Sense of Danger - Jennifer Estep - E-Book

Sense of Danger E-Book

Jennifer Estep

0,0
14,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Diese Analystin deckt magische Kriminalfälle auf! Charlotte Locke arbeitet für die Section 47, eine Geheimorganisation der Regierung, die versucht, paranormale Kriminelle und Terroristen dingfest zu machen. Als Analystin hilft ihr dabei ihre magische Begabung, Lügen zu enttarnen. Klingt spannend – aber eigentlich schreibt sie vor allem Berichte, die dann keiner liest. Zumindest dachte sie das immer. Denn jemand hat die Berichte gelesen … und dieser Jemand tut nun alles, um sie aus dem Weg zu räumen. Um zu überleben, muss Charlotte ausgerechnet dem ebenso mysteriösen wie gut aussehenden Special Agent Desmond vertrauen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:

www.piper.de

Wenn Ihnen dieses Buch gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Sense of Danger« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

Aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

© Jennifer Estep 2020

Published by Arrangement with Jennifer Estep

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»A Sense of Danger« bei Audible Originals, LLC., 2020

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München; Jasmine Aurora/ arcangel images

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem E-Book hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen und übernimmt dafür keine Haftung.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

1

Charlotte

2

Charlotte

3

Charlotte

4

Desmond

5

Charlotte

6

Charlotte

7

Desmond

8

Charlotte

9

Desmond

10

Desmond

11

Charlotte

12

Desmond

13

Charlotte

14

Desmond

15

Charlotte

16

Charlotte

17

Desmond

18

Charlotte

19

Desmond

20

Charlotte

21

Desmond

22

Charlotte

23

Desmond

24

Charlotte

25

Desmond

26

Charlotte

27

Desmond

28

Charlotte

29

Charlotte

30

Charlotte

31

Desmond

32

Charlotte

33

Desmond

34

Charlotte

35

Desmond

36

Charlotte

37

Charlotte

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für meine Mom und meine Grandma – für alles.

Für mich selbst – weil ich immer einen Spionageroman schreiben wollte.

1

Charlotte

Die Auftragsmörder erkannte man immer an ihren Anzügen.

Jacketts, Hemden, Krawatten. Die Kleidungsstücke waren aus feinstem Stoff und maßgeschneidert, aber gleichzeitig auch immer dunkel und bedrückend einfarbig. Schwarz auf schwarz, marineblau auf marineblau, vielleicht ein dunkles Grau über noch dunklerem Grau – wenn jemand gerade wirklich gut drauf war. Es war, als hätten die Männer und Frauen, die in der Section 47 als Auftragskiller dienten, genauso leichtfertig beschlossen, jede Farbe aus ihrer Garderobe zu tilgen, wie sie paranormale Terroristen, Kriminelle und andere gefährliche Magiewirkende umbrachten, die in der ahnungslosen sterblichen Welt Chaos und Unheil anrichteten.

Ich beäugte ein paar der Auftragsmörder in schwarzen Anzügen, die mit Plastiktabletts in den Händen an der Ausgabe der Cafeteria anstanden. Natürlich nannte sie niemand von uns in Section 47 wirklich Auftragsmörder. Zumindest nicht, wenn sie es hören konnten. Nicht, wenn man weiteratmen wollte. Nein, meine geheime Regierungsorganisation bezeichnete diese Männer und Frauen als Cleaner – als könnte das ihre wahre tödliche Aufgabe verschleiern. Sie machten überhaupt nichts sauber. Sie verursachten nur blutige Bescherungen.

So, wie mein Vater es immer getan hatte.

»Ich würde zu gern wissen, was du gerade denkst, Charlotte«, hörte ich eine hohe Frauenstimme sagen, dann erschien eine wedelnde Hand in meinem Blickfeld und lenkte mich von den Killern ab.

Ich sah die atemberaubende Frau mit langem, rotem Haar, braunen Augen und rosiger Haut an, die mir gegenübersaß. Miriam Lancaster, meine Bürofreundin, mit der ich zum Mittagessen gegangen war, erwiderte meinen Blick. Offensichtlich erwartete sie tatsächlich eine Antwort auf ihre Frage. Ich hatte nicht vor, zu gestehen, wie sehr die schwarz gekleideten Cleaner mich an meinen Vater erinnerten, also deutete ich stattdessen auf meinen Laptop.

»Ich denke nur darüber nach, wie viel Arbeit es noch zu erledigen gibt.«

Mitgefühl breitete sich in Miriams Miene aus. »Versuchst du, den wichtigen Bericht fertig zu bekommen, bevor du zu deiner Schicht im Diner aufbrichst?«

Bei der Erwähnung meines ungeliebten Zweitjobs schlossen sich meine Hände um den Laptop. Ich hätte Miriam nie erzählen dürfen, dass ich abends als Kellnerin in einem Diner in der Nähe des Hauptquartiers der Section 47 arbeitete. Aber sie hatte mir die Info bei einem unserer Mittagessen entlockt, weil sie einen Blick auf die lächerliche Uniform in meiner Schultertasche erhascht hatte. Andererseits war Miriam nicht eine einfache Analystin wie ich, sondern eine Charmeurin – jemand, der sich bei ausländischen Spionen, Diplomaten und Geschäftsleuten einschmeichelte, um ihnen subtil Informationen zu entlocken.

Zusätzlich zu ihrem umwerfenden Aussehen besaß Miriam auch die magische Gabe des Charismas. Selbst wenn sie ihre Macht gerade nicht einsetzte – nicht versuchte, mich zu betören oder zu umgarnen –, konnte ich doch trotzdem die Magie spüren, die von ihrem Körper ausging. Das beruhigende Gefühl ließ mich immer an eine warme, weiche Decke denken, die direkt aus dem Trockner kam. Miriam wusste genau, wie sie dieses beruhigende Gefühl bestmöglich einsetzen konnte, wusste, wann sie lächeln, nicken und zustimmende Geräusche von sich geben musste, um den Leuten ihre tiefsten, dunkelsten Geheimnisse aus der Nase zu ziehen. Sie mochte keine Leute umbringen, wie die Cleaner es taten, aber die Section 47 hatte sie trotzdem in eine Waffe verwandelt – eine Waffe, die statt mit Pistolen und Messern mit freundlichem Grinsen und glatten Worten kämpfte.

»Ja«, beantwortete ich endlich ihre Frage, »etwas in der Art.«

Miriam nickte, dann lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück. Ihr Blick huschte von einem Ende der Cafeteria zum anderen, als wäre der Anblick faszinierend statt langweilig.

Die Cafeteria sah aus wie jede andere in Washington, D. C.: ein riesiger, tunnelartiger Raum, gefüllt mit grauen Plastiktischen, passenden Stühlen und Schwarz-Weiß-Fotodrucken von der Hauptstadt in billigen Rahmen an den Wänden. Eine Seite des Raums bestand aus einer riesigen Fensterfläche, hinter der man das geschäftige Treiben auf dem Gehweg und der Straße beobachten konnte – auch wenn der Fußgänger- und Autoverkehr nach dem Gedränge der Mittagszeit ein wenig nachgelassen hatte. Doch obwohl es bald schon zwei Uhr war, traten immer noch Leute von der Straße durch den Torbogen und stellten sich in der Essensschlange an.

Die Cafeteria – die wenig einfallsreich ebenfalls Section 47 hieß – servierte durchaus akzeptables Essen. Die Karte beinhaltete alles vom typischen Burger mit Pommes über Pizza bis zu veganem Salat, frisch gepressten Säften und glutenfreien Keksen. Da die Cafeteria für alle geöffnet war, machte sie zum Frühstück und Mittagessen ein gutes Geschäft – auch wenn die normalen Sterblichen, die das Café betraten, natürlich nicht ahnten, dass sie neben gefährlichen Leuten mit magischen Fähigkeiten und einer tödliche Ausbildung saßen.

Andererseits galt das für die meisten Restaurants in D. C. Man wusste einfach nie, ob die Frau in dem langweiligen beigefarbenen Hosenanzug mit ihrem Selleriesaft die persönliche Assistentin irgendeines CEO war oder die Leiterin einer verdeckten Regierungsorganisation. Oder ob der Kerl mit seinem verknitterten Hemd und dem Fleck auf der Krawatte, der sich mit Käse überbackene Makkaroni in den Mund schob, ein Taxifahrer bei der Mittagspause war oder ein ausländischer Diplomat, der auf amerikanischem Boden einen Spionageauftrag ausführte. Angeblich gab es in Washington, D. C., pro Kopf mehr Spione – sowohl sterbliche als auch paranormale – als in irgendeiner anderen Stadt der Welt.

Miriam nahm einen Schluck von ihrem Eistee, wobei es ihr irgendwie gelang, ihren leuchtend roten Lippenstift nicht zu verschmieren. Das mochte kein magisches Talent sein, aber trotzdem beneidete ich sie um diese Fähigkeit. Mein eigener pflaumenfarbener Lippenstift hatte sich schon kurz nach meiner Ankunft heute Morgen verabschiedet.

»Was ist mit Jensens Beerdigung?«, fragte Miriam. »Gehst du da heute Abend hin?«

Erneut umklammerte ich die Kanten meines Laptops. Gregory Jensen war mein direkter Vorgesetzter und ein überzeugter Umweltschützer gewesen, der ständig über den CO2-Fußabdruck der Section gesprochen hatte und darüber, wie die Cafeteria den Planeten mit Plastiktrinkhalmen vernichtete. Jensen war außerdem überzeugter Fahrradfahrer gewesen, der sich eingebildet hatte, die Straße gehöre ihm und nicht den Autos und Lastwagen. Er war jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit gekommen – bis er letzte Woche bei einem Unfall mit Fahrerflucht ums Leben gekommen war. Jensen hatte gegen den Verkehr gekämpft – und letztendlich hatte der Verkehr gewonnen.

Ich empfand Mitgefühl für seine Frau und seine Tochter, aber Gregory Jensen selbst war mir schrecklich auf den Sack gegangen. Ständig hatte er Befehle geblafft und mich auf angebliche Fehler in meiner Arbeit hingewiesen. Am Tag vor seinem Unfall hatte er mir tatsächlich mitgeteilt, dass die Heftklammer an meinem Bericht schief saß, bevor er mich angewiesen hatte, sie zu entfernen und die Papiere zu seiner Zufriedenheit neu zu tackern.

Außerdem hatte Jensen die unangenehme, nervige Angewohnheit besessen, meine Arbeit als seine eigene auszugeben. Mehr als einmal hatte ich in abteilungsübergreifenden Sitzungen gesessen, in denen Jensen meine Berichte als seine eigene Arbeit präsentierte. Er erwähnte nie, dass ich die gesammelten Informationen zusammengestellt hatte. Stattdessen hatte er die von mir gezogenen Schlüsse als seine eigenen Erkenntnisse ausgegeben. Ich mochte nur eine Analystin sein, aber ich hatte dreimal härter gearbeitet als Jensen. Er war sogar zu faul gewesen, seinen eigenen Job zu machen, denn eigentlich wäre es seine Aufgabe gewesen, meine Berichte zu nehmen, um sie zu analysieren und daraus weitergehende Schlussfolgerungen zu ziehen. Stattdessen hatte er sich damit zufriedengegeben, meine Erkenntnisse zu stehlen.

Jensen hatte mir ständig im Nacken gesessen, so wie es auch unzählige andere unglückliche Manager der mittleren Verwaltungsebene bei ihren Untergebenen taten. Miriam war die einzige Person in unserer Abteilung gewesen, die Jensen gemocht hatte. Und das auch nur, weil sie manchmal seinem Ego geschmeichelt hatte, indem sie überschwänglich betonte, wie wichtig doch die Arbeit war, die wir Analysten und Charmeure leisteten.

Wie bei vielen Spionageorganisationen bestand die hauptsächliche Aufgabe der Section 47 darin, Informationen zu sammeln und damit Terrorangriffe, Unglücke mit vielen Toten und andere bedeutsame, lebensbedrohliche Katastrophen zu verhindern. Nur dass die Section nicht normale, sterbliche Kriminelle ins Visier nahm, sondern diejenigen, die Magie und magisch verstärkte Waffen einsetzten, um ihre Verbrechen zu begehen. Für den unglücklichen Fall, dass es trotz unserer Präventivmaßnahmen zu einem Angriff kam und ein paar Paranormale ihre Mächte einsetzten, um Tod und Verheerung niederregnen zu lassen, war es die Aufgabe der Section, alles zu vertuschen und die magische Katastrophe bestmöglich zu erklären. Und natürlich jagte sie dann die Verursacher – und eliminierte sie, um damit Wahrheit und Gerechtigkeit für alle zu erreichen. Zumindest lautete so der Plan – auch wenn die Ausführung oft zu wünschen übrig ließ.

Jensens wahres Problem mit mir hatte jedoch darin bestanden, dass ich ein Vermächtnis war und er nicht. Meine Großmutter und mein Vater hatten beide für die Section gearbeitet, was bedeutete, dass nach meinem Studienabschluss ein sicherer Job auf mich gewartet hatte. Die Section 47 war in vielerlei Hinsicht ein Familienunternehmen, wenn auch eines, das von Dutzenden verschiedener Familien geführt wurde statt von nur einer Blutlinie. Diese sogenannten Vermächtnisfamilien erzogen ihre Kinder, um Cleaner, Charmeure oder Analysten zu werden, so wie normale, sterbliche Familien Generationen von Ärzten, Rechtsanwälten oder Buchhaltern hervorbrachten.

Angesichts der langen Familiengeschichte gab es natürlich eine Menge Vetternwirtschaft und Druck in der Spionageagentur. Wenn eine Mutter in der Section 47 zu Ruhm gelangt war, dann erwartete man von ihrem Kind, es noch besser zu machen. Wenn ein Bruder im ersten Jahr versagt hatte, wurde vom nächsten Geschwister erwartet, dass es die Sache in Ordnung brachte und die Familienehre wiederherstellte. Und so weiter und so fort.

Der Leumund einer Familie und, na ja, eben das Vermächtnis, konnte den eigenen Erfolg in der Section sowohl befördern als auch behindern. Aufgrund der vorausgegangenen Dienste, Verbindungen und Geschichten stiegen die meisten Vermächtnisse viel schneller durch die Reihen der Section auf als Neuanfänger wie Jensen, der fünf Jahre auf dem gleichen Posten gesessen hatte. Daher seine allumfassende Verbitterung mir gegenüber – obwohl das Vermächtnis der Locke-Familie wirklich alles andere als makellos war.

»Hallo?! Erde an Charlotte!« Miriam schnippte mit den Fingern vor meinem Gesicht. »Gehst du zu Jensens Beerdigung?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe keine Zeit. Ich muss heute Abend für eine andere Kellnerin im Diner einspringen. Außerdem habe ich schon auf Jensens Karte unterschrieben und mich an den Blumen beteiligt. Das ist mehr, als er für mich getan hätte.«

Miriam nickte zustimmend. Ihr Handy vibrierte und sie las die Nachricht. Dann begann sie, selbst zu tippen. Ihre Daumen flogen förmlich über das Display.

»Neuer Toy Boy?«, fragte ich, womit ich ihre Lieblingsbezeichnung verwendete.

»O ja«, schnurrte sie.

»Wer ist es diesmal? Pete aus der Buchhaltung? Hank aus dem Waffenlager? Oder hast du dir endlich den geheimnisvollen Kerl geschnappt, auf den du seit ein paar Wochen stehst?«

Ein verschmitztes Lächeln verzog Miriams rote Lippen. »Du weißt doch, dass ich genieße und schweige. Zumindest, solange es noch andauert.«

Ich schnaubte. Miriam befand sich immer in irgendeiner Art von Beziehung – vom anfänglichen vorsichtigen Flirten über das erste Date und die langweilige Routine, eine Beziehung aufrechtzuerhalten, bis hin zur unvermeidlichen, unangenehmen Trennung. Vielleicht gehörte das einfach zu ihrer Charmeur-Magie und der Fähigkeit, andere zu bezirzen. Miriam gehörte zu den Leuten, die es liebten, verliebt zu sein – oder Lust für jemanden zu empfinden. Und sie genoss das ganze Drama, das damit einherging, innerhalb der Section eine Beziehung zu führen.

Fraternisieren unter Agenten war nicht unbedingt verboten, aber es wurde definitiv nicht gerne gesehen. Die hohen Tiere wollten, dass die Agenten der Section gegenüber loyal waren, nicht irgendeiner Person. Mehr als eine Karriere, sogar die von Vermächtnissen, war wegen einer schiefgelaufenen Affäre ruiniert worden.

»Du willst mir wirklich nicht erzählen, wer es ist?«

»Diesmal nicht. Ich will nichts beschreien. Außerdem glaube ich wirklich, dass es diesmal der Richtige sein könnte.«

Ich schnaubte wieder. »Das behauptest du von jedem Mann, mit dem du ausgehst.«

Miriam grinste. »Weil es jedes Mal stimmt. Zumindest wirkt es am Anfang immer so. Doch dieser Toy Boy weckt mehr Hoffnungen als gewöhnlich. Tatsächlich ist der hier ein wenig reifer, als es meinem üblichen Beuteschema entspricht, also sollte ich ihn wahrscheinlich Mystery Man nennen, wie du es immer tust.« Sie dachte eine Sekunde darüber nach, dann grinste sie breiter. »Nö! Es bleibt bei Toy Boy. Weil ich bisher definitiv Spaß daran habe, mit ihm zu spielen.«

Miriam kicherte über ihren eigenen schlechten Witz, dann tippte sie weiter in ihr Handy. Ich schüttelte ungläubig den Kopf, auch wenn ein Funken Neid in meinem Herzen aufflackerte. Ich hatte keine Ahnung, woher Miriam die Zeit und die Energie für ihre ständigen Verabredungen, Affären und Trennungen nahm – zusätzlich zu den Flirts, die zu ihrer Arbeit für die Section gehörten. Außerdem beneidete ich sie um ihre sorglose Attitüde und um den Spaß, den sie hatte.

Ich war seit mehr als einem Jahr mit niemandem ausgegangen. Das schrieb ich größtenteils der Krankheit meiner Großmutter und ihrem daraus folgenden Tod vor ein paar Monaten zu. Doch schon bevor meine Welt in Flammen aufgegangen war, hatte ich nie viele Verabredungen gehabt. Es fiel mir schwer, Leuten zu vertrauen, was wiederum mit den unzähligen Geldprojekten meiner Großmutter und den berüchtigten Schlamasseln zusammenhing, die mein Vater angerichtet hatte. Meine eigene Arbeit für die Section hatte mich nur noch abgebrühter, paranoider und misstrauischer gemacht, was die Wünsche, Motive und Agenden anderer Leute anging. Es war besser, allein zu sein und auf mich selbst zu vertrauen, als mich auf jemanden zu verlassen – der mich wahrscheinlich verraten würde, sobald sich die Chance dazu ergab.

Trotz dieser finsteren Gedanken musste ich bis zum Abend den Hyde-Bericht fertigstellen. Ich nahm einen Schluck Cookies-and-Cream-Mokka, um meinem Hirn einen ordentlichen Schuss Zucker und Koffein zu gönnen. Die Cafeteria servierte herausragende Heißgetränke und der reichhaltige Schokokaffee glitt warm über meine Zunge, während die luftige Sahne in meinem Mund schmolz wie eine nach Vanille schmeckende Wolke.

Ich hatte meine Tasse gerade wieder abgestellt, als ein Farbtupfer meine Aufmerksamkeit erregte. Ein Mann in einem hellgrauen Anzug mit leuchtend blauer Krawatte schritt durch den Raum und schlängelte sich auf dem Weg zur Ausgabetheke zwischen Tischen hindurch. Er hielt sich hoch aufgerichtet und bewegte sich mit geschmeidigen, großen Schritten. Definitiv ein Auftragsmörder, trotz seiner schockierend farbenfrohen Krawatte.

»Wer ist das?«, fragte ich Miriam und deutete unauffällig auf den Mann. »Den habe ich hier noch nie gesehen.«

Ich hatte mir alle Killer, ähm, Cleaner eingeprägt, damit ich ihnen aus dem Weg gehen konnte. Wir mochten für dieselbe Agentur arbeiten, aber sie gehörten nicht zu den Leuten, die man nerven, gegen sich aufbringen oder denen man auch nur im Weg stehen wollte.

Die Section 47 investierte Tausende Stunden und Millionen Dollar in das Training, die Unterbringung und die Verpflegung der Cleaner – und natürlich darauf, sie zu tödlichen Waffen auszubilden. Diese Zeit, Energie und das ganze Geld sorgten dafür, dass Cleaner für die Führungskräfte der Section sehr viel mehr wert waren als andere Agenten – viel mehr wert als einfache Analysten wie ich. Cleaner standen in der Hackordnung ganz oben. Sollte ich je in einen Konflikt mit einem Cleaner geraten oder mich irgendwie mit einem von ihnen anlegen, würde ich verlieren, selbst wenn es nur darum ging, wer in einem Meeting den letzten Blaubeermuffin bekam.

Miriam ließ ihr Handy sinken und sah in die angegebene Richtung. Dann lehnte sie sich vor, der Blick aus ihren haselnussbraunen Augen scharf und interessiert. »Ich habe keine Ahnung, wer der Kerl ist, aber ich würde es auf jeden Fall gerne herausfinden. Wow!«

»Was ist mit deinem Mystery Man?«

»Er ist toll. Aber ich finde immer genug Zeit, um die Bekanntschaft eines gut aussehenden Fremden zu machen.«

Ihr anschließendes Zwinkern entrang mir ein Lachen. Typisch Miriam. Ihr unendlicher Enthusiasmus gehörte zu den Dingen, die ich an ihr mochte. Und die ständigen Geschichten von ihren Verabredungen – ob nun gut, schlecht oder desaströs – lenkten mich eine Weile von meinem eigenen langweiligen Leben ab.

Miriams Handy brummte erneut und sie las die Nachricht. »Auf jeden Fall muss ich jetzt los. Ich habe vor Jensens Beerdigung noch was zu erledigen.«

»Okay. Bis später.«

Miriam stand auf, schob das Handy in die hintere Tasche ihrer Skinny-Jeans, warf sich den Riemen ihrer Designertasche über die Schulter und schlenderte aus der Cafeteria. Mehr als eine Person beobachtete ihren Abgang – unter anderem Diego Benito, der IT-Techniker, den sie letzten Monat abgesägt hatte. Diego bemerkte, dass ich ihn ansah, und senkte eilig den Kopf, um sich wieder mit seinem Laptop zu beschäftigen.

Ich gönnte mir noch einen größeren Schluck Mokka, dann begann ich, an meinem Laptop die neuesten Bankgeschäfte zu analysieren, wie es meiner aktuellen Aufgabe entsprach.

Ich klickte mich durch verschiedene Dokumente und Tabellen, um die Informationen auf offensichtliche Fehler zu untersuchen. Allerdings fand ich nichts, also lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und betrachtete den Bildschirm in seiner Gesamtheit, bis Worte und Zahlen mein Blickfeld füllten und gleichzeitig in mein Hirn einsanken.

Je länger ich das Display ansah, desto mehr Farben erschienen.

Jeder andere, der meinen Bildschirm betrachtete, hätte lediglich Worte und Ziffern in schwarzer Schrift gesehen. Doch für mich wechselten sie von dunklem Schwarz zu verschiedenen Grauschattierungen, zusammen mit ein paar hellen Pinktönen und sogar verschiedenen Ausprägungen von Dunkelrot.

Mein Blick folgte den changierenden Farben, wobei ich mit der schwarzen Schrift begann – die Punkte, die wahr, korrekt, präzise waren. Im Anschluss sah ich mir die Grautöne an – die Teile, in denen es kleine Tipp- und Rechenfehler gab. Als Nächstes kamen die Pinktöne – die Buchstaben und Ziffern, in denen sich ernsthaftere Fehler verbargen. Und schließlich die Rotschattierungen – die großen, eklatanten Fehler, die nur entstanden, wenn jemand entweder sehr schludrig vorging oder absichtlich falsche Informationen eingegeben hatte, um eine elektronische Lüge zu fabrizieren.

Mein linker Zeigefinger schwebte über dem Bildschirm und folgte der farblichen Veränderung. Mit der rechten Hand machte ich mir Notizen auf einem Block. Fast alle in der Section 47 besaßen irgendeine magische Fähigkeit. Meine offenbarte sich in einer ungewöhnlichen Form der Synästhesie. Ich konnte Fehler entdecken, die Leute gemacht hatten – ob sie nun aus Versehen Zahlendreher verursacht oder eine falsche Telefonnummer aufgeschrieben, absichtlich ihre Reisekostenabrechnung gefälscht oder sich des wissentlichen Betruges durch falsche Angaben beim Finanzamt schuldig gemacht hatten. Meine Synästhesie manifestierte sich noch auf andere Arten, aber überwiegend setzte ich sie ein, um mir meine Arbeit als Analystin zu erleichtern.

Nicht, dass es irgendwen interessiert hätte. Dank Gregory Jensens Abneigung mir gegenüber waren die meisten meiner Berichte allein seinen brillanten Fähigkeiten zugeschrieben worden. Oder jemand hatte sie einmal überflogen, um sie im Anschluss in der Datenbank der Section abzulegen, von wo sie niemals wieder ans Licht der Öffentlichkeit drangen. Jensen war nicht der Einzige, der im mittleren Management festhing. Ich war fünfunddreißig Jahre alt und arbeitete seit ungefähr zehn Jahren für die Section – seitdem ich mein Studium abgeschlossen hatte. Eigentlich hätte ich bereits eine Beförderung zum Senior Analyst erhalten haben sollen, statt seit fünf Jahren auf meinem derzeitigen Posten zu arbeiten.

Teilweise konnte meine ausbleibende Beförderung natürlich etwas mit den Fehlern meines Vaters in der Section zu tun haben, aber Jensen hatte mir auch keinen Gefallen erwiesen, als er mir eine schlechte Personalbeurteilung nach der nächsten verpasst hatte. Er hatte mich unter seiner Knute behalten wollen, um selbst besser dazustehen. Ich wollte nicht schlecht über Tote sprechen, aber vielleicht würde mein neuer Vorgesetzter – wer auch immer das sein sollte – meine Arbeit ernster nehmen und tatsächlich zu schätzen wissen. Oder meine Leistungen zumindest nicht als seine eigenen ausgeben.

Auf jeden Fall musste ich meinen Bericht fertig schreiben und einreichen, also klickte ich mich durch ein paar weitere Dokumente und Tabellen.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Ich starrte weiter auf den Bildschirm, um der Spur aus Grau, Pink und Rot zu folgen, die nur ich sehen konnte …

Jemand räusperte sich. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?« Diesmal wurde die Frage ein wenig lauter und drängender geäußert.

Erst jetzt bemerkte ich, dass jemand auf der anderen Seite des Tisches stand, also riss ich den Blick von meinem Laptop.

Er. Der Auftragskiller, den mir vorhin aufgefallen war. Der Mann mit der leuchtend hellblauen Krawatte. Er hielt eine große Tasse und eine Zeitung in den Händen und starrte mich erwartungsvoll an.

Aus der Nähe betrachtet war der Mann sehr viel attraktiver, als mir bisher bewusst gewesen war – etwa einen Meter achtzig groß und mit glattem, dunkelblondem Haar, das gleichzeitig gestylt und verwuschelt wirkte. Ein goldener Bartschatten glänzte auf seinem kantigen Kinn, sodass er aussah, als wäre er gerade aus dem Bett aufgestanden – auch wenn ich davon ausging, dass er auf seine Gesichtsbehaarung genauso viel Mühe verwendete wie auf den Rest seiner Erscheinung.

Sein hellgrauer Anzug saß perfekt, betonte seine breiten Schultern und den schlanken Körper. Er war nicht so übermäßig muskulös wie viele andere Cleaner. Stattdessen strahlte dieser Mann offensichtliche, mühelose Stärke aus. Außerdem sprach seine Haltung von überzeugtem Selbstbewusstsein, als wüsste er ohne Zweifel, dass er der härteste Typ im Raum war. Dasselbe Selbstbewusstsein leuchtete in seinen Augen, die die gleiche hellblaue Färbung aufwiesen wie seine Krawatte. Miriam hatte recht gehabt: Wow.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte er zum dritten Mal und riss mich damit aus meiner überraschten Tagträumerei.

Sein lockerer Tonfall und das leise Lächeln sollten wahrscheinlich unschuldig und entwaffnend wirken – ergänzt von Tasse und Zeitung, die er hielt wie Requisiten –, doch trotzdem löste er auf meinem internen Radar ein Warnsignal aus.

Meine Synästhesie erlaubte mir nicht nur, Fehler zu erkennen, sondern sie warnte mich auch vor persönlicher Gefahr. Oft kennzeichnete meine Magie diese Gefahren mit denselben Farben, die ich auch in Dokumenten erkannte. Ein feuchter, rutschiger Boden erschien in hellem Grau, um auf eine leichte Gefährdung hinzuweisen, während ein Auto, das ein Stoppschild überfuhr, vielleicht von einem pinkfarbenen Leuchten umgeben war. Und dieser Kerl? Momentan umgab ihn keine Färbung, doch Cleaner hatten in meinen Augen immer ein rotes Leuchten verdient.

Mein Blick huschte von rechts nach links. Es war inzwischen nach zwei Uhr, was bedeutete, dass die Cafeteria abgesehen von ein paar Mittagessen-Nachzüglern ziemlich leer war. Es gab somit jede Menge freie Tische, an die er sich hätte setzen können, um sein Getränk und seine Zeitung zu genießen. Wieso also wollte er bei mir sitzen?

Er sah mich unverwandt an, offensichtlich immer noch in Erwartung einer Antwort.

»Wenn Sie möchten«, murmelte ich.

»Wunderbar. Vielen Dank.«

Hörte ich da einen leichten Akzent? Nicht englisch, nicht europäisch, sondern – australisch. Ich musste ein verträumtes Seufzen unterdrücken. Ich hatte eine Schwäche für Akzente. Daher auch meine unglückliche Affäre mit einem unwichtigen spanischen Diplomaten, damals, bevor meine Großmutter krank geworden war. Der musikalische Akzent des Diplomaten hatte mich so bezaubert, dass ich erst bemerkt hatte, was für ein verlogener Mistkerl er war, als ich zu früh zu einer Verabredung aufgetaucht war und ihn dabei erwischt hatte, wie er mit einer anderen Frau knutschte.

Der Cleaner legte seine Sachen auf dem Tisch ab und zog den Stuhl mir gegenüber heraus, den Miriam vor ein paar Minuten frei gemacht hatte. In einer einzigen, geschmeidigen Bewegungsfolge öffnete er sein Jackett, schüttelte es von den Schultern und hängte es über die Rückenlehne des Stuhls. Darunter trug er eine Weste, an der eine silberne Taschenuhr mit langer Kette befestigt war. Die hellgraue Weste und das dazu passende Hemd betonten zusätzlich seinen schlanken, muskulösen Körper und ließen ihn noch attraktiver wirken. Neben Akzenten gab es nichts, was ich sexyer fand als einen gut gekleideten Mann – und nicht mal James Bond konnte diesem Kerl das Wasser reichen.

Der Cleaner trat vor, setzte sich und griff nach seiner Tasse, wieder alles in einer einzigen, geschmeidigen Bewegung. Er schien einfach eine natürliche Grazie zu besitzen. Ich fragte mich, ob er sich wohl immer so bewegte, als flösse eine Bewegung in die nächste – egal, ob er etwas so Gewöhnliches tat, wie sich die Zähne zu putzen, oder ob er brutal jemanden zu Tode prügelte.

Die meisten Leute hätten wahrscheinlich von Eleganz gesprochen, doch ich erkannte die Anmut als Eigenschaft eines geborenen Raubtiers. Zweifellos gehörte der Mann zu der Sorte Cleaner, die sich mühelos an ihr Opfer heranschlich und diesem das Genick brach, bevor die Person auch nur wusste, wie ihr geschah. Manchmal, wenn ich mich einer besonders ernsten Gefahr gegenübersah, schickte meine Synästhesie mir ihre Botschaft nicht mithilfe von Farben, sondern in Form einer inneren Stimme. Und im Moment flüsterte diese Stimme immer wieder Gefahr-Gefahr-Gefahr.

Der Cleaner machte sich an seiner Zeitung zu schaffen, dann griff er nach dem Etikett des Teebeutels in seiner Tasse. Er tauchte den Beutel ein paarmal in das dampfende Wasser, bevor er sich zurücklehnte und einen Schluck trank. Ein leiser Dufthauch wehte zu mir herüber, ein warmer, grüner, frischer Geruch. Zweifellos war das die Art von Tee, die total gesund war, dafür aber wirklich widerlich schmeckte.

»Es gibt an einem kühlen Herbsttag doch nichts besseres als eine heiße Tasse Tee, oder?«, meinte er freundlich, als wollte er einfach ein nettes Gespräch beginnen. Sein sexy Akzent sorgte allerdings dafür, dass jede Menge versteckte Botschaften in seinen Worten mitschwangen.

Ich stieß ein nichtssagendes Brummen aus und sah wieder auf meinen Laptop.

Ich musste immer noch meinen Bericht fertig schreiben, also konzentrierte ich mich erneut auf die Worte und Ziffern, in dem Versuch, weitere Grau-, Pink- und Rottöne aufzuspüren. Obwohl ich inzwischen seit mehr als drei Monaten Nachforschungen über meine Zielperson – Henrika Hyde – anstellte und alle meine Berichte brav eingereicht hatte, bekam ich plötzlich das Gefühl, dass ich kurz davorstand, wichtige Informationen aufzudecken. Irgendetwas, was mir genau verriet, wo all das Geld hinfloss und welche schrecklichen Dinge damit finanziert wurden …

»Hey, ich bin neu in der Stadt«, meinte der Cleaner. »Können Sie mir vielleicht ein gutes Restaurant empfehlen?«

Ich hielt den Blick auf meinen Bildschirm gerichtet, um der Farbspur von einem Dokument zum nächsten zu folgen.

»Wenn Sie Grillfleisch mögen, ist Mama Flo’s einen Block entfernt ziemlich gut«, murmelte ich, während ich versuchte, all den Worten und Zahlen auf meinem Laptop ihr falsches, bösartiges Fazit zu entlocken.

»Klingt gut. Wie wäre es, wenn ich Sie dort heute Abend zum Essen einlade?«

Es verging ein Moment, bis seine Worte wirklich zu mir durchdrangen, dann riss ich den Kopf hoch und starrte ihn an. Der Cleaner lächelte immer noch freundlich, doch gleichzeitig wirkte er, als bisse er die Zähne zusammen. Und in seinen Augen funkelte eine neue Wachsamkeit.

Gefahr-Gefahr-Gefahr flüsterte meine innere Stimme, lauter und beharrlicher als bisher.

Während ich dort saß und dieses unerwartete Angebot verarbeitete, drang ein schadenfrohes Kichern an mein Ohr. Ich sah nach links und stellte fest, dass Anthony aus der Buchhaltung sein Handy in der Hand hielt und mich anstarrte. Anthony und ich hatten vor der Krankheit meiner Großmutter ein katastrophales Date gehabt. Uns war sofort aufgefallen, dass wir absolut gar nichts gemeinsam hatten und uns nicht mal mochten – absolut nicht. Seitdem war Anthony mein Büro-Erzfeind, der immer meine Büromaterialbestellungen ablehnte, selbst wenn es nur um ein Paket Druckerpapier ging.

Ich konzentrierte mich wieder auf den Cleaner. Er sah gerade zu Anthony, der seinen Blick erwiderte. Misstrauen stieg in mir auf.

»Hat Anthony Sie dazu angestiftet?«, fragte ich. »Ist das mal wieder einer seiner dämlichen Streiche?«

Anthony hatte die unangenehme Angewohnheit entwickelt, seine Bürokumpel dazu anzustacheln, mich um Dates zu bitten, obwohl sie sich genauso wenig für mich interessierten wie ich mich für sie. Aus irgendeinem Grund fanden Anthony und seine Freunde es zum Schreien komisch, sich zu benehmen, als wären wir noch in der siebten Klasse.

Der Cleaner runzelte die Stirn. Er wirkte verwirrt. »Was? Wer ist Anthony?«

Ich starrte ihn nur an, bis er mit den Achseln zuckte.

»Ich bin neu in der Stadt. Ich versuche, neue Bekanntschaften zu schließen. Anschluss zu finden. Das ist alles.« Wieder klangen seine Worte unschuldig, auch wenn sein Akzent und die Art und Weise, wie er das Wort Bekanntschaften schnurrte, seine Antwort klingen ließ, als hätte er mir eine Nacht voller wildem Sex angeboten.

»Also dachten Sie, Sie baggern mal die erste Frau an, die Ihnen in der Cafeteria begegnet? Wie romantisch!«, erwiderte ich gedehnt.

Er besaß den Anstand, das Gesicht zu verziehen, aber ihm fehlte der gesunde Menschenverstand, den Versuch abzubrechen. »Ich dachte, wir könnten einfach ein wenig Spaß haben.«

Ich warf einen Blick auf die Uhr an der Wand der Cafeteria. Mir blieb nur noch eine Viertelstunde von meiner Mittagspause. Und ich hatte nicht vor, diesen Idioten noch mehr meiner Zeit verschwenden zu lassen.

»Jetzt hören Sie mal, Crocodile Dundee«, blaffte ich. »Mir ist egal, was Anthony oder irgendwer anders Ihnen über mich erzählt hat. Ich arbeite nicht in der Buchhaltung, also kann ich Ihre Spesenabrechnung nicht aufblähen oder Ihnen einen Parkausweis verschaffen – oder was auch immer Sie von mir wollen.«

Er zuckte zurück, als wäre er vollkommen überrascht, dass ich so mit ihm sprach. Jepp, einen Cleaner zu beschimpfen, weil er mit mir ausgehen wollte – oder was auch immer er vorhatte –, war wahrscheinlich nicht besonders klug. Andererseits war ich nun wirklich nicht für mein diplomatisches Talent bekannt. Wäre es so, hätte ich die Büropolitik geschickter navigiert und stände inzwischen in der Hackordnung um einiges höher, als es tatsächlich der Fall war. Unglücklicherweise ging oft mein hitziges Temperament mit mir durch – eine Tendenz, die ich von meinem Vater geerbt hatte.

Wahrscheinlich hätte ich irgendeine Entschuldigung murmeln sollen, bevor ich mir meine Sachen schnappte und in meine Bürowabe zurückkehrte. Aber er hatte sich an meinen Tisch gesetzt, also war er auch derjenige, der verschwinden sollte.

»Wenn Sie nicht in der Buchhaltung arbeiten, wo arbeiten Sie dann?«, fragte er.

Diesmal zuckte ich zurück. Seine Frage überraschte mich, auch wenn die Tatsache, dass er mir immer noch gegenübersaß und meine Zeit verschwendete, meine Wut nur höher kochen ließ.

»Ich schreibe Berichte, die niemand liest«, blaffte ich wieder. »Und einen davon muss ich noch vor heute Abend fertigstellen. Wieso also nehmen Sie nicht Ihren Tee und die Zeitung, die Sie nicht lesen, und ziehen los, um jemand anderen zu belästigen?«

Ein Funken Wut blitzte in seinen Augen auf, sodass sie silberblau leuchteten. Gleichzeitig begann an seinem Kinn ein Muskel zu zucken. Ich hatte ihn wütend gemacht. Gut. Vielleicht würde er mich jetzt endlich in Ruhe lassen.

Der Cleaner sprang auf, schnappte sich sein Jackett und warf es sich über – wieder in einer einzigen, geschmeidigen Bewegungsfolge. Dann griff er nach seiner Tasse und der Zeitung, wirbelte auf dem Absatz herum und stiefelte davon.

Ich beobachtete, wie er die Cafeteria verließ. Eigentlich hätte ich mich entspannen müssen, sobald er aus meinem Blickfeld verschwunden war. Doch obwohl der Cleaner den Raum verlassen hatte, flüsterte meine innere Stimme weiter, als wüsste sie etwas, was ich nicht wusste.

Gefahr-Gefahr-Gefahr.

2

Charlotte

Ich behielt weiter den Eingang zur Cafeteria im Blick, aber der Cleaner kehrte nicht zurück, also verdrängte ich mein Unbehagen. Vielleicht war er einfach nur ein Spinner, der versucht hatte, die erste Frau anzubaggern, die er entdecken konnte. Manche Cleaner waren berüchtigt dafür, dass sie sich in jeder Niederlassung der Section auf der Welt jemanden als Bettwärmer hielten. Aber das würde ich wohl nie herausfinden. Also vertrieb ich ihn und seinen sexy Akzent aus meinen Gedanken.

Ich tippte noch ein paar Absätze an meinem Bericht und speicherte alles. Dann trank ich den Rest meines Mokkas, schnappte mir Laptop und Schultertasche und ging.

Die Cafeteria der Section 47 lag in einem dreistöckigen Einkaufszentrum, das in einem alten Bahnhofsgebäude untergebracht war, welches einen ganzen Straßenblock einnahm. An allen vier Ecken des riesigen, rechteckigen Mittelraums gab es steinerne Treppen, ergänzt von Rolltreppen in der Mitte von Erdgeschoss und erstem Stock. Im Erdgeschoss gab es mehrere schicke Restaurants, Bäckereien und Coffeeshops. Alles, was sie verkauften, war allerdings viel teurer und qualitativ minderwertiger als das Angebot in der Cafeteria. In den oberen zwei Stockwerken lag ein teurer Laden neben dem anderen. Dort wurde alles von Designerklamotten und Handtaschen über Schmuck und teure Parfüms bis hin zu organischen Teesorten und hochwertigen Pralinen verkauft. Der offene Mittelbereich war von einer niedrigen Glaswand mit silbernem Handlauf umgeben.

Ein stetiger Strom Menschen drängte durch die Drehtüren an beiden Enden des Gebäudes, um sich auf die ganzen Läden und Restaurants auf drei Etagen zu verteilen. Sie alle bewegten sich Seite an Seite mit Agenten der Section 47. Die meisten Sterblichen hatten keine Ahnung, dass es tatsächlich Magie gab – oder dass bestimmte Leute erstaunliche Fähigkeiten besaßen, die sie einsetzen konnten, um anderen zu helfen oder zu schaden.

Laut Schätzungen der Section gehörte nur ungefähr ein Prozent der Weltbevölkerung zu den Paranormalen, daher verbargen die meisten klugen Leute ihre Macht, um nicht geächtet, verhöhnt, benutzt, misshandelt oder auf andere Art missbraucht zu werden. Letztendlich war es für Paranormale relativ leicht, ihre Magie geheim zu halten. Heutzutage waren alle – Sterbliche und Paranormale – vollkommen auf ihre Handys konzentriert. Daher war es wahrscheinlicher, Magie in einem angeblich gefälschten Onlinevideo zu sehen, statt zu realisieren, dass eine magisch begabte Person gerade ihre Gedanken las – und ihre Kreditkarteninformationen stahl –, während man gemeinsam an der Kasse anstand.

Normalerweise hätte ich mir einen kurzen Moment Zeit genommen, um die glänzenden grauen Steinwände genauso zu bewundern wie die schmiedeeisernen Lüster, die von der Tonnengewölbedecke hingen. Ich hätte mir vielleicht sogar einen kleinen Schaufensterbummel gegönnt – was leider das Einzige war, was ich mir leisten konnte. Aber ich musste in meine Bürowabe zurückkehren, um meinen Bericht einzureichen, also ignorierte ich die großen Fensterflächen und hielt auf das Podium zu, das in einer Ecke des Erdgeschosses stand.

Dort saß eine Frau Mitte sechzig mit kurzem schwarzem Haar, silberner Brille und ebenholzschwarzer Haut hinter einem geschwungenen Marmortresen. Sie behielt die Monitore auf dem Tisch vor sich genauso im Blick wie den nahe gelegenen Kartenleser mit dem metallenen Drehkreuz daneben. Ihr schicker Hosenanzug betonte ihren hochgewachsenen, fitten Körper. Der leuchtend aquamarinfarbene Stoff lieferte einen willkommenen Farbfleck zwischen all den dunkel gekleideten Agenten, die an ihr vorbeiströmten. Evelyn Hawkes saß schon am Empfang, seitdem ich denken konnte, um Agenten in die Section 47 einzulassen und gleichzeitig die Sterblichen sanft in andere Richtungen zu lenken.

Die Section mochte es ahnungslosen Menschen gestatten, in ihrem Gebäude zu shoppen und essen zu gehen, aber weiter als bis in das Einkaufszentrum kamen normale Bürger nicht. Für die Außenwelt arbeiteten in diesem Gebäude die Bürodrohnen der Section 47 Corporation, die wichtige Regierungsaufträge abwickelte – auch wenn niemand wirklich wusste, worum es sich dabei handeln sollte. Trotzdem war es letztendlich nur ein weiteres Bürogebäude, eines von Hunderten in D. C. Daher zuckte niemand auch nur mit der Wimper beim Anblick der Paranormalen, die ihre Zugangskarten scannten, sich durch das Drehkreuz schoben und zu zwei Aufzügen an der Wand gingen.

Ich winkte und wäre fast einfach an Evelyn vorbeigegangen. Der Cleaner und das von ihm aufgezwungene Gespräch hatten mich Zeit gekostet. Ich hätte direkt zum nächsten Aufzug eilen sollen, doch ich überlegte es mir anders, trat zur Seite und hielt an. Ich lehnte den Ellbogen auf den glänzenden Tresen, auf dem verschiedene Touristenbroschüren, Restaurantführer und andere glänzende Flyer lagen, um die Menschen abzulenken.

»Hallo, Charlotte. Welchem Umstand habe ich diese Ehre zu verdanken?« Evelyns Stimme war sanft und tief – was meine Synästhesie in kühle blaue Noten übersetzte, die durch meinen Geist waberten. Einer der angenehmeren Effekte meiner magischen Begabung.

Normalerweise hätte ich Evelyn gefragt, wie es ihr ging, hätte ihr vielleicht sogar einen Kaffee mitgebracht – traurigerweise die einzige Art von Bestechung, die ich mir leisten konnte. Aber nachdem ich sowieso schon zu spät dran war, entschied ich, direkt zum Punkt zu kommen.

»Weißt du irgendetwas über den neuen Cleaner im Gebäude?«, fragte ich. »Blonder Kerl, schlank und muskulös, leichter australischer Akzent. Er trug einen hellgrauen Anzug mit taubenblauer Krawatte.«

Evelyn nickte. »O ja. Wurde aus dem Büro in Sydney zu uns versetzt, für eine spezielle Mission. Sein Name ist Desmond. Allerdings glaube ich nicht, dass er sich schon offiziell zum Dienst gemeldet hat.« Sie zwinkerte mir zu. »Aber das hast du nicht von mir.«

Ich tat so, als würde ich einen Reißverschluss über meinen Lippen schließen. »Natürlich nicht.«

Evelyn Hawkes war wie eine Spinne, die in der Mitte eines Netzes saß, dessen Fäden aus Shoppern und Spionen bestanden. Sie sah jeden, der durch diese Türen trat. Und sie hörte jede Menge Gerüchte – einfach, indem sie hier draußen saß und ihren Job erledigte. Meine Großmutter hatte mich ermahnt, immer nett zu Evelyn zu sein. Und dieser Ratschlag hatte sich ausgezahlt. Evelyn hatte mir in meiner Zeit in der Section schon Informationen über mehr als eine Person und mehr als eine Mission geliefert.

Evelyn grinste, doch dann verblasste das Lächeln und ihre dunkelbraunen Augen fingen meinen blauen Blick ein. »Wie geht es dir? Ich weiß, dass es eine Weile her ist, aber ich wollte wirklich nach dir sehen.«

Meine Großmutter Jane war vor drei Monaten verstorben, nach einem langen Kampf gegen den Krebs. Evelyn gehörte zu den wenigen Leuten, die an der kleinen Beerdigung meiner Großmutter teilgenommen hatten. Sie hatte auch Blumen geschickt und mir sogar ein paar Auflaufformen mit Essen zukommen lassen – nicht, dass mir nach Essen gewesen wäre. Nachdem ich meinen Kühlschrank versetzt hatte, hatte ich die Auflaufformen letztendlich einer Obdachlosenunterkunft gespendet. So hatte zumindest irgendwer Evelyns Kochkünste genossen.

Ich schenkte der älteren Frau ein strahlendes Lächeln, womit ich versuchte, meinen Herzschmerz genauso zu vertuschen wie meine ständige Erschöpfung. »Ich bin okay. Grandma Jane hatte ein gutes, langes Leben. Und jetzt ist sie an einem besseren Ort.«

Ich sprach die üblichen Plattitüden mit fester Stimme. Evelyn nickte zustimmend. Rührseligkeit wurde bei Agenten der Section nicht gerade gerne gesehen, nicht einmal bei der Empfangsmanagerin. Wir alle wussten um die Gräuel, die dort draußen in den nicht allzu dunklen und gar nicht so weit entfernten Ecken der Welt lauerten. Und wir wussten, dass uns kaum Zeit blieb, uns mit unseren eigenen Problemen und besonders unseren eigenen albernen Gefühlen zu beschäftigen. Nicht, wenn wir im Kampf gegen die Terroristen und Kriminellen die Nase vorn behalten wollten, um zu verhindern, dass noch mehr schlimme Dinge geschahen.

»Na ja, ich sollte mal los. Danke für die Info.«

»Wieso hast du dich nach diesem Cleaner erkundigt?«, fragte Evelyn. »Ich dachte, du hältst dich eher von ihnen fern. Angesichts dessen, was mit Jack passiert ist.«

Bei der Erwähnung von Jack Locke, meinem Vater, biss ich unwillkürlich die Zähne zusammen, doch dann zwang ich mich, erneut zu lächeln, als würden ihre Worte mir überhaupt nichts ausmachen. »Kein besonderer Grund. Ich habe den Cleaner in der Cafeteria gesehen und wollte nur wissen, wer das neue Gesicht ist.«

Evelyn nickte wieder. Scheinbar akzeptierte sie meine Erklärung, doch hinter ihrer Brille kniff sie die Augen zusammen. Zeit zum Aufbruch, bevor sie noch misstrauischer wurde.

Also verabschiedete ich mich von ihr, trat vor, griff nach der weißen Schlüsselkarte, die an einem Band um meinen Hals hing, und zog sie über das Lesegerät. Das Licht leuchtete grün auf, und ich ging durch das Drehkreuz, um dann in einen der Aufzüge zu treten.

Statt nach oben zu fahren, fuhr ich nach unten, ins dritte Stockwerk der Section. Der alte Bahnhof hatte sieben Untergeschosse – und in jedem davon war eine andere Abteilung der Section untergebracht, jede mit ihrer eigenen Persönlichkeit.

Die Buchhaltung lag im ersten Untergeschoss, die IT-Abteilung im zweiten. Beide ähnelten üblichen Büros, auch wenn die Buchhalter schicke Espressomaschinen liebten und verschlossene Schränke voller Büromaterialien bewachten, während die Informatiker eher auf Kräutertees und das Bauen eigener Roboter standen.

Analysten und Charmeure waren im dritten Stock untergebracht, die Cleaner im fünften. Beide Stockwerke erinnerten ebenfalls an normale Büros, nur dass die Cleaner ein toll ausgestattetes Fitnessstudio mit schicker Umkleide besaßen, während wir Analysten und Charmeure uns schon glücklich schätzen konnten, wenn unsere Festnetztelefone nicht knisterten und in unseren schimmligen Duschen lauwarmes Wasser aus den Duschköpfen rieselte.

Das Waffendepot mit seinen Regalreihen voller Pistolen, technischer Spielereien und Schränken voller atemberaubender Kleidung lag im sechsten Stock. Der siebte war eine Parkgarage voller Überwachungswagen, Autos und anderen Fortbewegungsmitteln.

Und dann war da noch das vierte Untergeschoss, in der Mitte von allen anderen. Dort lagen die Büros von einigen höheren Tieren in der Section, wie zum Beispiel Maestro, zusammen mit Verhörräumen und Zellen, in denen Personen von besonderem Interesse und Häftlinge festgesetzt wurden, bis sie entweder freigelassen oder zur weiteren Befragung in ein Geheimgefängnis überführt werden konnten.

Crocodile Dundee Desmond trieb sich wahrscheinlich irgendwo im fünften Stock herum, wo er skrupellos die Vernichtung seiner nächsten paranormalen Zielperson plante. Oder er baggerte gerade die unglückliche Seele an, die zu seiner Liaison erklärt worden war. Jeder Cleaner bekam eine solche Person zugewiesen – und Liaison war nur der schicke Name für den Job als persönlicher Assistent. Manche Liaisons kümmerten sich um Waffen und technische Spezialgeräte, während andere sich der Unterbringung und den Reisen ihrer Cleaner widmeten. Eine Liaison konnte sogar aufgefordert werden, sich mit an die Front zu begeben, um dem Cleaner bei der Ausführung gewisser Missionen zu helfen – wie eine Art schicker Superhelden-Sidekick.

Die Aufzugtüren öffneten sich mit einem Bimmeln, also verdrängte ich alle Gedanken an den australischen Cleaner und seine eventuelle Liaison. Sollte sich irgendwer anders seinetwegen den Kopf zerbrechen – ich hatte genug eigene Probleme.

Ich wanderte einen langen Flur mit nichtssagenden grauen Wänden entlang, zog meine Schlüsselkarte über ein weiteres Lesegerät und wartete, bis sich die kugel- und magieresistente gläserne Doppeltür öffnete. Dann trat ich hindurch und in ein Großraumbüro – einen einzigen großen Raum, der mit durchsichtigen Plastikwänden in verschiedene Bürowaben aufgeteilt war.

Leute aller Altersklassen, Größen und Formen – und natürlich Ethnien – kauerten, lungerten und saßen auf ungemütlichen, quietschenden Bürostühlen innerhalb ihrer jeweiligen Wabe, genau wie auch in den anderen Großraumbüros auf diesem Stockwerk. Jede Bürowabe war gleich funktional eingerichtet – ein Monitor, eine Tastatur, eine Maus, ein Festnetzanschluss und die nötigen Kabel, um den von der Section ausgegebenen Laptop einzustöpseln. Allerdings hatten die meisten Leute ihrem kleinen Raum eine persönliche Note verliehen, indem sie Familienfotos, Poster von Sportlern oder Tierkalender aufgehängt hatten. Auf den Schreibtischen und den Trennwänden standen Sammlungen, die von Keramikschildkröten über gehäkelte Otter bis hin zu bunten Stressbällen in der Form von Hexen und Hexern reichten.

Ich ging zu meinem Schreibtisch an der rechten Wand des Großraumbüros. Anders als bei den anderen Tischen gab es auf meinem keine Dekorationen, abgesehen von einer Sache – einer kleinen Spottdrossel aus Kristall, die meine Großmutter mir zu meinem ersten Arbeitstag in der Section geschenkt hatte. Die Figurine hatte sentimentalen Wert für mich, doch sie sollte mich auch immer daran erinnern, dass die Dinge – und Leute – im Spionagegeschäft selten das waren, wonach sie aussahen.

Früher hatte ich mal mehr Sachen auf meinem Schreibtisch stehen gehabt – ein paar geliebte alte Bücher, Familienfotos in silbernen Rahmen, sogar ein paar Superhelden-Sammlerfiguren in der Originalverpackung. Aber nach dem Tod meiner Großmutter hatte ich das alles verkauft. Es war wirklich erstaunlich, was man im Internet alles an den Mann bringen konnte. Ich vermisste meinen Kram jedoch. Ich vermisste eine Menge Dinge, die ich über die letzten Monate verkauft hatte.

Miriam saß in ihrer Wabe, die direkt neben meiner lag. Sie hatte schon vor langer Zeit ihren Monitor zur Seite geschoben, um Platz für einen frei stehenden, beleuchteten Schminkspiegel zu machen, zusammen mit einem Set aus durchsichtigen Plastikschubladen, die von Lippenstiften, Lidschatten und Grundierungen fast überquollen. Miriam liebte Schönheitsprodukte genauso sehr wie Verabredungen. Sie probierte ständig irgendeine neue Lotion oder Creme aus, in der Hoffnung, damit noch schöner zu werden, als sie sowieso schon war.

Zusätzlich zu Spiegel und Make-up stand auf Miriams Schreibtisch auch ein Schmuckkästchen in Form einer kleinen Burg. Die meisten Schubladen standen zumindest ein Stück offen und waren randvoll mit Ketten, Ringen und Armbändern. Die Juwelen glitzerten wie farbenfrohe Augen, die jede meiner Bewegungen beobachteten. Vielleicht taten sie das sogar. Wie bei allen Charmeuren waren auch in die meisten von Miriams Schmuckstücken winzige Kameras und Mikrofone eingebaut, damit sie jedes Geheimnis, das ihr jemand ins Ohr flüsterte, in bester Qualität aufzeichnen konnte.

Über den Wänden ihrer Wabe hingen außerdem verschiedene Seidenschals und in ihren Schreibtischschubladen ruhten ordentlich gefaltet Kleidungsstücke vom kleinen Schwarzen bis zu Spitzenunterwäsche. Miriam hätte sich natürlich wie die anderen Charmeure im sechsten Stock für ihre Missionen umziehen können, doch sie hatte mir mehr als einmal erklärt, dass sie lieber ihr eigenes Make-up, ihren eigenen Schmuck und ihre eigenen Klamotten verwendete. Hätte ich denselben Zugriff auf all diese Designerlabels gehabt wie sie, hätte ich es ähnlich gehalten.

Ich hatte häufig vermutet, dass Miriam ihren Charme in den Luxusboutiquen im Einkaufszentrum über uns einsetzen musste, um sich so wunderschöne Dinge von ihrem nicht so wunderbaren Regierungsgehalt leisten zu können. Aber vielleicht gab es da ja auch einen Sugardaddy, aktuell oder in der Vergangenheit, von dem sie mir nie erzählt hatte.

Miriam legte die Ellbogen auf die niedrige Wand zwischen unseren Bürozellen und streckte eine Hand aus, um mir einen Kaugummi in rosafarbenem Papier anzubieten. »Rosen-Minze-Kaugummi?«, fragte sie. »Angeblich hilft das gegen Nikotinentzug.«

Miriam versuchte gerade, sich das Rauchen abzugewöhnen – eine scheußliche Gewohnheit, die sie vor Monaten dank eines griechischen Lovers angenommen hatte. Seitdem war ihr Schreibtisch übersät mit Kaugummipapieren und Lutscherverpackungen. Dieser Kaugummi musste der neueste Versuch sein, ihre Gelüste zurückzudrängen.

»Nein, danke.« Ich mochte schon den Geruch des Kaugummis nicht, eine widerliche Mischung aus süßlichem Rosenduft und strenger Minze. Außerdem erinnerte mich die rosafarbene Verpackung an die Worte und Zahlen, die ich immer noch durchgehen musste, um meinen Bericht fertigzustellen.

Mit einem Achselzucken packte Miriam einen Kaugummi aus und schob ihn sich in den Mund. Dann konzentrierte sie sich auf ihren Laptop und begann, ihren eigenen Bericht zu tippen. Beim Mittagessen hatte Miriam mir enthüllt, dass sie gerade undercover arbeitete. Diesmal trat sie als Coco Livingston auf – was nur eine von vielen Identitäten war, mit denen die Section sie ausgestattet hatte. Coco, ein Trust-Fund-Baby und berüchtigtes Partygirl, schmeichelte sich gerade bei der Ehefrau eines südafrikanischen Diplomaten ein, die sie letzte Woche absichtlich-zufällig auf einer Botschaftsparty kennengelernt hatte, in der Hoffnung, so Informationen über den zwielichtigen Ehemann der Frau zu erhalten.

Ich sah mich im Büro um. Ronaldo, Helga, Mika, Kaimbe. Die anderen Analysten tippten brav auf ihren eigenen Laptops, also wanderte mein Blick über sie hinweg. An der hinteren Wand öffneten sich die Türen zu zwei Büros mit Glaswänden für die Abteilungsleiter der Analysten und Charmeure. Dazwischen lag ein großes Konferenzzimmer. Alle drei Türen waren geschlossen und die Büros lagen im Dunkeln. Die Katzen waren aus dem Haus, aber die Mäuse waren klug genug, trotzdem nicht auf den Tischen zu tanzen.

Mein Blick verweilte auf einem der Büros. Es war leer, bis auf einen einfachen Schreibtisch mit einem einsamen Stuhl dahinter. Gregory Jensens Sachen waren ein paar Tage nach seinem Tod in Kisten verpackt und an seine Familie übergeben worden, auch wenn bisher niemand das Messingschild mit seinem Namen von der Tür abgenommen hatte. Doch das Leben in der Section ging weiter. Es blieb wenig Zeit, die Toten zu betrauern – besonders, wenn sie wie Jensen infolge eines tragischen Unfalls gestorben waren. Also setzte ich mich an meinen eigenen Schreibtisch, zog den Laptop aus der Tasche und verband ihn mit dem Netzwerk der Section.

Die Section 47 trug ihren Namen aufgrund der Tatsache, dass Paranormale siebenundvierzig Chromosomen besaßen statt der sechsundvierzig Chromosomen von normalen Menschen – zwei mal dreiundzwanzig Chromosomenpaare. Dieses zusätzliche Stückchen DNA verlieh uns alle möglichen interessanten Fähigkeiten. Zumindest lautete so die aktuelle wissenschaftliche Arbeitstheorie. Für eine Organisation, die sich überwiegend mit dem Magischen und Mythischen beschäftigte, versuchten die hohen Tiere in der Section häufig, Dinge wissenschaftlich zu erklären – als könnten es uns kalte, harte Fakten einfacher machen zu akzeptieren, welch schreckliche Dinge manche Paranormale mit ihren Mächten anstellten.

Mir war relativ egal, woher meine Magie stammte oder wie genau sie funktionierte – mich interessierte nur, dass ich sie besaß und sie weiterhin einwandfrei funktionierte.

Alle Leute in diesem Büro besaßen irgendeine Art von magischer Begabung. Ronaldo und Helga waren Syn-Analysten wie ich, die ihre eigene, besondere Form von Synästhesie einsetzten, um Berichte von undercover arbeitenden Agenten durchzusehen, um dort nach Mustern und interessanten Informationen zu suchen, die nach oben weitergegeben werden mussten. Mika und Kaimbe waren Linguisten, auch Lingos genannt, die jede Sprache sprechen, lesen und verstehen konnten. Sie waren verantwortlich dafür, abgefangene Gespräche von Terroristen und Kriminellen zu übersetzen. Dabei versuchten sie auch, die Codewörter zu entschlüsseln, die unsere Zielpersonen verwendeten, um ihre fiesen Pläne zu kommunizieren.

Als Charmeurin nahm Miriam aktiv am sozialen Leben der Stadt teil und behielt so verschiedenste ausländische Paranormale in der Stadt im Blick – von den offiziellen Diplomaten bis hin zu denjenigen, die in Wirklichkeit für ihre Länder spionierten. Ihre Aufgabe war es, persönliche Infos einzuholen – Gerüchte, Flüstern hinter vorgehaltener Hand und einfach alles, was sich die Leute so gegenseitig erzählten. In unserem Büro arbeiteten noch ein paar andere Charmeure, auch wenn die gerade im Einsatz waren.

Und ich? Als Analystin der Section war es meine Aufgabe, na ja, Dinge zu analysieren. Bankdaten, Steuerunterlagen und andere Dokumentationen von Geldflüssen. Grundstücksgeschäfte. Biomagische Patente. Kunst- und Schmuckkäufe und andere große Ausgaben. Flugzeuge, Züge, Luxuslimousinen. Selbst dämliche Katzenvideos in den Social-Media-Kanälen. In der Section wurde all dieses und ähnliches Zeugs als Papierspuren bezeichnet – sozusagen alles, was eine Papier- (oder digitale) Fährte hinterließ, der man folgen konnte. Also beobachtete ich alles, verfolgte und analysierte Dutzende Konten, Firmen, Transportwege und Social-Media-Accounts, die bekannten paranormalen Terroristen und Kriminellen gehörten, um herauszufinden, wo sie ihr Geld hinschickten – wofür sie es ausgaben –, und natürlich auch, welche üblen Dinge sie oder ihre Verbündeten damit eventuell anstellen wollten.

Einfach ausgedrückt war ich ein Zahlenguru. Grandma Jane hatte ebenfalls als Analystin für die Section gearbeitet, und sie hatte mir vor langer Zeit beigebracht, dass Leute fast immer logen, Zahlen aber niemals. Das Geld fließt immer irgendwohin, war einer ihrer beliebtesten Leitsätze gewesen.

Ronaldo, Helga, Mika und Kaimbe waren in ihre eigene Arbeit vertieft, während Miriam inzwischen auf dem Festnetz telefonierte und ein nettes Mittagessen mit anschließender Shoppingtour mit der Diplomatengattin plante. Ich zog meine kabellosen Kopfhörer aus meiner Tasche, verband sie mit meinem Handy und spielte klassische Musik ab, um ihre Stimme auszublenden. Dann öffnete ich meinen Laptop und machte mich an die Arbeit.

Als Analystin war ich immer dem einen oder anderen Bösewicht auf der Spur. Aber in den letzten drei Monaten hatte ich den Großteil meiner Zeit darauf verwendet, den Machenschaften von Henrika Hyde auf die Spur zu kommen. In der sterblichen Welt war Henrika die Gründerin und CEO von Hyde Engineering, einer innovativen pharmazeutischen Firma, die in verschiedensten medizinischen Feldern die Nase ganz vorn hatte. Doch für die Section 47 war Henrika Hyde eine paranormale Waffenfabrikantin, die ihr Geld, ihren Ingenieurstitel und ihre Labore einsetzte, um wirklich grauenerregende biomagische Waffen zu entwickeln.

Ätzende Gase, die menschliches Fleisch zersetzten, aber Holz, Glas und andere Gegenstände unberührt ließen. Gifte, die nur beim Vorhandensein gewisser Blutlinien oder genetischer Marker wirkten, sodass ganze paranormale Familien auf einen Schlag ausgerottet werden konnten. Puder und Pillen, die Leuten ein unglaubliches High verschafften und außergewöhnliche Stärke und Geschwindigkeit verliehen, während die Droge gleichzeitig ihre inneren Organe zum Schmelzen brachte und ihre Lungen einfrieren ließ. All diese schrecklichen Dinge und mehr hatte Henrika Hyde entwickelt.

Vor ein paar Monaten war es einem Undercoveragenten der Section gelungen, sich in Henrikas Führungszirkel einzuschmuggeln und gewisse Informationen über ihre vielen Geschäfte zu stehlen. Der Agent war ein paar Tage später tot aufgefunden worden, seine Knochen in seinem Körper geschmolzen, obwohl die Haut immer noch unversehrt war und sein Körper keinerlei Anzeichen eines Angriffes aufwies. Doch irgendwann waren die gestohlenen Informationen bei mir angekommen. Seitdem folgte ich der Spur verschiedenster Tarnfirmen – und den Millionen Dollar, die durch sie hindurchflossen.

Der Großteil der Infos entsprach so ziemlich dem Standard. Die Lage von Fabriken und Büros, Sicherheitsprotokolle, Personalakten, Lohnlisten, Steuervergünstigungen örtlicher Regierungen. Henrika Hyde war klug genug, um ihre Bücher überwiegend sauber zu halten. Doch ich hatte eine kleine Anomalie in den Tausenden und Abertausenden Seiten elektronischer Dokumente und Tabellen gefunden. Aus irgendeinem Grund hatte Henrika angefangen, stolze Summen an die Halstead-Stiftung zu spenden.

Die Stiftung unterstützte verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen, aber das größte, publicityträchtigste Projekt war die Renovierung eines historischen Gebäudes am Rand von D. C., in dem das Halstead-Hotel residierte. Gebäude und Hotel gehörten beide der Halstead-Familie, die für ihre Kunst- und Antiquitätensammlung genauso bekannt war wie für ihre Kollektion kostbarer Juwelen. Viele davon wurden in ihren Hotels rund um den Globus ausgestellt.

Diese letzte Information hatte mich aufmerken lassen. Henrika war nicht dafür bekannt, sich für historische Gebäude zu interessieren, aber sie liebte Schmuck und Juwelen. Sie hatte über die Jahre bei Auktionen auf verschiedene seltene Edelsteine geboten genauso wie auf Designer-Ketten, -Armreifen und -Ringe. Ich hatte noch nie ein Foto von Henrika gesehen, auf dem sie nicht mehrere Karat in Diamanten, Smaragden, Rubinen und mehr trug. Oft hatte ich mir die Frage gestellt, ob die Juwelen irgendwie mit Henrikas Magie in Verbindung standen, auch wenn niemand genau zu wissen schien, welche paranormalen Fähigkeiten sie eigentlich besaß. Aber vielleicht stand die Dame einfach auf glänzenden Zierrat. Ohne mehr Hintergrundinfos war das schwer zu sagen.

Auf jeden Fall konnte ich nachvollziehen, wieso die Juwelensammlung der Halstead-Familie Henrikas Interesse beanspruchte. Doch ihre plötzliche Großzügigkeit gegenüber der Wohltätigkeitsorganisation stellte mich vor ein Rätsel. Diese Spenden mussten der Bestechung oder der Bezahlung von irgendetwas dienen. Ich wusste nur einfach noch nicht, was dieses irgendetwas sein sollte.

Ich hatte vor zwei Monaten bereits einen kurzen, vorläufigen Bericht eingereicht, in dem ich eine weitere Beobachtung von Henrika Hyde empfohlen hatte. Mein längerer, zweiter Bericht von letztem Monat hatte sogar noch mehr Gründe geliefert, warum wir Henrika im Auge behalten sollten. Zusätzlich hatte ich angeregt, dass die Section einen Vorwand finden sollte, Henrika zu verhaften, festzuhalten und in Bezug auf alle ihre in Entwicklung befindlichen biomagischen Waffen zu verhören.

Natürlich hatte Gregory Jensen jedoch erklärt, meine Berichte und Schlussfolgerungen wären dilettantisch, bevor er sie bei einem abteilungsübergreifenden Meeting als seine eigene Arbeit ausgeben hatte. Er hatte sogar meinen Plan für sich vereinnahmt, Henrika festzusetzen. Fauler Mistkerl.

Und natürlich hatte ich nicht protestieren und behaupten können, dass ich die ganze Arbeit gemacht hatte – nicht, ohne als schwierig und eifersüchtig wahrgenommen zu werden. Und außerdem hätte Jensen mir im Anschluss das Leben noch mehr zur Hölle gemacht. Also hatte ich zähneknirschend den Mund gehalten und mir stattdessen ausgemalt, wie ich Jensen meinen Kugelschreiber wieder und wieder ins Gesicht rammte, als wäre er eine Voodoopuppe.

Jetzt war ich entschlossen, einen dritten, sehr ausführlichen, aktualisierten, detaillierteren Bericht abzugeben, bevor ein neuer Abteilungsleiter für die Analysten benannt wurde. Ich wollte neu anfangen und hoffte inständig, dass der neue Chef meine Arbeit würdigen und mich aufgrund meiner Leistung beurteilen würde, statt auf Basis des schlechten Rufes meines Vaters.

Ich sah noch mal alle Dokumente und Tabellen durch, kam aber kein bisschen weiter als beim Mittagessen. Also gab ich meinem Bericht den letzten Schliff und schickte ihn per E-Mail an Trevor Donnelly, den Leiter der Charmeure, der im Moment auch mein Vorgesetzter war. Ich bekam eine automatische Antwort zurück, in der stand, dass Trevor erst morgen ins Büro zurückkehren würde. Aber zumindest hatte ich den Bericht eingereicht. Damit war er von meinem Schreibtisch und ich konnte nur noch warten.

Ein kurzer Blick auf mein Handy enthüllte, dass es nach fünf Uhr war. Alle anderen waren bereits verschwunden – ebenfalls Miriam, auch wenn ihr Schreibtisch mit Einwickelpapieren von diesem Rosen-Minz-Kaugummi übersät war. Ich rümpfte die Nase über den durchdringend süß-minzigen Geruch, der aus ihrer Bürowabe drang, und widerstand dem Drang, die ganzen Papiere in den Mülleimer zu werfen. Stattdessen packte ich meine Sachen zusammen und ging.

In der Section mochte ich Feierabend haben, aber leider war mein Arbeitstag noch lange nicht vorbei.

 

Ich fuhr mit dem Aufzug hoch ins Erdgeschoss, verabschiedete mich von Evelyn und trat durch die gläsernen Drehtüren auf die Straße.

Grandma Jane hatte eine Wohnung nur ein paar Blocks von der Section 47 entfernt besessen. Ich war ein paar Monate vor ihrem Tod bei ihr eingezogen, um mich um sie zu kümmern, und hatte das Apartment nach ihrem Tod geerbt. Ich stapfte die Treppen in den dritten Stock nach oben, durchquerte den Flur und musterte die Wohnungstür.

Meine Synästhesie ließ mich nicht nur Fehler und Falschaussagen in Dokumenten und Tabellen sowie physische Gefahren und Stolperfallen in meiner Umgebung erkennen, sondern sie zeigte mir auch, ob etwas fehl am Platz, schief oder einfach falsch war. Ich rief meine Magie, doch die Tür sah genauso aus wie bei meinem Aufbruch heute Morgen. Keine verräterischen Kratzer am Metall – und nachdem das Schloss nicht rosa schimmerte, hatte sich auch niemand daran zu schaffen gemacht. Ich öffnete die Tür, dann schloss und verriegelte ich sie hinter mir.

Ich schaltete das Licht ein, tippte den Code in die Alarmanlage und blickte über die leere Wohnung hinweg. Vor zwei Jahren, bevor meine Großmutter krank geworden war, waren Küche und Wohnzimmer mit gemütlichen Möbeln und hübschem Krimskrams gefüllt gewesen, genauso wie die zwei Schlafzimmer und das Bad im hinteren Teil der Wohnung. Jetzt war das alles verschwunden. Das einzige Mobiliar, das ich noch besaß, waren eine Matratze, die in einer Ecke des Wohnzimmers neben den Fenstern lag, und eine alte, verschlissene Yogamatte vor dem offenen Kamin.