Spätfolgen - Günter Neumann - E-Book

Spätfolgen E-Book

Günter Neumann

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Beschreibung

Spätfolgen - Im Sommer 2036 kommt es zu einer folgenschweren Entdeckung "Spätfolgen" ist ein metaphysischer Zukunftsroman. Die Hauptthemen - im weitesten Sinne - sind die möglichen Folgewirkungen von Pandemie und Klimawandel. Der Roman ist getragen von einer philosophischen Utopie und beinhaltet neben erzählerischen Episoden Elemente eines Sachbuches, ergänzt durch Tagebucheintragungen (zur Corona Pandemie von Dezember 2019 bis März 2021). Fiktive Autorin des Buches ist die Kunstfigur Saloni E., die durch die verschiedenen Zeitebenen switcht. Der Roman spielt über die Kontinente verteilt in der Rheingegend bei Bonn, der Schweiz, den USA, Indien und China. Ein komplexes, ungewöhnlich abwechslungsreiches Buch mit gesellschaftspolitisch und sozialpolitisch aktuellen Themen. "Spätfolgen" gibt keinen politischen Fingerzeig, ermuntert jedoch zu gesellschaftsphilosophischen Gedankengängen. Die Protagonisten machen mit ihren Einzelschicksalen und Geschichten das Werk bildhaft und sehr lebendig, man lebt mit ihnen quasi mit und erfährt so nebenbei auch einiges über ihre jeweiligen Lebensmittelpunkte, die Städte und Länder. Hinweise zum Anhang: Der Anhang enthält ein Protokoll der Corona-Pandemie von Dezember 2019 bis zum März 2021 mit wichtigen Tages-Meldungen aus aller Welt und eine Statistik über die Anzahl gemeldeter Infektionen in der Welt sowie in China, den USA, Deutschland, der Schweiz, Australien und Indien. Ergänzend sind auch Erläuterungen zum Roman im Anhang zu finden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Phase-1 Der Anfang

1.1 Indien, Neu Delhi - Sommer 2036

1.2 Bonn - Bad Godesberg - Die Rheinaue

1.3 USA, New York - Das Unwetter

1.4 China, Peking - Maos Enkel

1.5 Indien, Neu Delhi - Der Kuss

1.6 China, Nanning - Das Praktikum

1.7 Bonn - Das Protokoll

1.8 Bonn - Demokratie

Phase-2 Die Erkenntnis

2.1 Neu Delhi - Die Ungewissheit

2.2 New York - Die Versöhnung

2.3 Bonn - Das Kur-Ende

2.4 Neu Delhi - Der Plan

2.5 New York - Der Abschied

2.6 Nanning - Der Entschluss

2.7 Indien - Die Reise

2.8 Bonn - Rückkehr aus Indien

Phase-3 Die Fokussierung

3.1 Bonn - Frühjahr 2037

3.2 Bonn - Vorbereitungen

3.3 Zürich - Die Welt retten

3.4 Bonn - Hotel Lux

3.5 Bonn - Jahreswechsel

Phase-4 Die Auflösung

4.1 Bonn 2050 - Der Rückgang

4.2 Schweiz - Die Berge

4.3 Bayern - Die Wiederbegegnung

Phase-5 Das Chaos

5.1 Zeiten des Zorns und des Wahns - Sommer 2090

5.2 Delhi, China, USA - Stadtflucht

5.3 Reinwaschung - Sommer 2115

Phase-6 Die Hoffnung

6.1 Deutschland - Sommer 2130

Phase-7 Neu-Beginn

7.1 Elysium - Sommer 2136

A.1 Anhang - Corona-Pandemie-Protokoll

A.2 Anhang - Corona-Infektionen Pandemie-Statistik

A.3 Anhang - Erläuterungen zur CoStory

A.4 Anhang - Akteure in Spätfolgen

A.5 Anhang - CoStory Statistiken

A.6 Anhang - Empfehlungen

A.7 Impressum

Prolog: Fast immer haben die Menschen große Krisen gemeistert. Doch noch nie hat ein Mensch hinter die äußere Hülle des Universums geschaut. Es ist nur eine Frage der Zeit, denken manche. Denn noch immer versetzen Wissenschaft und Technik die Menschen wieder und wieder ins Erstaunen, versetzen Glaube und Hoffnung mit Leichtigkeit riesige imaginäre Berge. Viele der geopolitischen, technischen und klimatischen Entwicklungen auf der Erde sind vom geschulten menschlichen Auge voraus zu sehen, manche nicht.

Was bleibt am Ende von der Menschheit 1.0 als Erbe für die Menschheit 2.0 übrig? Mehr als nur Absurditäten und ein ausgebeuteter grauer Planet?

Autor: Gunter Neumann

Co-Autorin und Korrektur: Nicole Simon

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Spätfolgen

Metaphysischer Zukunftsroman

Sollte diese Publikation Verlinkungen auf Seiten dritter enthalten, so übernehmen wir für die dort abgebildeten Inhalte keine Haftung. Zur Zeit der Veröffentlichung haben wir die entsprechenden Internet-Adressen geprüft und als unbedenklich bewertet.

Die Personen und Unternehmen in dieser Geschichte sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit existierenden Personen oder Unternehmen ist rein zufällig und auf keinen Fall beabsichtigt.

Originalausgabe des Buches im März 2021

Copyright © und Umschlaggestaltung: Gunter Neumann

Phase-1 Der Anfang

Die Geschichte beginnt im Sommer 2036 in Indien Für manche ein Märchenland, für andere nicht. Jedoch ist es zur Zeit des Beginns dieser Geschichte kein Zufall, dass ihr Ort in diesem Märchenland liegt und durch mich begründet.

Der Anfang leitet die Entwicklung eines Neubeginns ein. Die Frage nach der Notwendigkeit, Altes durch Neues zu ersetzen oder den kaum überschaubaren Gesamtzusammenhängen der Natur oder menschlichen Gesellschaften nur anzupassen, findet manchmal ihre Antwort in den Geschehnissen der Ereignisse selbst.

Alle Folgen menschlichen Handels können zu Spätfolgen führen, die von den Menschen alleine nicht wirklich mehr beherrschbar sind. Von dem letzten Fall dieser Art berichtet diese Geschichte.

S.E.

1.1 Indien, Neu Delhi - Sommer 2036

Dr. Suri schaut aus dem Bürofenster hoch oben im Saket Hospital von Neu Delhi. Am Horizont wird die glutrote Sonne bald hinter den Wolkenstreifen versinken. Er schaut nochmals auf die beiden Testergebnisse die er in der rechten Hand hält. Es gibt keinen Zweifel. Ist das Zufall?

Und da ist auch eine scheinbar nebensächliche Tatsache, die er in einer Statistik vor ein paar Tagen wahrgenommen hat. „Das kommt statistisch eben vor“, hatte er sich gedacht und der Sache weiter keine große Bedeutung beigemessen. Jetzt aber verursachen diese beiden Tatsachen einen Schauer, der ihm über den Rücken läuft.

‚Das kann nicht sein - das darf nicht wahr sein! Besteht da etwa ein ungeheuerlicher Zusammenhang?‘ Er setzt sich auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch steht und legt die Testergebnisse zögerlich zurück auf die Schreibunterlage.

„Sie sind beunruhigt, Dr. Suri?“, fragt das Smartear. Jeder Mitarbeiter des Krankenhauses ist verpflichtet, das Klinik-Smartear auch außerhalb der Dienstzeit zu tragen. Es steckt wie ein kleines Hörgerät hinter dem Ohr und stört nicht weiter. Dr. Suri kann auf Zuruf oder durch Fokussierung seiner Augen auf eine Person auf der Screen-Manschette oder auf der aktivierten Screen-Wand sofort direkten Kontakt zu dieser Person aufnehmen.

Fast jeder Winkel in der Klinik und auf dem Klinikgelände ist durch die Video-Cloud für Dr. Suri einsehbar - nur das Büro seines Vorgesetzten nicht. Hier haben lediglich der Oberbürgermeister der Stadt und der Gesundheitsminister einen direkten digitalen Zugang und direkte Einsicht. Sein Vorgesetzter Dr. Sai kann sich gegenüber ihm und allen anderen Mitarbeitern der Klinik in der Video-Cloud unsichtbar machen. Niemand sieht ihn dann auf dem Screen, selbst wenn er direkt neben demjenigen steht.

Allerdings besteht ein scheinbar nicht lösbarer Systemfehler in der Sache: In einem Spiegel und bei Wasserspiegelungen bleibt die Person sichtbar. Die Unsichtbar-Funktion kann Dr. Suri auch bei seinen Untergebenen einsetzen. Das ist eines der Vorgesetzen-Privilegien im System - die Unsichtbarkeit gegenüber den untergebenen Mitarbeitern.

Das System der Huwin Corp. aus Nanning unterstützt dabei wesentlich die Mitarbeiterführung, erleichtert das Leistungscontrolling und organisiert die betriebliche Optimierung der Mitarbeiter und Ressourcen vollständig ohne menschliches Zutun. Es liefert verlässlich detaillierte und präzise Mitarbeiter-Beurteilungen und Leistungsprofile sowie stichhaltige Vorlagen für Mitarbeitergespräche. Die Realtime-Systemrückkopplung bei diesen Mitarbeitergesprächen lassen den Vorgesetzten sofort aufrichtige Zustimmung oder inneren Widerstand bei Mitarbeitern erkennen.

Um das Gesamtsystem zu optimieren erfolgt auch ein Zugriff auf diese Daten durch die Huwin Corp. Doch davon haben ausschließlich der Gesundheitsminister und der Premierminister Kenntnis.

"Mr. Suri, sind Sie beunruhigt?", fragt das Smartear wieder, jedoch lauter und drängender. „Soll ich Hilfe kommen lassen?“ "Nein, nein, danke", antwortet Dr. Suri erschrocken und kehrt aus seiner inneren Versunkenheit zurück.

Er schaut wieder auf die beiden Blätter, die vor ihm auf dem Schreibtisch liegen. "Mr. Suri, Ihre Frau ruft an und möchte Sie sprechen! Soll ich durchstellen?" "Ja bitte, mache das." Dr. Suri war schon klar, weshalb seine Frau ihn jetzt sprechen wollte.

"Amal, gut, dass ich dich erreiche. Da bin ich beruhigt! Liebster, denkst du auch an heute Abend? Du weißt doch, wir sind eingeladen zu der Cocktail-Party. Um 22 Uhr sollen wir da sein. Dein Freund Balu ist doch jetzt Chefarzt geworden und das will er ein wenig feiern mit uns und ein paar Leuten aus seiner Klinik. Da dürfen wir nicht zu spät kommen, das wäre unaufmerksam und unhöflich. Und das wollen wir doch nicht sein, oder?".

"Ja, Liebste. Schön, dass du mich daran erinnerst. Du weißt ja, dass ich manchmal solche Dinge im Arbeitseifer vergesse. Ich mache mich gleich auf den Weg zu dir. Wir werden rechtzeitig bei Balu eintreffen. Versprochen!"

"Gut, ich bestelle schon ein Taxi für etwas später. Denke daran, es ist bald 21 Uhr. Es wird Zeit, dass du kommst." "Ja doch, ja doch, bis gleich."

"Mr. Suri, Ihre Frau hat recht, Sie sollten sich auf den Weg machen." "Ja, ja", antwortet Dr. Suri gedankenverloren. Es kommt ihm vor, als hätte er jetzt zwei Frauen, die ihn bedrängen und immer irgendetwas von ihm wollen. ‚Vielleicht kann dieses Smartear ja sogar bald Gedanken lesen?‘, denkt er bei sich. Und er ist sich in dem Moment nicht sicher, ob dem nicht bereits so ist.

Er erhebt sich von seinem Stuhl, dreht sich um und schaut hinter seinen Rücken. Doch da ist niemand. Wer sollte da auch sein? ‚Ich bin vielleicht etwas überarbeitet in der letzten Zeit. Eine kleine Abwechslung tut mir sicherlich gut. Es ist ja immer sehr lebendig und unkompliziert bei Balu und seiner Familie. Balu und Chefarzt - dieses Schlitzohr. Wie hat er das denn wieder geschafft? Dieser alte Netzwerker. Die Personality-Show hat er sicherlich von seinem Vater abgeguckt. Politik und Medizinforschung war ja das Metier von seinem Alten. Und der war ein Meisterschwimmer im Haifischbecken der Politik‘.

Dr. Suri nimmt die Testergebnisse vom Schreibtisch und legt sie in die abschließbare Register-Ablage. Es ist über die Jahre selten geworden, dass er sich noch Daten aus dem Informationssystem der Klinik auf Papier ausdruckt. Er schaut sich noch einmal um, geht zur Tür und nimmt seinen dort gegen die Wand gelehnten zusammengefalteten E-Roller in die linke Hand und geht durch die bereits automatisch geöffnete Tür zum Hausflur hinaus. „Tür verriegeln!“, gibt er als Kommando an sein Smartear. „Tür verriegelt“, bekommt er leise als Bestätigung gemeldet. Er hätte die Tür auch mit seiner Klinik-Chip-Card verschließen können, jedoch nutzt er die nur noch selten. Wichtige Zugänge zur Klinikverwaltung und dem OP-Bereich öffnen sich seit Einführung des neuen Huwin-Systems durch die Gesichts- und Körper-Erkennung automatisch. Er geht durch den langen Flur der technischen Abteilung in Richtung Fahrstuhl. Auf dem Weg dorthin kommt ihm Dr. Fichte entgegen. Er arbeitet an der medizinischen Fakultät für OP-Technik in Bonn am Rhein. In Delhi begleitet Dr. Fichte aktuell die Einführung des technisch revolutionären Heidelberger OP-Roboters am Saket Hospital. Von den dafür eingeplanten drei Monaten sind bereits zwei Monate vergangen. Alles sieht gut aus bezüglich Einführung und Zeitplan.

„How are you?“ Beide bleiben kurz stehen und geben sich die Hand. Dr. Suri versteht Deutsch noch halbwegs brauchbar. Während seines zweijährigen Aufenthalts im Medizinstudium in Heidelberg hatte er sich die Sprachkenntnisse mit Interesse angeeignet. Das Sprechen gelingt ihm nicht mehr so zufriedenstellend. Daher unterhalten sich die beiden in aller Regel auf Englisch, was Dr. Suri bedauert, da er die Gelegenheit, seine Deutschkenntnisse wieder etwas aufzufrischen, gerne mehr nutzen würde. Zwar versteht auch das Smartear Deutsch, aber das ist ein anderes, seelenloses Deutsch und er möchte auch nicht, dass zu viele Aufzeichnungen davon eventuell ins Kommunikationsarchiv gelangen. Das Gestammel wäre vielleicht peinlich für ihn. Und bei dem ständigen „Können Sie bitte wiederholen, ich habe Sie nicht richtig verstanden“, kommt er sich vor wie ein kleiner Trottel. Daher nutzt er diese Möglichkeit nur selten - lässt sich aber manchmal kurze Texte vom Smartear ins Deutsche übersetzen und vorsagen.

„Ich bin furchtbar in Eile, Mr. Fichte. Meine Frau erwartet mich zuhause. Wir sind zu einem kleinen Umtrunk bei einem Freund von mir eingeladen.“, entschuldigt Dr. Suri sich, um keine Missverständnisse wegen seiner Kurzangebundenheit aufkommen zu lassen. „Klappt alles?“ „Alles bestens, sieht gut aus!“, antwortet Dr. Fichte, „Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Einen schönen Abend noch und viele Grüße an Ihre Frau.“ „Werde ich ausrichten. Wir können uns ja am Montagmittag in der Kantine treffen und dabei ein paar Dinge besprechen. Was halten Sie davon?“ „Ja, abgemacht, das geht bei mir. So um 13 Uhr?“ „Ja, in Ordnung, bestens.“, antwortet Dr. Suri und eilt nach einer kurzen Abschiedsgeste weiter Richtung Fahrstuhl. Als er um die Ecke kommt, öffnet sich die Fahrstuhltür bereits. Das Smartear hat alles vorarrangiert. Das gelingt in der Regel auch ad hoc, da Dr. Suri eine hohe Priorität im der Klinik hat. Er tritt in den Fahrstuhl. Sofort schließt sich die Tür wieder und der Fahrstuhl rauscht ohne Zutun von der 10. Etage ins Erdgeschoss. Manchmal kommt sich Dr. Suri bereits vor wie ein Statist in einem Film, den er nicht mehr wirklich versteht.

Dr. Suri tritt ins große Klinik-Foyer. Am Freitagabend gibt es kaum noch Menschen, die sich hier aufhalten. Er geht zum Ausgang und winkt beim Verbeigehen den beiden Frauen am Empfangsschalter zu. Draußen läuft er auf die andere Straßenseite und klappt seinen E-Roller aus.

Es ist noch immer schwül. Die Hitze füllt die Häuserschluchten der Stadt und der nebelige Dunst legt wie üblich einen Schleier über die Abenddämmerung. Zwar hatte es mittags wie aus Kübeln gegossen, die Straßen und der rotbraune Erdboden in dem kleinen Hain nahe der Zufa seit Jahren langsam hrt sind aber bereits wieder trocken und staubig.

Dr. Suri legt sich wie immer vor dem Start mit seinem E-Roller eine Schutzmaske über Mund und Nase, um sich so gut wie möglich vor den zahlreichen Partikeln der verschmutzten Luft in Delhi zu schützen. Trotz der seit Jahren wiederholten Zusicherungen seitens Stadtverwaltung und Politiker hat sich die Luftqualität immer noch nicht wie versprochen spürbar verbessert. Das liegt nicht ausschließlich daran, dass immer mehr Menschen in Delhi wohnen und arbeiten. Er hat das Gefühl, dass in der Sache zu viel gequatscht und zu wenig gehandelt wird. Sich jedoch selbst in dieser Sache politisch einzubringen, dazu hat er nicht die Zeit. Und irgendwie muss er sich eingestehen, dass er die freie Zeit lieber mit seiner Familie verbringt als bei endlosen Sitzungen und Diskussionen teilzunehmen. Er stellt seinen rechten Fuß auf das Trittbrett und lässt den kräftigen Elektromotor summend auf Touren kommen.

Es geht die Klinik-Zufahrt hinunter auf die Straße. Auf dem City-Bike-Way für Fahrräder und E-Zweiräder ist in der Saket-Enklave heute Abend kaum noch jemand unterwegs. Das ändert sich je näher Dr. Suri der Merauli-Barapur-Road kommt. Die Straße ist noch sehr belebt - das Hupen und Klingeln wie so häufig eine einzige Geräuschkulisse. Glücklicherweise nimmt die Anzahl der Fahrzeuge mit Benzin- oder Dieselmotor seit Jahren langsam, aber kontinuierlich ab. Er hat das Gefühl, dass sich die Luftqualität in der Stadt zumindest hinsichtlich der Auto-Abgase ein wenig verbessert hat. Allerdings werden die knatternden Mopeds und röhrenden Autos mit Benzinmotor besonders bei jungen Menschen immer beliebter und begehrter. Es gelingt ihm mal wieder, scheinbar wie auf wundersame Weise, die Barpur-Road ohne Schaden zu nehmen zu überqueren und anschließend auf der am City Forrest verlaufenden Cariappa Marg weiter in südliche Richtung zu fahren. Nach zirka zehn Minuten Fahrzeit erreicht er das Anupam-Garden-Quartier, das südlich vom City Forrest liegt. Hier wohnt er mit seiner Frau Amisha und seinen beiden Söhnen Rangan und Kiron in einer 4-Zimmer-Wohnung in der ersten Etage eines Wohnhauses in einer kleinen Seitenstraße nahe am Forrest.

Die letzten 50 Meter bis zu seinem Haus fährt Dr. Suri auf dem Bürgersteig der kleinen Seitenstraße. Er steigt vom E-Roller ab und faltet ihn zusammen. Mit seiner Apartment-Card, auch kurz als Apart-Card bezeichnet, öffnet er die Haustür und tritt in den verhältnismäßig großzügig angelegten Hausflur. Es ist angenehm kühl im Treppenhaus. Er schaut auf die Sicherheitskamera im Eingangsbereich. Auf jeder Etage sind diese kleinen, kaum als solche erkennbaren Kameras an den Flurdecken installiert. Sicherlich schaut der berechnend neugierige Hausmeister jetzt wieder auf den Bildschirm vom Sicherheitssystem, um zu sehen, wer mit wem gerade das Haus betritt. Dr. Suri weiß, dass einige aus dem Haus dem Hausmeister ab und zu ein kleines Schweigegeld geben, damit er nicht alles herumtratscht in der Nachbarschaft, von dem, was er so mitbekommt bei seiner subtilen oder manchmal auch offensiven Art, den Leuten hinterher zu spionieren. Am liebsten würde er diesen Burschen, der allem und jedem hinterher schleicht, loswerden. Doch die Mehrheit im Haus findet es gut, dass sie so einen aufmerksamen Hausmeister haben. Dr. Suri vermutet allerdings, dass der in einem wirklichen Ernstfall nicht helfen, sondern eher als erster die Flucht ergreifen würde. Diese Einschätzung hat er bisher nur mit seiner Frau geteilt. Beide haben bereits häufig über so manch köstliche Anekdote im Zusammenhang mit dem Hausmeister herzlich gelacht. Sie sind sich in der Sache Hausmeister darin einig, keinen für sie selbst überflüssigen Stress mit den Nachbarn zu riskieren. Sie haben nichts zu verheimlichen und haben dadurch manchmal das Gefühl, dass das den Hausmeister wurmt, da er sein kleines einnehmendes Haus-Spionage-Machtgewebe nicht auch gewinnbringend um die Familie Suri spinnen kann. Immerhin die junge attraktive und unkonventionelle Event-Managerin Saloni aus der vermieteten Wohnung im Erdgeschoss, wissen sie in der Angelegenheit Hausmeister mit gefühlt absoluter Sicherheit auf ihrer Seite.

Amal Suri geht mit weiten Schritten die Hausflurtreppe hinauf in den ersten Stock. Er hält die Apart-Card gegen den Sensor der Wohnungstür. Die Tür entriegelt sich und springt auf. Kaum hat er den Wohnungsflur betreten, sieht er seine Frau Amisha aus dem Wohnzimmer kommend auf ihn zu eilen.

Amisha ist in ein langes, in Rottönen gehaltenes indisches Sari gehüllt. Ihr Haar ist offen, schwarz-glänzend und fällt ihr bis weit über die Brust herab. Um ihre Handgelenke trägt sie auffälligen, bunten und zugleich edel anmutenden Schmuck, der laut klappert, als sie so hastig auf ihren Mann zu schreitet. Für einen Augenblick erschlägt es Amal beim Anblick seiner Frau wieder fast einmal die Sprache. Diese Frau im Flur wirkt so strahlend und unnahbar schön, nahezu fremd. Und sehr groß. Wie aus einem der unzähligen Bollywood-Filme oder einer der Illustrierten, denkt er bei sich. Eine Duftwolke milden Puders schwillt ihm entgegen.

Jetzt ist Amisha ganz nah bei ihm, und ihr mit knallrotem Lippenstift umrandeter Mund öffnet sich: „Endlich, da bist du ja, Liebling!“, fährt sie ihn in einem harschen, anklagendem Ton ungeduldig an, und entweiht damit in einer Sekunde das Traumbild der Bollywood-Schönheit zu einem Trugschluss der Phantasie. Amishas dunkle Augen blitzen Amal vorwurfsvoll an, und ihre Haut um die bemalten Mundwinkel herum legt sich in Falten, und auch die zwei Hautvertiefungen zwischen den Augen über dem Nasenrücken drücken sich unter dem dicken Makeup unüberschaubar deutlich hervor. Amal ist genervt, aber hält Stillschweigen. Seine Frau hat, wie man so schön sagt, zu Hause „die Hosen an“.

Ganz anders als es Amal von seinem Berufsleben her gewöhnt ist, bestimmt im heimischen Umfeld seine eigene Frau über „Haus und Hof“, wie man so schön zu sagen pflegt. Ja, sie kann wirklich sehr dominant sein, und duldet manchmal keine Widerrede. Oft wäre es Amal lieb, sie würde nicht so viel reden und insbesondere nicht so schrill und durchdringend herumschreien. Was sie allerdings selten tut. In Amishas Gegenwart fühlt er sich immer ein wenig kleiner und willensschwächer. Er bewundert seine Frau für ihre Durchsetzungskraft und starke Persönlichkeit. Das hatte ihm ja auch damals so imponiert, als er sie auf einer privaten Feier unter jungen Studierenden näher kennengelernt hatte. Eine sehr kluge, intellektuell bewanderte Inderin aus gutem Hause, hatte er sofort gedacht, und war angetan von ihrer Weltoffenheit und modernen Lebenseinstellung. Mit ihren durchaus für Inder als markant zu bezeichnenden Gesichtszügen mit langer, leicht gebogener Nase und ihrer recht groß gewachsenen Statur sowie ihrer souveränen Ausstrahlung war sie keinesfalls zu übersehen gewesen, und hatte in Studententagen unzählige Blicke und Avancen von Verehrern auf sich gezogen.

Amal hatte sich seinerzeit mehrmals darum bemühen müssen, eine richtige Verabredung zu zweit von ihr zugesagt zu bekommen, zuvor hatten sie sich immer wieder mehr oder weniger zufällig auf den Studentenevents getroffen. Amisha hatte letztendlich beeindruckt, dass Amal zielorientiert und konsequent seine Studien betrieben hatte. Erfolgreich eine Stufe nach der anderen nach oben kletterte. Einen liebevollen, ehrlichen Mann mit Niveau hatte sie gesucht und in ihm gefunden. Vielleicht war die Heirat dennoch zu früh gewesen, denn ab der Geburt des ersten Sohnes hatte sich Amisha trotz ihrer eigenen beruflichen Ambitionen und gutem Vorankommen im Studium dann doch überwiegend dem Familienleben gewidmet. Geblieben waren ihre Begabung und ihr Interesse für Sprachen. Von zu Hause aus war sie noch etwa 10 Jahre als Lektorin und Übersetzerin tätig gewesen, doch war sie nie in einer festen Anstellung eines Unternehmens, sondern hangelte sich von Auftrag zu Auftrag. Amal glaubte oft, eine gewisse Verbitterung über die vergebene berufliche Chance und weitgehend ungenutzt gebliebene kognitive Begabung seiner Frau gespürt zu haben, aber niemand konnte die Zeit zurückdrehen und die eventuell falsch gestellte Weiche der Lebensplanung umkehren.

Amisha ist eben Amisha, dachte er dann, und hatte sich irgendwann damit arrangiert, dass seine Frau hinter ihren Möglichkeiten zurück geblieben war, und im Gegensatz zu ihm, der mit jedem Berufsjahr die Treppe des Erfolges eine Stufe höher erklomm,

sie eine Stufe nach unten stieg.

Er hatte das alles ganz genau analysiert, und sowohl mit Amisha als auch mit einem seiner besten Freunde durchdiskutiert mit dem Fazit, das man es so nehme müsse wie es sei und womöglich von den Göttern gewollt ist, und dass ohnehin wegen den Kindern einer der Ehepartner seine Karriere hätte opfern müssen. Nun sind sie ein eingespieltes Team, und die Aufgaben klar verteilt. Amal ist sehr stolz auf die beiden Söhne Kiron und Rangan, und kann von sich sagen, dass er ein wirklich glücklicher Mann und Vater ist, und seine Frau eine Partnerin auf Augenhöhe, nicht selbstverständlich in der indischen vom Patriacha geprägten Gesellschaft! Ihm ist es lieb so, und er weiß, dass Amisha ihm beruflich den Rücken frei hält. Ohne ihre Unterstützung hätte er nicht immer die Stärke gehabt, alles durchzustehen, und die Sinnfindung seines Tun und Seins wäre ihm an manchen endlos langen Tagen in der Klinik wie ein Absurdum vorgekommen. Amishas aktuelle Leidenschaft für Bollywood-Filme und Society-Parties hat er längst akzeptiert, und freut sich, dass Amisha mit Hema, der Frau seines Freundes Balu, eine innige Freundin und Verbündete gefunden hat.

Amal und Amisha umarmen sich kurz und gehen gemeinsam ins Wohnzimmer. Amal schaut nach der Ankunft von seiner Klinik häufig erst einmal nach seinen Kindern. Seit diese älter geworden sind, springen sie ihm allerdings nicht mehr freudig entgegen, sondern gucken häufig nur kurz hoch. So auch an diesem Abend. Als kurze Begrüßung bekommt er das übliche „Hi, Dad“ zu hören. Beide schauen aktuelle Video-Clips der regionalen interaktiven tic-today-Delhi-Show. Da hat er keine Chance auf Aufmerksamkeit und regt sich wie üblich ein wenig darüber auf. Seine Frau beschwichtigt in gewohnter Weise in dieser Situation. Alles verläuft wie gehabt, gleich einem fest eingeübten komödiantischen Ritual. Die Saloni aus dem Erdgeschoss hat seinen beiden Söhnen vor Wochen einmal versprochen, sie für einen Nachmittag mit in die Show zu nehmen. Saloni arrangiert als Event-Managerin die Teilnahme von prominenten Gästen an der Veranstaltung. Um als geladener Gast an der Show oder der After-Show-Party teilnehmen zu können, werden horrende Gelder geboten. Seit diesem Versprechen sind seine beiden Söhne noch mehr begeistert von diesem Event und von Saloni. Im Erdgeschoss lassen sie sich, wie er hin und wieder zufällig beobachtet hat, auffällig viel Zeit beim Rein- und Rausgehen. Ihm ist klar, weswegen. Dass erhöht die Chance, Saloni zufällig zu begegnen. Und wenn sie Glück haben und die junge Frau nicht in Eile ist, dann scherzt sie sogar mit den beiden Jungs herum und lässt ihr schauspielerisches Können erahnen. Amal geht flinken Schrittes ins Bad. „Beeile dich“, ruft Amisha ihm nach.

Amal sieht in den Spiegel und streicht mit einer Hand über sein bereits ergrautes Haar. Er legt sein Klinik-Smartear auf eine Ablage neben dem Spiegel. Heute Abend will ich es nicht mitführen, beschließt er. Wieder schaut er in den Spiegel. Sein Gesicht ist fülliger geworden. Die relativ helle Gesichtsfarbe passte gut zusammen mit dem gütigen und zugleich freundlichen Gesichtsausdruck, findet er, und verleihe seiner Position als Chefarzt eine vertrauenerweckende Würde. Die reichen Patienten, und es gibt eigentlich nur reiche Patienten in Salet Hospital, achten darauf, von wem sie operiert und von wem sie gepflegt werden. Das ist ein Grund mehr, dass die Einführung des OP-Roboters am Ende erfolgreich verläuft. Bei Einstellungen und Beförderungen spielt die Kastenzugehörigkeit noch immer eine wichtige Rolle. Zwar nicht mehr die beinahe allein entscheidende, wie noch zu Zeiten seiner Eltern. Allerdings anders als in den großen Städten Indiens hat sich in diesem Zusammenhang auf dem Land und in den kleineren Städten seitdem nicht wesentlich etwas geändert. Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich sogar seit dieser Zeit verhältnismäßig deutlich vergrößert. Kinderarbeit und Ausbeutung in jeglicher Form sind traurige tagtägliche Realität für die Mehrzahl der Menschen in Indien geblieben. Das vererbte Herrschaftsgefüge und der Glaube an die Wiedergeburt sind weiterhin fest verankert im Denken und der unterwürfigen Selbstzuordnung der Menschen.

Für den eigenen Haushalt haben seine Frau und er vor langer Zeit beschlossen, eine junge Haushaltshilfe aus der untersten Kaste zu beschäftigen. Sie hilft wochentags seiner Frau bei den täglichen Dingen und ist mehr als dankbar dafür, dass sie gut behandelt und bezahlt wird. Das ist selbst in Delhi trotz wachsender Toleranz und Problembewusstsein keine Selbstverständlichkeit. Wie sehr hat sich ihre Haushaltshilfe über den geschenkten E-Roller gefreut und war darüber beinahe in Tränen ausgebrochen. Sie kann dessen Akku während ihrer Arbeitszeit unten im Keller an den dort vorhandenen Ladestationen aufladen. Der Weg von und nach Hause ist damit für sie schneller und ungefährlicher möglich als wenn sie mit den Bussen die Neun-Kilometer-Strecke zurückzulegen müsste. Das Risiko als Frau in den öffentlichen Verkehrsmitteln sexueller Gewalt ausgeliefert zu sein, hat sich in all den Jahrzehnten in Indien trotz einiger Schutzmaßnahmen wie Überwachungskameras nicht wirklich wesentlich minimiert, und stellt nach wie vor eine riesengroße gesellschaftliche und politische Herausforderung dar. Sie hat so als Tochter ein wenig mehr Zeit und Kraft für ihre kleinen Geschwister, für den Einkauf, den Familienhaushalt in der kleinen Wohnung am Stadtrand und ihre lungenkranken Eltern.

„Beeile dich“, hört Amal seine Frau wieder rufen. Er geht schnell unter die Dusche, trocknet sich anschließend ab, zieht die vorsorglich zurechtgelegten Kleidungsstücke für den Abend an und springt durch die von ihm geöffnete Tür raus aus dem Badezimmer in den Wohnungsflur. „Fertig, Liebste!“, ruft Amal, hebt schauspielerisch seine Arme und dreht sich im Kreis. Amisha lächelt erfreut, nimmt schnell einen kleinen Parfümflacon aus ihrer bereits umgehängten Handtasche und besprüht Amal ein wenig mit Rosenduft. Amal will protestieren, lässt es jedoch sein. Beide rufen ihren Kindern noch ein Adieu zu und erhalten ein kurzes „Viel-Spaß“ als Antwort. Sie eilen die Flurtreppe hinunter zur Haustür hinaus und schauen sich um. Der Hausmeister steht draußen auf der Straße vor dem Haus als hätte er gewusst, dass sie gleich zur Tür herauskommen und zeigt auf eine E-Rikscha, die auf der anderen Straßenseite steht. „Das ist bestimmt unsere Rikscha.“, vermutet Amisha. Amal hebt etwas widerwillig seine rechte Hand zum Danke-Gruß für den gegebenen Hinweis durch den Hausmeister. „Sicherlich schaut er uns gleich nach, um zu sehen, in welche Richtung wir abbiegen“, sagt Amal leise zu seiner Frau. Sie lächelt und macht dabei mit ihrer rechten Hand eine Ist-doch-egal-Geste während beide die Straße überqueren und auf die wartende E-Rikscha zu gehen.

Sie nehmen hinten auf der luftigen Dreirad-Rikscha Platz. Es wäre sogar noch Platz für eine dritte Person, auf dem leeren Vordersitz der selbstfahrenden E-Rikscha. Eine sanfte, aus dem Lautsprecher kommende Frauenstimme lässt sich das bereits bekannte Fahrziel bestätigen, nennt anschließend sofort die voraussichtliche Fahr- und Ankunftszeit am Ziel und wünscht eine gute Fahrt. Die Frage nach musikalischer Unterhaltung beantworteten beide erfreut und wie abgesprochen mit „Ja“, Dann geht es los und die Rikscha nimmt langsam Fahrt auf. Amal schaut noch einmal zurück in Richtung ihres Hauses und sieht, wie der Hausmeister dies bemerkt und ihm daraufhin nachwinkt.

Wie von Geisterhand gesteuert fährt die E-Rikscha ganz ohne Fahrer sicher durch lebhafte kleine Nebenstraßen zur Lado Sarai. Ohne eine Ampelkreuzung in diesem Abschnitt wäre die Hauptstraße zu dieser Zeit so gut wie nicht überquerbar. Ein schier endloser Strom von Autos, Rikschas, Mopeds, Bikes und dazwischen von Menschen oder Tieren gezogene Lastenkarren strömt an ihnen lärmend vorbei, während sie wie so viele andere in der Nebenstraße auf das grüne Ampelsignal zur Weiterfahrt warten. In den Minuten, die sie ungeduldig wartend in der Fahrzeugschlage vor der Ampel stehen, vermischen sich Melodien und Gesang der neusten indischen Schlager aus den Lautsprechern der Rikscha mit der übrigen Geräuschkulisse der Straße. Statt dass diese Melodien beruhigend auf Amisha wirken, bemerkt Amal, dass seine Frau zunehmend nervöser wird. „Wann geht das hier endlich weiter“, ruft sie schließlich etwas ungehalten und laut aus. Amal will gerade ein paar besänftigende Worte zu Amisha sagen, als aus den Lautsprechern eine blecherne Stimme etwas kaum Verständliches krächzt. Es ist die Verkehrsauskunft der Stadt, die sich unerwarteter Weise eingeschalten hat, um die vermeintliche Frage zu beantworten. Das System geht vermutlich davon aus, dass diese doch eher rhetorisch gemeinte Frage seiner Frau, eine ernsthaft an das System gestellte Frage zur hier gegebenen Verkehrssituation ist. Amal und Amisha schauen sich an und fangen an zu lachen. „Hast du das verstanden, Amal?“ „Nicht so ganz, Liebling. Ich meine verstanden zu haben, dass es noch drei Minuten dauert. Dass um diese Zeit die Lado Sarai eine hohe Vorfahrtspriorität hat. Und dann war da noch etwas mit einer Bitte um Geduld. Ja, doch, doch, von Geduld war die Rede. Und von einer guten Weiterfahrt.“

Endlich springt die Ampel auf Grün und die wartende Fahrzeugschlage setzt sich langsam in Bewegung. Ihre Rikscha rollt gerade noch so bei Gelb an der Ampel vorbei und biegt nach links in die große Straße. Amisha fasst sich mit ihrer rechten Hand in die Herzgegend und macht die Geste eines Stoßgebetes in Richtung Himmel und sieht Amal erleichtert an. Amal legt seinen rechten Arm um ihre Schulter und zieht seine Frau etwas näher an sich heran. Sie lehnt ihren Kopf an den seinen, wobei sie mit einem tiefen Seufzer ausatmet. Nach kurzer Fahrt biegt die Rikscha hupend nach rechts ab und fährt in Richtung Saket Park und dem Golf Club zur Pragy Marg.

Amal denkt noch ein wenig an seine Söhne. Er ist älter geworden und auch seine Söhne. Gerade kommt es ihm so vor, als hätte er irgendetwas verpasst. Nur gut, dass sie in eine gute Schule gehen und fleißig lernen, soweit er weiß. Er freut sich darüber, dass die märchenhafte Saloni das Haus und ihre beiden Söhne mit ihrem natürlichen Charme und ihrer schauspielerischen Anmut etwas verzaubert. Die etwas muffige und angestaubte Atmosphäre im Haus hat sich spürbar gewandelt, seitdem sie dort unten wohnt. Es ist lebendiger geworden. Irgendwie scheinen die Leute jetzt freundlicher miteinander umzugehen und unten im Hauseingang riecht es nach edlen Düften von Räucherstäbchen statt nach den unangenehmen Putzmitteln, die der Hausmeister immer verwendet. Amal hat das Gefühl, dass das alles eine positive Wirkung auf seine Söhne hat. Er ist auch nicht eifersüchtig darauf, dass er Salonis Versprechen, seine beiden Söhne demnächst mit zur tic-today-Delhi-Show zu nehmen, kaum überbieten kann - höchstens ein klein wenig eifersüchtig, muss er sich jetzt doch eingestehen.

Was er noch nicht weiß ist, dass Dr. Klaus Fichte durch Zufall Bekanntschaft mit Saloni gemacht hatte. Und Klaus weiß noch nicht, dass Saloni scheinbar zufällig im selben Haus wohnt wie Dr.Suri. Es war abends in einem Park-Café ganz in der Nähe. Sie saß alleine an einem Nachbartisch von Klaus. Als er zu ihr herüber sah, sah er, dass sie von faszinierender Schönheit ist und außergewöhnlich gekleidet war. Dabei strahlte sie trotz ihrer schillernden Kleidung und dem glänzenden Schmuck eine beinahe rätselhafte Natürlichkeit aus. Als er nicht anders konnte, als nochmals zu ihr zu schauen, hatte sie ihm etwas provokant zugezwinkert und dabei auffordernd zugelächelt als hätte sie gewusst, dass er nochmals zu ihr schauen wird.

Klaus war fast wie elektrisiert und zugleich etwas verunsichert aufgestanden und hatte sie gefragt, ob er sich zu ihr setzen darf. „Gerne“, hatte sie geantwortet. Klaus war überrascht, hatte nicht unbedingt diese klare, beinahe bestimmend und zugleich verheißungsvoll in der Betonung ausgesprochene Antwort erwartet. Er ließ sich langsam am Tisch auf einen Stuhl ihr gegenüber nieder und sah dabei wie in Trance in ihr zauberhaftes Gesicht. Sie lächelte ihn dabei an. Er kam sich vor als träume er das alles nur und sei zugleich völlig unerwartet und versehentlich in einen dieser märchenhaften Bollywood-Filme geraten. „Ich habe dich erwartet“, sagte sie leise und zugleich irgendwie eindringlich. ‚Sicherlich verwechselt sie mich jetzt mit jemanden - schon eine kuriose Situation‘, hatte Klaus damals gedacht. War aber nicht unglücklich gewesen über diesen Zufall offensichtlicher Verwechslung, wie es diese in den Verwechslungskomödien der Bollywood-Filme sicherlich auch des Öfteren zu sehen gibt. Oder hatte er ihre Worte gerade nicht richtig verstanden? Er fand jedoch keine Zeit mehr ihre Worte aus seiner frischen Erinnerung wieder hervor zu holen und dabei zu versuchen, diese phonetisch zu analysieren. Schnell entwickelte sich, zu seiner Verwunderung und zugleich mit einer Empfindung seltsamer Vertrautheit in ihm, zwischen beiden ein so unbefangen lebhaftes Gespräch, als wären sie sich tatsächlich bereits häufiger begegnet, um über sich und die Welt zu sprechen und gemeinsam darüber zu lachen.

Sie waren nach dem Aufenthalt im Café noch durch den Park spaziert, hatten sich weiter unterhalten und über viele kuriose Kleinigkeiten amüsiert, die es im Park zu sehen gab. Sie hatte ihn gefragt, was er in Delhi macht und woher er kommt. Ihr Smartphone hatte plötzlich geklingelt und sie gab ihm nach dem kurzen Gespräch am Apparat zu verstehen, dass sie diesen Anruf bereits im Café erwartet hätte und leider jetzt noch zu einem wichtigen geschäftlichen Treff müsse. Es gehe um eine Show und einen eitlen Künstler, den sie noch in die richtige Richtung drehen müsse. Sie steckte Klaus gekonnt und mit balletteuser Geste eine kleine Karte in die Brusttasche seines Sakkos, drehte sich zweimal um sich selbst, fort von ihm und ihm war als flöge sie anschließend immer kleiner und zauberhafter werdend einem funkelndem Sternenhimmel entgegen, der sich vor ihm auftat.

Die Rikscha ist in der Pragy Marg am Saket angekommen. Amal bezahlt mit seiner Smartphone-PayApp. Seine Frau und er schauen der kleinen Rikscha noch nach, die zurück in Richtung der Hauptstraße fährt. Ein seichter Abendwind weht vom Park herüber. Es ist noch immer sehr warm und etwas schwül. Doch sieht es nicht danach aus als ob es später noch regnen würde. Amal schaut auf sein Smartphone. Es ist kurz vor 22 Uhr. Beide gehen auf das Wohnhaus zu, in dem Balu mit seiner Frau und seinen beiden Kindern wohnt. Sie besitzen in dem Haus eine eigene Penthouse-Wohnung über zwei Etagen. Das Haus ist höher als die Häuser in der Nähe und dennoch gibt es nur zwölf weitere Eigentumswohnungen darin. Amal hat noch nie nachgezählt. Die Wohnung von Balu hat bestimmt mehr als 200 Quadratmeter und eine Dachterrasse mit einem kleinen Swimmingpool, umsäumt von sechs gestutzten Palmen.

Amal hatte Balu während seines Medizinstudiums kennengelernt. Balu war damals gerade von seinem zweijährigen London-Aufenthalt nach Delhi zugekehrt. Sein Vater lebte zu der Zeit noch. Er war Leiter eines Forschungsinstituts und tief in die Politik involviert. Balu hatte von ihm nicht nur eine Menge Geld geerbt, sondern auch das Interesse Netzwerke zu spinnen. Es macht ihm Spaß, nur der Kontakte und dem Gequatsche wegen in einem der teuersten Fitness-Clubs der Stadt den eifrigen Sportler zu mimen. Er weiß allerdings selbst, dass er in der Rolle etwas unglaubwürdig daher kommt. Aber das ist ihm egal und den anderen auch. Die Runden sind immer lustig und unterhaltsam, besonders, wenn Balu dabei ist. Das Restaurant im Erdgeschoss vom Fitness-Club ist hervorragend und manchmal, wenn er zu spät kommt, geht er gleich ins Restaurant und wartet dort auf seine Sportfreunde. Eigentlich bräuchte Balu nicht arbeiten. Aber dann würde er sich schnell langweilen und wozu dann noch an Netzwerken herumstricken. Mit 49 Jahren ist er jetzt zum Chef-Arzt ernannt worden. Die Klinik ist nur etwa drei Kilometer von hier entfernt und befindet sich zwischen der Universität und dem Flughafen Indira Gandhi. „Alles bestens“, sagt Balu häufig zu Dingen, die ihm gefallen. So auch zu allem was seine Arbeit in der Klinik betrifft. Er ist dort mehr mit Marketing als mit wirklich klinischen Themen befasst. Das Telefon ist das wichtigste ärztliche Instrument bei seinem Job.

Am Hauseingang werden sie von einem Mann, der ein weißes Bollywood-Kostüm mit einer breiten roten Binde um den Bauch herum trägt, empfangen. Er steht neben einem kleinen Hochtischchen mit weißer Decke und schaut beide prüfend an. „Wir sind eingeladen bei Familie Chandra“, gibt Amal zu erkennen. Der Mann schlägt die kleine Mappe, die auf dem Tischchen liegt, auf und fragt nach dem Namen von Amal. „Doktor Suri“, antwortet er. Der Mann macht mit einem Kugelschreiber einen Haken neben seinem Namen und überreicht beiden eine Karte mit einem lustigen Bild von Balu und seiner Familie. Der Mann öffnet die Haustür, macht eine weit ausgeholte Willkommensgeste und wünscht einen wundervollen Abend.

Amal und Amisha fahren mit dem Fahrstuhl bis ganz nach oben. Vor der Wohnungstür steht wieder ein Mann im Bollywood-Kostüm. Sie zeigen ihre Karten, der Mann lächelt und öffnet mit gleicher Geste, wie der Mann unten, die Wohnungstür. Wie von Balu ausdrücklich betont, haben sie keine Geschenke oder sonstige Aufmerksamkeiten mitgebracht. „Ihr seid das Geschenk. Alles andere was ich brauche habe ich bereits - meine liebe Frau, meine lieben Kinder und mein kleines Bäuchlein.“, hatte Balu bei der Einladung gesagt. Im großen Wohnzimmer mit der Glasfront zur Terrasse hin nimmt ein Mann im weißen Bollywood-Kostüm eilends ein Tablet mit mehreren Champagner-Schalen darauf von einer Anrichte und eilt lächelnd auf die beiden Neuankömmlinge zu. „Bitte nehmen Sie sich ein kühles Glas Champagner. Das ist sehr erfrischend und wird Ihnen sicherlich gut tun. Mister Dr. Chandra ist draußen auf der Terrasse und erwartet Sie bereits.“

Durch die offene Terrassentür war die übliche rhythmische Partymusik zu hören, die Stimmen der Partygäste und das Rufen von Rakesh, dem 13-jährigen Sohn von Balu, „Papa, komme doch mal, komme doch mal zu mir!“ „Gleich, mein Sohn.“

„Ah, da seid ihr ja.“, ruft Balu, als Amal und Amisha auf ihn zugehen. Er faltet seine Hände vor der Brust und verbeugt sich leicht in ihre Richtung. Amal und Amisha stellen ihre Champagner-Kelche auf einen nahestehenden Bistro-Stehtisch und erwidern seinen Gruß in gleicher Weise. Es sind bereits mehr als zehn Gäste auf der Terrasse versammelt, wie Amal mit einem schnellen Blick abschätzt und gerade kommen zwei weitere Gäste durch die Terrassentür schreitend hinzu. „Amisha, Amisha, komme doch zu uns herüber!“ Es ist Hema, Balus Frau, die Amisha zu sich ruft. Sie hat ihre langen schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und trägt einen auffälligen, tief herabhängenden dezent farbigen Ohrenschmuck passend zu ihrem weit ausgeschnittenen Cocktailkleid. Hema ist Kinderärztin und arbeitet in Teilzeit in einer Gemeinschaftspraxis mit. Sie liebt Cocktailpartys und große Empfänge.

„Papa, komme doch endlich mal!“ „Amal, mein bester Freund, lass uns schauen, was Rakesh von mir will.“ Beide gehen auf die Terrassenecke zu, in der zwei etwas größere Tische stehen. An einem der Tische sitzt Rakesh vor einem Laptop und einem kleinen daneben liegenden Gerät. Am anderen Tisch sitzt Balus 14-jährige Tochter Reena mit einer Freundin aus dem Haus. Die Kinder springen sofort auf, als sie sehen, dass ihr Vater von Amal begleitet wird und verbeugen sich vor dem herannahenden Begleiter. Balu sieht, dass seine Tochter mit ihrer Freundin Schach spielt. „Schaue dir das mal an, Amal. Das hätte meinem Vater gefallen. Schon vor zwei Jahren hatte ich bereits keine Chance mehr gegen sie zu gewinnen. Ich verstehe auch nicht, wie man stundenlang vor einem Brett sitzen kann, um über den nächsten Schachzug nachzudenken. Sicherlich wird aus ihr einmal eine Wissenschaftlerin und sie wird in der Wissenschaft aufblühen wie seinerzeit mein Vater. Du weißt ja, für mich hatte Wissenschaft nie einen wirklichen Unterhaltungswert. Kurz nachdem mein Vater verstorben war, hatte ich ja im Institut meines Vaters aufgehört. Er hätte mich enterbt, wäre ich vor seinem Tod vor der Wissenschaft geflüchtet. Aber es war ihm wahrscheinlich klar, dass es so kommen wird. Nur wissen wollte er es eben nicht. Es war ihm immer schwer gefallen, zu verstehen, woran ich gerade arbeite, da ich es selber nicht wirklich verstanden hatte. Aber zumindest gut verkaufen konnte ich es.“ Balu lacht schallend auf, als er das sagt.

„Mein Sohn, was gibt es zu berichten?“ Eigentlich ist es Balu bereits ziemlich klar, wieso ihn sein Sohn zu sich ruft. Er hatte ihm nachmittags ein kleines Paket in die Hände gegeben, mit dem Hinweis, dass er das Spielzeug einmal ausprobieren solle. Es sei ein interessantes, tolles neues Spielzeug. Balu hatte es am Tag zuvor von einem Fitness-Club-Kumpel überreicht bekommen. Der arbeitet für das Verteidigungsministerium und versorgt die Runde immer mit aktuellen Geheimnissen und Neuigkeiten aus seiner Branche. „Du hast doch einen Sohn, der sich gut mit Computer und allem drum herum auskennt.“, hatte er zu Balu gesagt, „Hier ist ein neues High-Tech-Spielzeug, das getestet werden soll. Ganz interessant und innovativ. Gib das doch deinen Sohn und sage ihm, er soll es ausprobieren. Bin gespannt, ob er damit wirklich zurechtkommt. Das System soll kinderleicht sein, wird behauptet. Ich selbst kenne mich mit Computer nicht so gut aus und traue diesen üblichen Behauptungen keinesfalls. Bin wirklich gespannt. Weißt du, es handelt sich um eine kleine Drohne, die mit Radarsystem, Aufklärungsdetektoren und großer Reichweite. Einsatz bei Dunkelheit und schlechtem Wetter kein Problem, wird jedenfalls behauptet. Das Besondere ist, dass diese Drohnen sehr klein sind, gegnerische Stellungen erkennen können und die entsprechenden Geokoordinaten der Zielgebiete an autonome Selbstfahr-Raketensysteme geben. Diese feuern die optimale Anzahl von kleinen Raketen innerhalb weniger Sekunden auf das Zielgebiet ab. Die Raketen können während ihres kurzen Fluges nachjustiert werden und lassen für die Ärzte am Ende nicht viel Arbeit übrig. Die gegnerische Partei muss nur noch die Daten der Gefallenen archivieren. Damit ist der Fall dann abgeschlossen. Die eigenen Truppen können derweil weiterhin in ihren Bunkerstellungen Tee schlürfen und im Fernseher Filme anschauen. Das wäre natürlich phantastisch für Indien und könnte helfen, den Kaschmir-Konflikt zu beenden. Gegner mit herkömmlicher Bewaffnung haben überhaupt keine Chance mehr. Die verrecken schon beim Anmarsch.“

„So etwa, darum geht bei der Drohnen-Sache.“, ergänzt Balu leise zu Amal. „Worum geht es nochmal bei dem ewigen Kaschmir-Konflikt im Kern?“, fragt Amal leicht ironisch seinen Freund Balu. „Weiß es auch nicht mehr so genau.“, antwortet Balu, “Ohne diesen Konflikt wird es eventuell zu langweilig in der Politik. Daher werden diese neuen Waffensysteme dort wahrscheinlich auch nicht eingesetzt werden.“ Beide lachen.

„Schau, Papa - hier, das ist ein Bild von unserer Terrasse, oben aus der Luft aufgenommen von der Drohne.“, sagt sein Sohn aufgeregt und stolz, dass er mit Kinderhand alles für den Einsatz der Drohe hat arrangieren können. „Siehst du, die hellen Punkte auf dem Bild, dass seid ihr und die ganzen Leute, die heute Abend hier sind. Papa, weißt du, was die Fadenkreuze bei den hellen Punkten zu bedeuten haben?“ „Nein, mein Sohn, nicht wirklich. Und ich will es auch jetzt gar nicht wissen. Toll, dass du das geschafft hast. Packe das alles bitte wieder in das kleine Paket.“ „Mache ich, Papa. Darf ich die Drohne noch einmal über die Nachbarhäuser fliegen lassen?“ „Meinetwegen, dann soll aber Schluss sein damit. Versprochen?“ „Versprochen!“, antwortet Rakesh.

Der Abend auf der Terrasse verläuft wie geplant. Alle Gäste werden gut unterhalten oder unterhalten sich gegenseitig. Champagner und Cocktails werden gereicht und dazu zu späterer Stunde ein paar leckere Snacks. Balu ist in guter Stimmung und kommt so richtig in Fahrt, nachdem seine Kinder schlafen gegangen sind.

Amal hat zwischendurch an der Brüstung der Terrasse gestanden und zum diesigen Nachthimmel hinauf geblickt. Er hat an die nächste Woche gedacht. An die beiden reichen Familien aus der Textilbranche und die Testergebnisse, die er den Familien nach nochmaliger Prüfung mitzuteilen hat. Und an diese aktuellen Statistiken. ‚Aber jetzt ist erst einmal Wochenende‘.

Es ist nach drei Uhr morgens, als er und seine Frau sich von Balu und seiner Frau verabschieden und mit der herbeigerufenen Rikscha zurück zu ihre Wohnung fahren. Der Morgen graut bereits. Beide sind müde. Es war ein toller Abend gewesen. Sie sind glücklich und zufrieden über ihr Leben und froh darüber, sich bald in ihre Betten legen zu können.

1.2 Bonn - Bad Godesberg - Die Rheinaue

Die Zeiten für alle, die mit Tourismus zu tun haben, sind schwieriger geworden am Rhein. Seit drei Jahren führt der Rhein im Sommer nicht mehr genügend Wasser, damit die Ausflugsdampfer mit den sonst üblicherweise vielen Touristen an Bord den Fluss rauf und runter fahren können. So sind diesen Sommer nur noch selten Touristen am Rhein zu sichten. Etwas verdreht ließe sich sagen, dass diese damit zur eigentlichen Touristen-Attraktion geworden sind - zumindest aus Sicht der darbenden Hoteliers.

Zuerst blieben im Sommer die deutschen und europäischen Gäste weg und seit vorigem Jahr auch die zahlreichen chinesischen Touristen mit ihren gut gefüllten Reiseschatullen. Es hatte sich also bis nach China herumgesprochen. Wenn wundert das?

Eberhard Fichte sitzt auf einer Bank nahe vom eigentlichen Rheinufer. Die Kiesel vom jetzt trocken liegenden Flussbett glänzen in der Mittagssonne. In der Ferne, mehr zum rechten Ufer hin, rinnt noch ein wenig Rheinwasser flussabwärts. Ihn schmerzt dieser Anblick. Er denkt an seine Kindheitstage zurück, als sie am Rheinufer gespielt, Steine ins Wasser geworfen und vergnüglich vorbei fahrende Frachtkähne und Passagierschiffe beobachteten hatten. Es war eine unbeschwerte schöne Kindheit hier am Rhein und das besonders während der Karnevalszeit.

Er hat ein altes Mini-Tablet dabei und schaut in den Email-Empfang. Tatsächlich eine Mail von seinem Sohn Klaus aus Neu Delhi gerade eingetroffen. „Es muss bereits Nachmittag sein in Delhi.“, denkt er sich beim Öffnen der Email. Damals, als er noch selbst ein Hotel in Bonn hatte, hatte er gehofft, dass sein Sohn eines Tages die Nachfolge antreten wird. Klaus hat stattdessen ein Medizinstudium an der Bonner Maximilian-Universität begonnen und ist anschließend in der Wissenschaft geblieben. ‚Vielleicht ist alles gut so, wie es gekommen ist‘, denkt er jetzt mit ein wenig Wehmut daran zurück. Das Hotel war sein Lebenswerk. Er hatte sich schweren Herzens schließlich davon getrennt und durch den Verkauf in fremde Hände übergeben. Seine Krebserkrankung und die damit verbundene Chemotherapie ließen ihm keine Wahl. Er war durch die Erkrankung für lange Zeit zu kraftlos gewesen, um das Hotel mit dem notwendigen Einsatz weiterführen zu können. Zum Glück ist er wieder vollständig genesen und zudem versteht er sich mit dem neuen Besitzer glücklicherweise ganz gut. Ab und zu schaut er in seinem alten Hotel-Zuhause vorbei. Es gehört sehr viel Mut dazu, dass Tom - er duzt sich seit einiger Zeit mit dem neuen Besitzer - trotz der momentanen Umsatzeinbrüche zur Sommerzeit und keiner begründeten Aussicht auf Besserung für die nächsten Jahren, nicht daran denkt, aufzugeben. Tom ist, wie er es war, mit Herz und Seele Hotelier und freut sich über jeden zufriedenen Gast - besonders in dieser misslichen Situation.

Im Textfenster des Email-Programms werden sind jetzt die Textzeilen der Email sichtbar. Eberhard freut sich, eine Nachricht von Klaus erhalten zu haben, vergrößert die Textdarstellung ein wenig und fängt an zu lesen. Diese Email hat Klaus, wie er anmerkt, während einer kleinen Kaffeepause in der Klinik-Cafeteria geschrieben. Es gehe ihm gut und er kommt mit seiner Arbeit zügig voran. Sein Vater solle doch alle, die er treffe und die ihn kennen, recht herzlich von ihm grüßen. An diesem Wochenende will Klaus endlich ein paar Fotos von seinem bisherigen Delhi-Aufenthalt auswählen, aufbereiten und mit kleinen Hinweistexten in seinem Privat-Blog veröffentlichen. Er wird anschließend alle darüber im Familiennetzwerk informieren. Er ermahnt seinen Vater noch, sich während der Hitzeperiode, die Deutschland wohl wieder einmal im Griff hat, nicht zu viel zuzumuten. Das er mit seinen beiden Urenkeln einiges unternehme, sei ganz toll, jedoch solle er in Anbetracht der Hitzewelle sich nicht zu viel zutrauen. Nächste Woche werde Klaus auch einmal durchrufen. Er wünscht seinem Vater ein tolles Wochenende und ein paar schöne Stunden in der Rheinaue. Klaus fragt am Ende noch, ob er noch immer so häufig mit seiner Nachbarin des Abends in der Rheinaue spazieren geht und am Ende beide noch wie gewohnt in dem Biergarten die schöne Aussicht und ein paar Kölsch genießen? So, jetzt muss ich zurück an die Arbeit. Liebe Grüße aus Neu Delhi, Klaus.

Zurzeit ist seine Nachbarin aus dem Nebenhaus mit ihrem Hund für ein paar Wochen zur Kur nach Bad Kissingen gefahren. Das macht sie jedes zweite Jahr. Ihre Tochter lebt in Würzburg, das keine 50 Kilometer entfernt ist. Beide treffen sich während ihres Aufenthaltes des Öfteren - abwechselnd in Bad Kissingen oder in Würzburg. Eberhard freut sich schon auf ihr baldiges Kurende. Die Spaziergänge in der Rheinaue mit ihr zusammen machen einfach mehr Spaß. Später wird er noch mit seinen beiden Urenkeln in der Rheinaue herumtollen. Darauf freut er sich jetzt bereits. Hitzewelle hin oder her, das lässt er sich nicht nehmen und seine Urenkel auch nicht.

Ja, für heute ist vorhergesagt, dass die Lufttemperaturen in Deutschland einen neuen Allzeitrekord erreichen. Es wird vermutet, dass die Temperaturen mancherorts im Rheinland auf über 45 Grad Celsius steigen werden.

Eberhard erinnert sich: ‚Das mit den Emails und sozialen Medien ist schon eine tolle Sache‘. Als in seinem Hotel die ersten Reservierungsanfragen per Email eintrafen, das war aufregend damals. Schnell veränderte das Internet eigentlich gefühlt alles. Dinge wurden per Knopfdruck möglich, die in den Zeiten davor nur in Science Fiction Filmen zu sehen waren. Er erinnert sich an seine Mutter, die noch Briefe mit der alten großen, im Wohnzimmer stehenden Schreibmaschine geschrieben hatte oder mit Füllfederhalter und Tintenfass und hier und da mit einem Tintenkleks auf dem Briefpapier. Wie in seinem Hotel der erste PC eingeführt wurde und anfing die Hotel-Schreibmaschine mehr und mehr zu ersetzen. Wie er irgendwann schließlich die altgediente Schreibmaschine, die nur noch ungenutzt herumstand, schweren Herzens in den Hotelkeller brachte. Dort liegt sie wahrscheinlich auch heute noch in dem Regal gegenüber der Kellertür. An die Telefonzellen, wo die Münzen ausgerechnet dann häufig durch den Münzspeicher fielen, wenn das Fernsprechgerät mit einem nervigen Piepen darauf aufmerksam machte, das Geld nachgeworfen werden muss, um das Gespräch fortsetzen zu können. An die Wählscheiben, bei denen er immer höllisch aufpasste sich nicht zu verwählen. Denn dieses Drehen der Wählscheibe konnte einem den letzten Nerv rauben, falls man sich zu häufig dabei vertat - besonders bei Ferngesprächen mit den Vorwahlnummern. Und schließlich noch die Leute, die vor der Zelle standen und darauf warteten, dass sie endlich an die Reihe kommen und anfingen ungeduldig gegen die Scheiben der Fernsprechzelle zu klopfen. Eberhard beginnt zu schmunzeln - das waren schon verrückte Zeiten damals, die sich die Kinder heute gar nicht mehr vorstellen können. Und die Welt hatte auch ohne Internet funktioniert und er wusste immer, an welchen Orten er seine Freunde antreffen kann. Zu 50 Prozent jedenfalls und mit etwas Geduld oder es waren kleine Nachrichten hinterlegt.

Ein Brief nach Neu Delhi wäre selbst mit der Luftpost wahrscheinlich frühestens drei Tage später an seinem Ziel angekommen. Dabei erinnert sich Eberhard an damalige Berichte aus Goa, über die Bhagwan-Bewegung in Poona und deren bunte, weltfremd anmutenden Selbstfindungstrips und Lebensweisen. An den immer wieder aufgeflammten Kaschmir-Konflikt zwischen Indien und Pakistan. Erst vor ein paar Tagen gingen Meldungen durch die Medien über erneute militärische Auseinandersetzungen dort. An der Konfliktsituation in der Region jedenfalls hat sich seit nun bald 100 Jahren nichts verändert. Doch, ein Konfliktherd in der Himalaya-Region wurde in den letzten Wochen den Meldungen zufolge von den beiden beteiligten Ländern beseitigt. Über den Grenzverlauf zwischen China und Indien in der Himalaya-Gebirgsregion Ladakh ist es zu einer Einigung zwischen den beiden Konfliktparteien gekommen. Und zur Überraschung vieler internationaler Beobachter war in dem Zusammenhang sogar ein Allianz-Abkommen über eine enge wirtschaftliche, technische und politische Zusammenarbeit beider Länder unterzeichnet worden. Damit öffnen sich die Wege für das chinesische Seidenstraßen-Projekt auf den strategisch wichtigen asiatischen Subkontinent zukünftig noch weiter als es in den Jahren zuvor bereits der Fall war.

Eberhard schaut den munteren Enten in seiner Nähe beim Grasen zu. Ihr Geschnatter und wackliger Gang amüsiert ihn immer wieder. Es gibt noch einige grüne Rasenflächen im Schatten von Bäumen, die jeden Abend mit Wasser aus Wassertankwagen besprenkelt werden.

Er denkt nochmals an Klaus und, ob es gut ist, dass er sich solange fern von seiner Frau und Tochter in Indien aufhält. Klaus hätte doch auch nach seinem Studium das Hotel übernehmen und parallel dazu eine kleine Teilzeit-Praxis im Hotel einrichten können. Dann wären Beruf und Familienleben aus seiner Sicht besser vereinbar gewesen. Eberhard weiß, es war damals eine etwas ungewöhnliche Idee von ihm. Klaus hatte sich später noch häufiger darüber lustig gemacht bei der Vorstellung, wie er im Arztkittel und mit Stethoskop schnell an die Rezeption eilt, um eintreffende Hotelgäste einzuchecken und gleichzeitig ein Patient mit Armbinde und Kopfverband durch die Hoteltür kommend auf ihn zu humpelt.

Eberhard nimmt sich auf jeden Fall vor, noch heute Abend seine Schwiegertochter Beate anzurufen, um für nächste Woche einen Treff mit ihr und der kleinen Sonja in Bad Honnef zu arrangieren. Er wird sich in den kommenden Wochen mehr um Sonja kümmern, dass schwört er sich. Zwar nimmt die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Bad Honnef südlich von Bad Godesberg etwas Zeit in Anspruch und zum schmucken Haus in der Nähe vom Schloss Hagerhof sind es noch einmal 15 Minuten Fußweg. ‚Ich muss mir diese Zeit nehmen und Klaus auf diese Weise in seiner Abwesenheit unterstützen‘, das will Eberhard jetzt fest einplanen. Oder soll ich Beate fragen, ob sie mit Sonja nicht zur Rheinaue kommen möchte? Schließlich hat sie ja ein Auto. Beate fährt allerdings nicht so gerne Auto und dann ist sie eventuell genervt, wenn ich sie dazu nötige. Die Rheinaue wäre jedoch schöner und Sonja würde sich bestimmt über das Herumtollen in der Rheinau freuen. Und er könnte dann die Urenkel dazu holen. Das wäre so toll‘. So denkt Eberhard noch eine ganze Weile über die Sache nach, ohne zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen, was denn am besten sei, in dieser sich für ihn scheinbar immer mehr verkomplizierenden Frage. Könnte er jetzt mit seiner Nachbarin darüber sprechen, dann hätte sie ihm sicherlich mal wieder schnell sagen können, was das Richtige in diesem verzwickten Fall sei.

Eberhard schaut auf seine Armbanduhr. Es wird Zeit, dass er zu sich nach Hause aufbricht. Ausgeruht vom kurzen Aufenthalt im Schatten der Auenbäume erhebt er sich etwas ungelenk von der Sitzbank und läuft in Richtung der Ludwig-Erhard-Allee. Dort hat er seinen E-Roller abgestellt. Auf dem Weg dahin denkt er an seine Tochter Odette in Manhattan. Sie hatte ihm gestern geschrieben, dass ein schreckliches Unwetter über New York herein gebrochen sei. Er hatte davon auch in den Tagesnachrichten gehört. Marlena hat sich gut in New York eingelebt, hatte Odette ihm geschrieben. Und dass Marlena und sie sich jetzt zunehmend besser verstehen. Das Marlena sie manchmal in den Fitness-Club begleitet. Das hätte Marlena früher nie getan. Überhaupt wolle Marlena in Zukunft einiges anders machen und alles sehe überhaupt gut aus.

Eberhard wusste, dass Letzteres wahrscheinlich nicht so ganz wahr ist und Odette das nur schreibt, damit er sich keine Sorgen macht. Er dachte an Odettes Schulzeit, ihren Aufenthalt als Austauschschülerin in Colchester nordöstlich von London. Wie sie im Abschlussjahr ihres Abiturs an einem Schülerwettbewerb eines deutsch-französischen Wirtschaftsverbandes teilgenommen hatte. Die ganze Familie war damals wie aus dem Häuschen, als bekannt wurde, dass Odette als Gewinnern des Wettbewerbs ein Stipendium für ein Bachelorstudium der Wirtschaftswissenschaften an der Sorbonne in Paris gewonnen hatte. Während ihrer Zeit in Paris lebte sie in einem kleinen Studentenwohnheim im Quartier Latin. Es war eine tolle, aufregende Zeit für Odette gewesen. Aus der Zeit stammt ihre Vorliebe für Baguette, Käse und Rotwein. Anschließend hatte sie in München ihren Master in Wirtschaft und internationales Wirtschaftsrecht gemacht. Während dieser Zeit war sie parallel an der bayerischen Staatskanzlei als studentische Hilfskraft tätig gewesen. Von dort ging es später weiter nach Berlin und Brüssel. Eine ehemalige Studienkollegin aus Paris, die sie zufällig in Brüssel getroffen hatte, holte sie schließlich nach Genf, zur WHO. Während Odettes Zeit in München war Undine zur Welt gekommen. Odettes Mutter Resi lebte zu der Zeit bereits wieder am Schliersee, in der Nähe von München und hatte Odette tatkräftig unterstützt und sich viel um die kleine Undine gekümmert. Von Frank hat sich Odette ungefähr zwei Jahre nach der Geburt von Undine getrennt. Frank lebt heute noch in München und Undine hat Kontakt ihm, was Eberhard freut. Zu Resi, seiner ersten Frau und Mutter von Odette, hat er auch noch regelmäßigen Kontakt. Irgendwie sind sie Kumpels geblieben. Einige Jahre nach ihrer Scheidung war Resi an den Schliersee zurückgekehrt und lebt seitdem dort zufrieden und glücklich in ihrer alten Heimat nahe den Alpen, die sie über alles liebt. Ganz sicher - Resi hatte auch Eberhard geliebt und er sie und Resi auch ein bisschen das Rheinland. All das bleibt für immer im Herzen. Resi und er telefonieren häufiger und sehen sie sich alle Jahre. Eberhard bleibt stehen, schaut den Weg zurück und seufzt ein wenig in der Erinnerungswehmut, die ihn gerade begleitet. Die Zeit ist zurückblickend so schnell vergangen.

Als er die Allee erreicht, stellt er sich auf seinen E-Roller und fährt zu seiner Wohnung. Er geht hoch, macht sich ein Käsebrot, trinkt dazu den kalten Tee von heute Morgen und legt sich noch etwas hin.

Am frühen Nachmittag steht Eberhard wieder auf und bereitet sich auf das Abenteuer Rheinaue und Urenkel vor. Er nimmt wieder seinen E-Roller, um zu Undine zu fahren. In der Nähe der Danziger Straße setzt er sich noch für einen kurzen Moment auf eine Bank.

Eberhard zündet sich eine Zigarette an, zieht langsam, genüsslich, aber auch nachdenklich an dem Glimmstängel, beobachtet, wie der grau-weiße Qualm nach oben steigt und sich nach und nach in der Luft auflöst. Ein leichter Wind ist aufgekommen und die Sonne wird ab und zu etwas von kleinen Schönwetterwolken verdeckt, die sich unerwartet am Himmel gebildet haben. ,Wie viele solche Tage hab ich wohl noch`, fragt er sich jetzt insgeheim, und plötzlich erschauert es ihn ein wenig. Das Wissen um die Endlichkeit des Seins und das Wissen um die vielen verlorenen Stunden, die letztendlich auf der Abrechnung seines Lebensstatus verbucht sein werden! Bereits bei seinen Eltern und vielen Freunden musste er es miterleben, wie unerbittlich die Endlichkeit des Daseins ist, wie sich der Tod vehement einen Menschen nach dem anderen aus dem Leben stiehlt.

Was für ein ganz besonderes Glück es ist, dass er, der 76-jährige Eberhard Fichte, noch seine Urenkel miterleben darf, wird ihm noch einmal glasklar bewusst. Das ist absolut keine Selbstverständlichkeit, genauso wenig wie die Tatsache, dass er noch körperlich voll beweglich ist, von seinen geistigen, mitunter abstrusen Gedankengängen ganz zu schweigen!

Er lässt die Zigarette auf den Boden fallen und drückt sie demonstrativ, den braunen Schuh hin und her bewegend, solange aus, bis sich nur noch kleinste Brösel auf der Erde befinden.

Entschlossen schreitet er schnellen Schrittes auf die beige-weiße Häuserreihe der Danziger Straße zu. Hier, in einer dem Deutschen Beamtenbund unterstehenden Wohnung wohnt seine Enkelin Undine mit ihrem Mann Bernd und den beiden, sehr lebhaften 5 und 3 jährigen Kindern Till und Elly. Gewöhnlich war Undine immer äußerst froh darüber, wenn Opa Eberhard ihr die beiden Quirlgeister für ein paar Stunden entführte.

Jetzt in der wiedergekehrten Sommerhitze sieht sie das allerdings mit anderen Augen. Auch aus Sorge um ihren Opa. Die Familie hatte deshalb lange darüber beraten, wie nun am besten mit der Hitzesituation umzugehen sei.

Bernd und Undine wollten zum Schutz von Eberhard den Aufenthalt in der Hitze draußen möglichst vermeiden. Eberhard und die beiden kleinen „Gangster“, wie ihr Großvater sie oft liebevoll nennt, waren absolut dagegen. Eberhard hatte beide einmal im Beisein der Kinder als Spaßbremser bezeichnet. Seitdem rufen die Kinder bei kleinen Diskussionen um die Dauer des Herumtollens und den Rahmenthemen drum herum immer laut und dabei hin und her hüpfend: „Spaßbremse, Spaßbremse!“

So hatten sich schließlich Alt und Jung durchgesetzt. Bernd und Undine hoffen, dass es ihnen erspart bleibt, dieses Nachgeben nicht eines Tages zutiefst bedauern zu müssen.

Eberhard schellt an der Hausklingel der Familie Bode, wie auch Enkelin Undine seit der Heirat mit ihrem Mann Bernd Bode heißt. Sofort ist ein lautes Kreischen zu vernehmen, helle Kinderstimmen schallen durch das Treppenhaus. Die Kinder sind bereits angekleidet, da alles vorab genau vereinbart wurde, und Eberhard wie gewöhnlich sehr pünktlich ist. Er lässt es sich aber nicht nehmen, die Treppe noch hoch zu spurten. Er sieht das sportlich, jeden Tag sollte sich ein Mann in seinem Alter einmal so richtig herausfordern. Oben im zweiten Stock angekommen, japst er dennoch ein wenig. Man ist eben doch keine 17 mehr!

Undine trägt ein hellblaues sommerliches Kleid, Bernd ist nicht da. Aus der Wohnung quillt der Geruch von Kartoffel und würzigen Fleischklößen hervor. Undine liebt es, im Gegensatz zu Mutter Odette, zu kochen, und die Familie mit ihren delikaten Speisen zu verwöhnen.

„Opa, ich gebe dir nachher einen Topf mit, du fällst mir ja schon fast aus den Rippen! Du kannst dir die Frikadellen in deiner Mikrowelle aufwärmen“, meint Undine zu ihrem Großvater, der leicht hechelnd vor der Wohnungstür steht.

„Wir sollten noch einmal darüber sprechen, ob es nicht wirklich besser ist, dass du abends mit den Kindern spielen gehst!“ Das war Eberhard aber nicht so recht, da er sich am Abend häufig mit noch verbliebenen Freunden und Bekannten trifft oder mit ihm nahen, jedoch weiter entfernt wohnenden Menschen telefoniert oder chattet. Zudem ist er immer noch im Bonner Gaststätten- und Hotellerie-Verband Ehrenmitglied und nimmt in der Regel aus alter Leidenschaft und einem verbliebenen Interesse an deren Versammlungen und Biertischrunden teil.