Der Dornenthron - Jennifer Estep - E-Book
BESTSELLER

Der Dornenthron E-Book

Jennifer Estep

0,0
14,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 14,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kronprinzessin. Clevere Spionin. Mächtige Mentalmagierin. Gemma Ripley von Andvari hat viele Gesichter, und nun muss sie all ihre Fähigkeiten vereinen, um einen Feind aufzuhalten, der mit magischen Waffen ihr Königreich bedroht. Gemmas Suche nach Antworten führt sie zu einem politischen Gipfeltreffen, bei dem mehrere Königreiche um den brüchigen Frieden zwischen ihren Ländern ringen. Doch Königin Maeven und ihr Sohn Leonidas säen Zwietracht unter den Anwesenden ... Kann Gemma Leonidas dennoch vertrauen, ihren Thron sichern und ein tödliches Attentat verhindern?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Entdecke die Welt der Piper Fantasy!

www.Piper-Fantasy.de

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Der Dornenthron« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

© Jennifer Estep 2022

Published by Arrangement with Jennifer Estep

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Tear Down the Throne«, HARPER Voyager, New York 2022

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München

Coverabbildung: Magdalena Russocka / Trevillion Images; FinePic®, München

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitate

Teil I

Das Risiko ist es wert

1

2

3

4

5

6

Teil II

Die königliche Falle

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

Teil III

Die Kampfminnetey

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für meine Mom und meine Grandma – für eure Liebe, eure Geduld und alles andere, was ihr mir über die Jahre geschenkt habt.

Für die Leser, die noch mehr Geschichten aus meiner Splitterkronen-Welt hören wollten – das ist für euch.

Und für mein Teenager-Ich, das jedes Fantasy-Epos verschlungen hat, das sie in die Finger bekommen konnte – weil du endlich deine eigenen High-Fantasy-Bücher schreibst.

Andvarianer und Mortaner sind wie Gargoyles und Strixe – sie versuchen stets, sich gegenseitig zu töten.

Armina Ripley, Erste Königin von Andvari

Einem Morricone zu vertrauen, wäre, als versuchte man, einen Blitz zu halten. Selbst wenn es einem gelingt, wird man sich verbrennen.

Dominic Ripley, aktueller Kronprinz von Andvari

Jeder Narr kann einen Thron umstoßen. Viel schwieriger ist es, die Krone auf dem Kopf zu behalten.

Maeven Morricone, aktuelle Königin von Morta

Teil I

Das Risiko ist es wert

1

Manchmal hasse ich mein Leben als Prinzessin.

Versteht mich nicht falsch. Ich weiß, wie glücklich ich mich schätzen kann. Als Gemma Armina Merilde Ripley, Kronprinzessin von Andvari, steht mir alles zur Verfügung, was ich mir je wünschen könnte – von wunderschönen Kleidern über glitzernde Tiaras bis zu fantastischem Essen. Und ich mache all diesen schönen Dingen Ehre. Ich bin eine herausragende Tänzerin, eine Juwelierin mit akzeptablem Talent und eine enthusiastische Liebhaberin von gerösteten Käse-Marmelade-Sandwiches.

Mir fehlt es an nichts, ich lächle bei allem und kann mich über eine Fülle von harmlosen Themen unterhalten, vom launenhaften, andvarischen Herbstwetter über die berühmtesten bellonischen Gladiatorentruppen bis zu den ungewöhnlich komplizierten Schrittfolgen ungerischer Wettkampftänze.

O ja. Ich bin verdammt noch mal fantastisch darin, die verwöhnte Prinzessin zu spielen. Und meistens genieße ich es sogar.

Gerade eben hatte ich aber keine Gelegenheit dazu.

»… findet Ihr nicht auch, Eure Hoheit?«

Eine tiefe, donnernde Stimme riss mich aus meinen Grübeleien. Mehrere Lords und Ladys starrten mich an, als wäre ich ein Caladrius in einer Menagerie, um dessen Käfig sie sich versammelt hatten. In solchen Momenten war meine Rolle als Prinzessin definitiv eine Art Gefängnis.

Heute bestand mein vergoldeter Käfig aus einem Speisesaal, an dessen Wänden weiße Pflanztöpfe mit immergrünen Büschen standen. Zu meiner Linken räumten Diener den Tisch in der Mitte des Raums ab. Rechts von mir spielte eine Kapelle in einer kleinen Gartenlaube, an der sich grüne Ranken emporwanden. Pinke Glyzinienblüten wippten über den Köpfen der Musiker, als tanzten die Blumen im Takt der leisen, sanften Melodien – die auch »Die blaueste Krone« einschlossen, meine ganz persönliche, von mir aber verabscheute Hymne.

An einer der Wände hing ein dunkelgraues Banner mit einem knurrenden Gargoyle-Gesicht in Schwarz: dem königlichen Wappen der Ripley-Familie. Daneben befand sich ein waldgrünes Banner mit einer goldenen Eiche, von deren Ästen goldene Eicheln fielen: das Wappen von Lord Eichen, dem Gastgeber dieses Mittagessens.

»Findet Ihr nicht auch, Eure Hoheit?«, wiederholte Eichen, und dabei klang seine Trompetenstimme noch lauter als bisher – als hätte ich ihn nicht gehört.

Mit seiner silbernen Brille, den dunkelbraunen Augen, der runzligen, dunkelbraunen Haut und dem kurz geschnittenen, eisengrauen Haar sowie dem Schnurrbart sah Eichen aus wie ein freundlicher Opa … und tatsächlich war er ein langjähriger Freund meines Großvaters, König Heinrich Ripley. Eichen war etwas über sechzig und ein wohlhabender Pflanzenmagier, dessen Anwesen nur einen Steinwurf von der mortanischen Grenze entfernt lag.

Seine dröhnende Stimme übertönte alle anderen Gespräche, sodass sich diesmal wirklich alle Augen im Saal auf mich richteten. Die Musiker unterbrachen ihr Spiel, und selbst die pinken Glyzinien schienen in meine Richtung zu spähen.

Das Gewicht der Blicke drückte so schwer wie ein Amboss auf meine Brust, aber ich lächelte, als würden mir nicht immer noch die Ohren von Eichens lauter Stimme klingeln. Mit diesem Organ sollte er eigentlich als Ringmeister einer Gladiatorentruppe arbeiten.

»Ihr habt recht«, antwortete ich. »Die Truppe vom Schwarzen Schwan dürfte in dieser Wintersaison der größte Rivale unserer andvarischen Gladiatorentruppen sein. Es wäre wirklich keine Überraschung, wenn der Schwarze Schwan wieder ein oder zwei Titel holt.«

»Sie haben in den letzten sechzehn Jahren fast jeden verdammten Titel gewonnen. Seitdem Serilda Swanson nach Svalin zurückgekehrt ist.« Eichen spuckte den Namen der berühmten Kämpferin aus wie einen scheußlichen Fluch. Mehrere Enkel von ihm kämpften für andvarische Truppen, also nahm er die Ranglisten, Siege und Niederlagen der Gladiatoren ernster als viele andere Leute.

»Serilda ist eine herausragende Kämpferin«, murmelte ich. Ich wollte Eichen nicht noch weiter reizen.

»Das ist sie.« Ein Lächeln verzog sein Gesicht, wobei sich sein Schnurrbart mitbewegte. »Habe ich Euch je erzählt, dass ich Serilda einmal persönlich habe kämpfen sehen? Wirklich! Es war gegen eine mortanische Truppe, und sie hat den Boden mit jedem Gladiator aufgewischt, den sie zu ihr in den Ring geschickt haben …«

Eichen erging sich in einer langatmigen Geschichte über Serildas Turnier. Ich lächelte weiter, blendete seine Worte aber aus.

Als Prinzessin Gemma war ich die reisende Botschafterin der königlichen Familie, verantwortlich für die Pflege guter Beziehungen mit wohlhabenden Adeligen – besonders mit Adeligen wie Eichen, die strategisch wichtige Besitztümer nahe der Grenze zu Morta unterhielten. Ich war seit drei Tagen zu Gast bei Eichen und seiner Familie im Herrenhaus Eichtal. Ich hatte Eichens eindrucksvolle Gärten bewundert und versucht, mich mit Charme und Komplimenten bei allen beliebt zu machen – von der reichsten, adeligen Dame bis hin zu den neu eingestellten Dienerinnen und Dienern.

Heute war das große Finale meines Besuches. Das beinhaltete ein Mittagessen mit Dutzenden Adeligen, Händlern und Gildenmeistern aus der nahe gelegenen Stadt Haverton. Das eigentliche Essen war vor einer halben Stunde zu Ende gegangen. Jetzt ließen sich die Gäste noch den Wein schmecken, bevor sie sich verabschieden würden, um sich für den Ball am Abend bereit zu machen.

Noch vor ein paar Wochen hätte ich den Nachmittag gerne mit tratschen zugebracht und mit dem Sammeln von möglichst vielen Informationen. Vielleicht hätte ich so herausgefunden, wen ich überzeugen konnte, mich über alle aktuellen Entwicklungen in Haverton auf dem Laufenden zu halten, um mein inoffizielles Spionagenetzwerk in diesem Teil von Andvari zu verbessern.

Doch jetzt nicht mehr. Denn mit jeder Stunde, die verging, schwebte mein Königreich in größerer Gefahr …

Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie eine Gruppe mortanischer Soldaten besiegt haben soll.

Das müssen Lügen sein. Sie ist eine Prinzessin, keine Kriegerin.

Sie kann auf keinen Fall eine Mentalmagierin sein. Sonst wüsste sie genau, wie hässlich ich ihr Kleid finde …

Ich verzog meine Lippen weiter zu einem Lächeln, als wäre alles in Ordnung und ich könnte nicht hören, was die Leute über mich dachten.

Die Adeligen hatten recht – doch zugleich irrten sie sich. Ich mochte eine Prinzessin sein, vor ein paar Wochen hatte ich aber eine Gruppe mortanischer Soldaten besiegt. Man konnte sicherlich darüber diskutieren, ob ich als Kriegerin durchging, aber ich war auf jeden Fall eine Mentalmagierin, die jeden Gedanken hören und die finstersten Geheimnisse der Menschen aufdecken konnte.

Unglücklicherweise.

Denn die Leute dachten ununterbrochen, und ihre Gedanken summten ständig wie Bienen um mich herum.

Ich konnte nicht nur die nicht allzu freundlichen Gedanken der Adeligen hören, ich konnte auch ihre Emotionen spüren. Dumpfe Langweile, scharfe Stiche von Neugier und natürlich die engherzige Eifersucht, die über meine Haut kratzte wie Schmirgelpapier. Lady Kendra mochte mein Kleid wirklich nicht. Die Abscheu, die von ihr ausstrahlte, war so stark, dass sich mir der Magen umdrehte.

Ich atmete tief ein und konzentrierte mich auf mich selbst – auf das winzige, innere Schiff meines Ich, das ständig auf den Gefühlen anderer Leute segelte. Langsam beruhigte sich die stürmische See. Lady Kendras Abscheu verklang, und mein Schiff fand wieder ruhigeres Fahrwasser.

Normalerweise hätte ich die Gedanken und Gefühle der Leute um mich herum bestmöglich ignoriert. Aber angesichts der Gefahr, in die ich mich später begeben wollte, musste ich tatsächlich hinhören, um sicherzustellen, dass ich meinen Plan durchführen konnte – und dass mich niemand auf dieselbe Weise ausspionierte wie ich meine Feinde.

Also wartete ich, bis Eichen sich in eine weitere Geschichte gestürzt hatte, um dann meine Magie zu rufen. Innerlich lehnte ich mich über die Reling meines Schiffes und tauchte meine Finger in dieses Meer aus Emotionen, um die Gedanken aller Anwesenden im Speisesaal zu kontrollieren – von den Adeligen, die sich um Eichen versammelt hatten, über die Diener, die immer noch den Tisch abräumten, bis zu den Wachen, die in den Ecken postiert standen.

Dieser Wein ist schrecklich …

Ich wünschte, ich käme näher an die Prinzessin heran …

Glimmas Hände sind für immer zerstört …

Bei diesem letzten, bissigen Gedanken – er stammte wieder von der Kleidhasserin, Lady Kendra – ballte ich die Hände zu Fäusten. Glimma war mein inoffizieller Spitzname. Ich hatte mich jahrelang über ihn gefreut, weil mir die Rolle der verwöhnten Prinzessin eine perfekte Tarnidentität für meine Geheimmissionen geliefert hatte. Doch je mehr Zeit vergangen war, desto mehr hatte mich der Spitzname gestört. Inzwischen verabscheute ich ihn aus tiefstem Herzen – besonders wegen der brutalen Folter, die ich vor ein paar Wochen durchlebt hatte.

Wut kochte in mir hoch, und ein dumpfer Schmerz durchfuhr meine Handflächen. Gleichzeitig kribbelten meine Fingerspitzen in dem heißen Schmerz meiner Erinnerung. Trotz mehrfacher Heilungen leuchteten immer noch hellrote Narben auf meinen Händen, auf Handflächen und Handrücken, als hätte jemand scharlachrote Sterne auf meine Haut gezeichnet.

Der Anblick der hässlichen Male befeuerte meinen Zorn noch mehr. Gleichzeitig hob sich meine Magie. Beides brannte heißer in mir als die Phantomschmerzen, die immer noch in meinen Fingerspitzen tobten. Ich blinzelte. Von einem Moment auf den nächsten verschwand der Speisesaal um mich herum, und ich starrte auf meinen eigenen Körper hinunter, der an einen Tisch gekettet war. Mein Rücken brannte, als stände er in Flammen, meine Hände pulsierten vor Qualen, und aus den scheußlichen Wunden in meinen Handflächen tropfte Blut …

»Was sagt Ihr dazu, Eure Hoheit?« Wieder dröhnte Eichens Stimme über mich hinweg und riss mich aus meinen Erinnerungen zurück ins Hier und Jetzt.

Alle Blicke richteten sich auf mich. Ich öffnete die Hände, bewegte vorsichtig die Finger und strich mir einen unsichtbaren Fussel vom Rock, während ich im Kopf Eichens letzte Worte aufrief. Prinzessinnen lernen schon in jungen Jahren, immer mit halbem Ohr zu lauschen.

»O ja«, antwortete ich. »Die Haverton-Truppe hat eine gute Chance, die Meisterschaft zu erringen, vor allem, wenn man die herausragende Vorstellung bedenkt, die Eure Enkel uns vorhin geboten haben.«

Vor dem Mittagessen hatten mehrere Gladiatoren in einem Übungsring draußen gegeneinander gekämpft. Sie hatten sich durchaus wacker geschlagen, doch ich hatte schon bessere Kämpfer und Kämpferinnen gesehen. Serilda Swanson, Paloma und natürlich Königin Everleigh Blair. Trotzdem wäre es unhöflich gewesen, das offen zu sagen.

Eichen warf sich stolz in die Brust. »Ich danke Euch, Eure Hoheit, und weiß Euer Vertrauen zu schätzen. Vielleicht erlaubt es König Heinrich einigen meiner fähigeren Gladiatoren, Euch beim herannahenden Gipfel als Wachen zu dienen. Schließlich wollen wir doch nicht, dass die Morricones Euch noch einmal in die Finger bekommen.«

Überall um uns herum erstarrten die Adeligen. Lady Adora, Eichens Gladiatoren-Enkelin, schnappte nach Luft. Nur durch jahrelange Übung und reine Willenskraft gelang es mir, die freundliche Miene zu wahren.

Vor ein paar Wochen hatte ich verdeckt ermittelt, um herauszufinden, wer Zährenstein aus einer Mine in der andvarischen Stadt Blauberg stahl. Dort hatte ich Prinz Leonidas Morricone getroffen. Obwohl Leonidas seit meiner Kindheit mein Feind war, hatte ich verhindert, dass ihn der mortanische Hauptmann Wexel ermordete. Später hatte Leonidas wiederum mir das Leben gerettet, als Conley, der Vorarbeiter der Mine in Blauberg, mich in einen Abgrund gestoßen und in dem Glauben, ich sei tot, zurückgelassen hatte.

Leonidas hatte mich dann nach Myrkvior gebracht – in den königlichen Palast von Morta –, um mich zu heilen. Dort hatte ich unter einem Tarnnamen versucht herauszufinden, wer den andvarischen Zährenstein gestohlen hatte – und was die Diebe damit planten. Während meines Aufenthaltes im Palast hatte ich mehrere gefährliche, verhängnisvolle Begegnungen mit Königin Maeven Morricone und ihrem erstgeborenen Sohn, Kronprinz Milo Morricone, gehabt.

Maeven hatte Emperia Dumond ermordet, eine ihrer erbittertsten Rivalinnen um den Thron, und hatte mir die Ermordung der Adeligen in die Schuhe geschoben. Nachdem ich herausgefunden hatte, dass Milo aus dem gestohlenen Zährenstein mit Widerhaken besetzte Pfeile anfertigte, hatte er viel Vergnügen daraus gezogen, mich zu foltern. Zuerst hatte er mir den Rücken mit einer Peitsche aus der Haut von Korallenvipern aufgerissen. Dann hatte er mir seine verfluchten Pfeile in die Hände gerammt.

Und Leonidas … nun, sein Verrat war hinterhältiger gewesen und hatte mich deswegen tiefer getroffen als alles andere.

Denn er hatte mich glauben lassen, ich würde ihm tatsächlich etwas bedeuten.

Letztendlich war es mir gelungen, aus Myrkvior zu entkommen und nach Blauberg zurückzukehren, wo ich mich Milo, Hauptmann Wexel und zahlreichen Soldaten im Kampf gestellt hatte. Durch den Einsatz meiner Mentalmagie hatte ich die Mortaner aus der Stadt getrieben und Milo gedroht, dass ich ihn töten würde, sollte er noch einmal einen Fuß auf andvarischen Boden setzen.

Die Geschichten meiner angeblichen Heldentaten während der Schlacht von Blauberg – wie die Auseinandersetzung inzwischen genannt wurde – hatten sich schnell in ganz Andvari verbreitet. Massenweise Gerüchte rankten sich um das Geschehen, aber meine Familie und ich hatten die Geschichte so gut wie möglich geformt und (überwiegend) die Wahrheit erzählt. Offiziell war ich der Spur gestohlenen Zährensteins nach Myrkvior gefolgt, wo die Morricones mich als politische Gefangene festgesetzt hatten, bis mir die Flucht und die Rückkehr nach Blauberg gelungen waren. Dort hatte ich dann abtrünnige mortanische Soldaten aus der Stadt vertrieben. Trotz meiner offensichtlichen Narben hatten wir das Ausmaß meines Martyriums genauso heruntergespielt wie den Konflikt mit den Morricones … um vor unseren Adeligen nicht schwach zu erscheinen und unsere Untertanen nicht zu beunruhigen.

Die Neugier von Lord Eichen und seinen Freunden überraschte mich nicht, denn ich hatte bereits mehr als eine Grübelei über meinen Anteil am Kampf aufgefangen. Allerdings war bisher niemand so tapfer, frech oder dumm gewesen, die Morricones – und das, was ich in ihrem Palast durchgemacht hatte – anzusprechen.

Adora rammte ihrem Großvater den Ellbogen in die Seite. Er riss die Augen auf, und ihm blieb der Mund offen stehen, als ihm bewusst wurde, was er gerade gesagt hatte.

»Eure … Eure Hoheit!«, stammelte Eichen. »Bitte vergebt mir! Ich wollte Euch nicht zu nahetreten!«

Seine Entschuldigung dröhnte durch den Speisesaal und erregte noch mehr ungewollte Aufmerksamkeit. Wieder starrten mich alle an. Ihre Gedanken brandeten gegen meinen Geist und drohten ein weiteres Mal, mein inneres Schiff zum Kentern zu bringen; mich erstarrt und nutzlos zurückzulassen.

Ich biss die Zähne zusammen, senkte den Blick und konzentrierte mich auf den Anhänger, der unter dem blauen Stoff meines Kleides ruhte. Auf einem silbernen Plättchen waren kleine Stücke schwarzen Gagats angebracht, die das Ripley-Wappen mit dem knurrenden Gargoyle-Gesicht bildeten. Winzige, mitternachtsblaue Zährensteinsplitter stellten Hörner, Augen, Nase und Zähne des Gargoyles dar. Er sah aus wie Grimley, mein persönlicher, geliebter Gargoyle-Freund. Alvis, der königliche Juwelier von Andvari, hatte den Anhänger in meiner Kindheit für mich geschaffen, als ich noch hatte lernen müssen, meine Magie zu kontrollieren.

Alle in Andvari und über die Grenzen des Landes hinaus wussten, dass Prinzessin Gemma immer ihre berühmte Gargoyle-Kette trug – doch der Anhänger war viel mehr als nur ein hübsches Schmuckstück. Die schwarzen Gagat-Stücke halfen mir, die ständigen Gedanken der Leute auszublenden, während die blauen Zährensteinsplitter entweder meine eigene Magie speicherten oder die Macht eines Gegners abwehrten.

Dutzende Gedanken drängten auf mich ein, sodass sich die Gagat-Stücke erhitzten. Ich packte den Anhänger und rieb ihn zwischen den Fingern; konzentrierte mich auf das Gefühl der heißen Juwelen unter meiner Haut statt auf die höhnischen, mitfühlenden und spekulativen Abwägungen, die in meinem Geist summten.

Früher war ich fast vollkommen von meinem Anhänger abhängig gewesen, um die Gedanken anderer Menschen auszublenden und mich vor ihren Gefühlen zu schützen. Doch seit der Schlacht von Blauberg hatte ich daran gearbeitet, meine Mentalmagie mehr durch meine eigene Willenskraft zu kontrollieren, statt sie zu verdrängen, wie ich es so viele Jahre lang getan hatte. Inzwischen konnte ich verhindern, dass mein inneres Schiff auf dem aufgewühlten Meer der Gedanken und Emotionen kenterte. Aber wenn es darum ging, den Sturm meiner eigenen Gedanken, Gefühle und meiner Magie zu kontrollieren … nun, daran arbeitete ich noch.

Es gab kein Entkommen vor den Adeligen, die sich fragten, wie ich auf Eichens Worte reagieren würde, also ließ ich meinen Anhänger los und hob den Kopf. Die Miene des Lords wirkte angespannt, daher beschloss ich, ihn von seinem Leid zu erlösen.

»Alles in Ordnung«, antwortete ich. »Euer Angebot, mir Eure Gladiatoren zur Verfügung zu stellen, ist sehr großzügig. Aber Großvater Heinrich, Prinz Dominic und die Kommandantin Rhea haben die Sicherheitsvorkehrungen für den Gipfel bereits getroffen.«

Rhea hatte den überwiegenden Teil der Planung übernommen – schließlich stand meine Stiefmutter der königlichen Wache vor –, doch ich erinnerte Eichen nicht an diese Tatsache. Er hätte es sowieso nicht bemerkt, so verlegen, wie er war.

»Ich bin sehr erleichtert, das zu hören«, antwortete Eichen, dabei war seine Stimme leiser und verhaltener als bisher.

Eichen warf Adora einen flehentlichen Blick zu, offensichtlich hoffte er, dass sie das Thema wechseln und so das angespannte Schweigen vertreiben würde.

»Prinzessin Gemma! Da seid Ihr ja!«, erklang in diesem Moment eine helle Frauenstimme.

Absätze klapperten über die Pflastersteine. Mit schnellen, entschlossenen Schritten bahnte sich eine Frau einen Weg durch die Versammelten und trat neben mich. Sie war ein wenig kleiner als ich, mit einem schlanken, muskulösen Körper. Ihr langes, schwarzes Haar war in große Locken gelegt, die ihr um den Kopf tanzten. Ihre leuchtend smaragdgrünen Augen wurden von goldenem Lidschatten betont, dunkler Beerenbalsam färbte ihre Lippen und hob die goldene Färbung ihrer Haut und ihre hübschen Gesichtszüge hervor.

Die Frau trug eine lange, schmal geschnittene, grüne Jacke, auf die mit Goldfaden fliegende Drachen gestickt waren. Ein goldener Anhänger, ebenfalls in Form eines Drachen, hing an einer goldenen Kette um ihren Hals. Smaragde glitzerten als Augen des Drachen, und aus seinem Maul sprühten Splitter von Gagat und Rubinen, als spuckte er juwelenbesetztes Feuer.

Lady Reiko Yamato, meine Freundin und Mitspionin, hängte sich bei mir ein. Ich senkte den Blick auf das Drachengesicht mit den grünen Schuppen und schwarzen Augen, das auf ihrem rechten Handrücken prangte. Der Drache zwinkerte mir schelmisch zu, auch wenn Reikos eigene Miene ausdruckslos blieb. Alle Morphe trugen irgendeine Art von Tätowierung am Körper, die zeigte, in welche größere, stärkere Kreatur sie sich verwandeln konnten. Meine Freundin hatte bei der Schlacht von Blauberg ihre Drachengestalt angenommen – ein wirklich beängstigender Anblick.

Ich konnte nur hoffen, dass sie das vor dem Ende ihrer Mission nicht noch einmal tun musste.

»Seid Ihr bereit, durch den Park zu schlendern?«, fragte Reiko. »Ihr habt mir jetzt schon seit Wochen all die Vorteile langsamer, nachdenklicher Spaziergänge aufgezählt.«

Ich erkannte denselben Schalk in ihren smaragdgrünen Augen, den auch ihr innerer Drache zeigte. Nur mit Mühe widerstand ich dem Drang, beiden die Zunge herauszustrecken.

Eichen runzelte die Stirn. »Aber ich habe Euch die Gärten bereits bei Eurer Ankunft gezeigt. Und Prinzessin Gemma musste während des Spaziergangs ständig niesen.«

Reikos Lippen zuckten, als müsste sie ein Grinsen unterdrücken, dann zog sie eine Augenbraue hoch, um mich wissen zu lassen, dass ich mich selbst aus dieser Klemme befreien musste. Meine Freundin genoss den Wettbewerb, wenn es um unsere Spionageeinsätze ging, und stellte mich ständig auf die Probe.

»O ja«, flötete ich und nahm die Herausforderung an. Sie war nicht die Einzige mit Ehrgeiz. »Ich habe Lady Reiko in der Tat einen Spaziergang durch die Gärten versprochen.«

Ich sah mich um, als wollte ich sicherstellen, dass uns niemand belauschte, obwohl natürlich alle die Ohren spitzten, um meine nächsten Worte zu hören. Dann lehnte ich mich ein wenig näher zu Eichen und senkte meine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Lady Reiko hat ein … besonderes Leiden, und ich dachte, die Kräuter in Eurem Garten könnten vielleicht von Nutzen sein. Es macht Euch doch sicherlich nichts aus, wenn wir ein paar davon pflücken?«

Ich spürte, wie Reiko neben mir sich versteifte. Diesmal war ich diejenige, die ein Grinsen unterdrücken musste.

Eichen musterte Reiko, als wäre ihr plötzlich ein zweiter Kopf gewachsen, dann zog er sich nicht besonders subtil zurück, als hätte er Angst, sich mit dem mysteriösen Leiden der Drachenmorphin anzustecken. »Natürlich nicht. Nehmt Euch, was immer Ihr braucht.«

Reiko schenkte ihm ein Lächeln, doch gleichzeitig wirbelte Magie um ihren Körper, und ihr wuchsen lange, schwarze Krallen aus den Fingerspitzen. Sie packte meinen Arm ein wenig fester, bis mir die Krallen in die Haut stachen. Selbst ihr innerer Drache starrte mich böse an.

Was ist los? Ich schickte meinen Gedanken in ihre Richtung. Macht sich dein Leiden wieder bemerkbar?

Reiko verzog das Gesicht. Sie hatte sich zwar immer noch nicht daran gewöhnt, mental mit mir zu kommunizieren, murmelte aber in ihrem Geist: Die einzigen Leiden, die mich plagen, sind du und deine lahmen Ausreden.

Ich zwinkerte ihr zu, bevor ich mich wieder an Eichen wandte.

»Vielen Dank noch einmal für dieses köstliche Mittagessen«, flötete ich. »Leider erfordert Lady Reikos Krankheit sofortige Aufmerksamkeit, also möchte ich Euch bitten, uns zu entschuldigen.«

Eichen runzelte verwirrt die Stirn. Er bedachte Reiko mit einem weiteren, wachsamen Blick, bevor er sich noch ein Stück zurückzog. Offensichtlich wollte er wirklich nicht in Kontakt mit dem kommen, was sie plagte.

Reiko grub ihre Krallen noch etwas tiefer in meinen Arm. Trotzdem musste ich grinsen, als wir den Speisesaal verließen.

Reiko und ich wanderten durch das Herrenhaus. Der Lärm und die Gespräche des Speisesaals verklangen schnell hinter uns, sodass endlich mentales und tatsächliches Schweigen um mich herum herrschten.

Reiko ließ meinen Arm los und stützte die Hände in die Hüften. »Leiden? Krankheit? Du hast es klingen lassen, als hätte ich einen Tripper!«

»Du bist diejenige, die plötzlich durch die Gärten wandern wollte. Mach mir keine Vorwürfe, weil ich schnell und mühelos dafür gesorgt habe, dass wir uns entfernen können. Lord Eichen wird jetzt auf keinen Fall versuchen, uns zu folgen. Und sobald sich die Nachricht deines Leidens verbreitet hat, wird uns das auch alle anderen Adeligen vom Hals halten.«

Reiko brummte missbilligend, wirbelte auf dem Absatz herum und stampfte davon. Mit einem breiten Grinsen folgte ich ihr, auch wenn meine Erheiterung schnell verklang. So gerne ich meine Freundin aufzog, wir waren nach Eichtal gekommen, um eine Aufgabe zu erledigen, und es wurde langsam Zeit, dass wir uns darum kümmerten.

Reiko und ich kehrten in meine Gemächer zurück. Die Diener und Dienerinnen waren immer noch im Speisesaal beschäftigt, also sah niemand, wie wir in den Raum glitten, uns unserer schicken Gewänder entledigten und sie durch praktischere Kleidung ersetzten.

»Hast du etwas Neues herausgefunden?«, fragte ich, als ich meine enge, schwarze Hose in die Schäfte meiner Stiefel stopfte.

»Leider nicht.« Reikos Stimme drang aus ihrem eigenen Zimmer, das direkt an meines angrenzte. »Ich habe beim Mittagessen mit quasi jedem Adeligen gesprochen, außerdem mit mehreren Bediensteten und Wachen, aber niemand hat irgendetwas davon gehört, dass sich Mortaner in Haverton aufhalten.«

Ich knirschte frustriert mit den Zähnen. Vordergründig besuchte ich nur Lord Eichen in seinem Herrenhaus, doch tatsächlich war ich hier, weil mein Spionagenetzwerk mir gemeldet hatte, mortanische Soldaten seien in der Nähe einer aufgegebenen Zährensteinmine in der Gegend gesehen worden.

In den letzten paar Wochen hatte Milo Morricone die Ermordung von Dutzenden meiner Landsleute organisiert, um überall an der mortanisch-andvarischen Grenze Tausende Kilo Zährenstein zu stehlen. Und in Blauberg hatte ich gesehen, wie Hauptmann Wexel dem verräterischen Vorarbeiter Conley Zährenstein abgekauft hatte.

Großvater Heinrich hatte die Bewachung aller aktiven Zährensteinminen verstärkt, besonders der grenznahen. Allerdings gab es in den Nadelbergen unzählige aufgegebene Minen – wie die in der Nähe von Haverton. Ich wusste immer noch nicht genau, was Milo mit dem magischen Gestein anstellen wollte, aber auf keinen Fall wollte ich zulassen, dass er noch einen verdammten Brocken davon stahl.

Reiko rauschte in mein Zimmer. Sie hatte eine dunkelgraue, enge Hose und Stiefel angezogen, kombiniert mit einer smaragdgrünen Tunika und einem farblich passenden Mantel. Sie lehnte sich gegen eine Wand, während ich meine Stiefel schnürte.

»Das könnte wieder eine von Milos Intrigen sein«, betonte Reiko. »Er könnte Wexel befohlen haben, diese Gerüchte zu verbreiten, um dich hierher zu locken, Gemma.«

»Ich weiß, aber ich muss trotzdem nachschauen. Vor allem, da Alvis immer noch nicht versteht, was Milo mit diesen vielen Zährensteinpfeilen plant, die er angefertigt hat. Herauszufinden, ob sich wirklich Mortaner bei der alten Mine herumtreiben, und vielleicht sogar ein paar neue Informationen über Milo zu ergattern … das ist das Risiko wert.«

Reiko musterte mich abschätzend. »Das sagst du in letzter Zeit immer häufiger. Und du riskierst mehr.«

Ich seufzte. »Weil ich immer verzweifelter werde, je näher der Gipfel rückt.«

Der Gipfel war ein jährliches Treffen von Herrschern, Adeligen, Händlern und Gildenmeistern aus den verschiedenen Königreichen, bei dem Verträge über den Handel mit Gütern, Dienstleistungen und Ähnlichem ausgehandelt wurden. Auf der Versammlung wurde stets um den Preis von allem gefeilscht – von Kohle und Holz bis zu Weizen –, bis jemand den aufgerufenen Preis zahlte.

»Du musst nicht daran teilnehmen. Das hast du in den letzten Jahren auch nicht getan«, antwortete Reiko. »Prinz Dominic und Rhea können sich um alles kümmern.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Diesmal muss ich mitkommen. Andvari kann es sich gerade nicht leisten, schwach zu wirken, besonders nicht bei einem wichtigen Ereignis wie dem Gipfel. Es gibt jetzt schon jede Menge Gerüchte über meinen Ausflug nach Myrkvior. Ich muss allen zeigen, dass ich meinen Aufenthalt im Palast der Morricones relativ unbeschadet überstanden habe.«

Reikos Blick fiel auf meine vernarbten Hände. Ihre Miene blieb ausdruckslos, doch ihr innerer Drache verzog das Gesicht, als verursachte es ihnen beiden Schmerzen, die roten Male anzusehen.

Ich ballte die Hände zu Fäusten, bis meine Schnürsenkel, die ich mir gerade hatte binden wollen, zu reißen drohten und die Narben noch deutlicher hervortraten. Sie sahen fast aus wie Vulkane aus Blut, die jeden Moment aus meiner Haut brechen konnten. Die wütende Bewegung jagte erneut dumpfe Schmerzen durch meine Finger und rief Funken in meinen Fingerspitzen hervor. Viele Leute litten nach einer Verletzung an Phantomschmerzen, doch durch meine Magie spürte ich alles so intensiv wie zu dem Zeitpunkt, als mir die Wunden zugefügt wurden. Ich hatte meine Mentalmagie nie besonders genossen … und in solchen Momenten verfluchte ich meine Macht und all die Qualen, die sie mir bereitete.

Reiko sagte nichts, doch ihr Drache schenkte mir einen mitfühlenden Blick. Ich biss erneut die Zähne zusammen und band meine Stiefel fertig. Dann richtete ich mich auf, wandte Reiko den Rücken zu und warf mir einen dunkelgrauen Mantel über die gleichfarbige Tunika.

An Reikos Gürtel hingen bereits Schwert und Dolch. Ich griff nach meinem eigenen Waffengürtel, an dem ein Dolch in der dazugehörigen Scheide befestigt war. Er bestand aus fahlgrauem Zährenstein – wodurch er erstaunlich leicht war –, und auf dem Heft prangte dasselbe knurrende Gargoyle-Wappen aus dunklem Gagat und blauem Zährenstein wie auf meinem Anhänger.

Ich band mir den Gürtel um die Taille, dann griff ich nach zwei weiteren Gegenständen, die auf einem nahen Tisch lagen: die Zährensteinpfeile, die Milo eingesetzt hatte, um mich zu foltern.

Die Projektile waren ungewöhnlich kurz, gerade so lang wie mein Arm vom Handgelenk bis zum Ellbogen, doch die Spitzen waren rasiermesserscharf und mit gebogenen Widerhaken besetzt, die fast an Angelhaken erinnerten. Milo hatte mir die Pfeile in die Hände getrieben, um sie dann wie Blitzableiter einzusetzen, die seine heiße, elektrische Magie in meinem Körper verteilten. Als letzte Grausamkeit hatte er die Pfeile aus meinen Händen gerissen, sodass die Widerhaken noch mehr von meinem Fleisch mitgenommen hatten.

Zum zweiten Mal in dieser Stunde begann der Raum um mich zu flackern und zu verschwinden. Erneut sah ich meinen eigenen Körper auf einem Tisch ausgestreckt, mit Blutlachen unter meinen zerstörten Händen. Meine Muskeln verspannten sich, als die erinnerten Schmerzen mich überschwemmten, mein Herz raste, und in meinem Nacken bildete sich Schweiß …

»Gemma?« Reikos Stimme holte mich zurück in die Gegenwart. »Geht es dir gut?«

»Prima«, log ich und bemühte mich, locker zu klingen. Doch letztendlich stieß ich eher ein harsches Krächzen aus. »Habe nur nachgedacht.«

»Über was?«

»Darüber, warum die Pfeile ihre Farbe geändert haben.«

Das war das Erste, was mir einfiel … und außerdem war es eine Frage, die jetzt schon seit Wochen an mir nagte. Ich hob die zwei Pfeile ins Sonnenlicht, das durch die Glastüren strömte. Zährenstein konnte nicht nur Magie aufnehmen und ablenken, er besaß noch eine weitere, besondere Eigenschaft: Er konnte die Farbe wechseln, von hellem Sternengrau zu dunklem Mitternachtsblau und zurück.

Bevor Milo die Pfeile gegen mich gerichtet hatte, hatten sie in einem hellen Grau geschimmert, genau wie der Zährensteindolch an meinem Gürtel. Doch nachdem er mir die Waffen durch die Hände gestoßen hatte, hatten sie ein dunkles Mitternachtsblau angenommen – und diese Farbe zeigten sie immer noch. Es war, als hätte Milos Blitzmagie irgendetwas an den grundsätzlichen Eigenschaften des Zährensteins geändert. Das musste ein Hinweis auf die ultimativen Pläne sein, die Milo mit diesen hinterhältigen Waffen verfolgte … bisher hatte sich mir aber keine Erklärung dafür erschlossen.

Vielleicht sollte ich einfach Milo danach fragen – bevor ich ihn umbrachte.

In Blauberg hatte ich den Kronprinzen gewarnt, dass ich ihn töten würde, sollte er jemals wieder einen Fuß auf andvarisches Territorium setzen. Doch das war eine Lüge. Ich würde den Mistkerl auf jeden Fall umbringen. Allerdings musste ich noch herausfinden, wie ich das anstellen konnte – genauso wie ich einen Weg finden musste, seine Pläne mit dem gestohlenen Zährenstein aufzudecken.

Allerdings half es mir im Moment nicht weiter, noch einmal über die frustrierenden Geheimnisse von Milos Pfeilen nachzudenken, also legte ich die Waffen wieder auf den Tisch. Dann stiefelte ich zu den Glastüren am Ende des Zimmers, öffnete sie und stieß einen leisen Pfiff aus.

Wenige Sekunden später sauste ein Schatten durch die Luft und schob sich kurz vor die Nachmittagssonne, bevor die vertraute Gestalt eines Gargoyles auf dem Balkon landete.

Gargoyles waren in Andvari so häufig wie wilde Pferde in Flores. Die Kreaturen nisteten oft auf den Dächern von Häusern und Läden, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land. Mehrere Gargoyles hatten Nester auf den Türmen von Eichens Herrenhaus gebaut, doch die Kreatur vor mir stammte wie ich aus Glitnir, dem königlichen Palast in der Hauptstadt Glanzen.

Der Gargoyle war ungefähr so groß wie ein Pony, allerdings mit einem viel festeren und stärkeren Körper, auch waren seine muskulösen Beine kürzer. Die Augen leuchteten saphirblau in dem steingrauen Gesicht, und auch auf dem Rest seines Körpers funkelten blaue Einschlüsse, als wären winzige Sterne in seine Haut eingebettet. Am Kopf hatte er zwei gebogene Hörner, und aus seinen Schultern wuchsen breite Flügel. Schwarze Krallen ragten aus seinen großen Pfoten hervor, der lange Schwanz aber endete in einer Spitze, die an einen Pfeil erinnerte.

Der Gargoyle gähnte, wobei er rasiermesserscharfe Zähne enthüllte, dann blinzelte er verschlafen. »Ich verstehe nicht, warum wir das mitten am Nachmittag tun müssen«, grummelte Grimley. Seine Stimme klang ein wenig wie das Knirschen von Kies. »In meinem Traum wollte ich gerade ein ganzes Kaninchennest ausräumen.«

»Weil ich tatsächlich sehen will, was die Mortaner so treiben, und nicht mitten in der Nacht im Wald über sie stolpern will.«

»Das hätten wir auch heute Morgen tun können, ohne dass du mir mein Nachmittagsschläfchen verderben musst«, grummelte er wieder.

»Du solltest inzwischen wissen, dass die Arbeit einer Spionin niemals endet … und dasselbe gilt für dich.«

Grimley schaute mich missmutig an. Ich grinste, dann kraulte ich ihn zwischen den Hörnern. Das mochte er am liebsten.

Seufzend rieb er den Kopf an meiner Hand. »Nun gut. Lass mich Fern rufen …«

Plonk.

Ein weiterer Schatten sank vom Himmel, landete neben Grimley und entpuppte sich ebenfalls als Gargoyle. Diese Kreatur hatte ein rundlicheres Gesicht, und ihre jadegrünen Augen passten zu den dünnen, grünen Linien, die sich über ihre hellgraue Haut zogen. Auch sie hatte uns aus Glitnir hierher begleitet.

»Hallo!«, piepte Fern. Ihre Stimme war heller und klang weiblicher als Grimleys tiefes, knirschendes Rumpeln. »Bereit zum Flug, Prinzessin Gemma?«

Ich grinste wieder, dann kraulte ich auch Fern den Kopf. Sie hatte ebenfalls zwei Hörner, allerdings waren ihre kleiner. Fern war jünger als mein Grim, noch nicht einmal ganz ausgewachsen.

»Fast, Fern. Und ich habe dir schon unzählige Male gesagt, dass du mich Gemma nennen sollst.«

Der weibliche Gargoyle zuckte mit entsetzter Miene zurück. »Aber du bist eine Prinzessin – unsere geliebte Prinzessin – und solltest immer so angesprochen werden!«

Grimley verdrehte die Augen. Fern lächelte mich weiter an, schlug gleichzeitig aber mit dem Schwanz und rammte damit die flache Seite ihrer Schwanzspitze gegen Grimleys Schulter. Er warf ihr einen bösen Blick zu, doch Fern schnaubte nur und setzte sich mit zusammengelegten Vorderpfoten hin, sodass sie an eine Katze erinnerte.

Reiko trat auf den Balkon und schloss die Türen hinter sich. »Das ist eine schlechte Idee«, murmelte sie.

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Erzähl mir nicht, dass Reiko Yamato, erfahrene Kriegerin, wilde Drachenmorphin und versierte Spionagemeisterin, sich davor fürchtet, auf einem Gargoyle zu fliegen?«

Sie schnaubte. »Natürlich habe ich keine Angst vor dem Fliegen. Ich bin dir und den Mortanern auf einem Strix nach Blauberg gefolgt, schon vergessen?«

»Aber?«

»Aber der Strix hatte einen Sattel und Zügel.« Reiko musterte Fern skeptisch. »Dieser Gargoyle hat nichts davon … was die Wahrscheinlichkeit, in den Tod zu stürzen, um ein Vielfaches erhöht.«

»Keine Sorge. Ich bin schon unzählige Male auf Fern geritten, und sie fliegt ausgezeichnet. Mit oder ohne Sattel, sie wird dich nicht abstürzen lassen. Außerdem ist das der schnellste, einfachste Weg, um die Mine zu erreichen.«

»In Ordnung.« Reiko stach mit dem Finger vor mir in die Luft. »Aber wenn ich sterbe, wird mein Geist dich heimsuchen. Drachen können so was gut.«

Ich schmunzelte. »Es wäre mir eine Ehre, vom Geist der großen Reiko Yamato verfolgt zu werden. Und jetzt lass uns herausfinden, ob die Gerüchte wahr sind. Wenn sich wirklich Mortaner in der Nähe von Haverton herumtreiben, will ich ihnen ordentlich die Tour vermasseln.«

2

Reiko grummelte noch ein bisschen, kletterte schließlich aber auf Ferns Rücken, und ich stieg auf Grimleys. Dann hoben die Gargoyles mit sanften Flügelschlägen ab.

Ich lehnte mich zur Seite, um die leuchtenden Gärten unter uns zu bewundern. Mit Muschelschalen bestreute Pfade zogen sich wie weiße Bänder durch grün leuchtende Rasenflächen. Lauben aus grauem Stein, die überwuchert waren von pinken, purpurfarbenen und blauen Glyzinen, standen neben den riesigen Eichen, denen das Tal seinen Namen verdankte. Der Wind bewegte mein Haar und trug die süßen Düfte der farbenfrohen Blüten in den Blumenbeeten zu mir empor, gemeinsam mit dem erdigen Geruch der Herbstluft. Der Himmel war strahlend blau, und die Oktobersonne verlieh dem Tag trotz der kühlen Luft etwas Wärme.

Nie war ich glücklicher, als wenn ich auf Grimleys Rücken über den Himmel segelte, während die Landschaft sich vor mir erstreckte wie ein Teppich vor den Füßen einer Königin. Und das Schönste war: Hier oben gab es keinen Speisesaal voller arroganter Adeliger, tratschender Diener und gelangweilter Wachen, die in ihren Köpfen Urteile über mich fällten, weil sie dachten, so könnte ich es nicht hören. Derzeit schätzte ich Ruhe mehr als je zuvor – nicht zuletzt wegen der ständigen Unruhe in meinem eigenen Geist. Also hob ich das Gesicht der Sonne entgegen, atmete tief durch und genoss jede Sekunde unseres Fluges.

Die Gargoyles brauchten nicht lange, um erst über die Steinmauern zu fliegen, die Lord Eichens Anwesen umgaben, und dann über die nahe gelegene Stadt Haverton. Auf den Plätzen unter uns erkannte ich das normale Treiben eines geschäftigen Ortes. Niemandem schien aufzufallen, dass wir über den Köpfen der Leute schwebten. Andererseits gab es auch keinen Grund, darauf zu achten, schließlich flogen ständig Gargoyles über die Stadt, um in der Umgebung Jagd auf Ratten, Kaninchen und anderes Getier zu machen.

Bald schon lag auch die Stadt hinter uns. Grimley und Fern flogen noch ungefähr eine halbe Stunde weiter, bis ich eine seltsame Form auf dem Waldboden entdeckte. Auf einer kleinen Lichtung unter uns befand sich eine Feuerstelle. Die Asche darin wirkte fast wie der schwarze Kreis in der Mitte einer Zielscheibe.

Ich deutete nach unten. Da. Das könnte sein, wonach wir suchen.

Alles klar.

Grimley zog einen Flügel an, um in die angegebene Richtung abzubiegen. Doch statt auf der Lichtung zu landen, flog er daran vorbei. Ich nahm schon ein Risiko auf mich, indem ich den Gerüchten nachging, die ich aufgeschnappt hatte … aber ich hatte nicht vor, direkt neben der Feuerstelle zu landen. Damit hätte ich mich nur in Gefahr gebracht – vor allem, da ich nicht wusste, wie viele Mortaner sich hier vielleicht versteckten.

Ein paar Minuten später sank Grimley in einer Spirale dem Boden entgegen und landete schließlich auf einer zweiten, kleineren Lichtung. Fern und Reiko folgten uns.

Ich glitt von Grimleys Rücken. Sobald meine Füße den Boden berührten, zog ich den Dolch aus der Scheide an meiner Hüfte und sah mich vorsichtig um. Hinter der Lichtung erstreckte sich Wald, so weit das Auge reichte. Mein Atem dampfte leicht in der kühlen Luft. So hoch oben in den Nadelbergen ging der Herbst bereits zu Ende. Viele der Bäume waren bereits kahl, während einige immer noch in strahlenden Rot-, Gold- und Orangetönen leuchteten, die fast an die farbenfrohen Ballkleider adeliger Damen erinnerten.

Niemand huschte zwischen den Bäumen hindurch auf uns zu, also sah ich Reiko an, die immer noch auf ihrem Gargoyle saß.

»Du kannst jetzt loslassen«, knirschte Fern freundlich.

Reiko zuckte zusammen, als hätte die fröhliche Stimme des weiblichen Gargoyle sie aus einer Erstarrung gerissen, dann löste sie langsam ihren verkrampften Halt an Ferns Flügelansätzen und glitt von ihrem Reittier.

»Probleme?«, fragte ich gedehnt.

Reiko schüttelte den Kopf, und der grünliche Farbton um ihre Nase verschwand. »Nö.« Sie schüttelte noch einmal den Kopf, als müsste sie letzte Reste von Übelkeit vertreiben, dann zog sie ihr Schwert. »Lass uns die Mortaner suchen.«

Wir ließen Grimley und Fern auf der Lichtung zurück und drangen in den Wald vor.

Reiko und ich huschten von einem Baum zum nächsten, wobei wir darauf achteten, soweit möglich nicht auf trockene Zweige und Laubhaufen zu treten. Obwohl wir wirklich nicht lautlos vorankamen, begegneten wir niemandem und erreichten schnell die Lichtung, die ich vorhin entdeckt hatte.

Die Feuerstelle war viel größer, als sie von oben ausgesehen hatte. In der Luft hing der Geruch von verkohltem Holz. Ich rief meine Magie, auf der Suche nach flackernden Gedanken und wabernden Gefühlen, doch die Umgebung lag still und ruhig da. Ich nickte Reiko zu, und wir betraten die Lichtung.

Ich ging sofort zur Feuerstelle und legte eine Hand auf die verbliebene Kohle. Die graue Asche war feucht, was darauf hinwies, dass sich irgendjemand vor Kurzem noch hier aufgehalten hatte. Ich sah mich nach Brotresten, Stofffetzen, verlorenen Münzen oder anderen zurückgelassenen Dingen um, doch es war nichts zu entdecken – außer Stiefelabdrücken.

Davon allerdings gab es einige im weichen, feuchten Boden rund um die Feuerstelle. Ich vermutete, dass mindestens ein halbes Dutzend Leute – vielleicht sogar mehr – sich hier herumgetrieben hatten. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Das musste ein mortanisches Lager sein. Niemand aus Haverton hätte einen Grund, so weit draußen in den Wäldern zu kampieren – vor allem nicht mit so vielen Leuten gleichzeitig.

Reiko musterte die Stiefelabdrücke ebenfalls. »Was für Leute auch immer hier waren, sie haben wenig Spuren hinterlassen. Der nächste starke Regen hätte alle Hinweise weggewaschen.«

Ich wischte mir die Asche am Gras von der Hand, dann stand ich auf. »Wir sollten ihrer Fährte folgen und schauen, ob die Ratten uns zu ihrem Nest führen.«

Mit unseren Waffen in der Hand überquerten wir die Lichtung und drangen tiefer in den Wald ein.

Die Mortaner mochten zwar ihr Lagerfeuer gelöscht und ihren Müll eingesammelt haben, aber sie hatten sich keinerlei Mühe gegeben, ihre Fährte zu verbergen. Reiko und ich folgten mühelos der Spur aus Stiefelabdrücken, geknickten Zweigen und aufgewirbelten Blättern durch die hügelige, felsige Landschaft.

Ich wollte gerade die Spitze einer weiteren Anhöhe erklimmen, als Reiko mich mit erhobener Hand zurückhielt. Sie legte den Finger an die Lippen, dann deutete sie auf ihr Ohr. Die meisten Morphe besaßen überdurchschnittlich scharfe Sinne.

Ich rief meine Magie und spürte sofort mehrere Personen wie Funken in einem dunklen Raum. »Wir haben sie eingeholt«, flüsterte ich.

Reiko nickte. Wir verließen die Fährte, der wir gefolgt waren, dann schlichen wir so leise wie möglich zur Spitze des Hügels.

Die Anhöhe zog sich in einer sanften Kurve nach links, bevor der Hang zu einer weiteren, viel größeren Lichtung hin absank. Am Fuß des Hügels klaffte eine viereckige, von hölzernen Balken gestützte Öffnung im Fels. Ich konnte kein Licht in den dunklen Tiefen erkennen, doch die Öffnung war eindeutig von Menschen geschaffen.

Ich deutete darauf. »Das muss die alte Zährensteinmine sein.«

Reiko zeigte auf den Boden vor dem Eingang. »Und wenn man sich das niedergetrampelte Gras anschaut, so haben sich hier vor Kurzem noch mehrere Leute aufgehalten.«

Ihre Worte waren gerade erst verklungen, als zwei Männer aus dem Mineneingang traten. Schweigend beobachteten wir sie.

Die Männer überquerten die Lichtung und blieben neben ein paar flachen, vielleicht hüfthohen Findlingen stehen, die fast wie zusammengeschobene Tische wirkten. Die Männer trugen schwarze Tuniken, Hosen und Stiefel. Ich entdeckte keine aufgestickten Wappen auf ihrer Kleidung, doch ihre purpurfarbenen Mäntel und die Schwerter an ihren Gürteln identifizierten sie als mortanische Soldaten.

Mein Herz raste, halb vor Sorge und halb vor Aufregung. Die Gerüchte stimmten. Hier trieben sich Mortaner herum.

Beide Männer stellten je eine schwarze Ledertasche auf die flachen Felsen und machten sich daran zu schaffen. Dabei erklang mehrfach ein leises, aber klar erkennbares Klirren. Ich mochte zwar eine verwöhnte Prinzessin sein, aber Bergbau gehörte zu den Schlüsselindustrien von Andvari, und ich wusste, wie sich Steine – wie sich Erz – anhörte, wenn Brocken davon aneinanderstießen.

»Bist du dir sicher, dass das alles ist?«, fragte einer der Männer so laut, dass seine Stimme bis zu uns drang.

Der zweite Mann nickte. »Jepp. Wir haben alles bis auf den letzten Brocken eingesammelt. Lass uns verschwinden.«

Der erste Sprecher hängte sich seine Tasche über die Schulter und überquerte erneut die Lichtung. Der zweite Mann beeilte sich, ihm zu folgen, doch er hatte seine Tasche nicht fest genug verschlossen, sodass etwas daraus auf den Boden fiel. Wieder erklang dieses Geräusch, doch der Mortaner folgte seinem Freund, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich kniff die Augen zusammen, leider konnte ich aber nicht erkennen, was er verloren hatte.

Die beiden verließen die Lichtung und verschwanden zwischen den Bäumen.

Reiko und ich verharrten an unserer Position. Meine Freundin ließ den Blick wachsam über den Waldrand gleiten, während ich meine Magie aussandte. Abgesehen von den zwei Männern spürte ich keine Gegenwart in unmittelbarer Nähe. Ich nickte Reiko zu, dann folgten wir der Biegung des Hügels zur Lichtung hinunter.

Sobald wir die Mine erreicht hatten, musterte ich den Eingang, den staubbedeckten Boden und die Wände – nur für den Fall, dass die Mortaner Stolperfallen hinterlassen hatten. Da ich nichts entdecken konnte, drang ich tiefer in den Schacht ein. Doch ich konnte nur grob behauene Felswände erkennen, bevor das letzte Sonnenlicht von der Finsternis geschluckt wurde. Allerdings hing der Geruch von frischer Erde in der Luft, was darauf hinwies, dass irgendjemand noch vor Kurzem hier gearbeitet hatte.

Mein Blick fiel auf einen kleinen Haufen Schutt in der Nähe des Eingangs. Ich ging in die Hocke, um ihn mir genauer anzusehen, doch es war einfach nur ein Haufen Steine, von denen viele gezackte und geschwärzte Kanten hatten, als beständen sie aus verbranntem Glas und nicht aus Fels. Seltsam. Vielleicht hatte Milo seine Blitzmagie eingesetzt, um Zährenstein aus den Felswänden zu lösen … auch wenn ich keine Brandstellen an den Wänden erkennen konnte. Auf jeden Fall jagte mir der Anblick der verkohlten Steine aus irgendeinem Grund einen kalten Schauder über den Rücken. Ich schob einen davon in meine Tasche, um ihn später genauer zu untersuchen, dann erhob ich mich wieder.

Das letzte Mal hatte ich mich vor ein paar Wochen in einer Mine aufgehalten, in Blauberg. Dort hatte Conley, ein korrupter Vorarbeiter, mich in einen Abgrund gestoßen, um zu vertuschen, dass er Zährenstein stahl und an die Mortaner verkaufte. Ich starrte in die Dunkelheit der Mine, während die Erinnerungen in mir aufstiegen.

Der kühle Luftzug bei meinem Sturz. Mein Körper, der auf einen Vorsprung der steilen Felswand knallte. Das Brechen der Knochen in meinem linken Arm und Bein. Weißglühende Schmerzen. Die Kälte des Todes, die sich in meinem Körper ausbreitete. Und dann ein Schatten, der hoch über mir aufragte und sich langsam in einen Mann mit amethystfarbenen Augen verwandelte …

»Gemma«, rief Reiko. »Komm her und schau dir das an.«

Ihre Stimme riss mich aus den Erinnerungen, auch wenn ich immer noch glaubte, den Schmerz zu spüren, der im Takt meines Herzens durch meinen Körper pulsierte. Vielleicht lag es an all den Traumata, die ich in Myrkvior durchlitten hatte, aber seit meiner Rückkehr nach Hause hatte meine Magie ganz neue Eigenheiten entwickelt. Unter anderem schickte sie mir regelmäßig diese kurzen Blicke in die nähere Vergangenheit.

Mit zitternder Hand wischte ich mir den kalten Schweiß von der Stirn. Dann riss ich mich zusammen und trat wieder auf die Lichtung.

Reiko kauerte neben den zwei flachen Findlingen, die von den Mortanern vorhin als Tische verwendet worden waren. Sie zog etwas aus dem Gras, dann stand sie auf und streckte mir die Hand entgegen.

Das gezackte Bruchstück erinnerte in Form und Größe an einen kleinen Dolch. Ich rollte den Stein zwischen den Fingern und beobachtete, wie das Erz seine Farbe wechselte, von hellem Grau zu dunklem Blau und zurück.

»Das ist definitiv Zährenstein. Die Mine scheint nicht ganz so erschöpft gewesen zu sein, wie Lord Eichen beim Mittagessen erklärt hat.«

»Entweder das … oder Lord Eichen arbeitet mit den Mortanern zusammen.«

Überrascht öffnete ich den Mund, um meinen Landsmann zu verteidigen, doch Reiko musterte mich kritisch.

»Erste Regel der Spionage: Jeder kann dich jederzeit verraten. Selbst jemand, den du für einen treuen Verbündeten hältst.«

Sie sprach von Eichen, doch ich sah ein anderes Gesicht vor meinem inneren Auge – dasselbe attraktive Gesicht mit den amethystfarbenen Augen, das ich gerade in meiner Vision gesehen hatte. In gewisser Weise hatte Leonidas Morricone einen viel größeren Eindruck bei mir hinterlassen als die Verletzungen, die ich in der Mine in Blauberg davongetragen hatte.

Ich verdrängte die Erinnerungen und dachte über Reikos Worte nach. »Eichen könnte mit den Mortanern zusammenarbeiten, aber es ist sehr unwahrscheinlich. Der Lord besitzt jede Menge Geld und Macht … trotzdem hat er nie Interesse daran gezeigt, meinem Großvater den Thron streitig zu machen. Außerdem wurde Eichens Schwester vor einigen Jahren von mortanischen Banditen getötet, also hasst er alles Mortanische.«

Reiko akzeptierte meine Erklärung mit einem Nicken.

Ich drehte das Stück Zährenstein erneut zwischen den Fingern. »Wir sollten den Mortanern folgen. Es könnte sein, dass sie irgendwo im Wald ein Lager aufgeschlagen haben. Vielleicht bewahrt Milo dort den gestohlenen Zährenstein auf – und die Waffen, die er daraus geschaffen hat.«

Reiko zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Das könnte auch eine Falle sein. Es macht mich ziemlich misstrauisch, dass wir gerade zufällig zwei Mortaner vor einer alten Mine entdeckt haben und einer von ihnen zufällig ein Stück Zährenstein verloren hat.«

»Ich weiß, aber …«

»Es ist das Risiko wert«, beendete sie meinen Satz.

Ich warf ihr einen missmutigen Blick zu. Reiko grinste nur – genau wie ihr innerer Drache –, dann nickte sie. »Lass uns gehen, Prinzessin.«

Reiko ging dorthin, wo die Männer im Wald verschwunden waren. Ich schob den Zährensteinsplitter seitlich in meinen Stiefel, um ihn auf keinen Fall zu verlieren, dann dachte ich intensiv an Grimley.

Wir haben die Mortaner gefunden. Könnte sein, dass wir dich und Fern brauchen.

Grimley antwortete fast sofort. Unsere Jagd ist abgeschlossen. Wir sind bald da.

Unauffällig bitte. Wir wollen die Mortaner doch nicht verschrecken.

Du magst gerne herumschleichen, aber ich schätze ein direkteres Vorgehen.

Wirklich? Hast du das letzte Woche auch den Glasmeistern von Glitnir erzählt, als du, Fern und ein paar andere Gargoyles in der Luft Saltos geschlagen und dabei eines der Fenster von Alvis’ Werkstatt zerstört habt?

Glas sollte nicht so verdammt zerbrechlich sein, grummelte er.

Grinsend gab ich meine Magie frei, dann schloss ich mich Reiko bei der Suche nach unseren Feinden an.

Reiko und ich schlichen durch den Wald. Wir sprachen nicht, doch Reiko hielt ihr Schwert fest in der Hand, und ich spürte ihre Sorge wie einen Splitter im Herzen. Ich verstärkte den Griff an meinem Dolch und versuchte, ihre Bedenken genauso zu ignorieren wie meine eigenen.

Auch in diesem Teil des Waldes entdeckten wir eine Fährte, doch aufgrund des harten Bodens gab es hier keine Stiefelabdrücke, sodass wir nicht erkennen konnten, wie viele Leute diesen Weg eingeschlagen hatten. Reiko und ich huschten von einem Baum zum nächsten, hielten aber nur so einen großen Abstand zu der Spur, dass wir sie nicht aus den Augen verloren.

Wir legten einen guten Kilometer zurück, bevor die Fährte uns zu einer weiteren Lichtung führte, die noch größer war als die vor der alten Mine. Breite, flache Felsformationen ragten aus den umliegenden Hängen wie Tribünen und erweckten so den Eindruck einer nicht fertiggestellten Gladiatorenarena.

Ich konnte die zwei Mortaner nirgendwo entdecken, doch die Spur verlief quer über die Lichtung, bevor sie auf der gegenüberliegenden Seite zwischen den Felsen nach oben führte. Die anderen Hänge waren zu steil, um ohne Ausrüstung hinauf zu gelangen, also mussten die Mortaner diesen Weg eingeschlagen haben.

»Wie nah ist die mortanische Grenze?«, fragte Reiko.

Ich deutete auf den gegenüberliegenden Hang, wo neben dem Weg ein vielleicht eineinhalb Meter hoher Steinobelisk aufragte. Auch wenn ich es nicht sehen konnte, wusste ich, dass auf der Spitze des Obelisken das Ripley-Wappen mit dem knurrenden Gargoyle-Gesicht prangte. »Siehst du die Stele?«

Reiko spähte in die angegebene Richtung. »Ist das eine Wegmarkierung?«

»Ja. Außerdem ist es eine Warnung, dass sich der Wanderer nur noch einen Kilometer von der mortanischen Grenze entfernt aufhält. Die Obelisken an der mortanischen Grenze sind purpurrot angemalt und tragen das Morricone-Wappen … damit es wirklich jeder mitbekommt, wenn er von dem einen Königreich in das andere überwechselt.«

»Wir sind zu nah«, murmelte Reiko. »Vor allem, wenn das hier eine Falle ist.«

Nach dem katastrophalen Ausflug nach Myrkvior, der noch nicht lange zurücklag, hätte ich mir gewünscht, ich müsste niemals wieder mortanischen Boden betreten. Doch herauszufinden, wo Milo Morricone all den gestohlenen Zährenstein lagerte, konnte uns helfen, seine Pläne zu durchkreuzen, bevor noch mehr Menschen starben.

»Was sagt dir deine Magie?«, fragte Reiko. »Fängst du irgendwelche Gedanken auf?«

Ich konzentrierte mich, kontrollierte erneut die Lichtung und die Hänge außen herum, doch ich hörte nicht mal einen geflüsterten Gedanken und spürte auch keine gespannte Erwartung oder andere Emotionen. »Es versteckt sich niemand im hohen Gras, um uns aufzulauern. Über die andere Seite des Hanges kann ich allerdings nichts sagen, ohne näher heranzugehen.«

Reiko ließ ihr Schwert in der Hand kreisen. »Dann sollten wir näher herangehen.« Sie grinste. »Schließlich ist es das Risiko wert.«

Ich verdrehte die Augen. »Willst du das jetzt jedes Mal sagen, wenn ich etwas Gefährliches tun will?«

Sie grinste breiter. »Sicher doch.«

Ich stieß ein genervtes Schnauben aus, bevor wir aus dem Wald auf die Lichtung traten. Wir glitten so schnell und lautlos wie möglich durch das kniehohe Gras, doch je weiter wir kamen, desto unruhiger wurde ich. Ich spürte immer noch keine Gegenwart in der Nähe, doch die Lichtung und der Wald wirkten unheimlich ruhig. Keine Vögel zwitscherten auf den Ästen, es sprangen keine Eichhörnchen herum, und selbst der Wind war verklungen. Es herrschte eine vollkommene, unheimliche Stille.

Ein Schatten glitt über uns hinweg. Ich sah auf und rechnete damit, Grimley oder Fern zu entdecken. Doch der Umriss dieser Gestalt war schmaler und stromlinienförmiger als die breiten Körper der Gargoyles. Der Schatten verschwand hinter einem Felsgrat, bevor ich etwas Genaueres erkennen konnte, dafür spürte ich eine Gegenwart in meinem Geist, so weich und sanft wie eine Feder, die mir über die Haut glitt. Ich runzelte die Stirn. Das fühlte sich an wie …

Plötzlich erklang das Knirschen von Leder, und ein Mann trat neben die Wegmarkierung auf der höchsten Stelle des Hangs. Ich erstarrte, während Reiko einen Fluch flüsterte. Wir standen vollkommen ungeschützt mitten auf der Lichtung, also konnte er uns nicht übersehen.

Der Mann war über einen Meter achtzig groß, mit kurzem, schwarzem Haar, haselnussbraunen Augen und bronzefarbener Haut. Sein Körperbau war untersetzt und muskulös, und er hielt sein Schwert wie ein erfahrener Soldat. Obwohl wir erst späten Nachmittag hatten, verdunkelte bereits ein Bartschatten seine Wangen. Die meisten Leute hätten den Mann wahrscheinlich attraktiv gefunden. Vielleicht hätte ich diese Einschätzung sogar geteilt, hätte ich nicht genau gewusst, wie grausam, hinterhältig, rachsüchtig und bösartig er war.

Genau wie die zwei Mortaner, die wir vorhin beobachtet hatten, trug auch dieser Mann einen purpurnen Mantel über einer schwarzen Tunika, eine schwarze Hose und Stiefel. Ein schickes, kursives M umgeben von einem Ring aus Strixfedern – das königliche Wappen der Morricones – glänzte in goldenem Garn über seinem Herzen und verriet seinen hohen Rang.

Wexel, der Hauptmann der königlichen Wache von Morta … und ein loyaler Gefolgsmann von Milo Morricone.

Wexel warf mir einen höhnischen Blick zu, dann senkte er in einer schnellen Bewegung sein Schwert. Wieder hörte ich Leder knarzen, danach erklangen Schritte. Mehr als ein Dutzend Männer erschien auf dem Grat, und alle hatten sie Armbrüste in den Händen.

Mir rutschte das Herz in die Hose, und ich verfluchte meine Dummheit. Reiko hatte recht gehabt.

Wir waren in einen Hinterhalt geraten.

3

Neben mir stieß Reiko einen weiteren Fluch aus. Magie wirbelte um sie herum. Ihre Fingernägel wurden zu langen, schwarzen Krallen, als sie sich teilweise in ihre größere, stärkere Morphgestalt verwandelte.

»Also, also, schaut nur, wen wir da haben«, rief Wexel laut und spöttisch. »Die kleine Prinzessin Glimma und ihr zahmer Drache Reiko.«

Mein Blick huschte von einem Mann zum nächsten, doch das Gesicht, das ich suchte, konnte ich nirgends entdecken. »Sag mal, Wexel, wo ist dein Meister? Oder hat Milo dich für den Nachmittag tatsächlich von der Leine gelassen?«

Wut färbte die Wangen des Hauptmanns rot. Wexel trat vor, als wäre er am liebsten über den Hang nach unten gelaufen, um mich anzugreifen, doch dann zügelte er seinen Zorn und blieb am Rand der Hügelkuppe stehen. Dort oben waren die Mortaner klar im Vorteil.

»Milo hat mir versichert, dass du den von mir verbreiteten Gerüchten nachgehen würdest«, meinte Wexel. »Wundert mich fast, dass es so lange gedauert hat. Wir warten schon seit zwei Tagen hier im Wald.«

Wieder einmal verfluchte ich meine eigene Dummheit. Irgendwie hatte ich gehofft, die Gerüchte wären wahr – damit ich endlich einen Hinweis darauf fand, wie Milos letzte Intrige gegen Andvari aussehen sollte. Doch ich hatte meinem Ehrgeiz erlaubt, meinen gesunden Menschenverstand zu verdrängen, und war ein weiteres Mal direkt in eine Falle der Morricones getappt. Und noch schlimmer … diesmal hatte ich Reiko ebenfalls in tödliche Gefahr gebracht.

Aber ich hatte zu diesem Zeitpunkt nicht vor, mir meine Sorgen anmerken zu lassen. »Wie geht es Milo? Ich habe mir fast Sorgen um euren armen Kronprinzen gemacht. Sind seine Hände immer noch verkohlt? Oder ist es den Knochenmeistern in Myrkvior gelungen, die Verbrennungen zu heilen?«

Wieder färbten sich Wexels Wangen rot, zugleich empfing ich aber ein Aufflackern von Angst – ein Gefühl, das mir über den Rücken glitt wie eine eiskalte Berührung. Wexel hatte beobachtet, wie ich Milo seine eigenen Blitze entgegengeschleudert hatte … und der Hauptmann war offensichtlich klug genug, mich mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten. Gut. Denn im Moment wollte ich Wexel wirklich wehtun, weil er mich auf diesen sinnlosen Ausflug geschickt hatte – ich wollte ihn sogar noch schlimmer verletzen als Milo in Blauberg.

So viel schlimmer.

Ein vertrauter Sturm erhob sich knisternd in mir. Eiskalte Bösartigkeit erfüllte mich. Vor der Schlacht von Blauberg hätte ich diese Hassgefühle verdrängt – hätte versucht, sie genauso zu ignorieren wie die Magie, die in mir tobte. Doch als ich die mortanischen Soldaten getötet und Milo und Wexel aus der Stadt vertrieben hatte, war mir klar geworden, dass meine Gefühle keine Schwäche darstellten, keine Beeinträchtigung oder etwas, dem ich aus dem Weg gehen musste. Sie waren eine Stärke, meine Stärke, die mir erlaubte, meine Magie bestmöglich einzusetzen. Und ich würde es genießen, Wexel genau das vor Augen zu führen – in schmerzhafter, blutiger Ausführlichkeit …

»Gemma«, sagte Reiko warnend.

Ich blinzelte. Ich hatte mich so in meinen rachsüchtigen Gedanken verloren, dass ich mehrere Schritte nach vorne getreten und damit den Mortanern nahe gekommen war. So gerne ich auch den Hügel nach oben laufen und meinen Dolch in Wexels Brust versenken wollte, die Schützen würden mich niederstrecken, bevor ich den ersten Schlag gegen den Hauptmann ausführen konnte. Meine Rache würde warten müssen.

Ich sah kurz zu Reiko. »Danke.«

»Gern geschehen. Und jetzt lass uns hier verschwinden.«

Reiko zog sich langsam durchs Gras zurück. Ohne Wexel aus den Augen zu lassen, folgte ich ihrem Beispiel. Unsere beste Chance bestand darin, im Wald zu verschwinden …

Laute, schwere Schritte erklangen hinter uns. Ich sah über die Schulter. Ein Dutzend Männer in purpurfarbenen Mänteln und mit Schwertern in den Händen trat zwischen den Bäumen heraus auf die Lichtung, um uns den Fluchtweg abzuschneiden.

Wenn die Schützen auf der Anhöhe uns nicht umbrachten, dann würden das diese Soldaten erledigen. Milo hatte die Falle gut geplant: Wexel und seine Männer hatten uns umzingelt und waren uns zahlenmäßig weit überlegen.

Grimley. Ich schickte den Gedanken weit aus. Sei vorsichtig. Wexel ist hier, zusammen mit Dutzenden von mortanischen Soldaten mit Schwertern und Armbrüsten. Im Wald könnten sich noch mehr verbergen, die nur darauf warten, dich und Fern vom Himmel zu schießen.

Halt durch, Gemma!, erklang Grimleys Stimme in meinem Kopf. Wir sind fast da!

Ich konnte fühlen, wie Grimley und Fern näher kamen, als wären sie zwei unsichtbare Fäden, die ich auf ihre jeweiligen Spulen aufrollen sollte. Aber die Gargoyles konnten uns nicht vor dem Beginn der Kämpfe erreichen, also verdrängte ich ihre Gegenwart aus meinem Geist.

»Möchtest du noch letzte Worte sprechen, bevor meine Männer dich in Stücke hacken?«, fragte Wexel.

Statt auf seine höhnische Frage zu reagieren, rief ich meine Magie. Sofort konnte ich die Energie von jedem Gegenstand auf der Lichtung um mich herum spüren, vom dicksten Soldaten über das schärfste Schwert bis hin zum kleinsten Stein, der unter dem braunen Gras verborgen lag. Doch ich konnte die Energie nicht nur spüren – als Mentalmagierin konnte ich all diese Macht auch manipulieren, als wäre ich eine Marionettenspielerin, die durch unsichtbare Fäden mit jeder Person und jedem Gegenstand auf der Lichtung verbunden war.

»Also, Glimma?«, höhnte Wexel.

Ich packte einen dieser unsichtbaren Fäden, schlang ihn um meine linke Hand und ballte die Finger zur Faust. Oben auf der Anhöhe bog sich ein Ast langsam nach hinten. Keiner der Mortaner schien die Bewegung zu bemerken.

»Ach, komm schon«, meinte Wexel. »Du hast doch sicher noch irgendwas zu sagen, bevor meine Männer dich umb…«

Ich öffnete meine Hand und gab den Energiefaden damit frei. Der Ast sauste nach vorne und traf Wexel mitten im Gesicht.

Klatsch!