Spinnenfalle - Jennifer Estep - E-Book

Spinnenfalle E-Book

Jennifer Estep

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Beschreibung

Messerscharf und rot wie Blut – das ist Gin Blancos neues Abendkleid, und es steht ihr ausgezeichnet. Auch wenn sie als Profikillerin eigentlich ununterbrochen Arbeit hat, gibt es eine Feierlichkeit, die sich Gin auf gar keinen Fall entgehen lassen möchte: In einer opulenten Gala in Ashlands angesagtesten Kunstmuseum sollen die ach-so-schicken Besitztümer ihrer jüngst verstorbenen Erzfeindin ausgestellt werden. Doch leider ist die Veranstaltung nicht nur super hip, sondern auch heiß begehrt bei Kriminellen. Kaum hat Gin begonnen, den Abend zu genießen, wird das Museum von einer Diebesbande gestürmt. Eine Frechheit, die die Auftragskillerin nicht auf sich sitzen lassen kann – schließlich ist nicht nur ihr Kleid scharf, sondern auch die Messer darunter ...

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Für meine Mom, Grandma und Andre – für alles.

Und noch mal für meine Grandma, weil sie gesagt hat: »Warum von einer Million träumen, wenn du auch zwei haben kannst?«

Für meinen Großvater. Ich werde dich vermissen.

 

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

ISBN 978-3-492-97677-0

September 2017

© Jennifer Estep 2013

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Deadly Sting«, Pocket Books, New York 2013

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München und Mark Owen/Trevillion Images

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Danksagung

Wieder einmal möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die mir dabei geholfen haben, meine Worte in ein Buch zu verwandeln:

Ich danke meiner Agentin, Annelise Robey, und meinen Lektorinnen Adam Wilson und Lauren McKenna für ihre hilfreichen Ratschläge, ihre Unterstützung und Aufmunterung. Außerdem danke ich Julia Fincher.

Ich danke Tony Mauro für den Entwurf eines weiteren tollen Buchcovers und Louise Burke, Lisa Litwack und allen anderen bei Pocket Books und Simon & Schuster für ihre Arbeit am Cover, am Buch und an der Serie.

Und schließlich möchte ich von Herzen meinen Lesern danken. Zu wissen, dass Leute meine Bücher lesen und lieben, erfüllt mich mit Demut und ich bin froh, dass ihr so viel Spaß an Gin und ihren Abenteuern habt. Ich weiß das mehr zu schätzen, als ihr euch vorstellen könnt.

Viel Spaß beim Lesen!

1

»Das sähe fantastisch an dir aus!«

Finn zeigte auf ein obszön großes Armband in der Mitte einer Vitrine voller Schmuck. Das Glänzen der Juwelen passte zu dem gierigen Funkeln in seinen Augen.

Ich warf einen Blick auf das Preisschild, das an der mit Edelsteinen überzogenen Monstrosität hing. »Dir ist schon klar, dass der Preis dieses Armbandes fast an mein monatliches Einkommen als Auftragsmörderin herankommt, oder?«

»Du meinst, dein Honorar zu der Zeit, als du tatsächlich noch Leute für Geld umgebracht hast«, hielt Finn dagegen. »Oder wie ich es gern nenne: in der guten alten Zeit.«

Finn bedachte das Diamantarmband noch mit einem sehnsüchtigen Blick, bevor er zu den Schuhen weiterzog. Er schnappte sich einen lilafarbenen Pump von einem Regalbrett und wedelte damit vor mir herum, bevor er ihn selbst eingehend betrachtete. Er musterte den Schuh vollkommen hingerissen, als wäre er ein Kunstwerk und nicht nur eine überteuerte Ansammlung von zusammengenähten Lederfetzen.

»Das ist der neuste Schrei«, erklärte er träumerisch. »Handgenähtes lavendelfarbenes Wildleder mit zehn Zentimeter hohen Absätzen. Ist er nicht fantastisch?«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Habe ich dir schon mal gesagt, wie unheimlich ich es finde, dass du mehr über Damenschuhe weißt als ich?«

Finn grinste und seine grünen Augen leuchteten amüsiert. »Mehrfach. Aber mein unfehlbarer Sinn für Mode ist auch eines der vielen Dinge, die du so an mir liebst.«

Er rückte seine graue Krawatte zurecht und zwinkerte mir zu. Ich schnaubte und wanderte zu einer Kleiderstange an der Wand, auf der die verschiedensten Klamotten hingen.

Wir waren zusammen shoppen, eine von Finns Lieblingsbeschäftigungen. Meine allerdings nicht. Ich achtete nicht besonders darauf, was ich anzog. Mir war nur wichtig, dass meine Jeans und Stiefel bequem genug waren, um darin zu kämpfen, und meine Ärmel meiner Oberteile so lang, dass sie die Messer verbargen, die ich unentwegt mit mir herumschleppte. Als Profikillerin »die Spinne« hatte ich schon vor langer Zeit gelernt, nicht zu viel Geld für Kleidung auszugeben, die letztendlich doch nur Blutflecken abbekommen würde.

Doch hier war ich nun, auf Shoppingtour. Finn war kurz nach dem Mittagessen im Pork Pit, meinem Barbecue-Restaurant, aufgetaucht und hatte mich nach Northtown geschleppt, den Teil von Ashland, in dem die soziale, magische und finanzielle Elite von Ashland lebte und einkaufte. Wir hatten die letzte Stunde damit verbracht, in einer schicken, neu angelegten Einkaufsstraße von Laden zu Laden zu flanieren.

Im Moment sahen wir uns im Posh um, einer der größten, schicksten und teuersten Boutiquen in diesem Block. Regale voller Ballkleider und Abendgarderobe füllten den Laden. Die weißen Kleider hingen ganz links, dann verdunkelten sich die Farben nach rechts bis zu Mitternachtsschwarz – als würde sich ein Regenbogen einmal quer durch den Raum ziehen. Es gab kein einziges Stück hier, das weniger als fünftausend Dollar kostete, die Schuhe an der hinteren Wand waren mindestens genauso teuer. Ganz zu schweigen von den winzigen Handtaschen, die zehnmal mehr wert waren als ein gutes Abendessen.

»Komm schon, Gin«, schmeichelte Finn und hielt mir den Pump entgegen. »Probier ihn doch wenigstens mal an.«

Ich verdrehte die Augen, nahm ihm den Schuh ab und wog ihn in der Hand. »Leicht, schöne Farbe. Nicht das Schlimmste, was du mir heute gezeigt hast. Und dieser schmale Absatz gibt eine akzeptable Waffe ab, wenn man sich die Mühe macht, ihn vom Schuh abzubrechen und das Ende zu einer Spitze zu feilen.«

Mit einem Seufzen nahm mir Finn den Schuh wieder ab. »Habe ich dir schon mal gesagt, wie gruselig ich es finde, dass du High Heels nur als potenzielle Stichwaffen betrachtest?«

Ich grinste ihn an. »Das sagst du mir ständig. Aber mein unfehlbarer Sinn für improvisierte Waffen ist eines der Dinge, die du so an mir liebst.«

Dieses Mal war es an Finn, die Augen zu verdrehen. Dann murmelte er, dass man mich einfach nirgendwohin mitnehmen könne. Mein Grinsen wurde breiter. Ich liebte es genauso sehr, meinen Ziehbruder auf die Palme zu bringen, wie er es genoss, mich zu nerven.

»Sag mir doch bitte noch mal, warum ich mit dir zu dieser Party gehen muss«, forderte ich ihn auf, als seine Tirade ein Ende fand.

»Das ist nicht einfach eine Party«, brummte er. »Es ist die Eröffnungsgala für eine Ausstellung von Kunstwerken, Juwelen und anderen Kostbarkeiten aus dem Besitz der verstorbenen und sicherlich mit keiner Träne beweinten Mab Monroe. Jeder von Rang und Namen wird da sein, ob nun aus der Unterwelt oder nicht. Es ist das Event der besseren Gesellschaft in diesem Sommer. Außerdem: Bist du nicht wenigstens ein klein bisschen neugierig zu sehen, was das alte Mädchen über die Jahre so angehäuft hat? Die Dinge, die sie gesammelt hat? Was sie schön oder kostbar oder zumindest wertvoll genug befand, um es aufzuheben? Sie war schließlich deine Erzfeindin.«

Mab Monroe war ein wenig mehr gewesen als meine Erzfeindin. Die Feuermagierin hatte meine Mutter und meine ältere Schwester ermordet, als ich dreizehn gewesen war. Außerdem hatte sie mich gefoltert. Aber ich hatte meine Rache bekommen, als ich ihr letzten Winter mein Steinsilber-Messer ins schwarze Herz gerammt hatte. Mab zu töten, war einer der befriedigendsten Momente meines Lebens gewesen. Schlussendlich kam es jedoch nur darauf an, dass sie tot war und ich noch lebte.

»Tut mir leid«, meinte ich. »Ich spüre keinerlei Verlangen danach, Mabs Kostbarkeiten zu besichtigen. Sie sind nutzlos, oder? Ich bin einfach glücklich darüber, dass Mab in ihrem Grab verrottet. Und ich verstehe immer noch nicht, warum du darauf bestehst, mich hierherzuschleppen, um ein Kleid zu kaufen. Ich habe jede Menge kleine Schwarze zu Hause und jedes davon wäre für die Party geeignet.«

Finn schnaubte. »Sicher. Wenn man nichts dagegen hat, etwas anzuziehen, was zerrissen und voller Blut ist.«

Dagegen konnte ich nichts einwenden. Wirklich dumm, dass es einem letztendlich immer die Klamotten versaute, wenn man jemanden abmurkste.

Finn seufzte und schüttelte über mein mangelndes Interesse an Mabs unzähligen Schätzen den Kopf. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du nicht allein schon aus Neugier hinwillst. Und Gier, natürlich. Das sind auf jeden Fall die Gründe, aus denen ich das Event besuche. Dasselbe gilt wahrscheinlich für die Hälfte der Leute auf der Gästeliste. Also, jetzt weißt du, warum du ein neues Kleid brauchst. Und was die Frage angeht, wieso du mich begleiten musst: Nun, ich habe natürlich zuerst Bria gefragt, aber sie muss arbeiten. Ich brauche irgendjemanden, der mit mir Champagner trinkt und über die anderen Gäste lästert. Diese Bitte willst du mir doch nicht abschlagen, oder?«

»Gott bewahre«, murmelte ich. »Aber was ist mit Roslyn? Oder Jo-Jo? Wieso nimmst du nicht eine von ihnen mit?«

»Roslyn geht bereits mit jemand anderem und Jo-Jo hat ein Date mit Cooper.« Finn zählte unsere Freunde an den Fingern ab. »Ich habe sogar Sophia gefragt, aber an diesem speziellen Abend findet in irgendeinem Kino ein Western-Festival statt, das sie besuchen will. Außerdem würde sie darauf bestehen, schwarzen Lippenstift, ein Steinsilber-Halsband und den Rest ihrer üblichen Grufti-Klamotten zu tragen. Da ich nicht dafür verantwortlich sein will, dass irgendwer aus der alten Garde einen Herzinfarkt erleidet, bist du meine Begleitung.«

»Ich Glückliche.«

»Außerdem ist es ja nicht so, als hättest du schon etwas vor«, fuhr er fort, als hätte ich gar nichts gesagt. »Außer zu Hause herumzusitzen und dein gebrochenes Herz zu beweinen.«

Ich kniff die Augen zusammen und warf Finn einen Blick zu, der die meisten Männer dazu gebracht hätte, in ihren Lederschuhen zu erstarren. Er dagegen griff einfach nur nach einer kanariengelben Riemchensandale und bewunderte sie einen Moment, bevor er mir den Schuh hinhielt.

»Was denkst du? Ist Gelb deine Farbe? Ja, stimmt schon. Nicht bei deinem Teint.« Er stellte den Schuh wieder ab und drehte sich zu mir um. »Hör mal«, sagte er mit ernster Miene. »Ich dachte einfach, es wäre gut für dich, mal einen Abend aus dem Haus zu kommen. Du weißt schon: dich schick anziehen, die Stadt unsicher machen, ein wenig Spaß haben. Ich weiß, wie schwer die letzten Monate, in denen du und Owen nicht allzu gut aufeinander zu sprechen wart, für dich gewesen sind.«

Nicht gut aufeinander zu sprechen war noch eine Untertreibung. Ich hatte nicht mit Owen Grayson, meinem Geliebten, gesprochen … seit dem Abend vor ein paar Wochen, als er im Pork Pit aufgetaucht war, um mir mitzuteilen, dass er ein bisschen Zeit für sich brauche. Zeit ohne mich und ohne unsere Beziehung.

Aber so etwas passiert nun mal, wenn man die Exverlobte des eigenen Freundes direkt vor seinen Augen umbringt. Solche Aktionen sorgten eben dafür, dass eine Person ihre Beziehung noch einmal überdachte – besonders zu demjenigen, der getötet hatte.

Egal wie sehr ich Owen auch vermisste, ich konnte es ihm nicht übel nehmen, dass er um eine Auszeit gebeten hatte. In den Tagen vor meinem Kampf gegen Salina Dubois waren eine Menge übler Dinge geschehen. Viele schreckliche Geheimnisse waren an die Oberfläche gekommen und Owen war nicht der Einzige, der Zeit brauchte, um alles zu verarbeiten und sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Aber auch wenn ich es verstand, tat es deswegen nicht weniger weh. Selbst Profikillerinnen konnten an gebrochenem Herzen leiden.

»Gin?«, fragte Finn sanft und unterbrach damit meine Grübeleien.

Ich seufzte. »Ich weiß, dass du nur versuchst, zu helfen, aber es geht mir gut, Finn. Wirklich. Wichtig ist, dass Salina tot ist und niemals wieder jemandem wehtun kann. Owen und ich … irgendwann kriegen wir das schon wieder hin.«

»Und wenn nicht?«

Ich seufzte wieder. »Nun, dann machen wir beide mit unseren Leben weiter. Jeder für sich.«

Ich verzog meine Miene, während ich das sagte, obwohl sich mein Herz bei diesem Gedanken verkrampfte. Finn wollte gerade noch etwas erwidern, als sich eine der Verkäuferinnen an ihn heranpirschte.

»Schönen Nachmittag, Sir«, schnurrte die Frau, eine atemberaubende Rothaarige. »Was kann ich für Sie tun?«

Wir befanden uns bereits seit guten fünf Minuten im Laden und es überraschte mich ein wenig, dass es so lange gedauert hatte, bis uns jemand Hilfe anbot. In meinen Stiefeln, der abgetragenen Jeans und dem schwarzen T-Shirt mit Fettflecken sah ich wahrscheinlich aus, als besäße ich keinen roten Heller. Aber Finn war in seinem Fiona-Fine-Designeranzug wie immer wunderbar gekleidet. Der perfekte Schnitt betonte seinen starken, muskulösen Körper, sein walnussfarbenes Haar war kunstvoll frisiert. Das und sein feingeschnittenes Gesicht sorgten dafür, dass Finn mindestens so übertrieben schick wirkte wie der Schmuck, den er vorhin bewundert hatte.

Der Blick der Verkäuferin wanderte über seinen Körper. Einen Moment später lächelte sie breit und leckte sich unbewusst die Lippen, als wäre Finn eine Art warmer Schokoladenkuchen, den sie vernaschen wollte. Aus dem hinteren Teil des Ladens starrte eine zweite Verkäuferin ihre Kollegin böse an. Während sich Finn in epischer Breite über Armbänder und Schuhe ausgelassen hatte, hatten die beiden vermutlich im Flüsterton darüber gestritten, wem von ihnen die Ehre gebührte, ihn zu bedienen. Anscheinend hatte Feuerhaar gewonnen.

Da Finn nun einmal war, wer er war, bemerkte er sofort das offensichtliche Interesse der Frau und sein leicht verschlagenes Lächeln wurde noch strahlender. »Hallo-oo«, sagte er gedehnt. »Und sehen Sie heute nicht toll aus? Diese himmelblaue Farbe passt wunderbar zu Ihrem Haar.«

Die Rothaarige lief verlegen an und strich ihren kurzen Rock glatt. Ihr Blick huschte für eine halbe Sekunde zu mir, bevor sie sich auch schon wieder auf Finn konzentrierte. »Brauchen Sie und Ihre … Frau Hilfe?«

»Oh«, meinte er. »Das ist nicht meine Frau. Das ist meine Schwester.«

Bei dieser Information leuchteten die dunklen Augen der Frau auf und Finns Lächeln wurde noch breiter. Trotz der Tatsache, dass er sich in einer Beziehung mit Detective Bria Coolidge befand – meiner kleinen Schwester –, flirtete Finn immer noch mit jeder Frau, die ihm über den Weg lief, egal wie alt oder jung, attraktiv oder unscheinbar sie auch sein mochte. Zwerg, Vampir, Riese, Elementar, Mensch. Solange die Person atmete und weiblich war, konnte sie darauf zählen, in den Genuss des durchaus beträchtlichen Charmes zu kommen, den Finnegan Lane versprühte.

»Aber meine Schwester könnte definitiv Ihre Hilfe brauchen. Was halten Sie von dieser Farbe?«, fragte er und griff erneut nach dem lavendelfarbenen Pump. »Finden Sie nicht auch, die Farbe würde ihr fantastisch stehen?«

»Fantastisch«, stimmte Feuerhaar mit verträumtem Blick auf meinen Ziehbruder zu.

Ich mochte ja direkt neben Finn stehen, aber anscheinend war ich so unsichtbar wie der Mond an einem sonnigen Tag. Ich seufzte wieder. Das würde ein langer Nachmittag werden.

 

Zwanzig Minuten später, nachdem ich von einer Seite des Ladens auf die andere geschleppt worden war, führte Feuerhaar mich zu einer Umkleidekabine im hinteren Teil des Geschäfts. Da Finn vollkommen zu Recht erklärt hatte, dass er mehr von Mode verstehe als ich, hatte er mehrere Kleider für mich ausgesucht. Feuerhaar hängte die teuren Stücke an einen Haken, bevor sie an mir vorbeirauschte.

»Ich werde nach Mr. Lane sehen. Vielleicht braucht er noch etwas«, meinte sie.

»Natürlich. Tun Sie das.«

Die Rothaarige flitzte zu der Schmuckvitrine, über die die andere Verkäuferin, eine vollbusige Blondine, sich gerade lehnte, um Finn das Diamantarmband zu zeigen, das er vorhin so bewundert hatte – und ihm so Einblick in ihren Ausschnitt ermöglichte. Feuerhaar trat neben Blondie und schob sie nicht allzu subtil zur Seite. Die andere revanchierte sich, indem sie ihren Busen noch weiter vorstreckte. Genauso gut hätten die beiden ein Planschbecken mit Schlamm füllen und ihre Meinungsverschiedenheiten auf diese Art klären können. Das wäre um einiges unterhaltsamer gewesen als das peinliche Gerangel, das sie im Moment präsentierten.

Ich verdrehte die Augen. Finn war der einzige Mann, den ich kannte, der allein mit einem Lächeln einen Zickenkrieg anzetteln konnte. Doch ich hatte ähnliche Shows schon unzählige Male gesehen und war es langsam leid. Also ignorierte ich die rangelnden Weiber und betrat die Umkleidekabine, ließ die Tür hinter mir zuschwingen und begann damit, die Kleider anzuprobieren. Je eher ich mir etwas aussuchte, desto schneller konnte ich ins Pork Pit zurückkehren.

Zu eng, zu kurz, zu nuttig. Keiner der Fummel passte wirklich zu mir, ganz zu schweigen davon, dass Finn mehr als nur ein schulterfreies Kleid ausgesucht hatte. Mein Dekolleté war noch nie besonders beeindruckend gewesen – definitiv nicht zu vergleichen mit Blondies –, doch noch ungünstiger für mich war, dass schulterfreie Kleider nicht allzu gut geeignet waren, um Messer darin zu verstecken. Allerdings interessierte sich Finn nicht für so etwas. Das musste er auch nicht. Er konnte sich jederzeit ein oder zwei Pistolen unter sein Jackett schieben, was ihm durchaus entgegenkam – solange die Waffen nicht die perfekte Taillierung des Anzugs versauten.

Ich wollte gerade die letzte Modesünde ausziehen – ein Abendkleid in einem schrecklichen Kanariengelb, das definitiv nicht meine Farbe war –, als ich ein leises elektronisches Bimmeln hörte, das mir verriet, dass noch jemand den Laden betreten hatte. Ich fragte mich, wie lange es Feuerhaar und Blondie wohl aushalten würden, sich von Finn loszureißen, um sich um den neuen Kunden zu kümmern.

Ein überraschter Schrei zerriss die Luft, zusammen mit einem scharfen, klatschenden Geräusch. Das darauffolgende schmerzerfüllte Stöhnen verriet mir, dass gerade jemand geschlagen worden war.

»Keine Bewegung und denkt nicht mal dran, den Alarmknopf zu drücken«, knurrte eine tiefe Stimme. »Oder ich jage euch ein paar Kugeln in den Körper – jedem von euch. Aber vielleicht tue ich das sowieso, einfach weil es Spaß macht.«

Nun, diese Drohung implizierte, dass der Sprecher eine Schusswaffe besaß – vielleicht sogar mehr als eine. Der Gedanke munterte mich ungemein auf. Zum ersten Mal am heutigen Tag umspielte ein Lächeln meine Lippen. Zum ersten Mal seit Tagen, um ehrlich zu sein.

Ich öffnete die Tür der Umkleidekabine einen Spalt, um zu sehen, was vor sich ging. Und tatsächlich, ein Mann stand hinter der Eingangstür, direkt vor der Schmuckvitrine. Er war ein Zwerg, ein wenig kleiner als einen Meter fünfzig, mit einem untersetzten, muskulösen Körper. Er trug eine Jeans mit Löchern an den Knien und ein verblasstes blaues T-Shirt. Eine Stacheldraht-Tätowierung zog sich um seinen linken Oberarm, der aussah, als bestände er aus Beton und nicht aus Fleisch und Blut. Er hielt einen Revolver in der rechten Hand – die Art von Waffe, die eine Kugel tief in den Körper einer Person jagen konnte, besonders auf kurze Distanz.

Da es nicht so aussah, als würde der Zwerg jeden Moment den Abzug drücken, ließ ich meinen Blick zu den anderen Personen im Laden gleiten. Blondie stand dem Bewaffneten am nächsten. Sie hielt eine Hand an ihre Wange gedrückt. Wahrscheinlich hatte der Zwerg über die Vitrine gelangt und ihr eine Ohrfeige verpasst. Die andere Hand hatte sie über den Mund geschlagen, wie um einen Schrei zurückzuhalten. Das gelang ihr allerdings nicht ganz. Eine Abfolge von hohen Quietschlauten hallte durch den Raum, ähnlich dem jämmerlichen Jaulen eines Hundes.

Finn stand vielleicht drei Meter vom Zwerg entfernt. Er musste sich gerade mit Feuerhaar unterhalten haben, als der Bewaffnete den Laden gestürmt hatte, denn er hatte sich zwischen die Frau und den Zwerg geschoben. Sie trug dieselbe fassungslose Miene zur Schau wie ihre Kollegin.

Mein Bruder hatte die Hände gehoben. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, den Zwerg durch zusammengekniffene Augen zu mustern, um die Gefahr einzuschätzen, die von ihm ausging – wie auch ich es tat.

Als Nächstes schaute ich an dem Gangster vorbei auf die Straße, nur für den Fall, dass vor dem Geschäft ein Komplize wartete. Doch ich konnte niemanden entdecken, der auf dem Gehweg herumhing oder am Rinnstein in einem Fluchtwagen saß. Also ein Alleingang.

Dann musterte ich den Zwerg eingehend, um festzustellen, ob er im Laden nach jemandem suchte – zum Beispiel nach mir, Gin Blanco, der Profikillerin, die unter dem Namen »die Spinne« bekannt war.

Indem ich Mab getötet hatte, hatte ich mich unfreiwillig zu einer beliebten Zielscheibe gemacht. Mehr als nur einer der Unterweltbosse hatte ein Kopfgeld für mich ausgesetzt, in der Hoffnung, sich als Ashlands neuer Unterwelt-Chef etablieren zu können, wenn sie mich ausschalteten. Daher war es durchaus möglich, dass der Zwerg mir und Finn auf den Befehl von irgendwem hin zu der Boutique gefolgt war.

Doch der Typ schien sich nur für den Schmuck zu interessieren. Seine Augen glitzerten gierig und sein Mund verzog sich zu einem glückseligen Lächeln, als er die kostbaren Stücke betrachtete. Also handelte es sich um einen einfachen Raubüberfall. Davon gab es eine Menge in Ashland, selbst hier, im exklusiven Northtown. Aber ehrlich: Wenn die Besitzer der Posh-Boutique all diese Diamanten schon so offen herumliegen lassen wollten, dann hätten sie wirklich einen oder zwei Riesen als Wachen anheuern müssen.

»Beweg dich!«, blaffte der Zwerg und richtete seine Waffe auf Blondie. »Da rüber zu den anderen. Los!«

Sie eilte hinter der Vitrine hervor und blieb neben der Rothaarigen stehen, sodass sich nun ihre Kollegin und Finn zwischen ihr und dem Räuber befanden. Auf jeden Fall besaß sie einen guten Selbsterhaltungstrieb. Feuerhaar hatte das auch bemerkt und bedachte die andere Verkäuferin mit einem feindseligen Blick.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf den Gangster, getrieben von der Frage, ob er wohl zusätzlich zu seiner angeborenen Zwergenstärke und der Pistole in seiner Hand auch noch Magie besaß. Doch die Augen des Zwerges leuchteten nicht und ich spürte auch keine magischen Schwingungen von ihm ausgehen. Keine heißen, unsichtbaren Wellen von Feuermagie, keine kalten Stöße von Eismagie und auch sonst nichts, was darauf hingewiesen hätte, dass er ein Elementar war. Gut. Das machte alles einfacher.

»Gib mir den Schlüssel!«, blaffte der Zwerg Blondie an, als sie hinter den Verkaufstresen trat. »Jetzt!«

Mit zitternden Fingern zog sie einen Schlüsselbund aus ihrer Hosentasche, trat um die anderen beiden herum und näherte sich vorsichtig wieder dem Zwerg. Die Schlüssel hielt sie auf Armeslänge vor sich. Der Gangster schnappte sich das Entgegengehaltene und öffnete damit das Vorhängeschloss an der Schmuckvitrine, statt das Glas einzuschlagen und damit möglicherweise den Alarm auszulösen. Dann ließ er den Bund zu Boden fallen und fing an, Armbänder, Ringe und Ketten in seine Jeanstaschen zu stopfen.

Ich schaute zu den Messern, die ich in der Umkleidekabine neben meiner Kleidung aufgestapelt hatte. Normalerweise trug ich immer fünf Steinsilber-Messer am Körper – eines in jedem Ärmel, eines an meinem hinteren Hosenbund und zwei in meinen Stiefeln. Doch ich hatte sie abgelegt, als ich angefangen hatte, verschiedene Kleider anzuprobieren. Und nun? Ich konnte schlecht mit einem Messer in der Hand aus der Kabine stürmen, weil das jeden Überraschungseffekt zerstört hätte, und mir fehlte die Zeit, erst wieder meine normale Kleidung anzuziehen. Ich verfluchte Finn leise, als ich den Rock des kanariengelben Kleides raffte und die Tür zur Umkleidekabine öffnete.

»Liebling!«, flötete ich in Richtung Laden. »Ist dieses Kleid nicht einfach wunderbar?«

Ich drehte mich ein paar Mal schwungvoll um die eigene Achse und schaffte es dabei, mich zwischen Finn und den Räuber zu schieben. Mit dem gelben Kleid hätte ich auch eine Entenmutter sein können, die auf ihre Küken aufpasste.

»›Liebling?‹ Sie haben gesagt, sie wäre Ihre Schwester!«, zischte Feuerhaar.

Ein Zwerg hatte damit gedroht, sie zu erschießen, und raubte gerade den Laden aus und Feuerhaar machte sich mehr Sorgen um Finns Beziehungsstatus als um etwas anderes? Sie setzte eindeutig merkwürdige Prioritäten.

Finn zog eine Grimasse und bedachte sie mit einem entschuldigenden Achselzucken, allerdings ohne auch nur für einen Moment den Blick vom Zwerg abzuwenden.

Beim Klang meiner Stimme hatte der den Kopf hochgerissen. Die Waffe folgte eine Sekunde später. Er trat ans Ende der Vitrine und ergriff meinen nackten Arm. Seine Finger gruben sich in meine Haut, als er mich neben sich zog. Sein heißer Atem, der nach Zwiebeln und Knoblauch stank, stieg mir in die Nase. Ich hoffte nur, dass er sein Mittagessen genossen hatte, weil er schon bald durch einen Strohhalm würde essen müssen.

»Wer verdammt noch mal bist du?«, knurrte er, als er mir die Pistole vors Gesicht schob. »Und woher bist du gekommen?«

»Ich war … ich war … ich war hinten und habe Abendkleider anprobiert«, sagte ich so schwach, verängstigt und hilflos, wie ich nur konnte. »Ich will keinen Ärger. Bitte, bitte, erschießen Sie mich nicht!«

Der Zwerg starrte mich mehrere Sekunden lang an, bevor er die Waffe sinken ließ und meinen Arm freigab. »Nur damit du es weißt, das ist das scheußlichste Kleid, das ich jemals gesehen habe«, meinte er. »Du siehst aus wie ein verdammter Löwenzahn.«

Mit einem Kopfschütteln streckte er die Hand aus, um sich noch ein paar Schmuckstücke zu schnappen. Sobald er den Kopf gesenkt hatte, trat ich vor, riss ihm die Waffe aus der Hand und rammte ihm meine Faust ins Gesicht.

Aufgrund seiner festen zwergischen Muskulatur war es, als hätte ich meine Knöchel gegen eine Betonmauer gehauen. Mein Schlag hatte keinen großen Effekt, bis auf die Tatsache, dass er seine Aufmerksamkeit von der Vitrine auf mich richtete. Doch das war genau das, was ich beabsichtigt hatte.

»Dummes Miststück«, knurrte er, als er die Arme ausstreckte, um mich zu ergreifen. »Dafür werde ich dich umbringen …«

Ich schlug ihm die Pistole ins Gesicht. Meine Faust mochte ihm vielleicht nichts anhaben, aber bei den scharfen Kanten und dem Gewicht der Waffe in meiner Hand war das etwas anderes. Seine Nase brach beim Aufprall und Blut spritzte durch die Luft. Die warmen, klebrigen Tropfen trafen meine Haut.

Der Zwerg heulte vor Schmerz auf, trotzdem griff er erneut nach mir. Ich umklammerte die Waffe fester und hieb sie ihm noch einmal ins Gesicht. Und das war noch nicht alles. Wieder und wieder schlug ich zu, rammte ihm das schwere Metall so fest ins Gesicht, wie ich nur konnte. Der Zwerg wehrte sich, indem er wild mit seinen Fäusten nach mir ausholte. Trotz dem Blut, das seine Augen verklebte, war er noch immer ein akzeptabler Kämpfer, also rief ich meine Steinmagie und drängte die kühle Macht nach außen, um meine Haut in eine undurchdringliche Hülle zu verwandeln.

Und das war auch gut so, denn kurz darauf traf mich die Faust des Zwerges mitten im Gesicht.

Aufgrund seiner Stärke warf mich der Schlag nach hinten und ich fühlte den Aufprall in meinem gesamten Körper. Doch er brach mir nicht den Kiefer, wie es der Fall gewesen wäre, hätte ich mich nicht mit meiner Magie geschützt. Dennoch deutete der Zwerg die Tatsache, dass er mich endlich erwischt hatte, als positives Zeichen.

»Jetzt bist du nicht mehr so tough, hm?«, grollte er und folgte mir.

»Tough genug, um das hier zu tun«, antwortete ich.

Ich wartete, bis er wieder in Reichweite war, wehrte seinen nächsten Angriff ab und schlug ihm die Pistole fest genug gegen die Schläfe, dass er bewusstlos wurde. Seine Augen wurden erst groß, dann glasig und schließlich rollten sie nach hinten, als der Zwerg zu Boden fiel.

»Weißt du, Gin, du solltest dich wirklich ein wenig aufwärmen, bevor du jemanden so bearbeitest«, murmelte Finn, als er sich über die Vitrine lehnte und auf den Zwerg hinunterstarrte. »Du willst dir doch schließlich keinen Muskel zerren oder irgendwas.«

»O nein«, witzelte ich und gab meine Steinmagie frei, sodass meine Haut wieder ihre normale Textur annahm. »Das wollen wir auf keinen Fall. Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, wie sehr ich shoppen hasse?«

Finn grinste nur, dann zog er sein Handy aus der Tasche, um Bria anzurufen und den Raubüberfall zu melden. Ich verwendete den langen Rock des Kleides, um meine Fingerabdrücke von der Pistole zu wischen, dann legte ich die Waffe auf die Schmuckvitrine.

Ich hatte mich gerade in Richtung der Umkleidekabine gewandt, um wieder meine normale Kleidung anzuziehen, als mir die zwei Verkäuferinnen in den Weg traten. Beide musterten mich ernst. Wahrscheinlich wollten sie mir dafür danken, dass ich sie gerettet hatte …

»Ihnen ist bewusst, dass Sie dafür zahlen müssen, richtig?«, meinte Feuerhaar.

»O ja«, schaltete Blondie sich ein. »Das ist ein Zehntausend-Dollar-Kleid, das Sie da gerade mit Blut besudelt haben.«

Blut? Eigentlich hatte es doch gar nicht so viel Blut gegeben. Es war ja nicht so, als hätte ich dem Zwerg mit einem meiner Messer die Kehle aufgeschlitzt, wie ich es gewöhnlich tat, wenn solche Gestalten meinen Weg kreuzten.

Ich öffnete den Mund, um zu antworten, doch in diesem Moment sah ich mich im großen Spiegel an der hinteren Wand. Dunkelbraunes Haar, graue Augen, helle Haut. Ich sah eigentlich aus wie immer, abgesehen von dem fließenden gelben Kleid – und dem Blut, das meine Hände, meine Arme und meine Brust bedeckte. Na ja, eigentlich war mit Blut besudelt zu sein für mich normal. Aber der Zwerg hatte heftiger geblutet, als ich erwartet hatte, und das schicke Kleid sah aus, als wäre es einem Horrorfilm inklusive Gemetzel im Ballsaal entsprungen.

Ich wollte mich an den zwei Frauen vorbeidrängen, doch sie verschränkten die Arme vor der Brust und ließen mich nicht durch. Anscheinend störte sie der Anblick des ruinierten Kleides mehr als die Tatsache, dass ich direkt vor ihnen jemanden bewusstlos geprügelt hatte.

»Ich habe Ihren hochnäsigen kleinen Laden gerade davor bewahrt, ausgeraubt zu werden – ganz abgesehen davon, dass der Zwerg Sie beide wahrscheinlich umgebracht hätte. Und Sie wollen mir das Kleid in Rechnung stellen?« Ich trat einen drohenden Schritt nach vorn. »Wenn Sie so weitermachen, ist dieses Kleid bald nicht mehr das Einzige hier, was mit Blut besudelt ist.«

Feuerhaar wurde bleich. Einen Moment später trat sie zur Seite. Ich richtete meinen kalten Blick auf Blondie, die kurz nach Luft schnappte, um dann ebenfalls den Weg freizugeben.

Ich stampfte an ihnen vorbei, verschwand in der Kabine, schloss die Tür hinter mir und schälte mich aus dem Kleid. Dann schob ich es wieder auf seinen Bügel und hängte es hinter die Tür. Das Oberteil hatte eine leuchtend scharlachrote Färbung angenommen, es war sogar ein wenig Blut über den kanariengelben Rock nach unten geflossen, sodass ein leicht an Batikhemden erinnerndes Muster entstanden war. Und doch konnte ich ein Lächeln nicht unterdrücken, als ich das schreckliche Kleid anstarrte.

Finn hatte recht. Gelb war nicht meine Farbe. Rot stand mir viel besser.

2

Ich schnappte mir ein paar Taschentücher aus dem Spender in der Umkleide und verbrachte die nächsten zehn Minuten damit, mir das Blut von der Haut zu wischen. Nachdem ich mich im Spiegel betrachtet hatte, um zu überprüfen, dass ich mich so gut wie eben möglich gesäubert hatte, zog ich wieder meine eigenen Sachen an, platzierte meine Messer an den richtigen Stellen und schob die Füße in meine Stiefel.

Das elektronische Bimmeln erklang erneut und verriet mir damit, dass eine weitere Person den Laden betreten hatte. Also trat ich aus der Umkleide und ging in den vorderen Teil der Boutique.

Finn stand immer noch vor der Schmuckvitrine, doch inzwischen hatte sich ihm meine Schwester Bria Coolidge angeschlossen.

Bria hatte ihre üblichen schwarzen Stiefel und eine dunkle Jeans zusammen mit einer hellblauen Bluse an. Um den Hals trug sie die silberne Schlüsselblumen-Rune und an ihrem Gürtel war neben ihrer Pistole auch eine goldene Dienstmarke befestigt.

Feuerhaar und Blondie warteten an der Wand hinter der Vitrine, die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen zu Schlitzen verengt, die Lippen missbilligend geschürzt. Sie waren absolut nicht glücklich über die Ankunft meiner Schwester. Selbst derart normal angezogen war Bria atemberaubend mit ihrem vollen blonden Haar, der rosigen Haut und den leuchtend blauen Augen. Ganz zu schweigen von dem Blick, mit dem Finn sie förmlich anbetete. Er mochte ja mit jeder Frau flirten, die ihm über den Weg lief, aber Bria war diejenige, die dafür sorgte, dass er auf eine ganz bestimmte Weise strahlte. Sie war diejenige, der sein Herz gehörte – das konnten Feuerhaar und Blondie genauso deutlich sehen wie jeder andere auch.

Doch Bria war nicht allein gekommen. Ein Riese von knapp zwei Meter zehn Größe beugte sich gerade vor und zerrte den Zwerg auf die Beine, bevor er dem Räuber Steinsilber-Handschellen anlegte. Haare, Haut und Augen des Riesen waren ebenholzschwarz und sein kahlrasierter Kopf glänzte in der Nachmittagssonne, die durch die Fenster hineinfiel. Das war Xavier, Brias Partner bei der Polizei, und ein weiteres Mitglied meiner selbstgewählten Familie.

Er schloss die Handschellen, dann legte er dem Räuber eine Hand auf eine Schulter, um den viel kleineren Mann zu stützen, damit er nicht umfiel. Der Zwerg starrte unkonzentriert ins Leere. Aus den Wunden, die ich ihm mit der Pistole im Gesicht zugefügt hatte, tropfte immer noch Blut. Trotzdem warf er sich bei meinem Anblick nach vorn.

»Du Miststück!«, schrie er. »Dafür werde ich dich umbringen!«

»Aber sicher wirst du das«, meinte ich locker. »Zieh eine Nummer und stell dich hinten an.«

Xavier packte den Zwerg fester, um ihn zurückzuhalten, und lachte tief. »Eins muss ich sagen, Gin. In deiner Nähe wird es wirklich nie langweilig.«

Ich zwinkerte ihm zu. »Ich gebe mein Bestes, euch in Lohn und Brot zu halten – und gut zu amüsieren.«

Xavier lachte wieder, dann schob er den Zwerg auf die Straße, wo ein dunkler Wagen mit leuchtendem Blaulicht am Randstein wartete.

Ich ging zu den anderen. Finn lehnte an der Vitrine, die Ellbogen aufs Glas und den Kopf in die Hände gestützt. Verträumt musterte er Bria, als sie in die Hocke ging und sich den auf dem Boden verstreuten Diamantschmuck genauer ansah. Feuerhaar und Blondie standen immer noch an der Wand, auch wenn ihre bösen Blicke inzwischen Finn durchlöcherten. Nicht, dass er es bemerkt hätte. Er war unglaublich begabt darin, solch Unannehmlichkeiten zu ignorieren.

Ich rammte ihm den Ellbogen in die Seite. »Ich glaube, von deinem Fan-Club kannst du dich verabschieden.«

»Hmmm?«, brummte Finn, der gerade schamlos Brias Hintern begaffte. »Was hast du gesagt?«

Ich stieß ihn noch ein wenig fester an und nickte in Richtung der zwei Frauen. Endlich ließ er sich dazu herab, einen Blick in ihre Richtung zu werfen.

»Oh, die? Kein Problem«, murmelte er, richtete sich auf, rückte seine Krawatte zurecht und kleisterte sich ein Lächeln ins Gesicht. Dann nahm er die Schultern zurück und schlenderte selbstbewusst zu den beiden wütenden Frauen hinüber. Aber so war Finn eben – immer fähig und willens, das bösartige weibliche Monster zu zähmen. Oder in diesem Fall: zwei Monster.

»Meine Damen«, sagte er. »Habe ich Ihnen schon gesagt, wie mutig Sie waren? Also, ich fand es einfach erstaunlich, wie ruhig Sie geblieben sind, als dieser schreckliche Schläger in den Laden gestürmt kam …«

Und ab ging die Luzie. Er erklärte den Verkäuferinnen, wie sehr er sie für ihren Mumm im Angesicht solch schrecklicher Gefahr bewunderte, und gab noch weiteren Mist in dieser Art von sich. Nur hin und wieder unterbrach er seinen Redefluss, um kurz Luft zu holen und die Tussis mit einem strahlenden Lächeln zu bedenken.

Während Finn die Damen beruhigte und ihrem Ego schmeichelte, wanderte ich um die Vitrine herum. »Hey, kleine Schwester«, sagte ich.

Bria lächelte und stand auf. »Selber hey. Weißt du, als mir Finn erzählt hat, dass er dich heute Nachmittag auf eine Shoppingtour schleppt, hatte ich nicht mit so etwas gerechnet.«

Mein Blick wanderte zu den Blutflecken auf dem dicken, grauen Teppich. »Ich auch nicht.«

»Trotzdem, du hast meinen Tag ein wenig schöner gemacht«, fuhr sie fort.

»Wieso?«

Sie wedelte mit einer Hand in Richtung des Schaufensters, durch das ich sehen konnte, dass Xavier den Zwerg bereits auf den Rücksitz gestopft hatte und jetzt am Auto lehnte. Er hatte eine Sonnenbrille aufgesetzt und den Kopf in den Nacken gelegt, um die warme Junisonne zu genießen.

»Indem du den Bösewicht für mich erwischt hast.« Bria zögerte. »Na ja, eigentlich, indem du ihn bewusstlos geschlagen hast.«

Ich grinste. »Du kennst ja mich und meine Methoden.«

»O ja, das tue ich.«

Sie erwiderte mein Grinsen, bevor sie sich wieder zu der Vitrine umdrehte. Bria griff nach einer Kette mit viereckig geschliffenen Diamanten in der Größe von Kaugummikugeln. Sie musterte die glitzernden Edelsteine einen Moment, bevor sie das Schmuckstück auf die Glasscheibe legte.

»All diese Diamanten hätten eine schöne Beute ergeben, wenn der Kerl damit abgehauen wäre.« Sie schüttelte den Kopf, sodass ihr blondes Haar im Licht glänzte. »Wir müssen Vollmond haben oder etwas in der Art. Das ist schon der zweite Überfall, zu dem ich heute gerufen wurde, und bereits der fünfte dieser Woche.«

»Na ja, das ist doch nicht so ungewöhnlich, oder?«, fragte ich. »Schließlich befinden wir uns in Ashland. Irgendwer plant in dieser Stadt immer irgendwas – gewöhnlich böse, finstere und gewalttätige Machenschaften.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Aber es scheint, als wären diese Woche mehr Bösewichte als sonst aus ihren Löchern gekrochen. Und weißt du, was wirklich seltsam ist? Es gibt niemanden, der sie aufhält.« Bria sah zu den Verkäuferinnen. »Entschuldigung, meine Damen. Beschäftigt der Laden keinen Wachschutz?«

Feuerhaar wandte den Blick tatsächlich lange genug von Finn ab, um Brias Frage zu beantworten. »Wir hatten einen Riesen. Aber Anton hat gestern angerufen und mitgeteilt, dass er ein besseres Angebot bekommen hat. Der Besitzer hat es noch nicht geschafft, ihn zu ersetzen.«

Bria nickte und Feuerhaar wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Finn zu.

»Dieselbe Erklärung habe ich schon zwei Mal gehört«, sagte Bria. »Es ist, als hätten alle Riesen, die als Wachmänner arbeiten, plötzlich beschlossen, nach Höherem zu streben. Das ist schon der dritte Überfall in dieser Woche, bei dem niemand die Ware bewacht hat, obwohl es eine Menge zu holen gab.«

Ich runzelte die Stirn. Das war seltsam. Vampire, Zwerge, Elementare, Menschen – viele Leute verdingten sich als Wachleute oder Bodyguards bei Banken, Firmen oder für wohlhabende Personen. Sicher, es war ein gefährlicher Job, besonders in dieser Stadt – aber man bekam gutes Geld dafür und meistens auch noch eine gute Krankenversicherung. Manche Firmen boten sogar eine Betriebsrente und eine Umsatzbeteiligung an. Ganz abgesehen von den Risikozuschlägen, die man absahnte, wenn man einen Überfall oder einen Mordversuch verhinderte.

In Anbetracht ihrer Größe und Stärke waren Riesen die erste Wahl, wenn es darum ging, die Sicherheit von etwas oder jemandem zu garantieren – besonders bei Unterweltbossen. So gut wie jeder hochrangige Verbrecher in Ashland hatte mindestens ein halbes Dutzend Riesen – wenn nicht mehr – angestellt. Für die Unterweltbosse war das ein Weg, den Rest ihrer Untergebenen im Zaum zu halten und ihr Revier zu verteidigen. Für die Riesen war es meistens leichtverdientes Geld, für das sie überwiegend herumstehen und tough aussehen mussten. Riesen boten nicht nur Schutz an, sondern waren gewöhnlich auch sehr, sehr gut darin, Leuten auf unangenehme Art den Willen eines anderen aufzuzwingen – und Leute zu verprügeln, bis sie die blutige Botschaft kapiert hatten.

Bria schüttelte den Kopf. »Zumindest ist dieser Fall in trockenen Tüchern. Ich brauche nur noch die Zeugenaussagen der zwei Verkäuferinnen, dann können Xavier und ich den Täter zum Revier bringen …«

Ein leises, weibliches Lachen hallte durch die Luft, gefolgt von hohem Kichern. Bria und ich wechselten einen Blick, dann sahen wir zu Finn. Anscheinend war ihm vergeben worden, denn die zwei Verkäuferinnen hingen inzwischen förmlich an ihm. Feuerhaar hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt, während sich Blondie an seine andere Seite presste und mit den Fingern an seinem Jackettärmel herumspielte. Finns Kopf drehte sich zwischen ihnen hin und her, als beobachtete er ein spannendes Tennismatch. Bei der Geschwindigkeit seiner Bewegungen war es ein Wunder, dass er sich nicht den Hals brach.

»Viel Glück mit den Aussagen«, murmelte ich.

Bria lächelte, wobei sie viel Zahn zeigte. »Oh, Glück hat damit nichts zu tun, große Schwester.« Sie stiefelte zu der Gruppe und baute sich vor Finn und seiner bewundernden Entourage auf.

»Bria!«, sagte er. »Ich habe diesen hübschen Damen gerade erklärt, wie mutig sie waren, als dieser schreckliche Verbrecher in den Laden gestürmt kam.«

»Natürlich hast du das getan.« Ihre Stimme klang mild, aber sie musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.

Finn grinste einfältig, befreite sich aber sofort aus den Krallen der Frauen, indem er einfach vortrat. Sein plötzliches Verschwinden sorgte dafür, dass die Verkäuferinnen auf ihren hohen Absätzen schwankten und fast gegeneinander gefallen wären. Aber das war Finn egal. Er beugte sich vor und flüsterte Bria etwas ins Ohr, was eine verschämte Röte auf ihren Wangen erscheinen ließ. Feuerhaar und Blondie runzelten die Stirn, aber Bria lächelte sie nur an. Alle Anwesenden wussten, dass von nun an sie Finns ungeteilte Aufmerksamkeit besaß.

Schließlich hörte er auf zu flüstern und richtete sich wieder auf, ein neckendes Lächeln auf seinem gut aussehenden Gesicht. Bria erwiderte seinen Blick, ihre blauen Augen hatten einen warmen Ausdruck. »Daran werde ich dich erinnern«, murmelte sie. »Heute Abend.«

Finns Grinsen wurde breiter.

Bria errötete noch ein wenig mehr, dann räusperte sie sich, trat an ihm vorbei und wandte sich an die zwei Frauen, jetzt im vollen Detective-Modus. »Meine Damen, ich brauche Aussagen von Ihnen über das, was vorgefallen ist …«

Ich grinste bei der Szene, auch wenn sich mein Herz gleichzeitig schmerzhaft zusammenzog. Finn, Bria und ihr offensichtliches Glück erinnerte mich erneut daran, wie sehr ich Owen vermisste. Nicht zum ersten Mal dachte ich darüber nach, einfach mein Handy herauszuholen und ihn anzurufen. Das Problem war nur, dass ich keine Ahnung hatte, was ich sagen sollte. Ich liebe dich. Ich vermisse dich. Ich habe deine Ex getötet, weil es notwendig war. Nicht gerade Liebesgeflüster.

Trotzdem war der Drang, seine Stimme zu hören, so stark, dass ich so weit ging, mein Handy aus der Jeanstasche zu ziehen. Mein Finger schwebte über der Taste, unter der ich Owens Nummer auf Kurzwahl eingespeichert hatte, doch einen Moment später steckte ich das Handy wieder weg und seufzte. Ich hatte mich bisher nie als Drückeberger betrachtet, aber wenn es um Owen ging, war ich einfach feige.

Doch meine widersprüchlichen Gefühle änderten nichts an der Tatsache, dass ich ins Pork Pit zurückkehren musste, um Sophia beim Abendgeschäft zu helfen. Ich hatte gerade den ersten Schritt in Richtung Tür gemacht, als Finn mir in den Weg trat.

»Was glaubst du, wo du hingehst?«, fragte er.

»Nach draußen«, antwortete ich. »Zu deinem Auto. Damit du mich zum Restaurant zurückfahren kannst.«

Er schüttelte den Kopf. »Nee. Läuft nicht. Auf keinen Fall. Ich habe Sophia gesagt, dass du dir den Rest des Tages freinimmst, und genau das wirst du auch tun. Außerdem bewegen wir uns nicht vom Fleck, bis du ein neues Kleid hast.«

»Du machst Witze, oder?«

Finn drehte sich zum nächsten Regal um und schnappte sich ein langes Kleid mit roten Rüschen. »Was hältst du von dem hier? Okay, das Rot geht für dich zu sehr ins Orange. Bei deiner bleichen Haut brauchst du ein dunkles Rot, nicht so was.« Er zog ein weiteres Kleid vom Ständer, hielt es auf Armeslänge vor sich und musterte es mit kritischem Blick. »O ja«, sagte er. »Das passt perfekt zu deiner Hautfarbe. Und ich glaube, ich habe vorhin irgendwo Schuhe gesehen, die einfach wunderbar dazu passen.«

Ich stöhnte nur.

 

Nach einer weiteren Stunde in der Umkleidekabine der Boutique kehrten Finn und ich ins Pork Pit zurück, um etwas zu Abend zu essen. Der versuchte Überfall mochte die Langeweile des Shoppings kurz unterbrochen haben, trotzdem sehnte ich mich nach einem Lieblingsgericht aus meinem eigenen Restaurant. Also servierte ich uns beiden Burger, Chili-Käse-Pommes und dreifache Schokoladen-Milchshakes.

Später am Abend setzte Finn mich an Fletchers Haus ab – das inzwischen mir gehörte. Ganz der Gentleman, trug er mir das absurd teure Kleid, die Schuhe und die Handtasche ins Haus, die zu kaufen er mich gezwungen hatte. Dann verschwand er und verriet mir, dass Bria auf ihn warte. Natürlich tat sie das, wenn man die heißen Versprechungen nicht vergessen hatte, die er ihr in der Boutique ins Ohr geflüstert hatte.

»Viel Glück bei der Verführung«, stichelte ich, als ich ihm auf die vordere Veranda folgte.

Finn wackelte anzüglich mit den Augenbrauen. »Glück? Finnegan Lane braucht kein Glück, Baby. Damit ist alles gesagt.«

Sein übersteigertes Selbstbewusstsein brachte mich zum Lachen, auch wenn ein wenig Bitterkeit in dem Geräusch mitschwang. »Natürlich nicht.«

Finn zögerte. Offensichtlich hatte er meinen Stimmungsumschwung bemerkt. »Weißt du, ich könnte Bria auch absagen, wenn du heute Abend Gesellschaft möchtest …«

»Es geht mir gut«, fiel ich ihm ins Wort, bevor Mitleid in seine Augen treten konnte. »Tatsächlich bin ich nach dem ganzen Shopping vollkommen fertig. Ich habe vor, unter die Dusche zu steigen, danach ins Bett zu kriechen und es mir dort mit einem guten Buch gemütlich zu machen.«

Wieder zögerte Finn. »Na ja, wenn du dir sicher bist …«

Ich schubste ihn leicht. »Ich bin mir sicher. Geh schon. Hab Spaß mit Bria.«

Finn nickte, trat von der Veranda und stieg in sein Auto. Er ließ den Motor an und winkte noch einmal, bevor er davonfuhr. Ich winkte zurück und lächelte fröhlich, bis er aus dem Sichtfeld verschwunden war. Dann seufzte ich leise und mein aufgesetztes Grinsen schmolz wie eine Kugel Eis in der heißen Sommersonne. Ich hatte Finn nicht angelogen. Ich war müde – war es müde, so zu tun, als ginge es mir gut. Vorzugeben, dass ich Owen nicht vermisste. Dass mein Herz kein blutiger Haufen aus scharfkantigen Scherben war.

Doch hier herumzustehen und in der Abendsonne vor mich hinzubrüten, würde mir auch nicht helfen, also verriegelte ich die Eingangstür hinter mir und ging ins Schlafzimmer. Ich hängte die Kleiderhülle mit meiner neusten Errungenschaft in den Schrank, zog mich aus und nahm eine lange, heiße Dusche, um mir das restliche Zwergenblut vom Körper zu waschen. Dann schlüpfte ich in einen kurzen, lockeren Baumwoll-Pyjama mit einem Muster aus aufgedruckten Brombeeren und kletterte ins Bett.

Ich warf einen Blick auf den Nachttisch und das Exemplar von Finger weg von heißem Eis von Donald E. Westlake, das ich für meinen Literaturkurs am Ashland Community College las. Doch ich war einfach nicht in Stimmung für einen Krimi, also schaltete ich das Licht aus und kuschelte mich trotz der frühen Uhrzeit unter die dünne, weiche Decke.

Ich versuchte zu schlafen, aber kaum hatte ich die Augen geschlossen, stiegen die Bilder auf. Ich träumte in den meisten Nächten – wobei die Bilder weniger Träume waren als Erinnerungen an alte Aufträge, alte Gefahren und alte Feinde, denen ich mich gestellt hatte …

Der Job war schiefgelaufen. Es sollte ein einfacher Auftrag sein. Fletcher Lane, mein Mentor und der Auftragskiller, der unter dem Namen »Zinnsoldat« bekannt war, hatte schon Dutzende Male Drogenbosse wie Peter Delov ausgeschaltet. Ins Haus eindringen, sich der Zielperson nähern, ihr das Messer so lange in den Körper rammen, bis das Opfer wirklich tot war, bevor man wieder in den Schatten verschwand. Problemlos. Sauber. Einfach.

Aber so war es absolut nicht gelaufen.

Ich hatte Fletcher wochenlang dabei geholfen, Informationen über Delov zu sammeln. Mich zum Mord mitzunehmen, sollte meiner Meinung nach eine Belohnung für meine harte Arbeit sein. Außerdem hatte Fletcher jetzt, wo ich fünfzehn war und bereits seit zwei Jahren bei ihm in die Lehre ging, verkündet, dass es langsam Zeit wurde, dass ich wirklich verstand, was es bedeutete, als Profikiller zu arbeiten – und wie viel Blut und Gewalt damit einhergingen.

Als wüsste ich durch mein Leben auf der Straße nicht bereits alles über Blut und Gewalt – und dadurch, dass ich den Mord an meiner Mutter und meiner älteren Schwester beobachtet hatte.

Aber Fletcher hatte mir erklärt, dass ich bald schon bereit wäre, allein loszuziehen, und dass mir diese Übungsläufe mit ihm helfen würden. Ich verstand allerdings nicht wirklich, wovon er sprach. Bei den meisten Jobs, auf die ich ihn bisher begleitet hatte, hatte ich nur in den Schatten herumgestanden und beobachtet, wie er sich der Zielperson näherte und ihr den Todesstoß versetzte, um dann zusammen mit dem alten Mann wieder vom Tatort zu verschwinden. Nicht gerade die Beteiligung, die ich mir vorgestellt hatte.

Aber all das hatte sich heute Abend geändert.

Fletcher hatte erfahren, dass Delov seine Riesen-Wachen am Nachmittag in seine Villa in Miami vorgeschickt hatte, während sich seine sonstigen Angestellten am Flughafen aufhielten und das Privatflugzeug vorbereiteten. Delov wollte früh am nächsten Morgen aufbrechen, um sich mit seinen Drogenlieferanten in den Florida Keys zu treffen. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die immer wollte, dass alles absolut perfekt war.

Ohne die Patrouillen der üblichen Wachen war es ein Kinderspiel gewesen, über die Mauer auf das Grundstück zu steigen, durch die Wälder um das Herrenhaus zu schleichen und ins Gebäude einzudringen. Wir waren keiner Seele begegnet, nicht einmal Peaches, Delovs Zwergspitz. Freie Bahn bis in den dritten Stock, wo sich sein Schlafzimmer befand.

Nur dass der Drogenboss keineswegs selig schlief, wie es eigentlich der Fall sein sollte, wenn man bedachte, dass es ein Uhr morgens war. Fletcher und ich standen in den Schatten von Delovs Schlafzimmer und starrten auf das riesige, leere Bett mit den verknitterten Seidenlaken.

»Wo ist er?«, flüsterte ich. »Wir beobachten ihn seit zwei Wochen. Um diese Zeit liegt er immer im Bett.«

Fletcher zuckte mit den Achseln, doch ich sah die Anspannung in seinem Blick.

»Ich weiß es nicht«, meinte er. »Aber wir müssen ihn finden und noch heute Nacht ausschalten. So leicht werden wir ihm nie wieder so nahekommen.«

Fletcher schlich zum Bett und legte eine Hand auf die Mitte der Matratze. »Noch warm. Das bedeutet, dass er sich wahrscheinlich irgendwo auf diesem Stockwerk herumtreibt. Was glaubst du, wo er ist, Gin?«

Der alte Mann stellte mir immer irgendwelche Fragen, um dafür zu sorgen, dass ich mich in unsere Zielperson hineinversetzte. Er wollte mir damit einbläuen, dass es besser war, zu planen und vorauszudenken, statt nur zu reagieren – egal, in welcher Situation ich mich auch befand.

Ich dachte über alles nach, was mir der alte Mann beigebracht hatte; über alles, was ich über Delov gelernt hatte, während wir ihn beobachtet hatten. »Am häufigsten gehen Leute spätnachts in ihrem eigenen Haus in die Küche oder ins Bad. Entweder ist er aufgestanden, weil er Hunger hatte, oder er musste mal. Ich tippe auf die Küche, wenn man seinen unendlichen Appetit bedenkt. Fast auf allen Fotos, die wir von ihm geschossen haben, isst er gerade etwas.«

Fletcher nickte. »Okay. Bleib hinter mir, während wir losziehen, um festzustellen, ob du recht hast.«

Auf Zehenspitzen schlichen wir zur Schlafzimmertür und in den Flur. Der dritte Stock des Herrenhauses war Delov allein vorbehalten und jedes Zimmer war üppiger eingerichtet als das nächste, alle mit leicht überdimensionierten Stühlen und Tischen, angepasst an den großen Körper des Riesen. Wir spähten in jeden Raum, an dem wir vorbeikamen, doch sie waren alle genauso leer wie das Bett.

Schließlich erreichten wir das letzte Zimmer auf diesem Stockwerk – die Küche. Die breite Tür stand offen und Licht ergoss sich in den Flur. Ich hörte ein leises Klirren, dann wurde eine Kühlschranktür geöffnet, gefolgt vom Klappern von Tellern. Fletcher grinste und streckte die Daumen in die Luft.

Wir schoben uns rechts und links neben den Türrahmen, wobei wir uns so gut wie möglich in den Schatten hielten. Dann spähten wir in den Raum. Die Küche war genauso groß und weitläufig wie die anderen Zimmer und mit zwei Exemplaren von allem ausgestattet, was man normalerweise in einem solchen Raum fand, inklusive zwei Kühlschränken, die nebeneinander an der linken Wand standen. Beide waren geöffnet, davor stand Peter Delov und starrte in die kalten Tiefen.

Delov war groß, selbst für einen Riesen – fast zwei Meter vierzig. Er stand mit dem Rücken zu uns, doch von unserer Überwachung wusste ich, dass er gebräunte Haut, braune Augen, buschige Augenbrauen und dunkelbraune Haare hatte, die er über seiner hohen Stirn nach hinten kämmte. Delov betrachtete sich selbst als gut aussehenden Mann und angesichts seines riesigen Drogen-Imperiums gönnte er sich von allem nur das Beste, bei Kleidung genauso wie bei Autos und Frauen.

Doch seine große Leidenschaft war Essen – vor allem das erlesene. Beide Kühlschränke waren bis oben hin gefüllt mit teurem Champagner, Kaviar sowie verschiedenen Delikatess-Käsen. Ich rümpfte die Nase. Eine ziemlich stinkende Angelegenheit. Auf der Arbeitsfläche zur Rechten lagen mehrere Packungen Cracker, zusammen mit einem Teller voller Aufschnitt und einer Platte, auf der eine bunte Mischung aus Pralinen, Erdbeeren und Kiwi-Scheiben lag. Anscheinend hatte Delov Lust auf einen nächtlichen Snack bekommen. Ich wünschte ihm viel Spaß damit, denn es würde das Letzte sein, was er in diesem Leben aß.

Vielleicht war es falsch, aber ich fühlte mich nicht schlecht, weil ich Delovs Tod plante. Absolut nicht. Ich wusste genau, dass er Abschaum war. Der Riese verkaufte Drogen, was schon schäbig genug war – aber er hatte sich darauf spezialisiert, Kinder abhängig zu machen. Er besaß ein ganzes Netzwerk von Dealern, deren einzige Aufgabe darin bestand, das Zeug an den örtlichen Middle- und Highschools zu verbreiten. Vor ein paar Wochen war ein dreizehnjähriges Mädchen gestorben, nachdem es schlechten Stoff aus einer von Delovs Lieferungen erwischt hatte. Auch ihre neunjährige Schwester war erkrankt und fast gestorben. Die Eltern der Mädchen hatten es auf verschlungenen Wegen geschafft, Fletcher zu kontaktieren, und jetzt waren wir hier, um Vergeltung zu üben für das tote Mädchen und ihre kranke Schwester – und zwar ein für alle Mal.

Fletcher gab mir ein Signal mit der Hand. Ich nickte, weil ich verstanden hatte, dass ich auf meine Position im Flur bleiben und uns den Rücken decken sollte; nur für den Fall, dass sich doch noch jemand im Herrenhaus aufhielt, der hier nichts zu suchen hatte. Dann ließ Fletcher eines der Steinsilber-Messer in seine Hand gleiten, die er bei solchen Jobs verwendete, glitt in die Küche und schlich sich näher an Delov heran.

Ich war so damit beschäftigt, Fletcher zu beobachten, dass ich das Klick-klick-klick von Krallen auf dem Parkett hinter mir erst einmal nicht registrierte. Als ich es endlich hörte, erstarrte ich für einen Moment, dann drehte ich langsam den Kopf und sah nach unten.

Ein fetter, plüschiger Zwergspitz mit goldenem Fell schnüffelte an meinem linken Stiefel, als gäbe es nichts Interessanteres auf der ganzen Welt.

Ich unterdrückte einen Fluch. Wir hatten Peaches nirgendwo gesehen, während wir uns durch das Herrenhaus geschlichen hatten. Ich hatte angenommen, er hätte sich in irgendeinem anderen Stockwerk für die Nacht zusammengerollt. Ich mochte Hunde, wirklich, aber sie hatten schon mehr als nur ein paar der Jobs versaut, auf die Fletcher mich mitgenommen hatte. Trotzdem konnte ich den neugierigen Köter nicht einfach umbringen. Peaches war unschuldig, selbst wenn das für seinen Besitzer nicht galt. Keine Haustiere, keine Kinder – niemals. Das war der Kodex, nach dem Fletcher mich ausgebildet hatte und dem ich unbedingt folgen wollte.

Ich ging langsam in die Knie und streckte meine Hand aus, in der Hoffnung, dass ich den Hund auf diese Weise lang genug ablenken konnte, bis Fletcher Delov getötet hatte. Mein Mentor befand sich nur noch ungefähr sechs Meter von dem Riesen entfernt und kam ihm schnell näher. Noch zehn Sekunden und er wäre in Reichweite.

Fünf … vier … drei … zwei …

Peaches schnüffelte an meinen Fingern und leckte sie einmal kurz ab. Und dann fing er an zu bellen – ein lautes, nerviges Hier-ist-ein-Unbekannter-im-Haus-Bellen.

O nein.

Delov wirbelte bei dem Geräusch sofort herum und hieb mit dem großen Messer, mit dem er gerade noch Käse und kalten Braten geschnitten hatte, nach Fletcher. Fletcher gelang es, auszuweichen, aber Delov stürzte sich sofort auf ihn. Hin und her tobte der Kampf und führte die beiden quer durch die Küche. Teller zerbrachen, Besteck und Essen fiel zu Boden. Ich verzog bei dem Lärm das Gesicht. Nur gut, dass sich die Wachen heute Nacht nicht im Haus befanden, sonst säßen wir so richtig in der Klemme. Peaches neben mir hörte nicht auf zu bellen, aber er schien zumindest erkannt zu haben, dass er nur platt getrampelt würde, wenn er jetzt in die Küche rannte.

Ich stand auf, bereit, mich auf Fletchers Seite in den Kampf zu werfen. Doch das konnte ich nicht. Delov würde mich kommen sehen, also konnte ich den Riesen nicht einmal ablenken, indem ich mich von hinten an ihn ranschlich.

Dann passierte das Schlimmste, was nur möglich war: Delovs Faust traf tatsächlich Fletchers Brust.

Fluchend stolperte mein Ziehvater nach hinten. Delov warf sich nach vorn, um seinen Vorteil auszunutzen, doch Fletcher schnappte sich einen Kupfertopf von einem Regal über seinem Kopf und rammte ihn Delov ins Gesicht. Der Riese knurrte vor Schmerz. Er stolperte und rutschte auf ein paar Scherben auf dem Boden auf, sodass er auf ein Knie fiel.