Spinnenzeit - Jennifer Estep - E-Book
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Spinnenzeit E-Book

Jennifer Estep

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Beschreibung

Was bewegt wohl eine junge Frau, ihre magischen Talente zu nutzen, um zur gefürchteten Killerin zu werden? Wenn Sie sich das auch schon gefragt haben, haben Sie wahrscheinlich die ersten neun Bände der »Elemental Assassin«-Reihe gelesen – und erhalten nun endlich Antworten. »Spinnenzeit. Elemental Assassin 10« bringt Licht in die mysteriöse Vergangenheit der »Spinne« Gin Blanco und erläutert die tragischen Umstände, die aus Gin eine begnadete Auftragsmörderin machten. Für alle Estep-Fans ein Muss, und zugleich der perfekte Einstieg für Neuleser.

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

 

ISBN 978-3-492-99088-2

© Jennifer Estep 2014

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Spider« bei Pocket Books, New York 2014

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: James Wragg / Trevillion Images und FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Danksagung

1

Zehn Jahre zuvor

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Heute

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Leseprobe zu »Spinnenglut« von Jennifer Estep

Widmung

Für meine Mom, meine Grandma und Andre – für eure Liebe, eure Geduld und alles andere, was ihr mir über die Jahre geschenkt habt.

Für meinen Großvater – ich werde dich vermissen.

Für alle Fans von Gin und ihrer Gang da draußen – das hier ist für euch.

Danksagung

Wieder einmal möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die mir dabei geholfen haben, meine Idee in ein Buch zu verwandeln.

Ich danke meiner Agentin Annelise Robey und meinen Lektorinnen Adam Wilson und Lauren McKenna für ihre hilfreichen Ratschläge, ihre Unterstützung und Aufmunterung. Außerdem danke ich Julia Fincher.

Ich danke Tony Mauro für den Entwurf eines weiteren tollen Buchcovers und Louise Burke, Lisa Litwack und allen anderen bei Pocket Books sowie Simon&Schuster für ihre Arbeit am Cover, am Buch und an der Serie.

Und schließlich möchte ich von Herzen meinen Lesern danken. Zu wissen, dass Leute meine Bücher lesen und lieben, erfüllt mich mit Demut. Ich bin froh, dass ihr so viel Spaß an Gin und ihren Abenteuern habt. Ich weiß das mehr zu schätzen, als ihr euch vorstellen könnt.

Viel Spaß beim Lesen!

1

Der Tag, an dem das Paket kam, begann wie jeder andere auch.

Ich öffnete pünktlich das Pork Pit, das Barbecue-Restaurant, das ich in der Innenstadt von Ashland führte, schaltete die Geräte an, band mir die blaue Arbeitsschürze um und drehte das Schild an der Tür auf Geöffnet. Anschließend verbrachte ich meine Zeit damit, Burger, gebackene Bohnen und die dicken, leckeren Rindfleisch- und Schweinefleisch-Sandwiches zuzubereiten, für die mein Laden berühmt war. Ich unterhielt mich mit den Bedienungen, wischte Tische ab und sorgte dafür, dass meine Gäste ihre fettigen Mahlzeiten genossen.

Doch die ganze Zeit über wartete ich darauf, dass jemand versuchte, mich umzubringen.

Nicht zum ersten Mal am heutigen Tag ließ ich meinen Blick durch den vorderen Teil des Restaurants gleiten, in dem verschiedene Tische und Stühle standen, flankiert von blauen und pinkfarbenen Sitznischen. Farblich dazu passende, aber bereits verblasste Schweineklauen-Spuren auf dem Boden führten zu den beiden Toilettenräumen. An der hinteren Wand zog sich ein langer Tresen mit gepolsterten Hockern davor entlang und trennte den Kochbereich vom Gastraum.

Da es inzwischen nach sechs Uhr war, war der Laden gerammelt voll, jeder Platz war belegt. Die Bedienungen eilten hin und her, nahmen Bestellungen auf, brachten das Essen und füllten Gläser auf. Das Klirren von Geschirr erfüllte das Restaurant, begleitet vom Kratzen von Gabeln, Messern und Löffeln auf Tellern und in Schüsseln. Das Geräusch von mehr als einem Dutzend verschiedener Gespräche waberte durch den Raum, während mir der köstliche Duft von Kümmel, schwarzem Pfeffer und anderen Gewürzen in die Nase stieg.

Alles war, wie es sein sollte, trotzdem musterte ich jeden Gast genau. Ein paar der Anwesenden schluckten und wandten eilig den Blick ab, wenn sie bemerkten, dass ich sie beobachtete, weil sie es nicht wagten, mir in die Augen zu blicken. Doch die meisten Leute waren so auf ihr Essen und ihre Gesprächspartner konzentriert, dass sie mich kaum beachteten. Sie waren einfach hier, um die Südstaaten-Köstlichkeiten zu genießen, die in meinem Restaurant serviert wurden – nicht um mich zu ermorden oder um einen Blick auf die Spinne, Ashlands berüchtigtster Profikillerin, zu erhaschen.

»Gin?« Eine tiefe Männerstimme unterbrach meine Gedanken.

Ich sah zu dem Mann, der auf dem Hocker vor der altmodischen Registrierkasse saß. Trotz seiner leicht schiefstehenden Nase und einer Narbe, die quer über sein Kinn verlief, war er sehr attraktiv; mit intensiven, blauen Augen, die fast violett wirkten, und tiefschwarzem Haar, das an manchen Stellen bläulich schimmerte. Sein marineblauer Geschäftsanzug und das weiße Hemd darunter betonten seine breite Brust und die Schultern und ich war nicht die einzige Frau im Restaurant, die ihm bewundernde Blicke zuwarf.

»Ist alles okay?«, fragte Owen Grayson, der Mann, den ich liebte.

Mein Blick wanderte noch einmal von rechts nach links durchs Restaurant, bevor ich antwortete. »Anscheinend schon. Für den Moment.«

Owen nickte und wandte sich wieder seinem Essen zu, während ich mir einen Lappen schnappte und anfing, den Tresen abzuwischen.

Tatsächlich war am heutigen Tag alles in normalen Bahnen verlaufen, mit der Ausnahme, dass niemand versucht hatte, mich zu ermorden – bis jetzt zumindest.

Fast überzeugt, dass ich zur Abwechslung einmal tatsächlich unbeschadet durch den Arbeitstag kommen würde, erlaubte ich mir, mich ein wenig zu entspannen – zumindest bis die Glocke über der Tür bimmelte. Ich sah zum Eingang, in der Erwartung, einen neuen Gast zu sehen … jemanden, der sich auf ein saftiges Stück Fleisch vom Grill freute.

Nur dass kein Gast das Restaurant betrat, sondern ein großer, dünner Mann in der schwarzen Uniform eines Lieferdienstes.

Der Kerl sah sich einen Moment um, bevor er mich anvisierte und auf mich zukam. Ich spannte meine Muskeln an, den Blick auf den weißen Karton in seinen Händen gerichtet. Gleichzeitig ließ ich meine Hand unter den Tresen sinken. Eine Sekunde später ließ ich ungesehen ein Messer in meine Finger gleiten – eine der fünf Klingen, die ich immer am Körper trug. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand, der sich als Paketbote verkleidet hatte, versuchte, auf diese Weise an mich heranzukommen. Der letzte Kerl lag immer noch in der Kühltruhe und wartete darauf, dass sich Sophia Deveraux um ihn kümmerte, meine Chefköchin im Pork Pit, die gleichzeitig auch als meine persönliche Leichen-Entsorgerin arbeitete.

Doch zu meiner Überraschung kam der Kerl einfach zur Registrierkasse marschiert, als wäre das eine ganz normale Lieferung.

»Ich habe hier ein Paket für Gin Blanco«, sagte er gelangweilt. »Sind Sie das?«

»Ja.«

»Unterschreiben Sie da.«

Er streckte mir einen elektronischen Scanner entgegen. Ich schob mein Messer in den Spalt unter der Registrierkasse, wo er es nicht sehen konnte, und nahm ihm das Gerät ab. Der Kerl wartete, bis ich mit dem angehängten Plastikstift etwas aufs Display gekritzelt hatte, was grob an meine Unterschrift erinnerte. Kaum war ich fertig, entriss er mir den Scanner wieder und drückte mir stattdessen die weiße Kiste in die Hand. Dann nickte er mir zu.

»Ich wünsche noch einen schönen Tag.«

Er wollte gehen, doch ich ergriff seinen Oberarm. Der Lieferbote hielt an, sah über die Schulter zurück und runzelte die Stirn, als hätte ich durch die Berührung eine Art geheimen Paketboten-Kodex gebrochen. Vielleicht stimmte das sogar.

»Ja?«, fragte er. »Brauchen Sie noch etwas?«

Vorsichtig stellte ich das Paket auf dem Tresen ab. Glücklicherweise war der Platz neben Owen frei, also konnte ich es ein paar Zentimeter von uns wegschieben.

»Was ist in dem Karton?«, fragte ich.

Der Kerl zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht, Lady, und es interessiert mich auch nicht. Ich liefere nur aus. Ich schaue nicht rein.«

Er wollte sich von mir losmachen, aber ich umklammerte seinen Arm fester.

»Sie sollten mir wirklich sagen, was da drin ist.«

Er verdrehte die Augen. »Und warum sollte ich das tun?«

»Damit ich mir sicher sein kann, dass sich nichts … Fieses darin befindet.«

Der Kerl wirkte vollkommen verwirrt. »Fieses? Wieso glauben Sie, dass sich in dem Paket etwas Fieses befindet?«

»Oh, ich weiß nicht«, sagte ich gedehnt. »Wieso schauen Sie nicht einfach noch mal nach, was auf dem Lieferschein steht?«

Er warf einen Blick auf seinen Scanner und drückte einen Knopf. »Hier steht Lieferung an Gin Blanco, im Pork Pit-Restaurant in der Innenstadt. Und? Soll mir das irgendwas sagen?«

Verständnis flackerte in seinen Augen auf, als er endlich meinen Namen erkannte und ihm dämmerte, wer ich wirklich war. Gin Blanco. Restaurantbesitzerin. Und, noch wichtiger, die Profikillerin, die unter dem Namen »die Spinne« bekannt war. Er schluckte so schwer, sodass sein Adamsapfel sichtbar hüpfte.

»Hören Sie, ich will keinen Ärger, Lady. Ich bin nur Paketbote. Ich weiß nicht, was sich in diesem Karton befindet, und der Scanner verrät mir auch nichts. Das schwöre ich.«

Ich hielt weiter seinen Arm fest und sah ihm tief in die Augen, konnte darin allerdings nichts anderes erkennen als den dringenden Wunsch, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Kluger Mann. Trotzdem ließ ich ihn noch ein paar Sekunden schwitzen, bevor ich ihn losließ.

»Okay«, sagte ich. »Dann können Sie jetzt gehen.«

Der Kerl wirbelte herum und wollte gerade den ersten Schritt machen, als ich ihn noch mal rief.

»Moment. Eine Sache noch.«

Er erstarrte und schwankte leicht und ich konnte förmlich sehen, wie sich die Räder in seinem Kopf drehten, als er überlegte, ob er einfach zur Tür rennen sollte. Doch dann wurde ihm wohl klar, dass er keine Chance gegen mich hatte, da er sich umdrehte und mich wieder ansah.

Ich winkte ihn mit einem Finger heran.

Wieder schluckte er schwer, bevor er sich näher an den Tresen schob, wobei er darauf achtete, sich außerhalb meiner Reichweite aufzuhalten.

Inzwischen hatten meine Worte und mein Verhalten die Aufmerksamkeit einiger Gäste erregt, die mich aus großen Augen anstarrten, als würde ich jeden Moment ein Messer ziehen und den Paketboten vor ihren Augen aufschlitzen. O bitte. Ich ging in solchen Dingen gern diskreter vor, wenn auch lediglich, um den schönen Schein zu wahren.

Ich musterte den Boten noch ein paar Sekunden lang intensiv, bevor ich hinter die Registrierkasse griff und etwas herauszog. Er schluckte ein drittes Mal schwer und ich sah, dass ihm trotz der Klimaanlage im Restaurant der Schweiß auf die Stirn getreten war. Als er erkannte, was ich in der Hand hielt, erstarrte er.

Ich streckte den Arm aus und schob ihm einen Hundert-Dollar-Schein in die Westentasche des Overalls. »Ich wünsche einen schönen Tag«, sagte ich freundlich.

Der Kerl starrte mich mit offenem Mund an, als könnte er nicht glauben, dass ich ihn einfach so laufen ließ. Doch dann fing er sich wieder. Er nickte hektisch und lief rückwärts durch den Raum auf den Ausgang zu, ohne mich aus den Augen zu lassen.

»Kommen Sie mal wieder«, rief ich ihm hinterher. »Wenn Sie Zeit haben, sich hinzusetzen und etwas zu essen. Das Essen hier ist fantastisch, nur für den Fall, dass Sie es noch nicht gehört haben.«

Der Paketbote antwortete nicht, sondern starrte mich unverwandt an, bis sein Hintern gegen den Türknauf knallte. Dann schnappte er nach Luft, riss die Tür auf und verließ das Restaurant so schnell, wie es eben möglich war, ohne dabei zu rennen.

Owen zog eine Augenbraue hoch. »Ich glaube, du hast dem Kerl fast einen Herzinfarkt verpasst.«

Ich grinste. »Geschieht ihm recht, wenn er mir nicht sagen konnte, was in dem Paket ist.«

Owens Blick glitt zu dem weißen Karton auf dem Tresen. »Willst du es aufmachen?«

»Später«, murmelte ich. »Wenn wir allein sind. Falls sich darin etwas Fieses versteckt, wäre es Quatsch, es allen zu zeigen.«

»Und wenn es nichts Fieses ist?«

Ich schnaubte. »Dann wäre ich sehr überrascht. Allerdings rechne ich eher nicht damit.«

 

Owen aß seinen Cheeseburger mit Zwiebelringen auf und orderte ein Stück Kirschkuchen mit Vanilleeis zum Dessert, während ich die nächste Stunde in Arbeit versank. Ich schnitt Kartoffeln für die letzte Runde Pommes, kontrollierte den Topf mit Fletchers Barbecue-Soße, den ich auf den Herd gestellt hatte, füllte Gläser wieder auf und tippte Bestellungen in die Kasse.

Außerdem brachte ich das Paket nach hinten und legte es in einen der Kühlräume. Ich wusste nicht, welche Überraschung sich in dem Karton versteckte, aber ich wollte auf keinen Fall, dass meine Angestellten oder Gäste durch das verletzt wurden, was sich vielleicht darin verbarg.

Schließlich zahlten die letzten Gäste und verließen das Restaurant. Es war kurz nach sieben Uhr. Ich beschloss, den Laden heute mal früher zu schließen, schickte Sophia und die Bedienungen nach Hause, schaltete alle Geräte aus und drehte das Schild an der Tür auf Geschlossen, bevor ich die Eingangstür verriegelte.

Jetzt musste ich nur noch das Paket öffnen.

Vorsichtig trug ich es aus dem Kühlraum in den vorderen Teil des Restaurants, wo ich es an derselben Stelle auf den Tresen legte, wo es vorhin schon gestanden hatte. Ich zwang Owen, aufzustehen und sich ans andere Ende des Raums zu stellen, außer Reichweite jeglichen elementaren Feuers oder anderer Magie, die vielleicht gleich explodieren würde. Dann musterte ich den Karton.

Obenauf klebte ein Versandauftrag mit meinem Namen und der Adresse des Pork Pit. Doch auf dem Zettel stand nichts, was darauf hinwies, wer das Paket geschickt hatte. Die Absenderzeile hatte niemand ausgefüllt, was mich nur noch misstrauischer machte.

Auch das Paket selbst lieferte keine Hinweise. Es war einfach ein stabiler, weißer Karton, rechteckig und ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter lang. Auf der Oberfläche prangten keine Verzierungen, keine Runen oder anderen Symbole. Es gab nicht mal einen Herstellerstempel, der verriet, wer den Karton produziert hatte. Ich zögerte kurz, dann schob ich mein Ohr an das Paket heran und lauschte, für den Fall, dass jemand eine Bombe mit einer altmodischen tick-tick-tickenden Uhr darin verschickt hatte. Mir waren in meinem Beruf schon ziemlich viele seltsame Dinge untergekommen.

Doch ich hörte keinerlei Geräusche aus dem Inneren. Ich roch auch nichts und spürte keine elementare Magie davon ausgehen.

»Irgendwas?«, fragte Owen von seinem Platz neben dem Eingang.

Ich schüttelte den Kopf. »Bisher nichts.«

Der Deckel war mit Klebeband zugeklebt, also zückte ich eines meiner Messer und durchschnitt das Band, wobei ich sorgfältig darauf achtete, das Paket nicht mehr zu bewegen als unbedingt nötig. Dann wartete ich und zählte die Sekunden.

Zehn …

Zwanzig …

Dreißig …

Fünfundvierzig …

Sechzig …

Nach zwei Minuten war ich mir ziemlich sicher, dass nichts passieren würde, bis ich den Karton wirklich öffnete.

»Wird schon schiefgehen«, rief ich in Owens Richtung.

Noch während ich langsam nach dem Deckel des Kartons griff, rief ich meine Steinmagie und setzte sie ein, um meine Haut, meinen Kopf, mein Haar, die Augen und jeden anderen Teil von mir zu verhärten, der vielleicht von einer Explosion getroffen werden könnte, sollte sich eine Bombe oder eine Runen-Falle darin befinden. Eine Sonne hätte bedeutet, dass elementares Feuer mich umhüllte; ein Sägen-Symbol hätte scharfe, dolchartige Nadeln aus Eis auf mich abgeschossen; vielleicht war im Paket sogar irgendeine Art von Luftelementar-Wolken-Symbol versteckt, das jeglichen Sauerstoff aus der Luft saugen und mich damit ersticken konnte.

Doch nichts von alledem geschah. Ich sah nur die dicke Schicht aus weißem Seidenpapier, in die der Inhalt eingewickelt war.

Also atmete ich tief durch und schob vorsichtig das Papier zur Seite, immer noch von meiner Steinmagie gegen potenzielle Gefährdungen geschützt. Doch zu meiner Überraschung enthielt der Karton etwas vollkommen Harmloses: Blumen.

Rosen, um genau zu sein. Schwarze Rosen.

Ich gab meine Magie frei, sodass meine Haut wieder normal wurde. Dann runzelte ich die Stirn, weil ich einfach nicht verstand, wer mir einen Karton voller schwarzer Rosen schicken sollte. Ich griff nach einer der Blumen, wobei ich sorgfältig auf die scharfen, gebogenen Dornen achtete, die aus dem Stängel ragten, und drehte die Blüte in der Hand, als könnte sie mir verraten, wer das Bouquet geschickt hatte und warum.

Eine gute Idee.

Denn dies war keine normale Rose. Der Stängel war nicht grün, sondern milchigweiß und mit Dornen mit derselben hellen Färbung. Doch hauptsächlich waren es die Blütenblätter, die meine Aufmerksamkeit erregten, weil sie doch nicht schwarz waren, wie ich zunächst gedacht hatte, sondern vielmehr von einem tiefen, dunklen Blau – einer Farbe, die ich in dieser Form bisher nur ein einziges Mal gesehen hatte.

»Die Luft ist rein«, sagte ich.

Owen trat an den Tresen heran und spähte in die Kiste. »Rosen? Jemand hat dir Rosen geschickt?«

»Sieht so aus«, murmelte ich.

Auf dem Strauß lag eine weiße Karte, also griff ich danach. Darauf standen in schwarzer Tinte und geschwungener Handschrift nur zwei Worte: Glücklichen Jahrestag.

Das war’s. Mehr stand nicht auf der Karte und auf dem Papier waren keine anderen Zeichen, Runen oder Symbole zu entdecken.

Ich ließ meine Finger über die Pappe gleiten. Das war nicht das, was ich erwartet hatte. Irgendeine Form von Todesdrohung wäre passender gewesen. Andererseits hatte ich auch nicht geglaubt, heute ein solches Paket zu bekommen. Doch am meisten störte mich, dass mir die beiden Worte keinerlei Hinweis auf den Geisteszustand oder die wahren Absichten des Absenders gaben. Die Karte, die Nachricht, die Rosen – sie konnten alles bedeuten. Sie konnten ein einfacher Gruß sein oder ein Geschenk, das vor Sarkasmus triefte. Hätte ich wetten müssen, hätte ich mein Geld auf den Sarkasmus gesetzt. Oder das Ganze vielleicht als Warnung gedeutet. Vielleicht sogar als Versprechen auf Strafe, Vergeltung, Rache.

»Glücklichen Jahrestag?«, fragte Owen, als er sich vorlehnte, um die Karte in meiner Hand zu lesen. »Jahrestag von was?«

Ich sah zu dem Kalender, der an der Wand neben der Registrierkasse hing. Der 25. August. Vor genau zehn Jahren war es passiert. Jetzt gerade kam es mir angesichts meines rasenden Herzens vor, als wäre es vor zehn Minuten gewesen. Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen, doch der widerlich süßliche Duft der Blumen stieg mir in die Nase und füllte meine Kehle aus wie ein vergiftetes Parfüm. Für einen Moment befand ich mich wieder dort, war wieder bei den Rosen, zurück in den Schatten, verletzt und erfüllt von der Frage, wie ich überleben sollte, was als Nächstes kam …

»Gin?«, fragte Owen. »Geht es dir gut? Du siehst aus, als wärst du gerade ganz weit weg.«

»Das bin ich«, sagte ich abwesend, weil ich Dinge sah, von denen er nichts ahnte, Erinnerungen an eine andere Zeit, einen anderen Ort.

Einen anderen Mann.

Owen hob den Arm und legte seine Hand auf meine. »Willst du mir davon erzählen?«, fragte er sanft.

Seine Berührung brach den Bann der Rosen. Ich tauchte aus meinen Erinnerungen auf und starrte ihn an. Owen erwiderte meinen Blick, seine violetten Augen waren warm vor Zuneigung, Mitgefühl und Sorge. Es überraschte mich immer wieder, diese Gefühle in seinem Gesicht zu sehen, besonders, seitdem wir uns vor ein paar Monaten fast getrennt hätten. Doch wir waren wieder zusammen und unsere Beziehung war stärker als je zuvor. Und noch wichtiger, er hatte es verdient, alles darüber zu erfahren. Er hatte es verdient, zu wissen, warum ich war, wie ich war – und wer einen Anteil daran gehabt hatte, mich zu der Person zu machen, die ich heute bin.

Ich bedeutete Owen, sich wieder hinzusetzen, während ich die dunkelblaue Rose zurück zu den anderen in die Kiste legte. Die Karte allerdings behielt ich in der Hand. Wieder und wieder glitt mein Daumen über die Worte. Dann setzte ich mich auf einen Hocker, stemmte die Ellbogen auf den Tresen und sah Owen an.

»Mach es dir gemütlich«, sagte ich. »Weil es eine lange Geschichte ist. Witzigerweise steht am Anfang ein Mädchen – ein dummes, arrogantes Mädchen, das sich eingebildet hat, es könnte nichts falsch machen …«

Zehn Jahre zuvor

2

Meine Zielperson sah mich nicht mal kommen.

Anscheinend hatte der Kerl vollkommen vergessen, dass ich genauso durchtrieben war wie er und sogar noch skrupelloser. Er hielt sich für so klug, so clever, so sicher, wie er da in seinem kleinen Scharfschützennest auf den Felsen thronte, dass er die wichtigste Regel vergaß: Pass immer zuerst auf dich selbst auf!

Er hatte eine tolle Stelle für seinen Hinterhalt ausgesucht: den höchsten Punkt in diesem Teil des alten Steinbruchs von Ashland, von wo aus er gute fünfhundert Meter in jede Richtung sehen konnte. Die Felsen ragten hoch auf, bevor sie sich zu einem breiten Vorsprung erweiterten, fast wie bei einem Baumstamm, der erst nach oben wächst und aus dem dann ein langer, dicker, stabiler Ast hervorragt. Ein paar kleine Kiefern und Rhododendron-Büsche hatten es irgendwie geschafft, sich mit den Wurzeln im Fels zu verankern, was meiner Zielperson sogar noch mehr Deckung verschaffte. Er hatte sich auch gut getarnt. Sein graues T-Shirt und die kakifarbene Hose verschmolzen mit den gedämpften Farben der Steine und Blätter. Hätte ich nicht gewusst, dass er dort draußen war, um mich zu jagen, hätte ich ihn vielleicht nie entdeckt.

Aber das hatte ich – und jetzt würde er seinen Fehler teuer bezahlen.

Seine Position ließ vermuten, dass er sein Hauptaugenmerk auf den Eingang des Steinbruchs richtete, wo sich ein hohes Eisentor erhob, in dem allerdings mehr als nur ein paar Stäbe fehlten – wie Zähne, die aus einem Metallmaul geschlagen worden waren. Obwohl ich mich gute dreihundert Meter vom Tor entfernt aufhielt, konnte ich trotzdem hören, wie das rostige Schild an den Stäben im Wind quietschte. Hin und wieder erhaschte ich einen Blick auf die verblassten Worte auf dem Schild: Betreten auf eigene Gefahr.

Ziemlich passend, da der Mann auf dem Vorsprung geschickt worden war, um mich kaltzumachen. Aber stattdessen würde ich ihn überlisten. Meine Quelle hatte mir verraten, dass der Scharfschütze irgendwo im Steinbruch lauerte, also war ich nicht durch den Eingang geschlendert, wie er erwartete, sondern hatte mich dem Gelände über einen kaum benutzten Forstweg genähert – denselben Weg, den Bria und ich immer entlanggelaufen waren, als wir noch Kinder waren und im Steinbruch spielen wollten.

Mein Herz verkrampfte sich beim Gedanken an meine tote kleine Schwester mit ihren großen, blauen Augen, den rosigen Wangen und dem Schopf voller wippender, blonder Locken. Doch ich verdrängte den Gedanken aus meinem Kopf, zusammen mit der Wut, der Trauer und der Hilflosigkeit, die unweigerlich dazugehörten.

Ich war nicht mehr hilflos. Und ich war heute hier, um meinen Feind zu besiegen, nicht um meine Zeit damit zu vertun, Dinge zu bedauern, die sich nicht mehr ändern ließen.

Es hatte mich fast eine halbe Stunde gekostet, die Position des Scharfschützen ausfindig zu machen, doch ich hatte mich von Felsbrocken zu Felsbrocken geschlichen, von einer Seite des Steinbruchs zur anderen, bis ich ihn aufgespürt hatte. Jetzt musste ich nur noch nah genug an ihn herankommen, um zuzuschlagen. Wäre er hier unten gewesen, hätte ich die Sache längst durchgezogen, doch er hatte entschieden, die Sache zu verkomplizieren.

Also war alles wie immer.

Leicht verärgert starrte ich an der Felswand nach oben. Der Scharfschütze blieb, wo er war, versteckt in den Schatten der Büsche. Der schwarze Lauf seines Gewehrs ragte nur ein kleines Stück über die Felsen hinaus. Ich kauerte rechts unter ihm auf einem Vorsprung, also konnte er mich nicht sehen, außer er hob den Kopf und sah gezielt nach unten.

Er würde mich nicht sehen – bis es zu spät war.

Aber es gab etwas, was ich noch tun musste, bevor ich mich diesem Fiesling näherte, also legte ich eine Hand auf einen Gesteinsbrocken neben mir und rief meine Magie.

Überall um mich herum flüsterten mir die Steine ihre Geschichte zu. Sie erzählten von allem, was ihnen geschehen war; von allem, was Leute über die Jahre auf und um sie herum getan hatten. Als Steinelementar konnte ich diese Vibrationen nicht nur wahrnehmen, sondern auch deuten.

Die Felsen des Steinbruchs grummelten über all die Gewalt, die man ihnen mit Sprengstoff, Spitzhacken und Bohrern angetan hatte, um sie zu zwingen, ihre kostbaren Edelsteine, Erze und Mineralien preiszugeben, bis sie nur noch aus diesen leeren, bröckelnden Hüllen bestanden. Doch es gab auch sanfteres Murmeln, das von der Erleichterung der Steine sprach, dass die Sommersonne langsam hinter den Bergen im Westen versank und die brennende Hitze endlich nachließ.

Ich streckte meine Magie aus, versank tiefer im Fels und lauschte auf jeglichen Hinweis auf Sorge, Aufregung oder Gefahr.

Doch ich spürte keinerlei böse Absichten in den sonnenverbrannten Steinen, sondern empfand nur ihr Verlangen, in Ruhe gelassen zu werden, und hörte ihr schlecht gelauntes Brummen über das Wetter, das sie Stück für Stück erodierte. Inzwischen besuchten nur noch wenige Leute diesen Ort … nur ab und zu ein Obdachloser, der nach einem Unterschlupf suchte, oder Leute, die mit kleinen Hacken in den gezackten Felsen nach übersehenen Edelsteinen oder Erzen suchten.

Davon überzeugt, dass der Scharfschütze allein war, zog ich meine Hand zurück.

Seine Position oben auf dem Felsgrat mochte ihm einen hervorragenden Blick auf den Eingang verschaffen, doch er konnte nicht sehen, was direkt unter ihm geschah. Also bemerkte er nicht, wie ich von einem Steinbrocken zum nächsten huschte, bis ich mich in seinen Rücken geschlichen hatte.

Mit der Hand schirmte ich meine Augen gegen die grelle Sonne ab und starrte an der Felswand nach oben. Sie erhob sich vielleicht dreihundert Meter in die Höhe und war vom starken Wind geglättet. Doch hier und dort gab es Vorsprünge und kleine Risse, die Halt bieten konnten. Wieder stieg Verärgerung in mir auf. Ich wollte meinen Feind ausschalten und die Sache hinter mich bringen. Doch mein Mentor glaubte fest an das alte Sprichwort: Alles kommt zu dem von selbst, der warten kann. Ich hingegen war der Meinung, dass einen entschlossene Tatkraft weiter brachte als Abwarten und Teetrinken.

Also trat ich an die Felswand heran und legte erneut meine Hand auf den Stein, um zu lauschen. Doch auch jetzt hörte ich nichts als das klagende Murmeln über die heiße Sonne und die Gewalt, die man dem Element angetan hatte. Ich schloss meine Finger um einen Vorsprung und spürte, wie die scharfen Kanten sich in meine Handfläche bohrten, dann hängte ich mein Gewicht daran, um mich davon zu überzeugen, dass der Fels hielt und nicht einfach zu Staub zerfallen würde.

Natürlich hätte ich meine Magie einsetzen können, um mir den Aufstieg zu erleichtern – meine Eismagie. Ich gehörte zu den seltenen Elementaren, die neben ihrer ersten Macht – der Steinmagie – eine weitere Begabung hatten: Eis, in meinem Fall, auch wenn diese Gabe schwächer ausgeprägt war als meine Steinmagie. Trotzdem hätte ich ein paar kleine Eismesser erzeugen können, um sie in die Spalten zu graben und auf diese Weise an der Felswand nach oben zu klettern.

Doch ich entschied mich dagegen. Der Scharfschütze besaß keine Magie, also würde er nicht spüren, wie ich meine Magie einsetzte, wie es vielleicht bei einem anderen Elementar der Fall gewesen wäre. Doch er war ohne Magie nach dort oben gelangt. Also würde ich das auch schaffen. Außerdem setzte ich meine Magie ungern ein, wenn es nicht absolut nötig war. Ich wollte nicht, dass sie zu einer Krücke wurde, ohne die ich nicht mehr klarkam.

Das konnte ich mir nicht leisten – nicht als die Spinne.

Ich wäre gern so schnell wie möglich an den Felsen nach oben geklettert, doch das hätte viel zu viel Lärm erzeugt. Ich war entschlossen, meinen Sieg nicht so einfach zu vergeben. Also erklomm ich langsam, vorsichtig und leise die Wand, zog mich von einem Halt zum nächsten, um mich langsam an dem steilen Hindernis nach oben zu arbeiten. Es war nach acht Uhr abends und auch wenn die Sonne nicht mehr direkt über unseren Köpfen stand, schimmerte die Luft im Steinbruch immer noch vor Hitze und waberte in schwülen Wellen um mich herum. Es war fast August, der heißeste Monat in Ashland, doch dieses Jahr schien die Hitze besonders unerträglich. Die Felsen lagen angenehm warm unter meinen Händen, während kleine Einschlüsse von weißem und rosafarbenem Quarz unter meinen Fingern wie fahle Diamanten glitzerten. Vielleicht würde ich, sobald ich den Scharfschützen ausgeschaltet hatte, mit meiner eigenen Spitzhacke zurückkehren und mal schauen, ob ich nicht auch einen Edelstein finden konnte.

Ich erreichte die obere Kante der Felswand, wo ich mich für einen Augenblick festklammerte, wie eine Spinne, die in einem Netz aus Stein hängt. Dann, immer noch so leise wie möglich, zog ich mich langsam nach oben, sodass ich über die Kante spähen konnte, um herauszufinden, was der Scharfschütze tat; ob er meine Annäherung gehört und sein Gewehr in meine Richtung gedreht hatte, bereit, mir in dem Moment, in dem er mich sah, drei Kugeln ins rechte Auge zu jagen.

Der Scharfschütze lag da wie zuvor. Er hatte nicht bemerkt, dass er Gesellschaft hatte.

Eine weitere Regel, die er vergessen hatte: Arroganz wird dich erledigen, jedes einzelne Mal.

Er wandte mir den Rücken zu und lag flach auf dem Bauch, den Gewehrlauf in Richtung des Steinbruchs gerichtet, in derselben Position, in der ich ihn entdeckt hatte. Tatsächlich sah es aus, als hätte er sich während meines gesamten Aufstiegs keinen Zentimeter bewegt. Sein rechtes Auge schwebte direkt vor dem Zielfernrohr und sein Körper lag vollkommen still, während er darauf wartete, dass ich in sein Blickfeld trat. Schön für ihn, dass er so gewissenhaft vorging. Zu dumm nur, dass ihn das nicht retten würde.

»Wo bist du?«, flüsterte er. Eine leichte Brise trug seine Worte zu mir. »Wo versteckst du dich?«

Ich grinste. Das würde er schon in einer Minute, höchstens zwei, herausfinden.

Immer noch so leise wie möglich schwang ich ein Bein über die Kante und zog mich nach oben, bevor ich mich hinkauerte. Der Scharfschütze mochte sein Gewehr haben, aber ich besaß etwas noch Besseres: meine fünf Steinsilber-Messer. Eines in jedem Ärmel, eines an meinem Kreuz versteckt und zwei in meinen Stiefeln.

Immer noch in kauernder Haltung zog ich eines der Messer aus meinem Ärmel und näherte mich langsam dem Scharfschützen. Ich versuchte nicht mehr, leise zu sein – da ich bereits wusste, dass ich gewonnen hatte.

Viel zu spät hörte er das Kratzen meiner Sohlen auf den Felsen. Er rollte sich zur Seite und versuchte, mit seinem Gewehr einen Schuss auf mich abzugeben, doch ich war schneller. Ich trat ihm die Waffe aus den Händen, sodass sie über den Stein schlitterte. Er griff nach einer Pistole in einem Holster an seinem schwarzen Ledergürtel, doch ich warf mich auf ihn und drückte ihm das Messer gegen die Kehle, um ihn wissen zu lassen, was geschehen würde, wenn er versuchte, sich zu widersetzen.

Tatkraft siegte immer – genauso wie ich.

»Sag es.« Ich verzog höhnisch das Gesicht. »Komm schon. Sag es.«

Er zog den Kopf nach hinten, als wäre ich dämlich genug, das Messer von seinem Hals zu nehmen, nur weil er das gern wollte. Die grünen Augen meines Ziehbruders brannten in seinem gut aussehenden Gesicht vor Wut, während sein walnussbraunes Haar trotz unserer kleinen Auseinandersetzung perfekt in Form blieb.

»Schön«, murmelte Finnegan Lane. »Du hast gewonnen, Gin. Wieder mal. Und, bist du jetzt glücklich?«

Ich grinste. »Wie verrückt.«

Ich rollte mich von ihm herunter, sprang auf die Beine und schob das Messer wieder in meinen Ärmel. Dann beugte ich mich vor und streckte ihm die Hand entgegen. Finn starrte das silbrige Mal in meiner Handfläche an – einen kleinen Kreis, umgeben von acht dünnen Strahlen. Eine Spinnenrune, das Symbol für Geduld und mein Name als Profikillerin.

Finn warf mir einen weiteren schlecht gelaunten Blick zu, aber er ergriff meine Hand und ließ sich von mir auf die Beine ziehen. Er mochte ja mein Ziehbruder sein, aber er verlor nicht gern bei unseren Kriegsspielen. Und dasselbe galt für mich.

»Also, was glaubst du, wo der alte Mann ist?«, fragte Finn und starrte über den Steinbruch hinweg.

Ich erstarrte. »Du hast ihn nicht gesehen? Das bedeutet …«

Ein roter Punkt erschien auf Finns Brust. Bevor ich reagieren konnte, bevor ich mich auch nur ansatzweise bewegen oder versuchen konnte, mich zu ducken, schoss der Punkt zu meiner Brust, um dort direkt über meinem Herz zu verweilen.

Verdammt. Mein Verdruss kehrte zurück, gepaart mit mehr als nur ein wenig Wut. Auf ihn, weil er so ein hinterhältiger Mistkerl war, aber hauptsächlich auf mich selbst, weil ich auf einen so einfachen Trick hereingefallen war.

»Das bedeutet, dass ich euch gerade beide umgebracht habe«, sagte eine tiefe Stimme.

Finn hatte sich den besten Platz ganz vorn auf dem Vorsprung zwischen den Kiefern gesichert, aber links klammerten sich ein paar kümmerliche Rhododendron-Büsche an den Felsen, zusammen mit einem Brombeergebüsch. Die Büsche und dornigen Äste bewegten sich, als der alte Mann aufstand und sich langsam aus dem dichten Haufen aus Blättern und Ästen löste.

Er trug ein kurzärmeliges blaues Arbeitshemd und eine einfache Stoffhose. Seine Füße steckten in braunen Stiefeln. Sein Haar war inzwischen eher silbern als walnussbraun, mit einer Schmalzlocke auf der Stirn. Dünne Falten umrahmten seine Augen und seinen Mund und ließen das Leben erahnen, das er in seinen über sechzig Jahren geführt hatte. Trotzdem, seine Augen waren von demselben strahlenden Grün wie Finns und genauso scharf und klar. Auf seiner linken Schulter lag ein Gewehr mit Laserzielvorrichtung – die Waffe, die er verwendet hatte, um uns zu »töten«.

Fletcher Lane. Finns Dad. Mein Mentor. Der Profikiller mit dem Namen »Zinnsoldat«.

»Du hättest dich davon überzeugen müssen, dass du der Einzige mit der cleveren Idee bist, diesen Vorsprung als Hochsitz zu nutzen«, sagte Fletcher, den Blick auf seinen Sohn gerichtet. »Ich war bereits seit zwanzig Minuten hier oben, als du endlich aufgetaucht bist.«

»Ich weiß, ich weiß«, grummelte Finn. »Es gibt einfach keine originellen Ideen mehr, besonders im Profikiller-Business.«

Fletcher nickte, bevor er den Blick auf mich richtete. »Und du hättest dafür sorgen müssen, dass er allein ist, bevor du dich ihm näherst. Dass niemand auf der Lauer liegt, um euch beide zu töten.«

Bei mir klang er um einiges strenger als bei Finn. Das war verständlich, da mich Fletcher als Profikillerin ausbildete – mir beibrachte, »die Spinne« zu sein –, wie er es tat, seitdem er mich mit dreizehn Jahren von der Straße geholt hatte.

Ich nickte ihm kurz zu und schaffte es irgendwie, keine Grimasse zu ziehen. Die Röte, die in meine Wangen stieg, konnte ich allerdings nicht unterdrücken, obwohl ich inzwischen zwanzig Jahre alt war. Fletcher schaffte es immer noch, dass ich mich fühlte wie das kleine Mädchen, das keine Ahnung hatte, wie es sich selbst verteidigen sollte. Sieben Jahre der Ausbildung und er hatte mich besiegt – mal wieder. Nicht, weil er zäher oder stärker war oder mehr Magie besaß, sondern einfach, weil er klüger vorging.

Fletcher erklärte mir immer, ich solle die Dinge langsam angehen; ich solle erst nachdenken, abwarten und Pläne schmieden. Aber ich hatte die Möglichkeit erkannt, Finn zu schlagen, also hatte ich sie ergriffen, ohne Fletchers Ratschläge zu befolgen. Meine Handlungen hatten mir genau eines eingebracht: meinen Tod. Zumindest theoretisch. Fletcher hatte recht. Ich hätte es besser wissen müssen.

Ich musste es besser wissen oder ich würde eines Tages wirklich sterben.

Fletcher starrte mich noch einen Moment an, bevor er wieder nickte, davon überzeugt, dass ich meine Lektion gelernt hatte, zumindest für den heutigen Tag. »In Ordnung. Ich denke, das reicht.«

»Endlich«, murmelte Finn und bückte sich, um sein Gewehr vom Boden aufzusammeln. »Wir sind bereits seit drei Stunden hier. Ich dachte schon, dieser Tag würde nie enden.«

»Oh. Das würdest du nicht sagen, wenn es dir auch nur ein einziges Mal gelungen wäre, mich zu erledigen«, zog ich ihn auf. »Du musst nicht schmollen, nur weil ich dich fünf Mal getötet habe, seitdem wir hier sind.«

Finn kniff die Augen zusammen. Bevor wir Scharfschütze gegen Profikiller gespielt hatten, hatten wir ein paar Mal Frau gegen Mann gekämpft und ich hatte jedes Mal mühelos gewonnen. Und ich hatte es geliebt, da das die eine Aktivität war, in der schnelles, entschiedenes Vorgehen Vorteile bot und es nicht um die langsame, Abwarten-und-Teetrinken-Herangehensweise ging, die Fletcher so liebte.

»Was auch immer«, brummelte Finn. »Ich muss jetzt los. Ich muss arbeiten.«

»Musst du noch mehr langweilige Berichte für deinen Sommerjob lesen?«

Er rümpfte die Nase. »Diese Berichte sind nicht langweilig und es ist nicht irgendein dämlicher Sommerjob. Es ist ein Berufspraktikum bei einer der renommiertesten Banken von Ashland. Wenn ich meine Karten richtig ausspiele, könnte das zu einer Festanstellung führen.«

Sein hochmütiger Tonfall sorgte dafür, dass ich die Augen verdrehte. Finn war vor Kurzem dreiundzwanzig geworden und beendete mit diesem Praktikum seinen Master of Business Administration und irgendeine Art von Buchhalterausbildung, die er an der Universität von Bigtime, New York, absolviert hatte. Mit seinem neuen Job und den schicken Anzügen hielt Finn sich für absolut supertoll.

»Was auch immer. Ich würde lieber im Pork Pit kochen, als jeden Tag in einer muffigen, alten Bank herumhocken.«

Finn schnaubte, doch sonst reagierte er nicht auf meine Stichelei.

Fletcher kommentierte unser Gefrotzel nicht. Er hatte schon vor Langem jeden Versuch aufgegeben, den Schiedsrichter zu spielen.

»Kommt«, sagte der alte Mann stattdessen. »Ich will nach Hause und etwas essen.«

 

Wir kletterten mithilfe eines Seils, das Fletcher mitgebracht hatte, wieder auf den Grund des Steinbruchs, stiegen in seinen verbeulten, alten Van und fuhren zurück in die Stadt. Eine halbe Stunde später setzte Fletcher Finn vor einem Apartmentgebäude in der Innenstadt ab.

»Kommst du morgen zum Mittagessen ins Restaurant?«, fragte er seinen Sohn durchs offene Fenster.

Finn zögerte. »Ich versuche es. Hängt von der Arbeit ab. Ich rufe an und gebe dir Bescheid, okay?«

Fletcher nickte lächelnd, trotzdem erkannte ich den Schmerz, der kurz in seinen Augen aufblitzte. Finn war diesen Sommer nicht oft im Pork Pit aufgetaucht, sondern hatte mehr Zeit in dieser dämlichen Bank verbracht als mit seinem Dad. Die Tatsache, dass er so gedankenlos mit Fletcher umging, sorgte dafür, dass Wut in meiner Brust aufflackerte. Finn sollte dankbar sein, dass er noch einen Dad hatte … besonders einen wie Fletcher. Doch ich hielt den Mund. Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren. Er war sogar noch sturer als ich.

Finn winkte seinem Dad zu, dann verschwand er im Gebäude. Von mir allerdings verabschiedete er sich nicht. Anscheinend war er immer noch sauer, dass ich ihn heute so viele Male besiegt hatte. Ich grinste. Selbst schuld.

Fletcher legte den Gang ein und fuhr durch die Innenstadt nach Hause, wobei wir am Pork Pit vorbeikamen. Da es bereits nach neun Uhr abends war, hatte das Restaurant geschlossen, auch wenn das Neon-Schwein über der Eingangstür in fröhlichen Farben leuchtete. Der Anblick schaffte es immer, mich aufzuheitern.

»Weißt du, mir ist aufgefallen, dass in dem Gebäude gegenüber vom Pit mehrere Wohnungen zu vermieten sind«, sagte ich, wobei ich mich bemühte, meine Stimme locker zu halten, während ich aus dem Fenster deutete. »Siehst du das Schild da? Ich dachte, ich könnte mal anrufen und fragen, wie hoch die Miete so wäre.«

Fletchers einzige Reaktion bestand aus einem leisen Brummen. Finn hatte seine eigene Wohnung und auch ich wollte gern aus Fletchers Haus ausziehen.

Ich liebte den alten Mann wirklich, aber ich war eine Profikillerin. Ich war die Spinne. Fletcher schickte mich schon seit einer Weile allein los. Ich fand einfach, ich sollte meine eigene Wohnung haben, mein eigenes Refugium – statt der Nische, die ich mir in Fletchers unordentlichem Haus geschaffen hatte.

»Also?«, fragte ich ungeduldig. »Was denkst du? Wegen der Wohnung?«

Fletcher starrte aus der Windschutzscheibe und sah keinen Moment zu mir. »Wir werden sehen.«

Ich wollte nachhaken, mit ihm diskutieren, bis er Ja sagte, doch ich zwang mich, abzuwarten, obwohl das dazu führte, dass ich mit den Zähnen knirschte.

Allerdings sagte Fletcher sonst kein Wort.

Wenn Finn und ich stur waren, war Fletcher das gleich zweimal, daher wusste ich, dass schon eine Vierteilung durch wilde Pferde nötig gewesen wäre, um ihm ein Wort zu entlocken, bevor er von sich aus etwas sagen wollte.

Es fiel mir schwer, aber ich zwang mich, meine Kiefermuskulatur zu lockern. Allerdings konnte ich mich nicht davon abhalten, mit den Fingern frustriert gegen das Fenster zu trommeln. Während ich durch die Scheibe auf die vorbeifliegende Stadt starrte, fragte ich mich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis der alte Mann endlich verstand, dass ich erwachsen war.

3

Zwanzig Minuten später hielt Fletcher den Van vor seinem Haus an, das oben auf einem der vielen Bergkämme stand, die sich als Ausläufer der Appalachen um und durch Ashland zogen.

Ich sprang aus dem Wagen und ging zur vorderen Veranda, bereit, mir den ganzen Dreck, Staub und Schweiß von unserem Kriegsspiel vom Körper zu waschen. Doch Fletcher blieb im Van sitzen, wie er es immer tat. Er ließ seinen Blick über die dunklen Wälder auf einer Seite des Hauses gleiten, bevor er sich genau auf dem Hof umsah und auch die Felskante musterte, die den Rand des Grundstücks markierte.

Ich hatte wirklich keine Ahnung, wieso er sich die Mühe machte. Fletcher war als Zinnsoldat sehr vorsichtig, verwendete alle möglichen Absicherungen, Aliase und Hintertüren, um Aufträge anzunehmen, und er achtete noch viel sorgfältiger darauf, an den Orten seiner Verbrechen keine Hinweise auf seine wahre Identität zu hinterlassen. Auf keinen Fall konnte jemand das, was er tat – was wir jetzt taten –, zu uns zurückverfolgen. Doch jedes Mal, wenn wir nach Hause kamen, hielt er trotzdem inne, sah sich um und lauschte, als rechnete er jeden Moment mit einem Angriff.

Ich seufzte und wartete neben der Eingangstür, die Arme vor der Brust verschränkt, während ich mit dem rechten Fuß einen ungeduldigen Rhythmus aufs Holz trommelte. Vorsicht war ja gut und schön, aber das hier konnte man gut und gern der Paranoia zuordnen.

Nach ungefähr drei Minuten war Fletcher endlich davon überzeugt, dass niemand auf der Lauer lag, um uns zu töten, also stieg er aus dem Van und kam aufs Haus zu. Er schob den Schlüssel ins Schloss und drehte den Knauf, um die Tür zu öffnen … aber das Holz gab nicht nach.

»Dämliche Tür«, murmelte er. »Wenn es feucht ist, verzieht sich jedes Mal das Holz. Ich sollte endlich diese Granittür einbauen lassen, über die ich schon so lange nachdenke.«

Ich verdrehte die Augen. Das Haus war schon jetzt ein unförmiges Monster. Über die Jahre hatte es mehrere Besitzer gehabt, von denen jeder einen oder zwei Räume angebaut hatte. Jeweils in verschiedenen Stilen, Farben und Baumaterialien, inklusive weißen Schindeln, braunen Ziegeln und grauem Stein. Fletcher hatte die Seltsamkeit des Hauses noch verstärkt, indem er vor ein paar Monaten ein glänzendes Blechdach und kohlenschwarze Fensterläden hatte nachrüsten lassen. Ich fragte mich ständig, wieso er nicht einfach das ganze Gebäude generalüberholen ließ, sodass es ein einheitliches Aussehen bekam, aber ihm schienen die seltsamen Winkel und nicht zueinanderpassenden Materialien zu gefallen. Eine Tür aus schwarzem Granit würde sich wahrscheinlich perfekt in die seltsame Fassade fügen.

Fletcher rammte seine Schulter gegen das Holz und endlich öffnete sich die Tür mit einem lauten Quietschen.

Wir betraten das Haus, das von innen genauso verbaut wirkte wie von außen, dann trennten wir uns. Ich eilte nach oben, sprang unter die Dusche und warf mir anschließend eine kurze, rosafarbene Pyjamahose mit einem Muster aus leuchtend grünen Limetten sowie ein weißes T-Shirt über, bevor ich mich in einen blauen Baumwollbademantel wickelte. Dann ging ich wieder nach unten in die Küche, um etwas zu essen zu machen.

Ich wühlte im Kühlschrank herum und schnappte mir kalten Braten, Käse und mehr, bevor ich alles zum Tresen trug, wo ein frischer Laib von Sophias Sauerteigbrot wartete. Leise summend belegte ich mir ein Sandwich mit dünnen Scheiben vom geräucherten Truthahn und dem Honigschinken, dicken Stücken des Cheddarkäses, süßen, frischen Salatblättern, ein paar roten Zwiebelringen sowie frisch aufgeschnittenen Tomaten mit Salz und Pfeffer, und veredelte alles mit einer ordentlichen Schicht Mayonnaise, einem Klacks Senf und noch einer Scheibe Brot. Drei Minuten später lag das perfekte Sandwich vor mir.

Zu hungrig, um mir einen Teller zu holen, blieb ich an der Arbeitsfläche stehen und grub meine Zähne tief in die Köstlichkeit. Die Tomaten jagten säuerliche Frische in meine Geschmacksknospen, verstärkt durch die cremige Mayonnaise. Die zwei verschiedenen Fleischsorten bildeten die perfekte Kombination aus rauchig und süß, während der Salat und die Zwiebeln dem Ganzen einen gewissen Biss verliehen. Eilig verschlang ich das erste Sandwich und machte ein weiteres.

Fletcher betrat die Küche, immer noch in seiner blauen Arbeitskleidung, wenngleich er sich die Zeit genommen hatte, Gesicht und Hände zu waschen. Er kam zu mir. »Das sieht gut aus.« Noch während er sprach, knurrte sein Magen.

Ich gab Fletcher das fertige Sandwich und machte ein weiteres. Er legte das Brot auf eine Serviette, goss sich ein Glas von dem Eistee ein, den ich am Morgen gemacht hatte, und trug alles ins Wohnzimmer. Ich rechnete damit, dass er den Fernseher einschaltete, doch es blieb still im Raum. Ich blieb in der Küche und aß mein zweites Sandwich, um dann den Kühlschrank zu öffnen, weil ich mich fragte, was sich als Dessert anbot. Es gab noch ein paar Schokoladen-Cookies, die ich gestern gebacken hatte. Vielleicht konnte ich aus ihnen und dem Eis, das noch im Kühlfach war, ein paar einfache Eiscreme-Sandwiches basteln …

»Gin!«, rief Fletcher. »Komm mal bitte.«

Ich seufzte, dann schloss ich den Kühlschrank und lief ins Wohnzimmer, wo Fletcher auf dem verschlissenen Sofa saß. »Ja?«

Er zögerte, dann griff er nach einer Aktenmappe auf dem zerkratzten Couchtisch und wedelte damit.

Sofort vergaß ich das Dessert. »Was ist das?«

»Ein Auftrag … vielleicht.«

Ich setzte mich neben ihn aufs Sofa. »Wieso nur vielleicht?«

Er zuckte mit den Achseln.

Fletcher war kein Elementar, also flüsterten ihm die Steine nie etwas über mögliche Gefahren zu, wie sie es bei mir taten. Doch er hatte mehr als einmal einen Auftrag ausgeschlagen, weil ihm irgendetwas daran spanisch vorgekommen war. Und mehr als einmal hatte er hinterher herausgefunden, dass er recht damit gehabt hatte, den Job nicht anzunehmen. Weil der Auftrag eine Art Falle gewesen wäre; weil der Klient nur vorhatte, die erste Rate zu bezahlen, um sich die Kohle hinterher irgendwie zurückzuholen. Ich mochte meine Magie besitzen, aber Fletcher hörte auf seinen Instinkt.

Er zögerte noch einen Moment, dann gab er mir die Akte. »Ich wollte noch abwarten. Zumindest, bis ich ein paar Dinge herausgefunden habe, wie zum Beispiel, wer genau der Auftraggeber ist und warum er diese Person tot sehen will. Aber anscheinend möchte der Klient seine Anonymität genauso dringend wahren wie ich, denn bisher habe ich nichts herausfinden können.«

»Wie hat er dich kontaktiert?«, fragte ich.

»Ich habe auf eine ziemlich kryptische Anzeige in der Zeitung geantwortet, die sich nach Preisen für Schweinefleisch erkundigt hat, gefolgt von mehreren recht deutlichen E-Mails über einen meiner anonymisierten Accounts.«

Zeitungsanzeigen, nicht nachzuverfolgende E-Mails und Prepaid-SIM-Karten gehörten zu Fletchers Standards, wenn es darum ging, Aufträge anzunehmen, während die Erwähnung von Schweinefleischpreisen einer seiner Codes war. Andere Codes beinhalteten vage Andeutungen auf seltene Märchenbücher, da »der Zinnsoldat« Fletchers Name als Profikiller war. Auf diese Weise musste er nur jeden Morgen die Zeitungen überfliegen, um herauszufinden, ob jemand die Dienste eines Meuchelmörders brauchte, um dann gegebenenfalls auf die Anzeige zu antworten. Selbst dann blieb er anonym. Natürlich holte er alle möglichen Informationen über potenzielle Auftraggeber ein, um Hinterhalten zuvorzukommen und nicht in Fallen zu tappen.

»An der Art, wie der Klient mich kontaktiert hat, ist nichts ungewöhnlich, trotzdem habe ich ein komisches Gefühl.« Er zuckte mit den Achseln. »Doch die Anzahlung ist bereits auf dem Konto eingegangen und alles andere wirkt nicht verdächtig, also dachte ich, wir könnten zumindest darüber reden.«

»Wer ist die Zielperson?«

»Cesar Vaughn. Ein Steinelementar.«

Ich runzelte die Stirn. »Wieso kommt mir der Name bekannt vor?«

»Ihm gehört Vaughn Constructions«, antwortete Fletcher. »In den letzten Jahren ist die Firma ziemlich gewachsen. Du hast den Namen wahrscheinlich schon auf Schildern an Baustellen in der Stadt gesehen. Vaughn und seine Firma haben die meisten der neuen Bürogebäude in der Innenstadt errichtet.«

Ich öffnete die Mappe. Als Erstes entdeckte ich ein Foto von Cesar Vaughn, geschossen bei irgendeinem großen Event. Er trug einen Geschäftsanzug, hielt eine Schaufel voller Erde in den Händen und grinste in die Kamera. Er schien jünger zu sein als Fletcher, vielleicht um die fünfzig, mit grau meliertem Haar, gebräunter Haut und dunkelbraunen Augen. Er strahlte auf dem Foto förmlich, wirkte glücklich und stolz. Aber ich wusste, wie sehr das Äußere täuschen konnte.

Weitere Fotos zeigten Vaughn auf verschiedenen Baustellen. Es sah aus, als wäre er mehr als nur die Galionsfigur der Firma, wenn man bedachte, dass er auf mehreren Bildern Säcke auf Lastwagen auflud, Nägel in Bretter einschlug oder sogar Beton goss. Er schien glücklich damit, neben seinen Angestellten zu schwitzen, denn auf den Fotos lächelte er sogar noch breiter, als genösse er die körperliche Anstrengung, die nötig war, um etwas von Grund auf neu zu bauen.

Eine Großaufnahme zeigte das Logo von Vaughn Constructions. Die Worte waren in einer einfachen Schriftart geschrieben, allerdings sah das V in Vaughn aus, als würden zwei Dornen aufeinander zuwachsen. Anscheinend war das seine Geschäftsrune. Seltsam. Ich hätte bei einem Steinelementar einen Stapel Ziegel oder etwas in der Art erwartet. Ich fragte mich, was die Dornen für Vaughn wohl bedeuteten.

»Und, was hat er angestellt?«

Diese Frage stellte ich immer. Oh, ich wusste durchaus, dass das, was wir taten, nicht richtig war. Wir waren schließlich Profikiller – ausgebildete, skrupellose Mörder, die für jeden arbeiteten, der genug Geld besaß, um unseren Preis zu zahlen. Aber die Leute, die wir erledigten, waren gewöhnlich schlimmer als wir. Niemand zahlte hunderttausend oder sogar eine Million Dollar, um den unhöflichen Klavierlehrer seiner Kinder oder den Barista auszuschalten, der ihnen eine lauwarme Tasse Kaffee serviert hatte. Na ja, gewöhnlich zumindest nicht. Man musste schon etwas tun, um jemanden so richtig sauer zu machen. Man musste eine echte Gefährdung darstellen oder zwischen einer Person und dem stehen, was die Person haben wollte. Erst dann wurden wir angeheuert.

Außerdem hatte Fletcher ein eigenes Regelwerk, dem zu folgen er auch mir beigebracht hatte: keine Kinder, keine Haustiere, keine Folter. Als Unschuldiger landete man also nicht im Fadenkreuz des Zinnsoldaten.

Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, dass wir der Welt einen Gefallen taten, indem wir die Leute umbrachten, die wir eben umbrachten. Wir wurden dadurch beim besten Willen nicht zu guten Menschen, aber wir waren definitiv auch nicht die Bösesten da draußen. Absolut nicht. Nicht in Ashland.

Wieder zuckte Fletcher mit den Achseln. »Könnten verschiedene Dinge sein. Vielleicht hat Vaughn den richtigen Leuten nicht genug Bestechungsgeld zugesteckt und sie sind deswegen wütend. Vielleicht hat er einem Konkurrenten einen Job weggeschnappt. Vielleicht baut er an der falschen Stelle und jemand will, dass er und das Projekt verschwinden.«

Wie bei allen anderen Geschäftszweigen gab es auch für die Baubranche in Ashland gewisse Regeln. Es gab Leute, die man einfach bestechen musste, um Baugenehmigungen oder Material zu bekommen. Das half dabei … Unfälle zu vermeiden – in der eigenen Familie.

»Aber ich nehme an, dass der Auftrag etwas mit dem Vorfall in Northtown vor ein paar Monaten zu tun hat«, fuhr Fletcher fort. »In diesem neuen Einkaufszentrum.«

»Ich erinnere mich. Irgendeine riesige Terrasse ist am Eröffnungsabend über einem Restaurant zusammengebrochen. War groß in den Nachrichten.«

»Fünf Menschen sind gestorben und Dutzende wurden verletzt«, sagte Fletcher. »Sie wissen immer noch nicht, was passiert ist. Aber rate mal, wer das Restaurant und den Rest des Einkaufszentrums gebaut hat.«

»Cesar Vaughn.«

Er nickte.

»Und? Glaubst du, dass ihn jemand für den Unfall verantwortlich macht?«

»Es ist möglich«, meinte Fletcher. »Besonders, wenn Vaughn billige Baumaterialien verwendet oder gepfuscht hat. So lauten zumindest die Gerüchte. Dass er bei den Arbeitern und den Materialien gespart hat und die Terrasse deswegen zusammengebrochen ist. Angeblich bereiten die Angehörigen der Opfer bereits einen Prozess gegen ihn vor, der ihn in den Ruin treiben soll.«

Ich wedelte mit der Aktenmappe. »Sicher, aber wenn jemand Vaughn jetzt umbringen will, klingt das für mich, als wollte diese Person nicht warten, bis der Prozess durch ist und Geld fließt. Der Auftraggeber will Blut sehen.«

Fletcher nickte. »Oder ihm ist bewusst geworden, dass sich ein Prozess über Jahre hinziehen kann, wenn er nicht irgendwann sogar ganz eingestellt wird. Schau dir an, wer sein Anwalt ist.«

Ich blätterte weiter und überflog ein paar Gerichtsakten, die Fletcher mit in den dünnen Ordner aufgenommen hatte. »Jonah McAllister? Aber ich dachte, er wäre Mab Monroes persönlicher Anwalt … der nur für sie arbeitet.«

»Das ist er und das stimmt«, antwortete Fletcher. »Mab besitzt jedoch zufällig ziemlich viele Anteile an Vaughns Firma. Also hat sie ein berechtigtes Interesse daran, jeden Ärger für Vaughn verschwinden zu lassen. Es würde mich nicht überraschen, wenn Elliot Slater bereits ein paar der Opfer-Familien besucht hätte, um sie dazu zu bringen, noch mal über die Klage nachzudenken.«

Slater war der Sicherheitschef von Mab und verantwortlich für ihre Bodyguards. Zumindest stand das in seinem Arbeitsvertrag. Doch alle in der Unterwelt wussten, dass Slater ihr Vollstrecker war – der Mann, der dafür sorgte, dass ihre Befehle ohne Rücksicht auf Verluste ausgeführt wurden. Ein Besuch von Slater war nie angenehm und die meisten endeten mit Blut und gebrochenen Knochen – mindestens.

»Du glaubst, Mab will Vaughn tot sehen? Wenn er von der Bildfläche verschwände, würde es den Hinterbliebenen wahrscheinlich schwerer fallen, einen Prozess anzustrengen.«