Die Splitterklinge - Jennifer Estep - E-Book

Die Splitterklinge E-Book

Jennifer Estep

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Beschreibung

Kronprinzessin Gemma rennt die Zeit davon. Obwohl sie eine gerissene Spionin und Mentalmagierin ist, konnte sie den geheimnisvollen Feind noch nicht enttarnen, der ihr Königreich Andvari bedroht. Inmitten der Vorbereitungen für ein spektakuläres Gladiatorenturnier heckt Gemma einen kühnen Plan aus. Doch schon bald gerät alles außer Kontrolle: Während ihr die Macht über ihr Königreich entgleitet, muss sie das Geheimnis um ihre Magie entschlüsseln. Sonst stirbt ihre Familie, endet ihre aufkeimende Beziehung zu Prinz Leonidas, bevor sie wirklich begann, und wird ihre geliebte Heimat zerstört.

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

© Jennifer Estep 2023

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München

Coverabbildung: FinePic

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitate

Teil I

Die Kopfgeldjägerin

1

2

3

4

5

6

Teil II

Der Prinz der Blitze

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

Teil III

Die Gargoyle-Königin

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für meine Mom – für deine Liebe, deine Geduld und alles andere, was du mir über die Jahre gegeben hast.

Für all die Leserinnen und Leser, die noch mehr Geschichten aus meiner Splitterkronen-Welt hören wollten – das ist für euch.

Und für mein Teenager-Ich, das jedes Fantasy-Epos verschlungen hat, das sie in die Finger bekommen konnte – weil du endlich deine eigenen High-Fantasy-Bücher schreibst.

Um ein Königreich zu erobern, muss man zuerst sein Herz zerschmettern.

Maximus Morricone, ehemaliger König von Morta

Andvari wird niemals fallen, solange noch ein Gargoyle lebt.

Armina Ripley, erste Königin von Andvari

Teil I

Die Kopfgeldjägerin

1

Ich habe in meinem Leben schon viele Rollen gespielt.

Am häufigsten trete ich als Gemma Armina Merilde Ripley auf, Kronprinzessin von Andvari, von bösen Zungen auch Glimma genannt. Das ist auch meine berühmteste Rolle, und ich vermute, Prinzessin Gemma ist meine wahre Identität, egal was geschieht.

Aber ich bin nicht nur sie.

Prinzessin Gemma ist nur ein Teil meiner Persönlichkeit – eine sorgfältig geschaffene Rolle, die es mir erlaubt, durch Andvari und die angrenzenden Königreiche zu reisen, um diejenigen auszuspionieren, die meinem Volk schaden wollen. Ich sammle Informationen über ihre Intrigen und durchkreuze bösartige Pläne, wie auch immer sie aussehen mögen.

Die Arbeit als Spionin ist viel nützlicher und befriedigender als das Prinzessinnendasein. In den letzten Wochen war ich in viele Rollen geschlüpft. Ich hatte mich als Minenarbeiterin, als Juwelierin und als Gladiatorin ausgegeben. Im Moment spielte ich eine ganz neue Rolle, die sich aber noch als die wichtigste herausstellen könnte.

Kopfgeldjägerin.

Ich ging in die Hocke, schob mich langsam vorwärts und spähte um die Seite einer großen Holzkiste. Ähnliche Kisten standen überall am Ufer aufgestapelt. Dazwischen lagen dicke Seile zusammengerollt wie Korallenvipern auf den dreckigen Pflastersteinen. Kleine Ruderboote ruhten ein Stück entfernt am schlammigen Ufer, und der feuchte Gestank von Fisch füllte die Novemberluft. Alles wirkte vollkommen normal, doch mein Blick huschte zu einem Schiff an dem Dock, das sich vor mir in den Summanus erstreckte.

Das Schiff war das größte hier am Flusshafen, mit Masten, die hoch in die Luft aufragten. Der Rumpf mochte irgendwann einmal in leuchtendem Kobaltblau gestrichen worden sein, doch die Elemente hatten das Holz verwittert, bis es dasselbe schmutzige Blau zeigte wie der Fluss. Der einzige echte Farbfleck waren die blutroten Buchstaben, die den Namen des Schiffes bildeten – Ertrunkener Mann. Ich konnte nur hoffen, dass dieser Name ein Omen für die Zukunft war … auch wenn ertrinken ein viel zu schneller und gnädiger Tod für die Person wäre, die ich jagte.

»Glaubst du wirklich, dass sich Milo auf diesem Schiff befindet?«, murmelte eine Stimme.

Ich sah die Frau an, die neben mir kauerte. Sie trug einen dunkelgrünen Mantel über einer Tunika in derselben Farbe, gepaart mit einer schwarzen Hose und Stiefeln. An ihrem Gürtel hing ein Schwert. Ihr langes, schwarzes Haar war zu einem Zopf geflochten, und ihre smaragdgrünen Augen sowie die goldene Haut leuchteten in der herannahenden Morgendämmerung, genauso wie das Drachengesicht mit den smaragdfarbenen Schuppen und schwarzen Augen, das auf ihrer rechten Hand prangte. Alle Morphe trugen eine Tätowierung auf dem Körper, die verriet, in welche größere, stärkere Kreatur sie sich verwandeln konnten.

Trotz der zunehmenden Helligkeit blieb Lady Reiko Yamato, meine Freundin und Spionagekollegin, fast unsichtbar in den Schatten verborgen. Obwohl ich ähnlich gekleidet war wie sie, mit dunkelblauem Mantel und Tunika, fühlte ich mich exponiert wie eine Gladiatorin, die mitten im Kampfring steht. Doch selbst wenn die Mittagssonne vom Himmel geleuchtet hätte: Reiko hätte einen Weg gefunden, um mit ihrer Umgebung zu verschmelzen. Sie war einfach eine talentierte Spionin – die beste Spionin, meiner Meinung nach.

Reiko und ich beobachteten die Ertrunkener Mann inzwischen seit einer guten halben Stunde. Es hatte sich niemand dem Schiff genähert, und es war auch niemand auf dem Deck erschienen. Eine fast unheimliche Stille herrschte, nur unterbrochen vom stetigen Klatschen der Wellen an den Rumpf des Schiffes und einer Brise, die durch die Segel fuhr.

»Glaubst du wirklich, Milo hält sich auf diesem Schiff auf?«, fragte Reiko wieder.

»Lass mich schauen, ob ich es herausfinden kann.«

Ich atmete einmal tief durch, dann rief ich meine Magie und suchte damit das Schiff ab. Als Mentalmagierin konnte ich spüren, ob sich andere Leute in der Nähe aufhielten, besonders, wenn ich ihnen schon mal begegnet war. Und unglücklicherweise kannte ich Kronprinz Milo Maximus Moreland Morricone von Morta viel besser, als mir lieb war.

Vor ein paar Monaten waren an der Grenze zwischen Andvari und Morta Dutzende von Händlern, Minenarbeitern und Wachen ums Leben gekommen. Manche waren bei Raubüberfällen gestorben. Andere bei einem Minenunfall. Und wieder andere waren nach einem plötzlichen Gewitter von einer Springflut weggerissen worden. Mein Großvater und mein Vater – König Heinrich und Kronprinz Dominic Ripley – waren davon ausgegangen, dass es sich um tragische Unglücksfälle handelte, aber mir waren so viele Todesfälle in so kurzer Zeit extrem verdächtig erschienen. Als Prinzessin Gemma hatte ich jeden Unglücksort besucht, um den Familien der Opfer mein Beileid auszusprechen. Dabei hatte ich eine sehr besorgniserregende Erkenntnis gewonnen: An jedem dieser Orte waren auch große Mengen Zährenstein verschwunden.

Meine Nachforschungen hatten mich schließlich nach Blauberg geführt, eine Stadt in der Nähe der andvarisch-mortanischen Grenze. Als Minenarbeiterin Gemma verkleidet, hatte ich feststellen müssen, dass Conley, der Vorarbeiter der Mine, Zährenstein stahl und an mortanische Soldaten verkaufte. Conley hatte mich in einen Abgrund gestoßen und als tot zurückgelassen, aber ich war gerettet und nach Myrkvior gebracht worden, den königlichen Palast in Majesta, der Hauptstadt von Morta.

Trotz der Gefahren hatte mir mein Aufenthalt in Myrkvior die perfekte Gelegenheit geboten, herauszufinden, welcher Angehörige des mortanischen Königshauses tatsächlich Zährenstein einlagerte und warum. Also war ich in eine weitere Rolle geschlüpft – in die von Armina, einer unbedeutenden Adeligen und Juwelierin. Doch meine Tarnung war nicht so gut gewesen, wie ich gedacht hatte, sodass Königin Maeven Morricone meine wahre Identität als Prinzessin Gemma Ripley auf ihrer Geburtstagsparty enthüllt hatte.

Und dann hatte sie mich an Milo übergeben, damit er mich foltern konnte.

Der Uferbereich flackerte und verschwand, zusammen mit der Ertrunkener Mann. Plötzlich befand ich mich wieder in Milos Werkstatt und starrte auf meinen eigenen, bewusstlosen Körper, der an einen Tisch gekettet war. Der Rücken aufgerissen von Peitschenhieben, die Hände durchbohrt, die Haut verbrannt. Blut tropfte aus meinen Wunden auf den Stein, und jedes leise Plopp klang in meinem Geist so laut wie ein Glockenschlag. Obwohl die Folter bereits ein paar Monate zurücklag, begann mein Herz jedes Mal zu rasen, wenn ich daran dachte. Meine Atmung beschleunigte sich, und in meinem Nacken bildete sich kalter Schweiß.

In dem verzweifelten Versuch, diese Erinnerungen zu bannen, packte ich den silbernen Anhänger, der an einer Kette um meinen Hals hing, und konzentrierte mich auf die schwarzen Gagatsplitter in Form eines knurrenden Gargoyle-Gesichts – das königliche Wappen der Ripleys. Winzige, mitternachtsblaue Zährensteinsplitter bildeten Hörner, Augen und Nase des Gargoyles, der eine unheimliche Ähnlichkeit mit Grimley aufwies – meinem persönlichen, über alles geliebten Gargoyle. Dasselbe Wappen glitzerte auch auf dem Griff des hellgrauen Zährensteindolchs an meinem Gürtel. Alvis, der königliche Juwelier von Glitnir, hatte Anhänger und Dolch vor Jahren für mich angefertigt, als ich gerade erst gelernt hatte, meine Mentalmagie zu beherrschen – womit ich aber bis heute so meine Schwierigkeiten hatte.

Ich umklammerte den Anhänger so fest, dass meine Finger schmerzten. Dieses unangenehme Gefühl, als sich die Spitzen der Juwelen in meine Haut bohrten, half mir, die Erinnerungen zu vertreiben. Milos Werkstatt verschwand, und vor mir lag wieder das Flussufer, auch wenn der plötzliche Szenenwechsel bei mir einen leichten Schwindel verursachte.

»Gemma?«, fragte Reiko. »Geht es dir gut?«

»Prima«, log ich.

Ich ließ die Kette los. Der Anhänger mit dem vertrauten Gewicht sank wieder an seinen Platz über meinem Herzen und beruhigte mich, bis mein Herz endlich wieder in dem normalen Takt schlug.

Reiko zog eine Augenbraue hoch. Es war offensichtlich, dass sie mir meine Lüge nicht abkaufte, aber ich ignorierte ihren besorgten Blick. Verglichen mit den vielen Malen, in denen meine Magie mich in die entfernte Vergangenheit geschleudert hatte, bis ich vollkommen von Erinnerungen überwältigt wurde, war dieser kurze Blick auf mein gefoltertes Ich nur eine kleine Irritation.

»Wenn es dir prima geht, wieso reibst du dir dann die Hände?«, fragte sie.

Ich hatte mir erst die eine Handfläche und dann die andere massiert, um den dumpfen Druck und die heißen Funken der Phantomschmerzen dort zu vertreiben. Ertappt senkte ich eilig die Arme.

Reikos Miene blieb ausdruckslos, doch ihr innerer Drache verzog das Gesicht und wandte schnell den schwarzen Blick von mir ab. Milos gezackte Pfeile und seine Blitzmagie hatten Narben auf meinen Händen hinterlassen, vorn und hinten, als hätte jemand rote Sterne auf meine Hände gezeichnet.

Ich ballte die Hände zu Fäusten, was die dumpfen Schmerzen und das elektrische Kribbeln zwar verstärkte, aber jetzt machte es mir nichts mehr aus. Dadurch wuchs nur meine Entschlossenheit, herauszufinden, ob sich Milo wirklich auf der Ertrunkener Mann versteckte – und ihn in dem Fall endlich für all das zu töten, was er mir angetan hatte.

Also atmete ich erneut tief durch und rief meine Magie. Dieses Mal flackerten keine Erinnerungen auf, sodass ich das Schiff untersuchen konnte.

Meine Magie verriet mir aber nicht nur, ob sich andere Leute in der Nähe aufhielten, ich konnte auch ihre Gedanken hören und ihre Emotionen spüren. Ironischerweise hatte ich mir diesen Aspekt meiner Magie immer so vorgestellt, als stände ich auf dem Deck meines eigenen, inneren Schiffes und würde meine Hand in das Meer der Gedanken und Empfindungen anderer Leute tauchen, das um mich herum toste.

Im Moment lag dieses Meer allerdings vollkommen ruhig vor mir, und ich hörte keine Gedanken, spürte keinerlei Emotionen. Keine knisternde Wut, keine eisige Bösartigkeit – nichts, was darauf hingewiesen hätte, dass Milo oder sonst jemand sich in der Nähe aufhielt. Das Schiff konnte vollkommen leer sein – oder voller schlafender Matrosen.

Frustriert stieß ich die Luft aus, gab meine Macht frei und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er auf dem Schiff ist, aber ich kann mir nicht sicher sein. Nicht, ohne tatsächlich an Bord zu gehen und alles zu durchsuchen.«

Reiko senkte die Hand an ihr Schwert. »Nun, dann können wir es auch angehen.«

Diesmal war ich es, die kritisch eine Augenbraue hob. »Ist es jetzt nicht an der Zeit, mir zu erzählen, dass es eine Falle sein könnte? Dass Milo ein Dutzend Männer unter Deck versteckt haben könnte, die nur darauf warten, uns zu töten?«

Sie schnaubte. »Wenn ich dir das erzählen muss, hast du nicht besonders gut aufgepasst, vor allem vor ein paar Wochen während des Gipfels.«

Ich verzog das Gesicht. Der Gipfel sollte eigentlich eine friedliche Versammlung von Adeligen, Händlern, Gildenmeistern und Herrschern der verschiedenen Königreiche sein, auf der sie Handelsverträge abschließen können –, dieses Jahr aber hatte die Veranstaltung in einem Blutbad geendet.

Milo hatte als Mitglied der mortanischen Abordnung am Gipfel teilgenommen. Er hatte mit Corvina Dumond zusammengearbeitet, einer mächtigen Wettermagierin, die mit ihm verlobt gewesen war. Milo hatte gehofft, dass Corvina mich umbrachte, genauso wie seinen jüngeren Halbbruder Leonidas, aber die Adelige war entschlossen gewesen, alle Morricones zu töten – vor allem Königin Maeven –, um selbst den Thron von Morta zu besteigen.

Beim Gipfel hatte Corvina die Dumont-Kämpfer angewiesen, alle anwesenden Herrscherinnen und Herrscher sowie ihre Familien zu attackieren, meinen Vater eingeschlossen. Es war mir gelungen, Corvina zu töten, doch Milo war entkommen, zusammen mit seinem loyalen Hauptmann Wexel, Corvinas heimlichem Geliebten.

Danach hatte Kronprinz Dominic Ripley sich mit einigen anderen Herrschern zusammengetan, um ein riesiges Kopfgeld auf Milo auszusetzen – hunderttausend Goldkronen. Laut meinen Quellen suchten alle Kopfgeldjäger und Söldner auf dem buchovischen Kontinent nach Milo, um sich die Belohnung zu sichern.

Und ich hatte mich ihnen angeschlossen.

In der öffentlichen Wahrnehmung kam Prinzessin Gemma ihren üblichen Pflichten als Botschafterin nach und reiste dafür von einer Stadt in Andvari zur nächsten, um sich mit Adeligen, Händlern und anderen Persönlichkeiten zu treffen. Insgeheim hatten Reiko und ich die letzten Wochen aber damit verbracht, Milo von einem Versteck zum nächsten zu verfolgen. Eine verlassene Farm ein Stück außerhalb von Caldwell. Ein Gasthaus bei Haverton. Eine Taverne am Rand von Blauberg. Der Kronprinz war durch das Land gehetzt wie ein gejagter Hirsch, in dem Versuch, der Gier der Kopfgeldjäger genauso zu entkommen wie dem wilden Feuer meiner Rachegelüste.

Ich hatte jede mir zur Verfügung stehende Quelle angezapft, in jeder Stadt, die wir aufgesucht hatten. Ich hatte um Neuigkeiten und Gerüchte gebeten und hatte Dutzende Briefe von Leuten aus dem gesamten buchovischen Kontinent gelesen und sie auf den kleinsten Hinweis auf Milos und Wexels Aufenthaltsort hin durchsucht. Ein paarmal waren Reiko und ich den Mortanern wirklich nahe gekommen … hatten sie nur um wenige Stunden verpasst, was meine Wut und Frustration nur noch gesteigert hatte.

Ich fühlte mich in meiner neuen Rolle als Kopfgeldjägerin wirklich wohl, die Belohnung war mir aber vollkommen egal. Ich wollte Milo einfach nur finden und umbringen, bevor er noch irgendjemanden verletzen konnte.

Besonders meine Gargoyles.

Trotz des Blutbades auf dem Gipfel hatte ich endlich eines von Milos wichtigsten Zielen durchschaut: Er wollte die andvarischen Gargoyles abschlachten. Mit ihrer steinernen Haut waren Gargoyles fast unverwundbar. Doch die Zährensteinpfeile des Kronprinzen, die mit dem Gift aus getrockneten und zerstoßenen Narrensternblüten überzogen waren, konnten sie verletzen.

Ich war mir immer noch nicht sicher, wie die Vernichtung der Gargoyles Milo dabei helfen sollte, mein Königreich zu erobern, aber ich war überzeugt, dass das nur ein Teil eines größeren, tödlicheren Plans war – weswegen ich den Kronprinz so schnell wie möglich finden und vernichten musste.

»Gemma?«, fragte Reiko. »Bist du bereit, das Schiff zu durchsuchen?«

Ich verdrängte meine finsteren Gedanken. »Für gewöhnlich hast du es nicht so eilig, in eine mögliche Falle zu tappen. Meistens versuchst du, mir solchen Leichtsinn auszureden.«

»Stimmt. Aber ich weiß jetzt schon genau, was du sagen wirst.« Sie wackelte mit den Augenbrauen. »Komm schon. Sprich die Worte mit mir zusammen: An Deck dieses Schiffes zu gehen …«

Ich verdrehte die Augen, spielte aber mit. »… ist das Risiko wert.«

Reiko grinste. »Genau! Also können wir uns auch an Bord schleichen, die Falle auslösen, die Milo und Wexel vielleicht für uns hinterlassen haben, und dann mit unseren normalen Aufgaben weitermachen. Wenn wir uns beeilen, können wir nach Glitnir zurückkehren, bevor den Kochmeistern diese köstlichen Apfel-Zimt-Hörnchen ausgehen.«

»Deine Liebe zu Süßigkeiten wird dich eines Tages noch in Schwierigkeiten bringen«, zog ich sie auf.

Reiko grinste nur breiter. »Vielleicht. Auf jeden Fall will ich diese Hörnchen, also lass uns gehen. Fallen und Köstlichkeiten warten auf uns!«

Sie stand auf, zog ihr Schwert und setzte sich in Bewegung. Ich verdrehte noch einmal die Augen, doch dann zog ich mit einem breiten Grinsen meinen Dolch und folgte meiner Freundin.

Reiko glitt von einem Schatten zum nächsten, so lautlos wie Rauch, der sich durch die Luft schlängelt. Ich schlich hinter ihr her, doch meine Stiefel kratzten immer wieder viel zu laut über die Pflastersteine. Falls Milo und Wexel sich tatsächlich auf der Ertrunkener Mann verbargen, so würden sie mich sicher kommen hören.

Als wir uns dem Schiff näherten, schickte ich erneut meine Magie aus. Zum ersten Mal spürte ich die Anwesenheit mehrerer Personen an Bord wie dämmrige Kerzen in einem dunklen Raum. Die helle, heiße Gegenwart von Milos Blitzmagie aber fühlte ich nicht, genauso wenig wie die brutale Macht von Wexels Stärkemagie. Vielleicht blockierten der dicke Rumpf und das Wasser meine Macht.

Wir betraten den Kai, und sofort knirschte ein Holzbrett unter meinen Füßen unheilvoll.

Reiko warf mir einen genervten Blick zu. »Musst du so laut sein, Gemma? Du klingst wie ein Gargoyle im Porzellanladen.«

»Tut mir leid, Eure Königliche Spionigkeit«, stichelte ich zurück. »Manche von uns sind eben nicht so leichtfüßig wie Drachen.«

Sie schnaubte, und der Drache auf ihrer Hand tat es ihr nach, dann glitt sie weiter. Ich stieß den Atem aus und folgte ihr, so leise ich konnte.

Schnell erreichten wir die breite Landungsbrücke, die auf das Hauptdeck des Schiffes führte. Reiko hob in einer stummen Frage die Augenbrauen. Ich zuckte nur mit den Schultern. Ich konnte Milo nach wie vor nicht in der Nähe spüren.

Vor zwei Tagen hatte ein Gastwirt behauptet, er hätte vor Kurzem ein Zimmer an einen wohlhabenden, mortanischen Adeligen vermietet, der davon gesprochen hatte, hier in Allenstadt bald eine Schiffspassage nach Süden buchen zu wollen.

Wir hatten den Hafen kurz vor Mitternacht, also vor mehreren Stunden, erreicht. Alle hatten bereits in ihren Betten gelegen. Das hatte es Reiko leicht gemacht, ins Büro des Hafenmeisters einzubrechen und dort nach Informationen zu suchen. Nach den Aufzeichnungen war die Ertrunkener Mann gestern Morgen in den Hafen von Allenstadt eingelaufen. Ihre Passagiere hatten das Schiff verlassen. Der Rest des Tages war dem Wiederauffüllen der Vorräte vorbehalten gewesen. Das Schiff sollte am Morgen ablegen, um erneut über den Summanus nach Fortuna zu fahren … und es war das einzige Schiff im Hafen, das groß genug war, um Passagiere aufzunehmen. Wenn die Gerüchte stimmten und Milo vorhatte, auf der Ertrunkener Mann zu entkommen, dann befand er sich entweder bereits an Bord oder er musste bald kommen.

In jedem Fall waren wir dem Kronprinzen auf den Fersen, zumindest waren wir ihm näher als in den ganzen letzten Wochen. Und ich war entschlossen, den Bastard endlich zu erwischen.

Reiko schlich den Landungssteg entlang und betrat das Deck. Ich folgte ihr, wobei es mir zur Abwechslung gelang, kein Geräusch zu erzeugen. Mit gezogenen Waffen sahen wir uns auf dem breiten, rechteckigen Deck um.

An einer Reling standen mehrere Fässer mit Pfeilen, die dazugehörigen Langbogen waren in Bündeln daneben verstaut. In anderen Fässern erkannte ich Schwerter. Vom Hauptmast hing ein Netz mit Speeren, von denen viele Widerhaken an den Spitzen hatten. Ein weiteres Netz voller Speere lag in der Nähe des Steuerrades an der Reling.

Die unzähligen Waffen überraschten mich nicht. Auf dem Summanus gab es jede Menge Piraten, die Schiffe enterten, Matrosen ermordeten und kostbare Fracht stahlen – genauso wie auf der Kalten Salzsee im Norden und der Blauen Glas-See im Süden.

»Glaubst du, Milo könnte sich unter Deck aufhalten?«, flüsterte Reiko. Ihr Atem bildete in der kühlen Luft Wolken vor ihrem Gesicht.

Ich rief erneut meine Magie, doch ich konnte immer noch keine Blitzmagie spüren …

Stampf-stampf-stampf-stampf.

Schritte erklangen. Ein Mann um die sechzig tauchte über eine Treppe aus dem Bauch des Schiffes auf. Lockiges, graues Haar fiel ihm bis auf die breiten Schultern. Auf seiner dunkelbraunen Haut erkannte ich noch dunklere Sommersprossen, sicherlich der Effekt eines Lebens in praller Sonne. Seine Augen hatten einen hellen Braunton, in etwa denselben wie der Firnis auf dem Holz des Decks. Eine gezackte Narbe teilte eine buschige Augenbraue des Mannes, als hätte ihn irgendwann einmal jemand mit einem Haken gefangen wie einen Fisch.

Obwohl es noch so früh am Morgen war, war der Mann gut frisiert, und der minzige Duft seiner Zahnpasta war trotz des Fischgeruchs wahrnehmbar, der über dem Schiff lag. Er trug eine kurze, sandbraune Jacke gepaart mit einer passenden Tunika, einer engen Hose und Stiefeln. Über seinem Herzen prangte ein eingesticktes Wappen: ein Männergesicht mit hervortretenden Augen und geöffnetem Mund. Das Wappen sah genauso aus wie die Galionsfigur und wies ihn als Kapitän des Schiffes aus.

Ein Entermesser mit goldenem Griff hing von seinem braunen Ledergürtel neben einem Fernglas und ein paar langen, dünnen Messern. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie der Kapitän seine formelle Jacke abwarf, die Ärmel seiner Tunika hochrollte und mit den Messern den Fang des Tages ausnahm – oder einen Matrosen, der sich seinen Befehlen widersetzt hatte.

Der Kapitän hob gähnend die Arme. Er sah zum Himmel und verzog das Gesicht, als würde ihm irgendetwas an dem hübschen, pinkfarbenen Sonnenaufgang missfallen, dann senkte er die Arme und sah sich auf dem Deck um.

Reiko neigte abrupt den Kopf zur Seite, um mich zu fragen, ob wir uns hinter die Fässer ducken sollten, aber ich schüttelte den Kopf. Ich war es leid, herumzuschleichen. Vor allem, da der Kapitän vielleicht über die Antworten – und die Passagiere – verfügte, nach denen wir so verzweifelt suchten.

Als uns der Kapitän entdeckte, blinzelte er überrascht, dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. »So früh am Morgen hatte ich noch gar nicht mit Besuchern gerechnet. Ich bin Kapitän Davies. Und wer seid ihr beiden Hübschen?«

»Armina«, antwortete ich, indem ich meinen zweiten Vornamen verwendete, so wie ich es auf Spionagemissionen immer tat. »Und das hier ist Resplenda.«

Reiko zog eine Augenbraue hoch, offensichtlich gefiel ihr der hastig vergebene Name nicht, doch ich ignorierte sie.

Kapitän Davies musterte uns von Kopf bis Fuß, wobei sein Blick ausgiebig auf unseren Brüsten und Hüften verweilte. Je länger er uns ansah, desto breiter wurde sein Grinsen. Lust strahlte in spürbaren Wellen von ihm aus, sodass mir schlecht wurde.

»Seid ihr zwei hier, um mir das Bett zu wärmen, bevor wir Segel setzen? Falls ja, muss ich meiner Mannschaft einen Bonus für ihren herausragenden Geschmack auszahlen.« Wieder glitt sein anzüglicher Blick über unsere Körper, und er grinste so breit, dass ich seine Goldzähne sehen konnte.

Reiko knurrte, und aus dem Maul ihres inneren Drachen drang Rauch, der über ihre Haut glitt. Davies Grinsen verblasste. Jeder mit auch nur ein bisschen gesundem Menschenverstand nahm sich vor Morphen in Acht – besonders vor Drachenmorphen. Außerdem wirkte Reiko, als würde sie beim nächsten wollüstigen Kommentar übers Deck stürmen und ihm ihr Schwert in die Brust rammen.

Davies spitzte die Lippen und gab einen scharfen, lauten Pfiff von sich, der mich an den Kampfschrei eines Strix erinnerte.

Reiko und ich verspannten uns. Ein paar Sekunden lang geschah gar nichts, doch dann erklangen schwere Schritte, und ein Dutzend Männer stürmte die Stufen nach oben aufs Deck. Die Männer trugen alle dunkelbraune Tuniken, Hosen und Stiefel, und jeder von ihnen hielt ein Entermesser in der Hand. Sie verteilten sich in einem Halbkreis auf dem Deck und starrten uns genauso lüstern an wie ihr Kapitän.

Davies zog seine Klinge und stach damit vor Reiko und mir in die Luft. »Was wollt ihr?«, verlangte er zu wissen. »Wenn ihr gekommen seid, um mein Schiff zu übernehmen, erwartet euch eine unangenehme Überraschung. Die Besatzung der Ertrunkener Mann wird nicht kampflos aufgeben.«

Mit einem zustimmenden Murmeln hoben die Matrosen ihre Waffen ein wenig höher.

Reiko knurrte wieder, bereit zum Kampf. Ich allerdings schob den Dolch zurück in die Scheide und hob besänftigend die leeren Hände.

»Wir sind nicht hier, um Ärger zu machen. Wir brauchen nur ein paar Informationen.« Ich senkte eine Hand und schüttelte den grauen Samtbeutel an meinem Gürtel. »Und wir sind bereit, dafür zu zahlen.«

Davies’ Augen begannen zu leuchten, als er das Klimpern von Münzen hörte. »Was für Informationen?«

»Ich will wissen, ob irgendwelche Mortaner – besonders irgendwelche mortanischen Adeligen – eine Passage auf eurem Schiff gebucht haben.«

Der Kapitän kratzte sich am Kinn. »Nein, es sind keine Adeligen an mich herangetreten. Ich segele nur nach Fortuna und zurück.« Er sah sich um. »Hattet ihr irgendwelche Anfragen?«

Die Matrosen schüttelten alle den Kopf. Frust stieg in mir auf. Milo war nicht hier. Er war wahrscheinlich niemals hier gewesen … und ich hatte mal wieder eine Menge Zeit darauf verschwendet, einem Gerücht nachzujagen, das zu nichts führte. Ich hatte geglaubt, Milo wollte nach Süden, weg von Andvari und Morta, doch offenbar hatte ich mich geirrt – so wie ich mich in letzter Zeit bei so vielem geirrt hatte.

Davies vollführte eine ausladende Geste, die das gesamte Schiff einschloss. »Ich habe keine mortanischen Passagiere, aber ihr zwei Damen dürft gerne mit uns segeln. Ich bin mir sicher, wir finden eine gute Verwendung für euch.«

Einige Matrosen grinsten anzüglich. Die Wellen der Lust, die von ihnen ausgingen, trafen mich wie ein Schlag gegen die Brust. Nur mit Mühe widerstand ich dem Drang, zu knurren.

»Vergesst es«, blaffte Reiko. »Wir gehen jetzt.«

Davies grinste fies und berechnend. »Für einen hübschen kleinen Drachen wie dich kann ich bei der Fortuna-Präge einen hervorragenden Preis erzielen.« Sein Blick huschte zu mir. »Für dich werde ich weniger kriegen … aber ich bin mir sicher, irgendwer will dich schon für seine Sammlung.«

Mir drehte sich der Magen um, während ich gleichzeitig vor Wut kochte. Davies und seine Männer waren keine schlichten Matrosen, die Fracht über den Fluss schipperten. Nein, sie waren Flusspiraten – Entführer –, die Unschuldigen auflauerten und sie an die DiLucris verkauften – die mächtige, reiche Familie, der die Fortuna-Präge gehörte. Die DiLucris handelten mit allen möglichen illegalen Gütern. Besonders bekannt waren sie für ihre Auktionen, bei denen seltene, kostbare Güter versteigert wurden … und unter anderem wurden dort auch Männer, Frauen und Kinder an den Höchstbietenden verschachert. Angeblich waren all diese Leute Schuldknechte, die sich ihre Freiheit zurückverdienen konnten. Doch in Wirklichkeit waren sie Sklaven – und ihnen wurde viel Schlimmeres angetan, als sie nur zu schwerer Arbeit zu zwingen. Großvater Heinrich und Königin Everleigh Blair von Bellona versuchten seit Jahren, die Auktionen der DiLucris zu unterbinden, doch bisher ohne Erfolg.

»Wo ist Wexel?«, wollte ich wissen. »Wird es nicht langsam Zeit, dass sich diese feige Ratte zeigt?«

Kapitän Davies runzelte die Stirn, bis seine buschigen Augenbrauen eine durchgehende Linie bildeten. »Wer ist Wexel?«

Ich öffnete den Mund, um zu antworten, doch er wedelte wegwerfend mit der Hand.

»Spielt keine Rolle, wer euch hergeschickt hat.« Wieder grinste er bösartig. »Wir werden eine Menge Spaß mit dir und deiner Freundin haben, bevor wir euch an die DiLucris ausliefern.«

Davies spitzte die Lippen und pfiff erneut. Die Piraten grinsten, hoben die Waffen und traten vor.

Zur Abwechslung waren wir nicht in eine Falle von Milo und Wexel getappt … trotzdem schwebten Reiko und ich in tödlicher Gefahr.

2

»So, wie ich es sehe, haben wir nur zwei Möglichkeiten – fliehen oder kämpfen«, murmelte ich.

Reiko schnaubte, ohne den Blick auch nur einen Moment von den näher kommenden Piraten abzuwenden. »Sind das nicht immer unsere einzigen Möglichkeiten?«

»Bisher ist die Landungsbrücke nicht blockiert. Du bist diejenige, die Hörnchen will. Wenn wir jetzt fliehen, kriegst du die Dinger viel schneller.«

»Damit sich diese Bastarde irgendwelche anderen Frauen suchen, um sie zu entführen und in die Sklaverei zu verkaufen?«, knurrte Reiko. »Auf keinen Fall.«

Ich grinste. »Ich hatte gehofft, dass du das sagen wirst.«

Reiko erwiderte mein Grinsen. Magie flackerte in ihren Augen auf, bis sie leuchteten wie grüne Fackeln, dann wuchsen lange, schwarze Krallen aus ihren Fingerspitzen, als sie teilweise ihre größere, stärkere Morph-Gestalt annahm.

Ich zog meinen Gargoyle-Dolch aus dem Gürtel und ließ ihn herumwirbeln, bis er perfekt in meiner Hand lag. Dann stürmten wir gemeinsam vorwärts.

Reiko duckte sich unter dem Angriff des ersten Piraten hinweg, dann zog sie ihm die Klauen quer über die Kehle. Schreiend schlug der Mann die Hände an den blutenden Hals. Reiko schubste ihn zur Seite und stürmte sofort weiter, um mit ihrem Schwert einen Piraten nach dem anderen anzugreifen.

Ich stürzte mich ebenfalls auf die Piraten. Zuerst schlitzte ich einem Mann mit dem Dolch den Bauch auf, dann rammte ich die Klinge einem anderen Mann in die Kehle. Ich riss meine Waffe zurück und wirbelte herum, auf der Suche nach einem weiteren Feind. Ein goldenes Glitzern rechts von mir erregte meine Aufmerksamkeit. Instinktiv warf ich mich zur Seite.

Klirr!

Ich riss meinen Dolch gerade noch rechtzeitig nach oben, um Davies Entermesser zu parieren, doch der heftige Schlag brachte mich aus dem Gleichgewicht. Ich taumelte zurück, und meine Stiefel verloren für einen kurzen Moment den Halt auf dem glatten Deck. Davies folgte mir, dabei schwang er sein Entermesser geübt und schnell. Davies war nicht nur ein herausragender Kämpfer, sondern auch ein Murks – ein recht abfälliger Name für jemanden mit einfacher, unkomplizierter Magie wie besondere Stärke oder Geschwindigkeit.

Zu meinem großen Leidwesen besaß der Kapitän beide Begabungen.

Wieder und wieder attackierte er mich mit seinem Entermesser. Ich konnte seine schnellen, harten Schläge nur parieren und hoffen, dass er mir den Dolch nicht aus der Hand schlug. Unter Einsatz sowohl seiner Stärke als auch seiner Geschwindigkeit trieb Davies mich quer übers Deck. Ich warf mich zur Seite. Einen Augenblick später traf sein Entermesser so hart auf die Reling, dass das verwitterte Holz splitterte. Knurrend wirbelte er herum und stürzte sich erneut auf mich.

Davies trieb mich in die andere Richtung. Zwei weitere Piraten schlossen sich ihm an. Gemeinsam attackierten sie mich wieder und wieder. Ich tauchte unter einem weiteren Angriff hinweg und presste meinen Rücken gegen den Mast, um sicherzustellen, dass sie mich nicht von allen Seiten angreifen konnten.

Auf der anderen Seite des Decks war auch Reiko von Piraten umringt. Die Drachenmorphin kämpfte sowohl mit dem Schwert als auch mit ihren Klauen, die jedes Mal kreischten und schrien, wenn sie bei den aggressiven Attacken auf Kehlen, Brüste oder Bäuche trafen.

Davies beendete seine Angriffe, hielt sein Schwert aber bereit. Die anderen zwei Matrosen folgten seinem Beispiel.

»Du hättest nicht herkommen sollen, Mädel«, verkündete er triumphierend. Der frische Duft seines Rasierwassers war längst vom sauren Gestank von Schweiß verdrängt worden. »Ich hatte vor, dich und deine Freundin für mich allein zu behalten. Doch jetzt denke ich, die Matrosen sollten auch etwas von euch haben.«

Seine ekelerregende Drohung jagte weiß glühende Wut durch meine Adern, sodass sich ein Sturm von Magie in mir erhob, der darum bettelte, freigegeben zu werden. Für einen Moment war ich versucht, mich dieser Rage, diesem Sturm zu ergeben und dem Kapitän und seinen Männern genau zu zeigen, wie gefährlich ich war. Aber dann hätte ich nichts über Milo und Wexel erfahren, also sah ich stattdessen meine Feinde an, einen nach dem anderen.

»Ihr werdet weder mich noch meine Freundin verletzen. Oder sonst irgendjemanden, niemals wieder.«

Die anderen zwei Piraten verlagerten ihr Gewicht, als sie den eiskalten Zorn in meiner Stimme wahrnahmen. Auch Davies zögerte, aber dann kehrte sein Mut zurück.

»Und warum?«, fragte er höhnisch.

»Weil du nicht der Einzige bist, der Verstärkung dabeihat.«

Ich schürzte die Lippen und stieß einen ohrenbetäubend lauten Pfiff aus, so wie Davies es vorhin auch getan hatte. Der Kapitän verzog das Gesicht. Alle drei Piraten verspannten sich und sahen über die Schultern zurück, doch als niemand über die Landungsbrücke aufs Schiff stürmte, wandten sie sich wieder mir zu.

Davies zog eine spöttische Grimasse. »Anscheinend hat deine Verstärkung keine Lust …«

Ein Schatten huschte über das Deck, dann schien ein großer Felsbrocken vom Himmel zu stürzen und auf dem Piraten rechts von Davies zu landen. Der Mann grunzte nur, als seine Knochen einer nach dem anderen brachen, brachte aber keinen Schrei mehr zustande. Seine Arme und Beine zuckten noch eine Sekunde, dann ergriff schnell die absolute Bewegungslosigkeit des Todes Besitz von ihm.

Alle an Deck erstarrten, selbst die Männer, die immer noch mit Reiko kämpften. Der Felsbrocken gähnte laut und setzte sich auf, sodass er als Gargoyle zu erkennen war.

Dieser spezielle Gargoyle war ungefähr so groß wie ein Pferd, auch wenn sein untersetzter, muskelbepackter Körper nicht so hoch über dem Boden schwebte. Zwei gebogene Hörner ragten aus seiner Stirn, seine großen, wolfsähnlichen Pranken waren mit langen, schwarzen Krallen bewehrt, und sein langer Schwanz endete in einer scharfen Spitze. Seine nachgiebige Steinhaut zeigte ein dunkles Grau mit kleinen blauen Einschlüssen, die im Licht der Morgensonne glänzten. Seine Augen waren ebenfalls blau, so dunkel wie die wertvollsten Saphire.

Grimley gähnte wieder. Piraten?, rumpelte seine tiefe Stimme in meinen Gedanken, als würde Kies knirschen. Du hast mich aufgeweckt, nur damit ich gegen einen Haufen jämmerlicher Piraten kämpfe?

Tut mir wirklich leid, dass es deinen Schlafrhythmus durcheinanderbringt, wenn ich in Lebensgefahr bin, schickte ich bissig zurück.

Das wird langsam eine unangenehme Gewohnheit bei dir, dich in Lebensgefahr zu bringen, Gemma. Grimley gähnte zum dritten Mal. Nun, nachdem ich bereits wach bin, kann ich dir wahrscheinlich auch helfen. Welchen Piraten soll ich als Nächstes töten?

Ein weiterer Schatten schoss vom Himmel und landete auf dem Piraten links von Davies, um ihn genauso zu zerquetschen, wie Grimley es mit dem ersten getan hatte. Der Schatten richtete sich hoch auf und hob den Kopf, sodass die elegante Silhouette eines Strix erkennbar wurde.

Wie Grimley war auch der Strix ungefähr pferdegroß, allerdings mit einem stromlinienförmigen, eleganteren Körper, fast wie ein riesengroßer Falke. Die Augen der Kreatur zeigten ein leuchtendes Purpur, genauso wie die Federn, die in rasiermesserscharfen Spitzen aus Onyx endeten. Der scharfe Schnabel und die Klauen hatten dasselbe glänzende Schwarz. Eine weitere wunderschöne, wenn auch tödliche, Kreatur.

Danke, Lyra, sandte ich dem Strix in Gedanken.

Immer gerne!, erklang ihre hohe, singende Stimme in meinem Kopf. Lyra zwinkerte mir zu, dann hüpfte sie über das Deck und stürzte sich auf die verbliebene Gruppe entgeisterter Piraten.

Grimley beobachtete, wie das Strixweibchen seinen Schnabel in der Kehle eines weiteren Feindes vergrub. Dieser dämliche Vogel verdirbt mir den ganzen Spaß, grummelte seine Stimme in meinem Kopf.

Aber dann sprang er los und stürzte sich an Lyras Seite auf die Piraten. Die beiden Kreaturen drangen schnell zu Reiko vor, die immer noch gegen ihre eigenen Feinde kämpfte.

Ich dagegen konzentrierte mich wieder auf Davies. »Also, wo waren wir?«

Der Kapitän hob sein Entermesser. Ich wappnete mich für den nächsten Angriff … aber mein Kontrahent wirbelte herum, rannte über das Deck und stürmte die Landungsbrücke nach unten.

Ich starrte ihm für einen Moment überrascht hinterher, dann eilte ich zur Reling und sah zum Dock. Davies nutzte seine Murks-Geschwindigkeit voll aus, um die Ertrunkener Mann so schnell wie möglich hinter sich zu lassen …

Ein Mann schritt hinter einer der Holzkisten auf dem Dock hervor. Er trat direkt in Davies Weg, sodass der Kapitän abrupt stehen bleiben musste, um nicht mit ihm zu kollidieren.

Der Mann war etwas älter als ich, um die dreißig, mit gebräunter Haut, scharfen Wangenknochen und einer geraden Nase. Sein mittellanges Haar glänzte wie polierter Onyx, aber seine Augen schimmerten – wie Lyras Federn – in einem dunklen Purpur. Er trug einen schwarzen Reitmantel über einer schwarzen Tunika, einer engen Hose und Stiefeln. Die Kleidung betonte die eleganten Linien seines hochgewachsenen, muskulösen Körpers zusätzlich. Schwarze Handschuhe vollendeten das Ensemble. Die kühle Brise vom Fluss sorgte dafür, dass sich sein Mantel bewegte, als würde ein hungriger Grauwolf hinter ihm lauern. An seinem schwarzen Ledergürtel hingen ein hellgraues Zährensteinschwert und ein Dolch, aber er griff nicht nach den Waffen. Dieser Mann war auch ohne Klinge in der Hand extrem gefährlich.

»Wer zum Teufel bist du?«, fragte Davies.

Statt die Frage zu beantworten, sah Prinz Leonidas Luther Andor Morricone zu mir auf.

Tot oder lebendig?, fragte er, und die tiefe, heisere Stimme in meinem Kopf jagte mir einen angenehmen Schauder über den Rücken.

Lebend, bitte. Könnte sein, dass der Kapitän mehr weiß, als ihm bewusst ist.

Ein Grinsen breitete sich auf Leonidas’ Gesicht aus, sodass seine strengen Gesichtszüge weicher wirkten. Wie meine Lady wünscht.

»Geh mir aus dem Weg«, knurrte Davies. »Oder ich nehme dich aus wie einen Fisch.«

Leonidas warmes Grinsen verschwand. Stattdessen verbarg er seine Empfindungen wieder hinter dieser kalten, ausdruckslosen Maske, die er so häufig trug. Er warf dem Kapitän einen gelangweilten Blick zu, als wäre Davies’ Drohung genauso nebensächlich wie der Wind, der durch sein Haar strich.

»Schön«, knurrte Davies. »Wie du willst.«

Der Kapitän hob sein Entermesser und stürmte voran. Leonidas wartete geduldig ab, um im letzten Moment zur Seite zu treten. Davies konnte seinen waghalsigen Angriff nicht mehr abfangen, also knallte er gegen eine der Holzkisten und prallte davon ab wie ein riesiger Ball. Der Kapitän wirbelte herum und griff erneut an.

Leonidas beobachtete seine Annäherung genauso gelangweilt wie zuvor. Wieder wartete er, bis Davies kurz davor stand, ihm die Klinge in den Bauch zu rammen, dann hob er die Hand und ballte die Finger zur Faust.

Davies erstarrte abrupt.

Grollend kämpfte der Kapitän darum, sich zu bewegen. Seine Oberarme spannten sich an, die Sehnen an seinem Hals traten hervor wie Seile, aber Leonidas bewegte nur leicht die Finger, um sie zu einer noch festeren Faust zu schließen. Egal, wie sehr Davies sich anstrengte, er stand erstarrt wie eine Salzsäule – oder eine Statue, die jemand am Ufer aufgestellt hatte.

Leonidas war ebenfalls Mentalmagier und konnte mit seiner Macht dasselbe tun wie ich – unter anderem Gegenstände rein durch Geisteskraft bewegen. Oder eben unbeweglich halten wie im Falle des Kapitäns.

Jede Person, jede Kreatur und jeder Gegenstand besaßen eine eigene Energie – eine unsichtbare Schicht aus Macht, die sie umgab, so wie Leonidas’ Mantel seinen Körper umhüllte. Als Mentalmagier konnten wir diese Magie anzapfen und mit unserem Willen formen.

Ich hatte mir meine Macht immer vorgestellt, als würden unsichtbare Fäden von meinen Fingerspitzen ausgehen und mich mit allem und jedem um mich herum verbinden – als wäre ich eine Marionettenspielerin und die Landschaft um mich herum die Bühne. Ich musste nur ziehen und drücken, diese Fäden freigeben oder packen, und ich konnte fast alles tun, was ich wollte. Pflastersteine aus dem Boden lösen, eine dieser Kiste explodieren lassen … oder eben Davies unbeweglich halten, wie Leonidas es gerade tat.

Selbst auf meinem Aussichtspunkt auf dem Schiff konnte ich die Macht des Prinzen spüren – und auch, wie mühelos er die Energieströme um Davies’ Körper manipulierte. In mancher Hinsicht war Leonidas viel stärker in seiner Mentalmagie als ich. Er besaß eine absolute Kontrolle über seine Macht, während ich immer noch regelmäßig mit meiner Magie kämpfte. Manchmal tat der unberechenbare Sturm aus Magie tief in mir genau das, was ich von ihm wollte. Doch in anderen Momenten entzog sich die Macht meiner Kontrolle und katapultierte mich entweder in Erinnerungen oder überwältigte mich mit den Gefühlen und Gedanken anderer Leute, sodass ich nutzlos und wie gelähmt zurückblieb.

Bist du dir sicher, dass du ihn lebendig haben willst?, erklang erneut Leonidas’ Stimme in meinem Kopf. Ich kann ihn auch gern in den Fluss werfen und dort ertränken wie die Ratte, die er ist.

Das ist ein wenig extrem, findest du nicht?

Seine Augen glitzerten wie dunkle Amethyste. Nicht, wenn es um dich geht, Gemma. Ich würde dieses ganze Schiff für dich in Stücke reißen und jeden Mann an Bord ertränken, wenn das nötig sein sollte, um deine Sicherheit zu garantieren.

Er bewegte leicht die Finger. Sofort flog Davies in die Luft und knallte so hart gegen eine der nahestehenden Kisten, dass die dicken Holzplanken splitterten. Der Kapitän sackte bewusstlos zu Boden.

Im selben Moment drang ein Stöhnen an mein Ohr. Ich sah über die Schulter zurück. Reiko, Grimley und Lyra hatten die meisten Piraten getötet. Und diejenigen, die noch am Leben waren, waren zu schwer verletzt, um noch eine Bedrohung darzustellen.

»Hey, das hat Spaß gemacht.« Reiko trat über einen wimmernden Piraten mit einer hässlichen Wunde in der Brust hinweg und kam zu mir. »Genau das Richtige, um meinen Appetit auf diese Apfel-Zimt-Hörnchen anzuregen, die in Glitnir auf mich warten.«

»Keine Sorge«, antwortete ich. »Du wirst deine Hörnchen kriegen. Aber erst einmal haben wir hier noch etwas zu erledigen.«

Reiko salutierte mir mit ihrem blutigen Schwert.

Ich wandte mich an Grimley und Lyra. »Haltet Wache und stellt sicher, dass keiner der Piraten einen Fluchtversuch startet.«

Grimley und Lyra nickten. Der Gargoyle sprang auf die Reling wie eine riesige Katze und begann, sich das Blut von den Pranken zu lecken. Lyra hob ab und landete dann auf dem Hauptmast.

»Lass uns das Schiff durchsuchen«, meinte ich. »Davies hat vielleicht gelogen, als er behauptet hat, Milo hätte keine Passage bei ihm gebucht.«

Grinsend vollführte Reiko eine Verbeugung. »Nach Euch, Prinzessin.«

Ich verdrehte die Augen, konnte mein eigenes Grinsen aber nicht zurückhalten. »Dann mal los, Spionin.«

Reiko und ich kletterten über eine steile Holztreppe unter Deck. Sonnenlicht fiel durch runde Fenster und erhellte einen langen Flur, der sich über die gesamte Länge des Schiffes zog und von dem verschiedene Räume und andere Flure abgingen. Im größten Raum waren Dutzende von Hängematten wie Spinnweben von einem Pfosten zum nächsten gespannt. An den Wänden waren Regalbretter befestigt, die den verbliebenen Platz vom Boden bis zur Decke füllten. Außerdem hingen Eimer an den Pfosten. Der beißende Geruch von Urin füllte die Luft trotz der Deckel auf den metallenen Behältern.

»Nicht unbedingt die luxuriöseste Unterbringung für die Piraten und ihre Passagiere«, meinte Reiko. »Egal, wie dringend sie aus Andvari und Morta fliehen wollen, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Milo oder Wexel freiwillig mehrere Tage in einer solchen Umgebung hausen.«

»Ich auch nicht. Aber lass uns schauen, was wir finden.«

Reiko durchsuchte die Regale auf der rechten Seite des Raums, ich übernahm die links. Kleine, gerahmte Bilder von geliebten Menschen. Holzschnitzereien von Kraken, Meerjungfrauen und anderen Kreaturen der See. Bücher, Spielkarten und anderer Krimskrams, der entweder einen persönlichen Wert oder irgendeinen Nutzen hatte. Alle Gegenstände waren ziemlich gewöhnlich, und nichts sah so aus, als könnte es Milo oder Wexel gehören.

»Hast du was gefunden?«, fragte ich, als ich ans Ende der Regalreihe kam.

»Nur einen erschreckend großen Vorrat Lakritze. Igitt!« Reiko verzog angewidert das Gesicht, genau wie ihr innerer Drache.

Ich lachte. »Lass uns weitersuchen.«

Zusammen arbeiteten wir uns durch den Rest des Unterdecks und durchsuchten alle Räume. Eine kleine Kombüse, ein Speisesaal mit zerkratzten Stühlen und Tischen aus Holz, mehrere Lager für Segelstoff, Seile, Werkzeuge und Waffen. Nichts Ungewöhnliches. Also stapften wir über eine weitere steile Treppe nach ganz unten in den Rumpf des Schiffes: den Frachtraum.

Hier unten gab es keine Fenster, also schnappten Reiko und ich uns jeweils eine der schmiedeeisernen Laternen, die an einem Pflock neben der Tür hingen. Die runden Fluorsteine darin erwachten sofort zum Leben und spendeten ein schwaches, graues Licht. Statt hölzerner Kisten voller Waren hingen auch hier unten Dutzende Hängematten – und Fesseln.

Kalteisen-Fesseln waren mit kurzen Ketten mit den Pfosten verbunden, und an den Wänden waren weitere Ketten befestigt. Ich ging in die Hocke und betrachtete eines der schrecklichen Instrumente genauer. An den Schellen und der daran befestigten Kette klebte getrocknetes Blut. Auch auf dem Boden entdeckte ich Blutflecken, gleichzeitig stank es nach Fäkalien und Erbrochenem.

Wut, Ekel und Trauer erfüllten mich bei dem Gedanken an all die Leute – Frauen –, die hier gefangen gehalten worden waren. An all das Leid, das ihnen Davies und seine Mannschaft wahrscheinlich zugefügt hatten. Angesichts der schieren Menge der Fesseln verdiente Davies wahrscheinlich einen Großteil seines Geldes damit, Leute zu entführen und an die DiLucris zu verkaufen – statt Waren und Passagiere den Fluss auf und ab zu transportieren. Herzloser, gieriger Bastard. Ich hätte Leonidas doch erlauben sollen, ihn zu ertränken.

»Hey, Gemma. Schau dir das an.«

Reiko hob etwas vom Boden auf und warf es mir zu. Ich fing den Gegenstand auf und hielt ihn ans Licht.

Es war eine Münze.

Mit zusammengekniffenen Augen musterte ich das goldene Rund, in das ein vertrautes Wappen eingestanzt war – das Gesicht einer Frau, mit zwei winzigen Münzen als Augen und einer weiteren Münze, wo sich der Mund befinden sollte. »Das ist eine DiLucri-Goldkrone. Wieso liegt die hier?«

»Vielleicht gehörte sie einem der Piratenopfer«, bot Reiko an. »Hier im Dunkeln kann man leicht mal etwas verlieren, besonders, wenn man gegen seine Fesseln kämpft.«

»Richtig«, stimmte ich zu, dann schwenkte ich erneut die Laterne, um mich im Rumpf des Schiffes umzusehen. »Aber das erklärt nicht diese ganzen Hängematten. Das dürften fast hundert sein.«

Reiko zuckte mit den Achseln. »Vielleicht hat Davies aus irgendeinem Grund gerade besonders viele Leute transportiert.«

»Vielleicht«, meinte ich. »Oder die Mortaner waren doch hier. In Blauberg, als Wexel den gestohlenen Zährenstein gekauft hat, hat er Conley mit DiLucri-Gold bezahlt.«

Reiko zuckte nur ein weiteres Mal mit den Achseln. »Eine einzelne Münze bedeutet noch nicht, dass Wexel und Milo hier waren. Jeder hätte jederzeit eine DiLucri-Krone verlieren können.«

Sie hatte recht. Frust stieg in mir auf. Trotz unserer Suche wussten wir immer noch nicht, ob die Mortaner nun hier gewesen waren oder nicht.

Wir fanden im Frachtraum sonst nichts von Interesse, also schob ich die Krone in meine Tasche, und wir stiegen nach oben, um die Kajüte des Kapitäns zu durchsuchen. Im Gegensatz zum Rest des Schiffes war dieser Raum nicht schlicht eingerichtet. Es gab ein aufwendig gearbeitetes Holzbett an einer Seite des Raums und einen antiken Schreibtisch auf der anderen Seite. Regale zogen sich an den Wänden entlang. Anders als in der Kabine der Mannschaft lagen hier nicht Bücher, Süßigkeiten und Krimskrams auf den Brettern, sondern Fernrohre, andere Navigationsgeräte und Karten der Umgebung des Summanus.

Ich setzte mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und durchsuchte die Schubladen. Noch ein Fernrohr, ein paar Dolche, ein paar Schreibfedern und verschlossene Tintenfässer mit blauer Tinte. Nichts von Interesse – abgesehen von einem dicken, schwarzen Kassenbuch.

Neugierig schlug ich den Band auf und ließ den Blick über die Einträge gleiten.

Mädchen, dreizehn Jahre, rotes Haar, blaue Augen – 100 Goldkronen.

Frau, Mitte zwanzig, Ogermorph, braunes Haar und ebensolche Augen – 500 Goldkronen.

Mann, Mitte dreißig, Murks mit Stärkemagie, schwarzes Haar und ebensolche Augen – 50 Goldkronen.

Wieder überschwemmte mich eine Welle aus Wut, Ekel und Trauer. Davies hatte genau über all die Leute Buch geführt, die er an die DiLucris verkauft hatte – und über die Summen, die er für sie erhalten hatte.

Angewidert knallte ich das Buch so fest zu, dass ein paar Kompasse auf dem Tisch klapperten. »Hier werden wir nichts finden. Es gibt nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass Milo oder Wexel dieses Schiff je betreten haben.«

»Vielleicht hat das Gerücht uns in die Irre geführt«, meinte Reiko, die inzwischen im Türrahmen lehnte. »Oder vielleicht haben wir einfach das falsche Schiff. Vielleicht hat Milo eine Passage auf einem anderen Schiff gebucht. Wir wissen beide, dass das durchaus möglich ist.«

Bisher wies alles darauf hin, dass der Kronprinz nach Süden floh, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Andvari sowie Morta zu bringen. Schließlich war er jetzt ein Ausgestoßener, für dessen Ergreifung in zwei Königreichen eine hohe Belohnung ausgesetzt war. Und in Anbetracht der Abmachungen, die mein Vater mit den anderen Herrschern getroffen hatte, würde Milo auch in Unger, Ryusama, Bellona, Flores oder Vacuna keinen sicheren Hafen finden. Nein, für ihn wäre es am besten, nach Süden zu fliehen, auf die Insel Fortuna, um die DiLucris zu bestechen oder irgendwie davon zu überzeugen, ihm Unterschlupf zu gewähren.

Dort konnte Milo auf ein Schiff steigen und quer über die Blaue Glas-See in ein weit entferntes Königreich reisen, wo er vielleicht am Hof eines anderen Herrschers aufgenommen würde. Aber selbst das war unsicher … nachdem die meisten Könige keine Sympathie für Kronprinzen hegten, die versucht hatten, ihre eigene Mutter und Königin zu ermorden, zusammen mit noch weiteren Herrschern. Und es wäre ein lange, anstrengende, gefährliche Reise, die Milo vielleicht nicht überleben würde, egal, wie viel Blitzmagie er besaß oder wie clever und grausam er sein mochte.

Ich ließ mich in Davies’ Stuhl nach hinten sinken. Das Möbelstück knirschte protestierend. »Nun, laut der Gerüchte, die wir gehört haben, waren Milo und Wexel definitiv auf dem Weg nach Süden.«

»Aber?«, fragte Reiko.

»Du hast Milo beim Gipfel gesehen. Obwohl sein Plan, mich und Leonidas von Corvina ermorden zu lassen, vollkommen in die Binsen gegangen ist, hat er nicht aufgegeben – keinen Augenblick lang. Stattdessen hat er seine Intrige vorangetrieben und versucht, alle Herrscher zu ermorden.«

»Und?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube einfach nicht, dass er auf der Flucht ist. Ich glaube, er läuft nicht vor uns weg – sondern auf irgendetwas zu, was seine Pläne vorantreiben kann.«

Reiko biss sich, in Gedanken versunken, auf die Unterlippe, und auch ihr innerer Drache verzog nachdenklich das Gesicht. Sorge strahlte von beiden aus und verstärkte meine eigene Unruhe. Wir alle kannten dieselbe beängstigende Wahrheit: Wir mussten herausfinden, was Milo plante, bevor er erneut zuschlug und schlussendlich doch einen Weg fand, mein Königreich zu erobern.

3

Ich schnappte mir das Kassenbuch, dann kehrten Reiko und ich aufs Oberdeck zurück.

Grimley und Lyra hockten inzwischen beide auf der Reling und wachten über die verletzten Piraten, von denen viele immer noch vor Schmerzen stöhnten. Ein paar Schritte entfernt saß Kapitän Davies in der Mitte des Decks auf seinem Hintern. Leonidas ragte über ihm auf wie eine finstere Wolkenwand, die drohte, jeden Moment ein Unwetter zu entfesseln.

Ich schmiss das Buch neben Davies auf den Boden, wo es mit einem dumpfen, anklagenden Schlag landete.

»Ich werde dir ein paar Fragen stellen. Beantworte sie ehrlich, und ich lasse dich und den Rest deiner Mannschaft am Leben.«

Der Kapitän beäugte mich wachsam. »Und falls nicht?«

Mit dem Daumen deutete ich über die Schulter auf Grimley. »Dann lasse ich den Gargoyle an deinen Knochen nagen.«

Grimley knurrte und kratzte mit den Klauen über die Reling. Er spielte seine Rolle perfekt. Davies’ Augen wurden groß, aber er fing nicht sofort an zu reden, also sah ich Leonidas an.

»Oder vielleicht lasse ich auch den Strix an den guten Kapitän ran. Frisst Lyra gerne Menschenfleisch?«

Ein fieses Grinsen verzog Leonidas’ Lippen. »Oh, Lyra liebt es, sich an Menschen gütlich zu tun. Sie beißt ihnen für gewöhnlich nacheinander die Finger ab, als wären sie Würmer. Außerdem pickt sie ihnen gerne die Augen aus und schluckt sie wie Trauben.«

Lyra krächzte laut und wild und breitete ihre Flügel aus, um möglichst beängstigend zu wirken.

Davies wurde noch bleicher. Er sah mit weit aufgerissenen Augen zwischen Grimley und Lyra hin und her. Offensichtlich hatte er panische Angst vor den Kreaturen und dem, was sie ihm antun konnten. Nach ein paar Sekunden zog der Kapitän den Kopf ein, als wünschte er, das Deck würde sich unter ihm auftun und ihn verschlingen.

»Was … was wollt ihr wissen?«, stammelte er und klang dabei bei Weitem nicht mehr so arrogant wie bisher.

Ich griff in die Tasche meines Mantels und zog einen Steckbrief mit Milos Bild heraus. Außerdem stand darauf sein Name und die Höhe der Belohnung, die für seine Ergreifung bezahlt wurde – egal, ob lebendig oder tot. »Hast du diesen Mann gesehen?«

Davies musterte das Papier, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, den habe ich noch nie gesehen. Ich schwöre es. Wie ich euch schon vorhin gesagt habe, kein … mortanischer Adeliger ist aus irgendeinem Grund an mich herangetreten.«

Ich kniff misstrauisch die Augen zusammen. Leonidas und Reiko legten den Kopf schief. Offensichtlich hatten sie das kurze Zögern des Kapitäns auch bemerkt.

»Irgendjemand ist aber mit einem Anliegen an dich herangetreten«, meinte ich.

Davies leckte sich die Lippen, dann huschte sein Blick wieder zu Grimley und Lyra. »Ja. Gestern ist ein Mann aufs Schiff gekommen, kurz nachdem wir angelegt hatten. Er hat behauptet, er hätte gehört, dass mehrere Leute vorhätten, sich auf meinem Schiff zu verstecken, um sich eine freie Passage nach Fortuna zu ergaunern.«

»Und was hast du ihm gesagt?«

Davies zuckte mit den Achseln. »Dass ich mit diesen Leuten umgehen würde wie mit allen blinden Passagieren – sie entweder umbringen oder an die DiLucris verkaufen. Er hat gelacht und erklärt, beides wäre für ihn in Ordnung.«

Reiko, Leonidas und ich tauschten Blicke. Dann griff ich wieder in meine Manteltasche und zog einen weiteren Steckbrief heraus, auf dem ein Bild von Hauptmann Wexel prangte.

»War es dieser Mann?«

Davies warf einen Blick auf das Bild und nickte sofort. »Ja! Ja! Das war er.«

»Hast du gesehen, wo er hingegangen ist? Ist er an Bord eines anderen Schiffes gestiegen?«

»Keine Ahnung«, antwortete Davies. »Er war nur ein paar Minuten an Bord, und ich hatte zu viele Passagiere, um mir Gedanken über das Verhalten von irgendeinem Fremden zu machen.«

Ich war so frustriert, dass ich begann, auf dem Deck auf und ab zu tigern. Wexel war hier gewesen – genau hier. Vor weniger als vierundzwanzig Stunden hatte er auf diesem Deck gestanden … aber wieder einmal war er verschwunden, bevor wir auch nur angekommen waren.

Irgendwann beendete ich meine Wanderung. Ich wollte Davies gerade die nächste Frage stellen, als mir all diese Hängematten im Frachtraum einfielen … und die Goldmünze, die Reiko gefunden hatte. »Welche Art von Passagieren? Woher kamen sie?«

Der Kapitän zuckte mit den Achseln. »So, wie sie aussahen, waren es Gladiatoren. Von der Insel Fortuna. Das ist schon die fünfte Ladung, die ich in den letzten Wochen befördert habe. Sie sind auf dem Weg zum Schwert-und-Schild-Turnier in Glitnir wie alle anderen auch.« Wieder leckte er sich die Lippen, bevor er mit dem Kopf auf die Steckbriefe in meiner Hand zeigte. »Wer sind diese Kerle?«

»Lebende Tote«, knurrte ich.

Davies zog wieder den Kopf ein, als hätte er plötzlich genauso viel Angst vor mir wie vor Grimley und Lyra. Kluges Kerlchen.

Ich rief meine Magie und kontrollierte seine Gedanken, aber sie flatterten hin und her wie Segel in einem Hurrikan. Ich nahm kaum etwas wahr, außer seiner Sorge, dass wir ihn doch noch töten würden – oder noch schlimmer, ihn Grimley und Lyra überlassen. Immer wieder sah ich Bilder, wie der Gargoyle an Davies’ Knochen kaute oder der Strix ihm die Augen auspickte. Die Angst des Kapitäns war echt, was bedeutete, dass er wahrscheinlich auch ehrliche Antworten gegeben hatte.

»Was willst du jetzt mit ihm anfangen?«, fragte Reiko.

Davies schnappte nach Luft, und zum ersten Mal empfing ich einen klaren Gedanken von ihm. Bitte tötet mich nicht, bitte tötet mich nicht, bitte, bitte, bitte …

Ich fragte mich, wie viele unschuldige Männer, Frauen und Kinder in diesem Frachtraum gekauert hatten und genau denselben Gedanken gehabt hatten, als ihnen klar geworden war, was Davies und seine Mannschaft mit ihnen vorhatten. Wut zuckte durch meine Brust, und meine Finger kribbelten vor Verlangen, Davies so heftig gegen den Hauptmast zu schleudern, dass seine Wirbelsäule brach, nur um dann mit den restlichen Piraten dasselbe zu tun. Aber das wäre ein zu barmherziger Tod für diese Mistkerle gewesen.

»Die königliche Wache kann sich um den Kapitän und seine Mannschaft kümmern«, antwortete ich. »Es ist nur fair, wenn Davies und seine Männer eine Weile ebenfalls Fußfesseln tragen, bevor sie gehängt werden.«

Der Kapitän wollte protestieren, doch bei meinem bösen Blick klappte er den Mund wieder zu.

Reiko nickte. »Ich werde den Hafenmeister holen.«

Damit verließ sie das Schiff über die Landungsbrücke. Grimley und Lyra schlugen mit den Flügeln, um zur Jagd aufzubrechen, während Leonidas ein Auge auf Davies und die verletzten Piraten hatte.

Ich stapfte zur Reling. Das Klatschen der Flusswellen am Rumpf passte perfekt zu der Wut und dem Frust, die in meinem Herzen pulsierten.

Milo Morricone war wieder einmal entkommen. Und was noch schlimmer war: Ich hatte keine Ahnung, welche Richtung er eingeschlagen hatte oder welche scheußlichen Taten er als Nächstes plante.

Ein paar Minuten später kehrte Reiko mit dem Hafenmeister zurück. Ich enthüllte meine Identität und berichtete, was Davies und seine Männer mir und Reiko angedroht hatten. Der Hafenmeister starrte mich aus großen Augen an, rief dann aber die königliche Wache. Davies und die verbliebenen Piraten wurden in Fesseln gelegt und ins Gefängnis der Stadt gebracht.

Reiko, Leonidas und ich ließen die Ertrunkener Mann hinter uns und wanderten den Fluss entlang. Inzwischen war die Sonne ganz aufgegangen, und die ersten Menschen hatten sich schon ihrem Tagwerk gewidmet. Wir zeigten die Steckbriefe von Milo und Wexel verschiedenen Matrosen, Fischern und anderen Leuten, aber niemand konnte sich erinnern, die zwei Männer gesehen zu haben.

Als offensichtlich wurde, dass die Mortaner verschwunden waren und wir lediglich unsere Zeit verschwendeten, ließen wir den Hafen hinter uns und traten in eine Gasse.

Lyra …

Grimley …

Leonidas und ich riefen die Kreaturen. Ein paar Minuten später landete Lyra in der Gasse, gefolgt von Grimley und einem weiteren Gargoyle.

Der zweite Gargoyle war ein Weibchen und ein wenig kleiner als Grimley. Sie war noch nicht ganz ausgewachsen, und ihre steinerne Haut zeigte ein helleres Grau als seine, mit dünnen Adern in Jadegrün. Ihre Augen schimmerten in demselben leuchtenden Grün. Als sie uns sah, lächelte sie breit.

Fern sprang zu Reiko und rieb sich an ihrem Bein. »Lady Reiko! Hat es dir Spaß gemacht, mit Piraten zu kämpfen? Und bist du bereit, nach Hause zu fliegen?«

Beim Wort fliegen verzog Reiko kurz das Gesicht, kraulte Fern aber trotzdem zwischen den Hörnern. Viele Gargoyles mochten das besonders. Ferns Schwanz schlug in einem begeisterten Rhythmus auf die Pflastersteine und sprengte dort kleine Steinsplitter ab.

Reiko sah zu mir. »Bist du dir sicher, dass wir nicht mit dem Zug zurück nach Glanzen reisen können?«

Leonidas runzelte entgeistert die Stirn. »Wieso solltest du den Zug nehmen, wenn du fliegen kannst?«

Ich schlang meiner Drachenmorph-Freundin den Arm um die Schulter. »Oh, Reiko findet das Fliegen bei Weitem nicht so toll wie wir. Für Apfel-Zimt-Hörnchen nimmt sie es aber gern auf sich, oder?«

Reiko warf mir einen bösen Blick zu und rammte mir den Ellbogen in die Seite. Mit einem schmerzerfüllten Zischen rieb ich mir die Rippen. Leonidas lachte leise, dann ging er zu Lyra und ließ die Hand über ihr Federkleid gleiten.

»Kein Wunder, dass du und Prinz Leo so perfekt zusammenpasst. Ihr beide schwebt mit dem Kopf in den Wolken – im wahrsten Wortsinn«, meinte Reiko.

Ihre Miene wurde sehnsüchtig, und ihr innerer Drache seufzte stumm, sodass eine kleine Rauchwolke über Reikos Haut wanderte.

Ich konnte mir denken, an was – oder vielmehr wen – sie gerade dachte. »Hast du von Kai gehört?«

Reiko verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein. Und ich rechne auch nicht damit. Wir haben uns auf dem Gipfel voneinander verabschiedet.«

Kai Nakamura hatte als persönliche Wache von Königin Ruri Yamato von Ryusama am Gipfel teilgenommen, auch wenn er eigentlich ein herausragender Gladiator war, der sogar das letzte Turnier der Streiter während der Regalia-Spiele gewonnen hatte. Reiko war früher auch Gladiatorin gewesen. Die beiden hatten in derselben Truppe gekämpft, bei den Scharlachroten Drachen. Reiko und Kai waren nicht nur im Ring gegeneinander angetreten, sondern auch sonst regelmäßig aneinandergeraten – bis es bei den Regalia-Spielen zu einer leidenschaftlicheren Begegnung gekommen war.

Das letzte Mal hatten sich die zwei Drachenmorphe beim Gipfel gesehen. Kai hatte versucht, Reiko zu überzeugen, ihrer Beziehung eine echte Chance zu geben – allerdings wusste ich nicht, wie viel Erfolg er damit gehabt hatte. Reiko Yamato war fantastisch darin, die Geheimnisse anderer Leute aufzudecken … aber sie sprach so gut wie nie über sich selbst und ihre Probleme. Egal, wie oft ich ihr sagte, dass ich ihr gern zuhören würde, wenn sie mal reden wollte.

Reiko senkte die Arme. »Aber in einem Punkt hast du recht.«

»Was?«

»Je früher wir in die Hauptstadt zurückkehren, desto früher bekomme ich diese Hörnchen.« Sie grinste, gleichzeitig strahlte aber eine Trauer von ihr aus, die mir das Herz zusammenzog. Trotz ihres lockeren Tonfalls und ihrer fröhlichen Worte vermisste Reiko Kai viel mehr, als sie jemals zugegeben hätte.

Reiko kletterte auf Ferns Rücken, ich stieg auf Grimley, und Leonidas sprang auf Lyras Rücken. Dann hoben wir ab.

Ich hielt mein Gesicht in die kühle Novemberbrise. Atmete ein, aus, ein, aus. Je länger ich ruhig durchatmete, desto unwichtiger erschienen mir meine Probleme – so wie die Schiffe, Kisten und Leute am Ufer langsam schrumpften, je höher Grimley in die Luft stieg. Oh, ich machte mir immer noch Sorgen darüber, wo sich Milo und Wexel aufhielten und welche Intrigen sie spannen, aber das Fliegen hob immer meine Laune und machte das Leben leichter erträglich – zumindest, solange ich durch die Luft sauste.