwähnten Ausgewogenheit der objektiven und subjektiven Elemente gelten. Ausgehend von einem Tagebucheintrag des amerikanischen Mönchs und spirituellen Autors Thomas Merton, in dem eine rätselhafte Bemerkung des kubanischen Lyrikers Cintio Vitier bezüglich der (modernen) Literatur aus einem an ihn gerichteten Brief zitiert wird, folgt zusammen mit persönlichen Deutungsversuchen ebendieser Bemerkung eine Auseinandersetzung mit dem Werthorizont und der Wirklichkeitsauffassung der Moderne und Postmoderne, die manchen Leser vielleicht zu Widerspruch reizen wird.
Persönliche und autobiografische Elemente dominieren in dem erst 2023 verfassten, durch die penetrante zeitgenössische Diskussion über die Zulässigkeit des Begriffs „Indianer“ angeregten Essay „Vom Cowboy zum Indianer“, der den Einfluss der Lektüre der Winnetou-Romane Karl Mays auf den Verfasser als jugendlichen Leser thematisiert. Die persönlichen, subjektiven Elemente erhalten durch die Einbeziehung wesentlicher Informationen über die Entwicklung, Rezeption und Bedeutung des immer noch unterschätzten Erfolgsautors einen literaturwissenschaftlichen Bezugspunkt.
Da die genannten Essays nicht im Hinblick auf eine gemeinsame Veröffentlichung verfasst wurden und zum Teil auch zu weit auseinanderliegenden Zeiten entstanden sind, wird ihre synchrone Rezeption Redundanzen und vielleicht auch Widersprüche offenbar machen. Derartige Unstimmigkeiten zu beseitigen, die in einem fortlaufenden Diskurs inakzeptabel wären, war jedoch keine Absicht der Schlussredaktion. Jeder der sieben Essays ist in sich abgerundet und kann unabhängig von den anderen gelesen und verstanden werden. Im Übrigen sind die Verschiebung von Perspektiven und die Modifizierung, Vertiefung oder auch Revision von Werturteilen im Laufe von Jahrzehnten Ausdruck einer lebendigen Auseinandersetzung mit einem Gegenstand.
Popsongs im Spannungsfeld von Tradition, Moderne, Massenkultur und Postmoderne
Im Gegensatz zur Kunstwissenschaft setzten sich lange Zeit weder die Literatur- noch die Musikwissenschaft mit dem jeweiligen Bereich der in den 60er Jahren ja nicht nur unübersehbar, sondern auch unüberhörbar gewordenen Popkultur auseinander, der in ihre Zuständigkeit fiel und eigentlich einer ihrer vorrangigen Gegenstände hätte sein müssen. Wenn sich Geisteswissenschaftler überhaupt mit Popsongs befassten, waren meist Äußerungen zu hören, welche ihre ästhetische Relevanz in Frage stellen, wie etwa der mehrfach zitierte Kommentar Theodor W. Adornos zu den Beatles:
„Was gegen die Beatles zu sagen ist, ist gar nicht so sehr etwas Idiosynkratisches, sondern ganz einfach das: Was diese Leute bieten, womit überhaupt die Kulturindustrie, die dirigistische Massenkultur uns überschwemmt, ist seiner objektiven Gestalt nach etwas Zurückgebliebenes. Man kann zeigen, dass die Ausdrucksmittel, die hier verwandt und konserviert werden, in Wirklichkeit allesamt nur heruntergekommene Ausdrucksmittel der Tradition sind, die den Umkreis des Festgelegten in gar keiner Weise überschreiten und die das an Ausdruck, was sie sich zutrauen und wovon die faszinierten Hörer behaupten, dass es das Fascinosum sei, objektiv eben durch die Abgebrauchtheit all dieser Elemente gar nicht mehr haben.“1
Im Widerspruch zu derartigen Äußerungen steht die Tatsache, dass die Songs der Beatles und Bob Dylans, in geringerem Maße auch die der Rolling Stones und weiterer Popgruppen, anders als der konventionelle Schlager nicht nur das Interesse einer breiten Masse fanden, sondern auch Intellektuelle begeistern konnten. So wurden die Beatles von dem Komponisten Ned Rorem mit Mozart verglichen2 und von dem Musikkritiker Tony Palmer als „the greatest song writers“ seit Schubert gefeiert3 , und Bob Dylan löste bereits Mitte der 60er Jahre unter Literaturkritikern eine heftige Kontroverse darüber aus, ob man ihn nicht als Dichter bezeichnen könnte4 .
Seit Ende der 70er Jahre gibt es allerdings auch an den Universitäten Anzeichen für einen Gesinnungswandel. So wirft Werner Faulstich in einer 1978 veröffentlichten Interpretation des Beatles-Songs „Penny Lane“ der Literaturwissenschaft vor, sie verfehle, da sie die Popkultur nicht rezipiere, derzeit ihren primären Gegenstand. Faulstich beginnt seine Analyse mit der Feststellung:
„Weder ist von Interesse, ob die Beatles nun „vermarktete Schreihälse“ oder „wahre Dichter“ waren, noch ob “Penny Lane“ triviales Massenprodukt ist oder Kunstwerk. Auch das stellt einen Popsong wie diesen in Kontrast zum konventionellen (elitären) Gedicht: die ruhige Gewißheit seiner angesichts von Millionen-Auflage und Milliarden-Rezeption über alle Zweifel erhabenen gesellschaftlichen Wichtigkeit.“5
Faulstichs Verzicht auf komplexere Erkenntnis- und Einordnungskategorien, als es die gesellschaftliche Bedeutung ist, mag für die Interpretation eines einzelnen Songs angehen, trägt allerdings nicht dazu bei, die Popkultur als Ganze zu verstehen und zu bewerten. Dazu ist eine Analyse des Zusammenhangs und der Wechselwirkungen der relevanten, die gegenwärtige Kultur prägenden Strömungen unerlässlich, wodurch dann auch eine adäquate Auseinandersetzung mit Philosophen und Kritikern wie Adorno möglich wird. Eine solche Analyse wurde im Detail bisher noch nicht geleistet, mit der Entwicklung der Theorie der Postmoderne6 hat sich jedoch eine Perspektive eröffnet, die es ermöglicht, die Popkultur differenzierter in die gesamte europäisch-abendländische Kultur einzuordnen und damit auch überzeugender zu bewerten.
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Ausgangs- und Angelpunkt der Theorie der Postmoderne ist die von avantgardistischen Dichtern und Romanciers – im englischsprachigen Bereich sind hier in erster Linie James Joyce, Virginia Woolf, Ezra Pound und T.S. Eliot zu nennen – am Beginn des 20. Jahrhunderts vertretene Kunstauffassung der Moderne, die sich als ästhetischer Reflex auf eine veränderte gesellschaftliche Situation verstand und in der entschiedenen Abwendung von der europäisch-abendländischen Tradition manifestierte.
„I see the ‚moderns‘ … as deliberately setting out to invent a new literature as a result of their feeling that our age is in many respects unprecedented, and outside all the conventions of past literature and art“,
schreibt der britische Autor und Literaturwissenschaftler Stephen Spender in der Einleitung zu seiner Abhandlung The Struggle of the Modern7 , und an anderer Stelle spezifiziert er:
„… modern art is that in which the artist reflects an awareness of an unprecedented modern situation in its form and idiom. The quality which is called modern shows in the realized sensibility of style and form more than in the subject matter.“8
Worin besteht nun diese „unprecedented (nie dagewesene) situation“? Aus der Fülle der Aspekte9 , die in diesem Zusammenhang aufgezählt werden könnten, seien hier nur die beiden für unseren Zusammenhang wichtigsten genannt: erstens die Zertrümmerung des traditionellen, soll heißen neuzeitlichen, mechanistischen und als „aufgeklärt“ geltenden Weltbildes durch revolutionäre Ideen in Philosophie (Marx: Das Kapital ab 1867; Nietzsche: Der Antichrist 1895) und Psychologie (Freud: Die Traumdeutung, 1900) und durch umwälzende Entdeckungen in den Naturwissenschaften, insbesondere auf dem Gebiet der Biologie (1859 Darwins Origin of Species, das zur Basis der Evolutionstheorie wurde; 1866 Mendels Begründung der Genetik durch seine Vererbungsregeln) und der Physik (1895 Röntgens Entdeckung der nach ihm benannten Strahlen; 1900 Begründung der Quantentheorie durch Planck; 1905 Einsteins Spezielle Relativitätstheorie; 1911 Rutherfords Atommodell usf.), ohne dass eine neue, konsensfähige Weltanschauung an seine Stelle trat; zweitens die technologische Revolution, die unter anderem neue Energiequellen (Erdöl, Elektrizität) erschloss und neue Verkehrsmittel (Automobil, elektrische Eisenbahn, Flugzeug) und Kommunikationsmedien entwickelte (1877 Edisons Phonograph; 1895 Lumières kinematographisches Verfahren; 1896 Marconis drahtlose Übermittlung von Radiowellen), also Ideen, Entdekkungen und Entwicklungen, welche die traditionelle Gesellschaft tiefgreifend veränderten und zusammen mit einem – vor allem als Folge der Fortschritte in Medizin und Hygiene – rapiden Bevölkerungswachstum zur Entstehung einer „Massengesellschaft“ führten.
Der amerikanische Literaturwissenschaftler und Soziologe Irving Howe hat in seiner Abhandlung Decline of the New dieses moderne gesellschaftliche Phänomen treffend beschrieben als:
„… a relatively comfortable, half-welfare and halfgarrison society in which the population grows passive, indifferent, and atomized; in which traditional loyalties, ties and associations become lax or dissolve entirely; in which coherent publics based on definite interests and opinions gradually fall apart; and in which man becomes a consumer, himself mass-produced like the products, diversions, and values he absorbs.“10
Zur Negation der Tradition durch den modernen Künstler tritt, nicht zuletzt aus einem Gefühl der Entfremdung und Isolation heraus, die Negation der Massengesellschaft und ihrer „Kultur“. Resultiert seine Ablehnung traditioneller Sujets und Ausdrucksmittel aus dem Verlust religiöser Bindung und aus der Erkenntnis, dass der Rückzug aus der Welt der Technik in die Natur nicht mehr gelingt, zumindest aber keine metaphysischen Harmonieerlebnisse mehr ermöglicht, so ist die Ablehnung der Massenkultur die Konsequenz eines grundsätzlichen Misstrauens gegenüber deren weltanschaulicher Leere, ihrer ästhetischen Banalität, dem Primat des Profits sowie dem technischen Fortschritt:
„In the works of the most characteristically modern writers contemporary civilization was represented as chaotic, decadent, on the part of collapse, anarchic, absurd, the desert of nonvalues. Yeats, Eliot, Wyndham Lewis, Pound, all abhorred the idea of progress, hated the industrial age. They had invented their modern idiom and forms in order to express disgust with the modern world.“11
Die gleichzeitige Negation von Tradition und Massenkultur äußert sich in den repräsentativen Werken der Moderne – in der epischen Prosa sind hier vor allem die Romane Ulysses (1920) von James Joyce und Mrs Dalloway (1925) von Virginia Woolf, im Bereich der Versdichtung Ezra Pounds Cantos (1915-1959) und T.S. Eliots The Waste Land (1922) zu nennen – in einer radikalen Subjektivierung von Aussage und Ausdrucksmitteln, denn, um erneut Spender zu zitieren,
„… in a world of fragmented values the imagination cannot illustrate accepted doctrines, cannot refer to symbolic meanings already recognized by the reader … Everything has to be reinvented, as it were, from the beginning, and anew in each work.“12
Moderne Dichtung ist daher, wie Malcolm Bradbury und James McFarlane treffend feststellen, „less a style than a search for a style in a highly individualistic sense“; was die Werke kennzeichnet, ist „their remarkable high degree of self-signature, their quality of sustaining each work with a structure appropriate only to that work.“13
Subjektivität der Ausdrucksmittel bedeutet in der Versdichtung, die zusammen mit der Musik in einer Abhandlung über Popsongs, also die Verknüpfung von literarischer und musikalischer Gestaltung, im Mittelpunkt stehen muss, die Abkehr von jahrhundertealten formalästhetischen Konventionen wie Metrum, Reim und Strophenform zugunsten sogenannter freier Rhythmen oder freier Verse, bei denen Anzahl, Länge und Akzentverteilung nicht von vornherein festgelegt sind, kein Gleichklang am Zeilenende nötig und keine vorgegebene Form einzuhalten ist, Forderungen, die am nachdrücklichsten der deutsche Dichter Arno Holz 1889 in seiner „Revolution der Lyrik“14 erhoben hat. Was die Bildhaftigkeit betrifft, findet man anstelle der in der Regel unschwer zu erschließenden Metaphorik traditioneller Lyrik in der modernen Dichtung häufig dunkle, hermetische Symbole, absolute Metaphern, unauflösbare Chiffren.15 Eine völlig neue Gestaltungstechnik, die Ezra Pound in seinen Cantos perfektioniert hat, ist die Montage16 , bei der disparate Elemente, etwa Begriffe oder Zitate aus fremden Sprachen und Kulturen, unvermittelt in den lyrischen bzw. epischen Diskurs eingefügt werden.
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Tradition war für die Dichter der Moderne natürlich in erster Linie die europäisch-abendländische Kultur der Neuzeit, also die Phase von der Renaissance bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Ein Konzept, das jenseits der vielfältigen Unterschiede, wie sie etwa die Epochenbegriffe (Barock, Klassik, Romantik etc). andeuten, eine kulturelle Homogenität dieses umfassenden Zeitraums konstatiert, entstand erst aus der Erkenntnis der grundlegenden Andersartigkeit der Lebenswelt um 1900 und wurde gleichsam durch den Akt der Negation ebendieser Tradition in der Moderne generiert. Nach Spender besteht diese Homogenität in einem relativ stabilen Wertesystem:
„The art of the past is attached to traditions, values, symbols, objects, nature, which had until modern times a relative stability.“17
Im Gegensatz zur modernen Kunst, die häufig das Gefühl von Isolation und Entfremdung artikuliert, spiegelt die traditionelle das Bewusstsein des Aufgehobenseins des Menschen in einem metaphysischen Sinnzusammenhang, in den letztlich alle individuellen und gesellschaftlichen Beziehungen eingebettet sind. Diese Aussagetendenz findet sich, so verschieden die Vorstellungen und Werthorizonte im Einzelnen auch sein mögen, in allen repräsentativen Werken der traditionellen Literatur von Dantes Divina Commedia, den Dramen Shakespeares, Cervantes‘ Don Quijote bis zu Goethes Faust und den Gedichten der Romantiker.