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Schon 1969 hat Furio Jesi Spartakus. Symbologie der Revolte verfasst, doch erst 2000 wurde seine Rekonstruktion des Spartakusaufstandes in Berlin im Winter 1918-19 posthum veröffentlicht. Hier liegt sie erstmalig in deutscher Übersetzung vor. Am Beispiel des Spartakusaufstandes entwickelt Jesi den grundlegenden politischen Unterschied von Revolution und Revolte. Ausgehend von literarischen Quellen wie Brecht, Eliade, Nietzsche, Mann und Bakunin skizziert Jesi eine Phänomenologie der Revolte, die zwei Zeitlichkeiten gegeneinander stellt: die zielgerichtete Linearität der Revolution und die »Aussetzung der historischen Zeit« in der Revolte. Jesi behauptet einen grundlegenden Unterschied zwischen dem unmittelbaren Erscheinen (Epiphanie) der Idee und ihrer Erstarrung im ideologischen Kanon, zwischen der Zeit der Subversion oder des Mythos und der Zeit der Erinnerung. Damit verbindet er Mythos und Revolte und versteht die Wirklichkeit des Mythos als etwas radikal Neues, gerade weil sie sich nicht in die Zeit der Erinnerung einschreiben lässt und wieder zu einem Synonym von Wahrheit wird. Jesi, der eine ganze Generation italienischer Denker:innen von Pasolini über Eco bis Agamben beeinflusste, zeigt das spartakistische Berlin als eine aktualisierte Version der Pariser Kommune, die dann wiederkehrt in den Revolten des Pariser Mai 1968 und den politischen Kämpfen im Italien der 70er Jahre und so politisch anschlussfähig bleibt für gegenwärtige Bewegungen, die den Status quo eines "There is no alternative" angreifen.
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Seitenzahl: 332
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Furio Jesi
Symbologie der Revolte
Vorwort von Andrea Cavalletti
Anmerkungen des Herausgebers Andrea Cavalletti
Anmerkungen der Übersetzer Cinzia Rivieri und Frank Engster
Spartakus
Einführung Subversion und Gedächtnis
Kapitel 1 Die Suspendierung der historischen Zeit
Kapitel 2 Die Symbole der Macht
Kapitel 3 Trommeln in der Nacht
Kapitel 4 Unzeitgemäßheit der Revolte
Anhang
Der richtige Zeitpunkt der Revolution: Rosa Luxemburg und das Problem der Arbeiterdemokratie
Nachwort Cinzia Rivieri und Frank Engster
Anmerkungen
In der Nacht vom 11. auf den 12. Dezember 1969 schrieb Furio Jesi an einen Freund: »Ich verkünde dir voller Stolz, dass ich vor einer Stunde die Lektüre des kompletten Typoskripts von Spartakus. Symbologie der Revolte beendet habe. Es ist fertig. […] Es handelt von Rosa Luxemburg, aber auch viel von Dostojewskij, Storm, Fromentin, Brecht und natürlich Thomas Mann! Es ist sehr […] ›fragmentarisch‹: Die ›Verbindungen‹ sind auf ein Minimum reduziert, innerhalb eines Monologs, der, mit Verlaub, mehr an Finnegans Wake als an Die Akkumulation des Kapitals erinnert.«1
Spartakus, einer der originellsten Essays der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Italien, blieb lange Zeit unbemerkt und wurde erst zwanzig Jahre nach Jesis frühem Tod, 1980 in Genua, entdeckt und veröffentlicht.2 Seitdem bestätigt jede Lektüre die Neuartigkeit des Buchs, das so schwer klassifizierbar ist wie das Genie seines Autors.
Geboren 1941 in Turin als Sohn von Vanna Chirone und von Bruno Jesi und Nachkomme einer alten rabbinischen Familie, widmete Jesi seine ersten Recherchen der Archäologie und Ägyptologie. Er ist ein enfant prodige, ein Wunderkind, das im Alter von nur fünfzehn Jahren den Aufsatz »Notes sur l’édit dionysiaque de Ptolémée I V Philopator« im renommierten Journal of Near Eastern Studies veröffentlicht. Unbefriedigt und voller Ungeduld bricht er die Schule ab, beginnt zu reisen, hält sich mehrere Monate in Griechenland und der Türkei auf und forscht lange Zeit in den Depots europäischer Museen, wie etwa dem Roemer- und Pelizaeus-Museum in Hildesheim und der Fondation Égyptologique Reine Élisabeth in Brüssel. Er nimmt an einer internationalen Konferenz in Hamburg teil, wo er Sigfried Giedion kennenlernt und mit ihm eine enge wissenschaftliche Korrespondenz beginnt3. Jesi verbindet seine Forschungstätigkeit dann mit einer literarischen Ausbildung zum Dichter. Als Gast des Ägyptologen Boris de Rachewiltz lernt er in dessen Residenz in Castel FontanaEzra Pound kennen, »die Person«, wie er später schrieb, »von der ich am meisten über Poesie gelernt habe«.4 In Turin gründete und leitete er zudem die Zeitschrift Archivio internazionale di Etnografia e Preistoria und kommt in Kontakt mit Wissenschaftlern wie Raffaele Pettazzoni und Vladimir Jakovlevič Propp. Sein Interesse geht schon bald weit über die Grenzen der Ägyptologie und Papyrologie hinaus in Richtung Religionswissenschaft und Mythologie.
Zu einem Aufenthalt 1957 in den Meteora-Klöstern in Thessalien, wo er über Neuplatonismus und die griechisch-orthodoxe Religiosität forschte, hatte er einige Bände der sogenannten Collana Viola (Violette Reihe) mitgenommen, herausgegeben von Cesare Pavese und Ernesto de Martino, und parallel dazu las er die Aufsätze über Märchen von Leo Frobenius und Vladimir Propp. In dieser parallelen Lektüre der Werke versuchte Jesi, »mit Jung ihre Widersprüche zu lösen«.5 Das Ergebnis war eine kritische und einschneidende Neuinterpretation des Jung’schen Modells, die er in dem Theorie-Essay Le connessioni archetipiche [Die archetypischen Beziehungen, 1958] darlegte. Von nun an untersuchte Jesi die antiken Mythologien und ihr modernes Nachleben (um einen ihm lieb gewordenen Warburg’schen Begriff zu gebrauchen) in Poesie und Literatur, in der Religionsgeschichte, in der Philosophie, aber auch in der Populärkultur. Und er analysierte insbesondere die Methode der Mythologen sowie die Art und Weise, wie antike Gestalten innere Umkehrungen – vor allem im deutschen Kontext – erfahren können, indem sie in einem fremden Kontext wieder auftauchen oder vielmehr, indem sie wieder auftauchen in einer verzerrten und gefährlichen Perspektive.
Bereits im Mai 1964 hatte er einen intensiven Briefwechsel mit Károly Kerényi begonnen, den er schon seit längerem als seinen Meister ansah.6 Nur wenige Monate zuvor hatte Kerényi in Rom seinen wichtigen Vortrag »Dal mito genuino al mito tecnicizzato« [»Vom echten zum technisierten Mythos«]7 gehalten. Der Vortrag ist auch deshalb so wichtig gewesen, weil Kerényi, nachdem er jahrelang »als so genannter Mythologe versucht hatte, das Wort Mythos überhaupt nicht auszusprechen« und sich dennoch mit Mythologie zu beschäftigen, nun dazu überging, »diese Zweideutigkeit und Verwirrung aufzulösen […], um nicht zu einem Begriff, sondern zu dem zu gelangen, woraus sich Märchen, Mythologien und Mythologismen ableiten lassen. Und hier, in der europäischen Geistesgeschichte, hat man nichts anderes gefunden […] als das von Goethe als ›Urphänomen‹ bezeichnete Wort ›Mythos‹.«8 Dieses Wort schließlich doch auszusprechen, bedeutete für Kerényi, die authentische Schöpfung, die aus der direkten und inspirierenden Begegnung mit seinem Ursprung hervorgeht, das heißt mit dem »echten Mythos«, der spontan aus den Tiefen der Psyche entspringt, vom »unechten Mythos« oder »zur Technik gewordenen Mythos« zu unterscheiden, der für politische Propagandazwecke produziert oder verzerrt wird.9 Waren für die Griechen Bilder und Statuen noch als Manifestationen der Freude der Götter durchschaubar gewesen, so haben die Figuren, welche die modernen Massen faszinieren, stattdessen den dunklen und unheimlichen Charakter einer instrumentellen Verfälschung. Aber genau darum ist für Kerényi nicht der Mythos selbst zu verurteilen, vielmehr muss der Mensch, der die Macht der Bilder ausnutzt und unter ihr zu leiden hat, geheilt werden. Und in diesem Sinne – indem er Thomas Manns gegen Georges Sorel gerichtete Worte zitiert (die Worte aus dem 34. Kapitel des Doktor Faustus: »Versorgung der Massen mit mythischen Fiktionen«)10 – setzte Kerényi den ruchlosesten Ergebnissen politischer Manipulation seine »humanistischen« Verteidigungen entgegen, indem er anhand derselben gleichsam operativen Trennung, die das ursprüngliche Phänomen von seiner Technisierung unterscheidet, postulierte, dass die Möglichkeit, direkt aus den Quellen zu schöpfen, nicht unmöglich sei, sie sei vielmehr in einer Situation, in der die meisten Menschen von diesen Quellen ausgeschlossen sind, bestimmten »wahren Meistern« oder »Dichtern« vorbehalten, wie etwa Thomas Mann oder Hermann Hesse, auf die sich Kerényi gern berief.
Im Oktober 1964 schickte Kerényi seinem Brieffreund Jesi den Text der Konferenz in Rom. Und von diesem Moment an könnte man das gesamte wissenschaftliche Denken Jesis als eine kritische Wiederaufnahme und Radikalisierung, tiefgründig und zugleich ironisch, der Unterscheidung zwischen echtem Mythos und technisiertem Mythos bezeichnen. Diese Unterscheidung spielte bereits in den Werken, die während des Austauschs mit dem großen Mythologen und Religionshistoriker erschienen, eine äußerst wichtige Rolle: sowohl in Germania segreta (Silva 1967), dem ersten Band, der dem »Fortleben bestimmter mythischer Bilder in der deutschen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts« galt, als auch in Letteratura e mito, der Aufsatzsammlung, die Pound, Rilke, Pavese, Novalis und Hoffmann sowie Apuleius galt, und die Einaudi 1968, auch auf Anraten von Italo Calvino, veröffentlichte.11
Kerényi schätzte das erstgenannte Buch sehr, reagierte aber vehement ablehnend auf die Veröffentlichung des zweiten und setzte damit der Beziehung zu Jesi abrupt und unwiderruflich ein Ende. Es ist der Mai 1968 – und das zeitliche Zusammenfallen mit der Pariser Revolte ist kein Zufall. Der Grund für die Meinungsverschiedenheiten sind nämlich politische Differenzen »im weitesten Sinne« des Wortes, das heißt der Streit zwischen dem jungen, den Positionen der radikalen Linken verpflichteten Wissenschaftler und dem bürgerlichen Humanisten – dieser Streit betrifft die Theorie des Urphänomens selbst, den Ansatz der mythologischen Wissenschaft und zugleich die Implikationen des Mythologischen für die politische Praxis. Kerényi schreibt seinen letzten Brief an Jesi am 14. Mai. Dieser antwortet am 16. Mai, ebenfalls in einem scharfen Ton, und er schließt auf eine definitive Weise:
»Wenn es das Schicksal so will, dass ich gezwungen bin, diese Worte an die Person zu richten, die ich seit meiner Jugend als Lehrer betrachtete, dann bedeutet das, dass die Zeiten besonders dunkel sind. Ich bezweifle zudem, dass sie sich aufhellen können, ohne vorher noch dunkler zu werden: das heißt, ohne dass der Höhepunkt der Krise erreicht ist. Und es wird wahrscheinlich eine Krise sein, die sich auf der Straße abspielt und die mit Waffen ausgetragen wird; eine Krise, in der sich sogar Meister und Schüler, Vater und Sohn in beiden Lagern als Feinde fühlen werden.«12
Genau am selben Tag rief die Vollversammlung an der Sorbonne zu einer Besetzung aller Fabriken und zur Bildung von Arbeiterräten auf. Kurz darauf brach Jesi zu einem kurzen Aufenthalt nach Paris auf. Nach seiner Rückkehr beginnt er Spartakus und überdenkt Kerényis Thema der Technisierung und des echten Mythos. Er verfolgt dabei ein präzises theoretisches und politisches Programm: Er nutzt die Lehre explizit gegen die Intentionen des Meisters.13
Im Frühjahr 1969 verließ Jesi Turin und seine Anstellung beim Verlag Utet, um mit seiner Familie an den Ortasee zu ziehen. Damit beginnt eine Zeit des fieberhaften Engagements, in der die Produktion von Sachbüchern, Literatur und Gedichten sowie die Arbeit als Übersetzer und Verlagsberater zur Vollzeitbeschäftigung wurden. Tagsüber widmete er sich dem Schreiben, abends den Übersetzungen und seiner dichten Korrespondenz.
»Gewiss«, so schreibt er an Italo Lana, »mein Arbeitsrhythmus ist – wenn Sie so wollen – zu intensiv. Er führte zwischen Herbst 1971 und Januar 1973 zu sieben Büchern: die drei ›Castoro‹-Monographien bei Nuova Italia, Rilke, Thomas Mann, Brecht; die zwei Bücher ›Che cosa ha veramente detto‹Rousseau beziehungsweise Pascal [in Ubaldinis Reihe]; das Kierkegaard-Buch beim Verlag Esperienze und Mitologie intorno all’Illuminismo [Mythologien rund um die Aufklärung], die bei Comunità erscheinen sollten. Dazu kommen die Ausgabe von DumézilsReligione arcaica (die demnächst bei Rizzoli erscheinen wird) und andere kleinere Werke. Das ist vielleicht ein bisschen zu viel; und meine Frau, die Ihren Brief gelesen hat, lobte Ihre Ermahnung. – Es handelt sich jedoch nicht um eine Frage des reinen Arbeitseifers. Zum einen, und das mag eine Frage der psychologischen Physiognomie oder des Alters sein, gibt es bei mir ein Gefühl der Notwendigkeit, etwas zu tun (umso mehr in diesen Zeiten), um nicht zu sagen eine Angst, nicht alles tun zu können: Heute sind wir hier auf der Welt, morgen nicht mehr. Zweitens bin ich, da ich als Freiberufler ohne jegliches Gehalt arbeite, gezwungen, das uralte Prinzip ›Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‹ jeden Tag anzuwenden.«14
1974 erscheint Jesis Buch La vera terra. Antologia di storici e altri prosatori greci sul mito e la storia [Das wahre Land. Eine Anthologie von Historikern und anderen griechischen Prosaschriftstellern über Mythos und Geschichte], der für die gymnasiale Oberstufe bestimmt war, versehen mit einem einleitenden Essay von Georges Dumézil;15 1972 erscheint dann die Übersetzung von Elias CanettisMasse und Macht, 1974 folgt ein weiterer Band von Canetti, Macht und Überleben, sowie die Ausgabe von Rilkes Malte. In diesen Jahren widmete sich Jesi auch der Vorbereitung der Essay-Anthologie La festa [Das Fest] für den Verlag Rosenberg, und für den Verlag Einaudi beginnt er das große Projekt einer kritischen und kommentierten Ausgabe von Bachofens Mutterrecht;16Jesi veröffentlicht zudem mehrere wichtige Aufsätze, wie die über Rimbaud, über Heidegger und Rilke, über Wittgenstein sowie über die Mythologie des Antisemitismus »L’accusa del sangue« [»Die Blutschuld«].17
1962 hatte er mit der Arbeit an dem Roman Die letzte Nacht begonnen, dessen zweite Fassung er 1970 fertigstellte und die erst posthum veröffentlicht wurde. Es ist eine eigentümliche Geschichte über Vampire, die von Menschen unterdrückt werden. »Gemeinheit«, so lesen wir, »Gier, Ausschweifung, Fanatismus, gepaart mit Anmaßung und Niedertracht, bildeten den Charakter der Verfolger. […] Und mit Fanatismus meine ich den Geist der Intoleranz und der Verfolgung, des Hasses und der Rache für die Sache einer Spezies, die sich für auserwählt hält«.18 Es ist nicht schwierig, in den Verfolgten diejenigen zu erkennen, die von den Inquisitionstribunalen beschuldigt wurden, sich von christlichem Blut zu ernähren. Aber Die letzte Nacht kommuniziert nicht nur mit der Schrift L’accusa del sangue: »Vielleicht ist es kein Zufall«, schreibt Jesi an jenem bereits erwähnten Abend im Dezember 1969, »dass mit Spartakus auch der Vampir-Roman fertig wurde«.19 Es ist in der Tat kein Zufall, denn Die letzte Nacht ist vor allem der Roman eines Aufstands, einer Revolte gegen grausame Unterdrücker in einem surrealen und doch wiederzuerkennenden Turin, das zugleich an das Berlin der Spartakisten und die Kämpfe im »Zeitungsviertel« erinnert:20 Es ist eine Stadt der fliehenden Schatten, der Steinwürfe und kurzen Nahkämpfe, der düsteren und gedämpften und der plötzlichen Geräusche, der zerbrochenen Straßenlaternen und eingestürzten Brücken. »Die Vampire trugen keine Waffen, sie waren nicht notwendig: Ihre wilde Kraft übertraf die des stärksten Mannes.« Und als die Angriffe der Aufständischen die Menschen in die Flucht schlugen, »offenbarte die Stadt ihr Wesen, jetzt, in der Nacht der großen Schlacht«.21
In den Bildern, die Spartakus zeichnet, ist das Berlin von 1919 ein verklärtes Paris. Oder besser gesagt: In den Momenten der Revolte lebt und verbindet sich das Berlin Rosa Luxemburgs mit dem Paris von 1968 und wirft seinen Schatten auf Jesis Stadt, das Turin der Studenten- und Arbeiterkämpfe jener Jahre, während in all diesen Städten von gestern und heute noch immer das Paris der Kommune klar zum Vorschein kommt. Das Buch ist, wie Jesi selbst schreibt, keine Geschichte der Revolte und der Niederlage der Spartakisten. Es ist vielmehr ein Versuch, diese Ereignisse von einem nicht-äußerlichen, sondern streng teilnehmenden Standpunkt aus zu erfahren, indem er diese Ereignisse im intensiven Rhythmus der Prosa geradezu nachahmt. Es ist eine phänomenologische Untersuchung, die, »immanent verfahrend, der Revolte und ihren Zeiterfahrungen von innen Objektivität verleiht«.22 Und es ist ein »Werk der Ergänzungen, Schnitte und Fugen«, ein Werk von fast filmischem und Brecht’schem Zuschnitt, in dem die drängenden narrativen Sequenzen zu abrupten theoretischen Brüchen führen und die dramatische Spannung der Ereignisse auf ihrem Höhepunkt gebrochen wird durch die Kraft der Kritik. Der ursprüngliche Kern ist die Einleitung »Subversion und Gedächtnis«, ein Essay, der bereits für die Veröffentlichung in einer Zeitschrift bestimmt war,23 den Jesi aber zu ändern und dem bereits fertiggestellten Buch beizufügen beschloss (wie die Analyse des ursprünglichen Typoskripts zeigt). Diese Seiten zeigen in der Tat in einer verkürzten Perspektive die Entwicklung des gesamten Werks und präsentieren vor allem den entscheidenden theoretischen Punkt: den Gegensatz zwischen Idee und Ideologie, zwischen der Epiphanie einer Idee und ihrer Verfestigung im ideologischen Kanon, mithin zwischen dem Neuem und der Kontinuität, der Zeit der Subversion und der Zeit des Gedächtnisses. Jesi zitiert hier zum ersten Mal den Lukács von Die Seele und die Formen und die von Thomas Mann selbst in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen kommentierte Passage über den »bürgerlichen Beruf als Lebensform«; im Zeichen von Storm werden diese beiden großen Werke im Spartakus ins Verhältnis und einen Dialog gesetzt, und jedes der drei Werke kann sich als eine Art Gegenstück zu den jeweils anderen präsentieren.
Bereits 1965 hatte Jesi in dem Aufsatz »Mito e linguaggio della collettività« [»Mythos und die Sprache der Kollektivität«] seine eigene Neuinterpretation des Unterschieds zwischen dem echten Mythos und dem technisierten Mythos präsentiert:
»Der genuine Mythos, der spontan den Tiefen der Psyche entspringt, bewirkt durch seine Präsenz auf der Ebene des Bewusstseins eine sprachliche Realität, deren kollektiver Charakter dem kollektiven Wert entspricht, den Martin Buber im ›Wachzustand‹ erkannt hat und auf den sich ein Fragment von Heraklit bezieht: ›Diejenigen, die wachen [im Gegensatz zu denen, die schlafen], haben einen gemeinsamen Kosmos, das heißt eine Welt, an der sie alle gemeinsam teilhaben. […] Das Gleiche kann man nicht vom Mythos sagen […]‹, der – nach Kerényis Definition – technisiert ist, das heißt der vom Menschen absichtlich heraufbeschworen wird, um bestimmte Ziele zu erreichen. In diesem Fall besitzt die sprachliche Realität […] tatsächlich keinen kollektiven Charakter und leidet unter den Einschränkungen, die von den Technisierern auferlegt werden.«24
Die unechten Mythologeme und Bilder bilden dann »eine besonders subjektive Sprachwirklichkeit, so wie der Kosmos desjenigen subjektiv ist, der sich – in den Worten von Heraklit – in einem Schlafzustand befindet«.25 Hier, in diesen Zeilen aus dem Jahr 1965, in denen Kollektivität, echter Mythos und Wachzustand zusammenfallen, wird der Unterschied zu Kerényi bereits deutlich: Letzterer, so wurde oben gesagt, suchte den Gefahren der Technisierung zu entgehen, indem er die Möglichkeit, heute aus der Quelle des Mythos zu schöpfen, nur authentischen »Meistern« – den Dichtern und Literaten – zusprach, die in ihrem »Geheimnis«26 vereint waren. So suchte Kerényi eine Didaktik zu begründen und eine bestimmte Hierarchie aufrechtzuerhalten: Den Dichtern und Sehern, die fähig sind, mythologische Gestalten zu sehen und gleichzeitig zu erschaffen, müssten die Gelehrten und Schüler folgen, die nur die Schöpfungen anderer kennen, und folgen müssen schließlich dann wiederum, jenseits der »res publica der Humanisten, wahrhaftig, wenn auch politisch unwirksam«,27 die einfachen Menschen, denen die Techniken des Wissens fehlen und die den Gefahren der Manipulation ausgesetzt sind. Aus der Perspektive Jesis hingegen ist die Entstehung des echten Mythos eine sprachliche Realität, die den Namen Logos verdient, weil diese Realität wirklich gemeinsam gelebt und im Wachzustand erlebt wird. Er zitiert hier Buber, der geschrieben hat: nur »in der gemeinschaftlichen Wachwelt […] sind wir Wir«28– ein Wir, das sich ganz plötzlich verwirklichen und ebenso auch wieder verschwinden kann, das aber per definitionem für den Schlafenden undurchdringlich bleibt.29 Wenn der Mythos echt ist, gibt es nur das Wir, und es kann keine Hierarchien geben, keine Zirkel von Ausbeutern und keine Republiken aus einsamen Humanisten. Wo dagegen eine Trennung herrscht und die Unmöglichkeit des Zugangs zur mythischen Sprache, da wird das Wir verdunkelt und die Technisierung wirksam. Die bestehende Ordnung trennt also, und sie hält die Menschen in einem Zustand des Schlafes.
»Subversion und Gedächtnis« greift diese Position auf und radikalisiert sie. Die Poesie offenbart hier ihren Schwebezustand und ihren amphibolischen Status: Sie ist ein »einsamer Zugang zur Kollektivität des Seins«;30 sie ist das Wort des Opfers, denn der Dichter ist derjenige, der den Ausschluss von seinen Mitmenschen erleidet, schlafend und einsam. Aber die Poesie ist ebenso, als Zeugnis eines wahrhaft kollektiven Seins, ein subversiver Aufruf, der Einsamkeit zu entkommen.
Indem er in diesem Sinne die Poesie als den echten Mythos mit der Revolte verbindet, kann sich Jesi in der Tat auf seine Weise Kerényis Worte zu eigen machen. Kerényi hat auf der Konferenz von 1964 die Märtyrer von Saigon zitiert, die Mönche, die sich im Juni des Vorjahres aus Protest gegen die Religionspolitik der Regierung lebendig verbrannten. Der Vorfall, der durch die Verbreitung des Fotos der Selbstopferung von Thích Quẚng Ðức internationale Resonanz gefunden hat, lasse sich nicht auf einen Akt der Verfälschung zurückführen: Es handele sich vielmehr um ein Ritual oder einen Mythos, »der zu einem politischen Werkzeug geworden war, das dennoch echt und lebendig blieb, und gerade deshalb ein beängstigender Mythos«; und gerade ein solcher Akt, ein religiöser Akt, der gezielt aus der Sphäre der Verehrung in die öffentliche Sphäre überführt wurde (da die Buddhisten die US-Presse vorab informiert hatten), »ist ein völlig technisierter Mythos«.31
Jesi greift dasselbe Beispiel auf, aber er gibt dem Argument eine entscheidende Wendung, indem er in der Geste des Mönchs ein Modell für »echte Propaganda« sieht. Sicher hätte Kerényi einen solchen Ausdruck nicht gutheißen können, der aus seiner Sicht als eine offensichtliche contradictio in adiecto oder gar als Parodie und Provokation erschienen wäre. Aber gerade durch einen parodistischen Tonfall macht Jesi den ersten entscheidenden theoretischen Schritt. Wo es Propaganda und Politik gibt, kann es nach Kerényi nur eine Technisierung des Mythos geben. Jesi sagt, dass durch einen echten Mythos im Gegenteil eine wahre Kollektivität befreit werde, indem die Grenzen der heutigen Gesellschaft überwunden würden. Durch den Akt des vietnamesischen Mönchs würde genau wie durch diejenigen, die in den Straßen Berlins ihr Leben aufs Spiel setzten, für Jesi erfüllt, was nach Kerényi nie hätte erreicht werden können, nämlich »beides zu verknüpfen, den genuinen Mythos, der spontan und uneigennützig aus den Tiefen der Psyche entspringt, und die authentische politische Propaganda«.32
Genuine Propaganda ist eine Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen. Spartakus ist eine Phänomenologie der Subversion. Es weist die Realität des Mythos als ein Phänomen aus, das immer wieder neu und das – gemäß der Logik von »Subversion und Gedächtnis« – nicht auf die Zeit der Erinnerung reduzierbar ist: »Mythische Epiphanien sind keine Wiederholungen aus einer Erinnerung, sie folgen auch nicht, aus einer antiken Herkunft kommend, den Gesetzen einer zyklischen Geschichte. Sie sind vielmehr Eingriffe der außerzeitlichen Wahrheit in die Existenz derjenigen, die in die Geschichte sich eingebunden glauben.«33 Wenn dieses Eingreifen stattfindet, offenbaren Poesie und Propaganda ihre intime und authentische Übereinstimmung, während der Mythos wieder zu dem wird, was er seit dem Hellenismus nicht mehr war: ein Synonym für Wahrheit. In der Stunde des Kampfes, in der die Norm nicht mehr gilt und nichts mehr wiederkehrt, fallen Poesie und Idee, Mythos und Wahrheit zusammen. Doch auch Jesi räumt eine grundlegende Trennung ein und gibt ihr eine eigenständige Bestimmung. Denn die Revolte als spezifisches Phänomen zu verstehen, das bedeutet für gewöhnlich, sie von der Revolution zu unterscheiden. So lehrte es Stirner mit dem vollen Nachdruck seines Stils, und er provozierte damit wiederum den Sarkasmus von Marx: »Die Revolution und die Stirnersche Empörung unterscheiden sich nicht […] dadurch, daß die Eine eine politische oder soziale Tat, die Andre eine egoistische Tat ist, sondern dadurch, daß die Eine eine Tat ist und die Andre keine.«34
Jesi, der auch die eigennützigen Komponenten berücksichtigt (als »Raum der ›reinen Revolte‹«), setzt die Unterscheidung auf eine originäre Weise wieder in Kraft, und zwar in Übereinstimmung mit derjenigen Unterscheidung, die Idee und Ideologie einander entgegensetzt: Während die Revolution eine langfristige Strategie beinhaltet, die jede Aktion sorgfältig im Hinblick auf ihre Folgen bewertet und sich somit »vollständig und bewusst« in den Verlauf der Geschichte einbringt, ist die Revolte nicht nur kein bloßer plötzlicher Aufstand, sondern sie vollzieht vielmehr eine regelrechte »Suspendierung der historischen Zeit«, indem sie »eine Zeit einführt, in der alles, was geschieht, allein für sich gilt« und »der Erfolg der Aktion in der Aktion selbst enthalten« ist.35
Die Teilnahme an der Revolte ist von der Entscheidung für eine in sich geschlossene Aktion bestimmt, die, von außen gesehen, als eingebettet in einen strategischen Kontext erscheinen kann, von innen betrachtet erscheint sie jedoch als absolut autonom, isoliert, für sich gültig, unabhängig von ihren nicht unmittelbaren Folgen.
Das soll keine bloße Zauberei sein. Die Revolte tauscht nicht die Welt des Tages gegen eine Traumwelt aus, in der Handlungen gar keine echten Handlungen sind. Vielmehr könnte man sagen, dass die Menschen nur im Augenblick der Revolte wirklich in einem Zustand der Wachheit leben. Dagegen sind die Menschen im normalen Alltagsleben, der wie auf Kommando durch Arbeit und Arbeitspausen geregelt wird, alleine, jeder in seinen Schlaf versunken: Ihre »normale Zeit« ist nur das Produkt einer kontinuierlichen Technisierung, die Folge – so lesen wir in Spartakus – der »bürgerlichen Manipulation der Zeit«. Und wo die Zeitlichkeit selbst technisch hergestellt und getaktet wird, da setzt ihre Suspendierung wahre kollektive Erfahrung frei:
»Der Augenblick der Revolte ist die blitzartige Verwirklichung und Objektivierung des eigenen Selbst als Teil einer Kollektivität. Der Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Überleben und Tod, zwischen Erfolg und Scheitern, in den jeder individuell tagtäglich eingespannt ist, identifiziert sich mit dem Kampf der gesamten Kollektivität: Alle haben die gleichen Waffen, alle stehen den gleichen Hindernissen, dem gleichen Feind gegenüber. Sie alle erfahren die Epiphanie derselben Symbole.«36
Die Berliner Revolte scheiterte. Die Epiphanie des Neuen wurde erneut unterbrochen und die normale Zeit auf blutigste Weise wiederhergestellt; viele ihrer Protagonisten fielen dem zum Opfer. Die Aufgabe des Mythologen ist die Analyse dieses Scheiterns: Jesi enthüllt, wie sich die Technisierung in den Kampf der Spartakisten selbst einschleusen und über ihn herrschen konnte. Denn einerseits erschien den Revoltierenden das Gesicht der Macht als dämonisch und monströs, und in diesem Sinne wurde die etablierte Macht von ihnen zu Recht als grausame Herrschaft anerkannt. Andererseits war es aber gerade ein als monströses Wesen identifizierter Feind, der den Aufständischen das Verhalten auf negative Weise diktierte. Im Kampf gegen einen dämonischen Gegner mussten sie sich wie Menschen verhalten, die tugendhaft und loyal agieren, bis hin zur äußersten Selbstaufopferung. Das Monster bestätigte ihnen als phantasmagorischer und negativer Abgrund der bürgerlichen Ethik und des Humanismus die eigenen Wertvorstellungen, es diktierte die ebenso großherzigen wie verzweifelten Gesten derjenigen, die gegen das Monster kämpften, und so erwies es sich als wahrer »Hüter der Macht«.37
Den Feind als ein unmenschliches Wesen darzustellen war in der Tat, erklärt Jesi, nichts anderes als ein schweres Erbe des Ersten Weltkriegs, funktional für den Apparat des Kriegskapitalismus, und sowohl die ihm entsprechenden »Werte« als auch die, die ihm entgegengesetzt wurden, sind wirksame Produkte derselben Technisierung, nützlich für die Minderheit der Ausbeuter; sie sind Werkzeuge für den Tod und das Opfer, und diese werden in allen späteren Mythen von Helden, die für die Sache gefallen sind, weiterleben und weiterwirken, dann nämlich, wenn das Ende der Aufständischen in der Verehrung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu einem exemplarischen Präzedenzfall wird. Es wird also darum gehen, »einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden, die blockiert ist von denen, die große Opfer brachten oder forderten, oder von den großen Opfern selbst«.38 Das ist die Aufgabe, die sich Jesi zu eigen macht und die er, Kerényi noch einmal zitierend und interpretierend, Entmythologisierung nennt, ein Begriff, den Kerényi selbst als Entdämonisierung verstand.39
Nur eine phänomenologische Untersuchung, die »aus dem Inneren« der Revolte heraus agiert, wird einem solchen Unterfangen gerecht werden. Im dritten Kapitel, das die abschließenden theoretischen Schritte vorbereitet, liest Jesi noch einmal Trommeln in der Nacht, Brechts berühmtes Drama, das ursprünglich den Titel Spartakus trug40 und das Jesi als Regisseur sowie als Hauptdarsteller in der Rolle des Andreas Kragler bereits fast zehn Jahre zuvor im improvisierten Theater eines Turiner Kellers in der Via Silvio Pellico inszeniert hatte, »vor einem Publikum, das es gewagt hatte, Frost und Zugluft und unbequeme Sitze zu ertragen«.41 Kragler ist der totgeglaubte Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg, der Anfang 1919 wieder nach Berlin zurückkehrt, oder vielmehr, der unerwartet auftaucht, die Liaison seiner Verlobten mit einem Geschäftemacher aufdeckt, sich an der Spartakusrevolte beteiligt und schließlich, als sich die Niederlage abzeichnet, den Aufständischen den Rücken kehrt und ein bürgerliches Leben mit der Frau wählt, die er zurückerobert hat und die von seinem Rivalen schwanger ist. In polemischer Abgrenzung zur Rhetorik des Expressionismus hatte Brecht die kanonische Figur des Helden und das Opfer, das er darstellen soll, durch eine komische Figur und ein komödiantisches Ende ersetzt. Trommeln in der Nacht, das Jesi mit Manns Doktor Faustus vergleicht – was auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen mag –, ist Jesi ein Beispiel für ein »Ersatzritual«, das »die im deutschen Volk vorhandene Humanität vor der schicksalhaften Niederlage auf rituelle Weise« retten soll.42 Dort, wo es nach dem expressionistischen Kanon um das Scheitern eines Mannes hätte gehen müssen, lässt Brecht eine spöttische Maske auf der Bühne stehen, um – wie Jesi in Germania segreta geschrieben hatte – zu bekräftigen, dass »das Überleben selbst schon ein Sieg gegen diejenigen ist, die den Tod vergöttern«.43 Dies ist wahrhaft ein Akt der Entmythologisierung, der paradoxerweise selbst noch zur Revolte gehört, zu einem Kampf nämlich, der ununterbrochen andauert, gerade weil das Opfer denen, die es erbringen, dadurch entzogen wird, dass das Opfer durch eine komische Figur ersetzt wird.
»Von der Vergangenheit wirklich wichtig ist das, woran sich nicht erinnert wird. Der Rest, das, was das Gedächtnis bewahrt oder wiederbringt, ist nur Sediment«, heißt es in Spartakus in einer Passage mit entschieden Nietzscheanischem Einschlag. Und weiter:
»Darstellen, Wiederholen, das ist eine Geste, die nicht wirklich vollbracht werden kann, wenn man nicht den großen Kontrast, ja den radikalen Gegensatz zwischen Erinnerung und Überleben, zwischen Gedächtnis und Dauer berücksichtigt. Trommeln in der Nacht darzustellen, bedeutet keineswegs, die Erinnerung an das, was Brecht erlebt hat, wieder aufleben zu lassen, sondern […] den Teil der Vergangenheit in sich weiterleben zu lassen, der durch das Drama konstituiert wird und der nicht erinnerbar ist.«44
Die Zeit des Dramas, des Mythos sowie der Revolte ist dem Gedächtnis und der Kontinuität fremd. Und wie das Drama, ist auch das Neue der Revolte, das der Herrschaft und der Ideologie fremd ist, als solches darstellbar. Wenn Spartakus kein Geschichtsbuch ist, so ist seine Interpretation oder Wiederholung von Trommeln in der Nacht sein experimentelles Paradigma.
Die Revolte ist eine Suspendierung der historischen Zeit. Aber diese Suspendierung bleibt ein isoliertes Intervall: Nach ihrem blutigen Ende beginnt das normalisierende Dispositiv wieder zu funktionieren. Monster/Mensch, historische Zeit/mythische Zeit, Leben/Tod sind alles Gegensätze, die weiterhin kollaborieren. Daher ist es notwendig, ihr Zusammenspiel, das die Revolte von der Geschichte abtrennt und isoliert, zu verhindern. Mit der Einführung des Begriffs der »echten Propaganda« hatte Jesi ein subtiles theoretisches Manöver eröffnet. Im letzten Kapitel des Buches (»Unzeitgemäßheit der Revolte«) macht er nun den entscheidenden Schritt. Wie vollzieht er diesen Schritt? Indem er – mit einem originellen Verweis auf die gnostische Terminologie, wie sie der hebräischen Gnosis eigen ist, mit der sich Gershom Scholem und auch Albino Galvano45 intensiv beschäftigt haben – eine Theorie der »doppelten Sophia« anführt, das heißt des Bewusstseins als eines gemeinsamen Nenners zwischen der Welt der Geschichte und der Welt des Mythos. Das »Ich«, das sich aus dem zusammenwirkenden Spiel all der Gegensätze rettet, ist dasjenige Ich, das sich genau am Punkt ihrer Überschneidung befindet und das, im Prozess des Erkennens seiner Selbst, »die Dauer wie die Zerstörung des Selbst, die historische Zeit wie die Zeit des Mythos […] gleichzeitig kennt. Das Ich ist das gemeinsame Element, der Schnittpunkt zwischen zwei Universen: dem […] der historischen Zeit, dem […] der mythischen Zeit«.46 Die Kategorie der Zerstörung, die zumindest seit Bakunin als das Wesen des Phänomens der Revolte gilt, erhält damit wieder ihre zentrale Rolle. Und auch hier greift Jesi wieder konsequent auf eine Passage von Kerényi zurück. Indem er Kerényis berühmtes Gleichnis von der Musik anführt, stellt er nämlich fest, dass das Wissen und die mythologische Schöpfung bei den Dichtern ein besonderes »Ohr« erfordern: »›Ohr‹ bedeutet auch hier ein Zusammenschwingen, ja ein Sich-Ergießen. ›Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung‹.«47 Mit diesem Rilke-Zitat (aus den Sonetten an Orpheus, II, 12) sowie durch das Verb »sich ergießen« werden in SpartakusMythos und Geschichte, Dynamik und Unbeweglichkeit zusammengeschlossen:
»Das Ich, das die historische Zeit durchläuft, obwohl es an der mythischen Zeit teilnimmt, ›[ergießt] sich als Quelle‹ in dem Augenblick, in dem es zum Mythos gelangt, das heißt es zerstört sich selbst in einem dynamischen Prozess, der die historische Dauer des Ich einschließt. Das Ich nimmt also wirklich am Fluss der Geschichte teil, wenn es mit diesem Fluss der Geschichte den Verlauf der eigenen Zerstörung identifiziert und mithin seines Zugangs zum Mythos.«48
Diese »Selbstzerstörung« ist kein ultimatives Opfer, das dem Leben ein Ende setzt. Sie ist vielmehr dasjenige Opfer, das die normalisierten, bürgerlichen Komponenten des Subjekts durch den Kontakt mit der Sphäre des echten Mythos opfert. Sie ist die dynamische Begegnung mit einem Tod, der nicht einfach die Abwesenheit von Leben ist, sondern wahre Vergangenheit, an die man sich nicht erinnert, »der innere Raum der Ewigkeit, der im Leben des Menschen gegenwärtig ist«. Nur in dieser Zerstörung wird der »Zugang zur Kollektivität des Seins« nicht mehr ein einsamer Zugang sein.
Somit heißt Entmythologisieren also, nicht in die Falle der Technisierung zu tappen, die Revolte lebendig zu halten, das Drama Brechts tatsächlich – mit seiner komödiantischen Lösung – aufzuführen sowie einen ununterbrochenen Kampf gleichsam in seinem Inneren mitzuleben. Doch die wahre Entmythologisierung wird erst mit der Theorie der »doppelten Sophia« erreicht: Erst an diesem Punkt erweist sich Jesis Buch auf seine Weise als Moment des Kampfes, und die Interpretation von Trommeln in der Nacht ist nicht lediglich die Interpretation eines bloßen Theaterstücks.
Im November 1971, zwei Jahre nach der Lieferung des Typoskripts, sind die Druckfahnen für Spartakus trotz Jesis Drängen immer noch nicht fertig. Der Verleger (Silva) ist in Schwierigkeiten: Er macht Versprechungen, bleibt aber in Verzug. Im Februar 1972 bricht Jesi entnervt alle Beziehungen ab und holt das Originalmanuskript zurück. Einige Monate später, im Frühjahr, beginnt er jedoch mit der Ausarbeitung eines neuen Interpretationsmodells, das er »mythologische Maschine« nennt und das er in zwei Aufsätzen entwickelt, an denen er fast gleichzeitig arbeitet: Das Fest und die mythologische Maschine und Die Lektüre von Rimbauds »Bateau ivre«, das im Herbst verfasst und zuerst veröffentlicht wird.49 Wie vor ihm Brecht, der zwanzig Jahre nach Trommeln in der Nacht mit Die Tage der Commune zum Thema der Revolte zurückgekehrt war, greift auch Jesi im Aufsatz über Rimbaud das Problem der Suspendierung der Zeit wieder auf, um es von den deutschen Tagen des Jahres 1919 auf die französischen Tage des Jahres 1871 zu übertragen. Es gibt somit zu demselben Thema einen neuen theoretischen Ansatz. Und genau in dem Moment, in dem Jesi im Essay über Rimbaud eine Seite aus Spartakus auf neue Weise konfiguriert, ist das Schicksal des Buches besiegelt. Es ist eine Seite aus dem ersten Kapitel über die Suspendierung der historischen Zeit, in der, wie Giorgio Agamben bemerkt hat, »ein unverkennbarer Akzent der persönlichen Erinnerung mitschwingt«:50
»Man kann eine Stadt lieben, man kann in ihren Häusern und Straßen die tiefsten und wertvollsten Erinnerungen wiedererkennen; aber nur in der Stunde der Revolte wird die Stadt wirklich als die eigene Stadt empfunden: als eigene, weil sie dem Ich und zugleich ›den anderen‹ gehört; als eigene, weil sie das Feld eines Kampfes ist, den man gewählt und den die Kollektivität gewählt hat; als eigene, weil sie ein umgrenzter Raum ist, in dem die historische Zeit suspendiert ist und in dem jede Tat in ihren absolut unmittelbaren Konsequenzen für sich selbst zählt. Man eignet sich die Stadt im Vor und Zurück der Attacken weit intensiver an, als wenn man als Kind in ihren Straßen spielt oder, im späteren Leben, mit einem Mädchen in ihnen spazieren gegangen ist. In der Stunde der Revolte, da ist man nicht mehr allein in der Stadt.«51
Wenn also Jesis Modell der »mythologischen Maschine« Kerénys Begriff der Technisierung radikalisiert und ablöst, so wird das Konzept der »doppelten Sophia« in Jesis Texten nun nicht mehr erscheinen. Aber die Kategorie der Zerstörung bleibt dennoch zentral. Die Maschinen zu studieren – zu analysieren, was sie produzieren: die Mythologien der Differenz, der »Rasse«, der rechten Kultur usw. – bedeutet in der Tat, ihrer Faszination zu entkommen und sich darauf vorzubereiten, die Bedingungen zu zerstören, welche die Maschinen aktiv und wirksam machen. »Die Möglichkeit dieser Zerstörung«, schreibt Jesi, »ist ausschließlich politisch«.52 Auf diese Weise schimmert auch in den neuen Entwicklungen die unvergleichliche Neuartigkeit des Spartakus noch durch. Ob Turin, Berlin oder Paris, wenn der Mythos mit der Geschichte zusammenfällt, offenbart sich der innere Raum im Raum der Stadt. Denn nur in der wahren Zerstörung ist die Zeit sowohl ausgesetzt als auch wirklich im Fluss. Dann sieht man in den entzauberten Straßen nicht länger Monster: Ob Menschen oder Vampire – die Kämpfer kennen, erleben und erschaffen eine gemeinsame Welt.
Die Interpretation von Trommeln in der Nacht ist, so wurde oben gesagt, keine bloße Interpretation eines Theaterstücks. Diese Aussage muss jedoch präzisiert oder korrigiert werden. Am 18. Januar 1968 hielt Jesi im Teatro Stabile in Turin einen Vortrag über die Ursprünge des Theaters, den er mit einem Zitat Brechts einleitete, das er 1935 an die Schauspieler des Revolutionstheaters in Kopenhagen – die »Schauspieler und Arbeiter zugleich« waren – richtete: »Darum fordern wir nun von euch, […] euch endlich umzustellen und uns die Menschenwelt so zu zeigen, wie sie ist.«53 Diese Worte, stellt Jesi fest, werden nur scheinbar von der Notwendigkeit bestimmt, »das Theater in erster Linie als politische Tatsache zu verstehen«, sie betreffen vielmehr dessen »älteste Realität«. Brecht verlangte nämlich nicht, dass der Schauspieler »seine vorläufige Verwandlung in Orestes oder Julius Cäsar« darstelle, sondern dass er sich tatsächlich verändere und diese Veränderung dem Publikum vorstelle.54
Und genau in diesem Sinne bezieht die politische Theorie des Dramas »das ursprüngliche Wesen der theatralischen Darstellung mit ein«, das heißt die allerersten Formen der Darstellung von Initiationsriten, die – was für uns heute befremdlich sein mag, aber auch erhellend ist – auch ohne Publikum stattfinden konnten. Bei diesen besonderen Anlässen simulierten die Initiationsakteure nichts, sondern durchlebten und erlebten die im Ritual gemimten Ereignisse auf eine tatsächliche Weise: Sie täuschten den Tod nicht vor, doch indem sie ihn darstellten, starben sie (zum Beispiel zerfleischt und verschluckt von der halbwilden Maske des Initiators), um »in das Jenseits einzudringen und sich die dort wohnende Kräfte anzueignen«. Sie passten »die Bewegungen ihrer Körper, ihre Gesten, nicht dem spontanen Impuls bestimmter Emotionen an (weinen, sich auf die Brust schlagen, sich die Haare raufen usw.), sondern einem mythischen Schema, das man als abstrakt bezeichnen könnte: einem in sich geschlossenen Symbol mit einer gesicherten und ursprünglichen Wirksamkeit«.55 Auf diese Weise kamen sie in Kontakt mit der ewigen Gegenwart des Mythos, der sich in ihnen erneuerte, und mit der Zeit der Väter und des Todes, die sich in ihnen wiederholte und erneut auflebte. Aus diesem Grund, so wird Jesi später in Spartakus erklären, sollten die beiden Stufen der Initiation, die traditionell als Tod und Wiedergeburt interpretiert werden, als »zwei Phasen des Zugangs zum Tod« verstanden werden: »In der ersten steht der Tod dem Leben als das ›Andersartige‹ gegenüber; in der zweiten offenbart sich der Tod als ›ewige Gegenwart‹.«56 Historische Zeit und mythische Zeit sind also antinomisch, so wie auch Leben und Tod antinomisch sind, aber diese letztere Antinomie bleibt bestehen, solange man »dem Tod nur den Charakter eines Feindes des Lebens zuschreib[t]. Versteht man den Tod jedoch als denjenigen inneren Raum der Ewigkeit, der in der Existenz des Menschen präsent ist«, so ist das Eintreten in seine Sphäre, das heißt die Zerstörung des Selbst, nicht der Geschichte und dem Leben fremd.
Trommeln in der Nacht, Brechts Antwort auf die Opfermythologien, ist also in der Montage des Spartakus, in der in der bewusst phänomenologischen »Verflechtung von äußeren Ereignissen mit dem inneren Leben«57 ein Drama, das an die »älteste Realität des Theaters« rührt, indem es diese Realität mit der Ritualität der Revolte selbst, oder vielmehr mit der lebendigen Ewigkeit ihres Mythos (der Kampf der Spartakus-Sklaven, die Pariser Kommune, die Berliner Tage, …) verbindet: »Diese Ritualisierung der theatralen Erfahrung liegt auf der gleichen Ebene wie die ›Darstellbarkeit‹ der Revolte.«58 Hier wird die Symbologie der Spartakisten als die ewige Gegenwart verständlich, mit der die Revoltierenden in Kontakt kommen, und dieser Kontakt – und nicht das blutige Opfer – ist der Tod oder die Selbstzerstörung. Wenn also die bürgerliche Manipulation Mythos und Geschichte trennt und wenn die Gewalt der Manipulation diese Trennung markiert und den Zustand des Schlafes aufrechterhält, und wenn sich dieser Zauber in den Mythologien des Opfers und des Helden wiederholt, dann bedeutet die Anpassung der eigenen Gesten an das von Brecht ausgearbeitete Schema einer wirksamen Entmythologisierung, sich selbst zu verändern: So wie der Eingeweihte durch seinen rituellen Eintritt ins Jenseits sein Leben nicht beendet, so zerstört derjenige, der an der gemeinsamen Erfahrung der Revolte teilnimmt, in sich selbst die Produkte der Maschinerie, um sich jenseits aller Antinomien zu situieren, am Schnittpunkt zwischen den beiden zu Unrecht getrennten Universen, »dem des Lebens und der historischen Zeit, dem des Todes und der mythischen Zeit«.59 Die Modalität der Veränderung oder der Ritualisierung ist also dieselbe wie die »phänomenologische Untersuchung«, die »der Revolte und ihren Zeiterfahrungen von innen Objektivität verleiht«.
Die Revolte bereitet nicht, wie das die Revolution tut, die Zukunft vor, die Revolte ruft die Zukunft an. Sie blickt nicht auf das Morgen, denn sie ist eine »Epiphanie des ›Übermorgen‹«.60 Die Revolte ist im Sinne Nietzsches unzeitgemäß, weil der Revoltierende nicht im Heute lebt; sie ist die maximale Auflösung der bürgerlichen Komponenten: »Bakunin hätte wahrscheinlich die Wendung nicht missfallen, dass Revolution heißt, der Bourgeoisie sich zu verweigern, während Revolte die Überforderung der Bourgeoisie ist. Er hätte berechtigterweise gefolgert, dass die Revolution aufbaut, während die Revolte zerstört.«61
Die Revolte,62 sagt der berühmte Satz in Bakunins Staatlichkeit und Anarchie,
»die naturgemäß spontan, chaotisch und unerbittlich ist […]. Diese destruktive Leidenschaft reicht zwar als Grundlage einer revolutionären Tat bei weitem nicht aus, aber ohne sie ist eine Revolution undenkbar, unmöglich, denn es kann keine Revolution geben ohne weitreichende, leidenschaftliche Zerstörung, ohne rettende und fruchtbringende Zerstörung, weil nämlich aus ihr und nur durch sie neue Welten entstehen.«63
Man könnte meinen, dass nur eine solche »weitreichende, leidenschaftliche Zerstörung« eine gemeinsame Welt schafft, in der sich die Menschen im Zustand der Wachheit befinden. Im Zeichen ihrer Unterschiedenheit von der Revolte könnte so auch die Idee der Revolution (wie auch der spezielle Begriff der permanenten Revolution)64 wieder denkbar werden, und gerade die Unterscheidung der beiden Aktionen würde ihre präzise und zugleich diskrete Kohärenz offenbaren.
Im Sommer 1972 hatte Jesi