Spiritualität Raum geben - Brigitta Schröder - E-Book

Spiritualität Raum geben E-Book

Brigitta Schröder

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Beschreibung

Der Mensch, ganzheitlich betrachtet, ist ein körperliches und geistig-spirituelles Wesen - Körper und Seele benötigen stärkende Nahrung. Dies gilt für die gesamte Lebensspanne des Menschen, insbesondere jedoch für die Lebensphase des Alters, in der er früher oder später häufig tiefgreifende Veränderungen seines Alltags erlebt. Dieses Buch regt dazu an, darüber nachzudenken, wie Menschen mit und ohne Demenz, Angehörige und Begleitende durch Spiritualität Trost, Geborgenheit, Halt und Ermutigung geben und erfahren können. Der Autorin ist es ein großes Anliegen, der Spiritualität praxisnahe Impulse zu geben, um diese nach Bedarf individuell, kreativ und alltagstauglich umzusetzen. Dabei hilft der Blickrichtungswechsel eine Haltung zu entwickeln, die von der Absicht und dem Ziel bestimmt ist, den Menschen in seiner individuellen Vielfalt und Eigenständigkeit wahrzunehmen, zu achten und wertschätzend zu begleiten. "In großer Prägnanz und Anschaulichkeit zeigt uns Sr. Brigitta Schröder in ihrem Buch auf, wie Zuwendung, Neugierde und radikale Menschenorientierung die Beziehung zwischen Betroffenen und Pflegenden verändert." (Dr. Regine Strittmatter, Stiftungsdirektorin der Stiftung Diakoniewerk Neumünster - Schweizerische Pflegerinnenschule, Zollikerberg) "Eine wirkliche Bereicherung für jene, die ratsuchende oder auf Hilfe angewiesene Menschen in Krisen- bzw. in Grenzsituationen begleiten. Zudem für jene, die Impulse für die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Spiritualität suchen und dankbar aufgreifen." (Univ.-Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Dipl.-Psych. Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg)

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Die Autorin

Brigitta Schröder, Krankenschwester und Schweizer Diakonisse, ist Supervisorin DGSv, Lebens- und Trauerbegleiterin. Weitere Informationen zur Autorin, ihrem Konzept des »Blickrichtungswechsels« und den von ihr angebotenen Fort- und Weiterbildungen finden sich unter www.demenz-entdecken.de sowie www.blickrichtungswechsel-bs.com.

Brigitta Schröder

Spiritualität Raum geben

Wie der Blickrichtungswechsel Menschen mit und ohne Demenz ermutigen kann

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-038012-7

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-038013-4

epub:     ISBN 978-3-17-038014-1

mobi:     ISBN 978-3-17-038015-8

Inhalt

Geleitwort von Andreas Kruse

Geleitwort von Regine Strittmatter

Einleitung

1     Blickrichtungswechsel einüben

Lebensstufen

2     Religiosität versus Spiritualität

3     Praxisnahe, erlebte Spiritualität

3.1 Einfühlsam und liebevoll begleiten, bis zum Lebensende

3.2 Kunst, Kultur, Spiritualität

3.3 Erlebte Spiritualität während der Corona-Zeit

3.4 Menschen mit Demenz gemäß ihren Bedürfnissen begleiten

3.5 Menschen mit Demenz auf Entdeckungsreise im Museum

3.6 Spiritualität: eine Sprache des Herzens bei Menschen, die verstummen

4     Individuelle spirituelle (Lebens-)Wege

4.1 Frau B.: Glaube wächst auch auf krummen Wegen

4.2 Frau S.: Gott suchen und finden in der Stille und in Begegnungen

4.3 Frau H.: Woher ich komme und wohin ich gehe

4.4 Frau D.: Mein Weg zur Spiritualität

4.5 Herr K.: Der spirituelle Weg eines Studenten

4.6 Herr W.: Spiritualität als Subtraktion

4.7 Herr W.: Was uns Denkmodelle und Sprachen lehren können

4.8 Frau T.: Wie die Erkrankung an einer Frontotemporalen Demenz Leben und Beziehung verändert

4.9 Frau N.: Geborgenheit und Gottvertrauen

4.10 Frau D.: der spirituelle Weg als Reise zum wahren Ich

5     Menschen mit Demenz spirituell begleiten

5.1 Demenz – mehr als »Vergesslichkeit«

5.2 Gelebte Spiritualität im Rahmen von Gottesdiensten

Gestaltung eines sinnlichen Gottesdienstes in einer Stadtkirche

Gottesdienste innerhalb einer Senioren-Einrichtung

»Sternstunden« in einer Senioren-Einrichtung gestalten

Ökumenischer Gedenkgottesdienst für verstorbene

5.3 Praktische einsetzbare Rituale

5.4 Berührungen, die als Kraftspender wirken

6     Spirituelle Projekte in der Praxis

6.1 Das Institut Neumünster – Spiritualität, mitten im (Pflege-)Alltag

Spiritualität bewegt

Spiritualität wahrnehmen

Den Alltag durchlässig machen

6.2 Kreuzeskirche in Essen – Eine Vision wird Wirklichkeit

6.3 Das Projekt demenz.begeistert – Wohlbefinden für Menschen mit Demenz durch gelebte Spiritualität

6.4 Gleichwertigkeit der Gesellschaft, Kulturen und Religionen – ein Projekt in Essen

6.5 Der »Chor für’s Leben Essen e. V.« – Gemeinsamkeit, die berührt und Halt gibt

6.6 Das Projekt: Wohlfühloase »Cube«

6.7 AAA Achtsame Abend Auszeit

6.8 Erlebte spirituelle Angebote

Meditatives Abendgebet – Das Neue

Eine weitere Erneuerung

Noch ein Beitrag

7     Mein persönlicher Glaubensweg

Dankesworte

Anhang

Lieder

Hilfreiche, weiterführende Adressen

Wichtige Web-Links

Empfohlene Literatur zur Vertiefung

 

Geleitwort von Andreas Kruse

 

 

 

Die Autorin Brigitta Schröder legt ein überzeugendes und bewegendes Buch vor. Dieses Buch überzeugt mit seinen Argumenten für eine deutlich stärkere Berücksichtigung spiritueller (oder religiöser) Themen in einem emotional intimen Austausch: Es legt dar, wie sehr sich in diesem Austausch das »Geistige« des Menschen ausdrücken, ich würde es nennen: aktualisieren kann. Dieser Prozess der Selbstaktualisierung ist, folgt man der Autorin bzw. jenen Autoren, die sie zu Wort kommen lässt, nicht nur bei kognitiv gesunden Menschen erkennbar, sondern auch bei Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind; in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Demenz vermittelt sich diese Aktualisierung immer weniger durch das Wort und immer mehr durch Mimik und Gestik.

Dieses Buch bewegt, weil es uns Anteil nehmen lässt an dem, was man mit dem Philosophen Henri Bergson (1859–1941) als unendlich fortdauernden psychischen Geschehensfluss charakterisieren kann. Die Psyche ist permanent im Fluss und erweist sich bei genauer Betrachtung als ungemein schöpferisch. Der Autorin ist es gelungen, diese schöpferischen Qualitäten der Psyche zum Ausdruck zu bringen bzw. einmal mehr lebendig werden zu lassen. Dabei stützt sie sich auch auf eindrucksvolle biografische Dokumente von Frauen und Männern unterschiedlichen Alters. Diese Dokumente wie auch die behutsam vorgenommenen Deutungen durch die Autorin zeigen uns, wie wichtig es ist, sich in den psychischen Geschehensfluss eines Menschen »einzuschwingen«. Und dieses Sich-Einschwingen erweist sich auch bei Menschen mit einer Demenz als ein Geschehen, in dessen Verlauf wir über die Psyche sehr viel erfahren und lernen.

Zu diesen Lernerfahrungen gehören die unterschiedlichen Ausdrucksformen der Spiritualität. Die Vielfalt dieser Ausdrucksformen richtet an Begleiterinnen und Begleiter, an Zuhörerinnen und Zuhörer die Aufgabe, sich gegenüber der Spiritualität (oder der Religiosität) einer Person zu öffnen, diese nicht als etwas »abzutun«, was in der heutigen Zeit »nicht mehr zählt«. In der diskreten Form, die in diesem Buch gewählt wird, sehen sich vielleicht auch jene Menschen ermutigt und ermuntert, sich mit »ihrer« – vielleicht noch verdeckten – Spiritualität auseinanderzusetzen, für die diese bislang möglicherweise noch kein Thema gewesen ist.

Eine wirkliche Bereicherung für jene, die ratsuchende oder auf Hilfe angewiesene Menschen in Krisen- bzw. in Grenzsituationen begleiten. Zudem für jene, die Impulse für die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Spiritualität suchen und dankbar aufgreifen.

Heidelberg, im Mai 2021, Univ.-Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Dipl.-Psych. Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

 

Geleitwort von Regine Strittmatter

 

 

 

Wenn wir suchend unterwegs sind mit der Frage, was Menschen gesund erhalte und ihnen auch in schwierigen Zeiten, bei Krankheit oder nahendem Tod eine ureigene Ressource sei, finden sich viele Antworten und eine Erkenntnis: soziale Bezogenheit und Sinnhaftigkeit. Damit sind wir mittendrin im Thema Spiritualität. Diese ist der Raum für existentielle Dimensionen menschlichen Seins jenseits rationaler Erschliessbarkeit. Geborgenheit, Hoffnung und Sinnhaftigkeit sind spirituelle Alltagserfahrungen, geboren aus der Beziehung zu anderen, die Beziehung zu sich selbst erst ermöglicht. Für niemanden gibt es eine Perspektive aus dem Nirgendwo ohne Gegenüber. Wir werden unser Leben lang geprägt von Menschen und wir prägen Menschen. Andere sind der Spiegel, in dem wir uns kennen lernen, reflektieren und entwickeln – bis ans Lebensende, ob gesund oder an Demenz erkrankt.

In grosser Prägnanz und Anschaulichkeit zeigt uns Brigitta Schröder in ihrem Buch auf, wie Zuwendung, Neugierde und radikale Menschenorientierung die Beziehung zwischen Betroffenen und Pflegenden verändert. Sie appelliert an unsere Fähigkeiten, achtsame Begleiterinnen und Begleiter von Menschen mit Demenz zu werden, die immer wieder aufs Neue versuchen, die Welt aus der ihrigen, so anderen Perspektive zu sehen und zu verstehen. Aus diesem Verstehen entwickeln sich im Betreuungsalltag andere Angebote für Tun und Handeln, entstehend aus der momentanen Bedürfniswelt und tief verwurzelten biographischen Erinnerungsspuren.

Spiritualität als geistige Verbindung zum Nicht-Verstehbaren und als Staunen, Spiritualität als intensive und unmittelbare Erfahrung von Natur und Kultur, Spiritualität als Hilfe, das Unverfügbare und Unabänderliche zu respektieren – zusammen mit sozialer Bezogenheit sind das heilsame Elemente in der Arbeit mit Menschen, deren Erkrankung nicht heilbar ist. Sie geben sowohl den Betroffenen als auch den Pflegenden die Sicherheit, dass selbst in Grenzsituationen Geborgenheit, Hoffnung und Sinn zu finden ist – im Bewusstsein der unverlierbaren Würde menschlichen Lebens.

Viel Leben, Erfahrung, alltagstauglich Hilfreiches, Ermutigendes, Buntes finden Raum auf den nächsten Seiten. Gut hat Brigitta ihre an sich gerichtete Frage, ob sie in ihrem Alter nochmals ein Buch schreiben möchte, positiv beschieden.

Dr. Regine Strittmatter, Stiftungsdirektorin der Stiftung Diakoniewerk Neumünster – Schweizerische Pflegerinnenschule, Zollikerberg

im April 2021

 

Einleitung

 

 

 

Prüfend stelle ich mir die Frage, ob ich in meinem Alter nochmals ein weiteres Buch schreiben möchte. Vom Kohlhammer Verlag ist der Wunsch an mich herangetragen worden, das Thema »Spiritualität« in einfacher, praxisnaher Form zu beschreiben, Impulse weiterzugeben, um sie alltagstauglich umsetzen zu können. Das motiviert mich in Anbetracht einer ganzheitlichen Sichtweise darüber nachzudenken, wie Menschen mit Demenz, Angehörige und Begleitende durch Spiritualität Trost, Geborgenheit, Halt und Ermutigung vermittelt werden kann.

Je länger ich mich damit beschäftige, desto eindeutiger spüre ich, dass es sinnvoll ist, der »Spiritualität« praxisnahe Impulse zu geben, um diese nach Bedarf individuell und kreativ umzusetzen. Solches Vorgehen gibt Orientierung, ist wie ein Anker und bereichert das Geben und Nehmen. Es ist keine Frage der Zeit, sondern eine der Haltung, letztere ist entscheidend. Wer sich Zeit nimmt, gewinnt Zeit!

Ich freue mich und bin allen Personen sehr dankbar, die für dieses Buch persönliche, wertvolle Beiträge zur Verfügung gestellt haben. Sie beschreiben in Offenheit den Weg ihrer Spiritualität und wie sie das Erfahrene leben lernen. Ihre Texte sind eine besondere Bereicherung, stärken und ermutigen, den eigenen Weg zu suchen, zu finden und zu gehen.

Der Mensch, ganzheitlich betrachtet, ist ein körperliches und geistig-spirituelles Wesen. Brot allein gibt dem Leben noch keinen Sinn. Körper und Seele benötigen stärkende Nahrung. Das ist in den unterschiedlichsten Lebensphasen zu beachten, besonders wenn Menschen ihre Privatsphäre, ihr Zuhause aufgrund ihres Alters und ihrer besonderen Lebensumstände verlassen müssen, um in eine Einrichtung einzuziehen. Aus diesem Grund liebe ich den Slogan dieser Institution, in der ich wöchentlich beim Besuchsdienst ein- und ausgehe: »Mehr Leben statt Pflegen«.

Menschen mit Demenz benötigen in ihrem Dasein eine ganzheitliche Begleitung. Sie spüren und nehmen Wertschätzungen viel besser wahr, als wir denken. Sie leben nur auf einer anderen Daseinsebene und sind wie Seismografen. Menschen mit Demenz haben, trotz ihrer Veränderungen, das Recht wertschätzend und individuell begleitet zu werden und weiterhin als Persönlichkeit in der Gesellschaft Integration und Teilhabe zu erleben.

Mein Anliegen ist es, eine praxisnahe Unterstützung anzubieten, um individuell und prozessorientiert vorzugehen, um eine Haltung zu entwickeln, die bei jedem persönlich beginnt und durch Selbstreflexion zu mutigen Schritten in die Selbstannahme und Selbstliebe führt.

Das erste Buch mit dem Titel »Blickrichtungswechsel. Lernen mit und von Menschen mit Demenz« ist 2010 im Selbstverlag veröffentlicht worden. Der Kohlhammer Verlag hat die Publikation der 2. Auflage übernommen, was mich spürbar entlastet hat. Inzwischen ist die 4. Auflage erschienen.

2010 hatte ich genügend Zeit, mich mit dem damals für mich ganz neuem Thema, das mich faszinierte, zu beschäftigen. Ich bin dankbar, dass mir der Verlag für dieses Buch eine Lektorin zur Seite gestellt hat.

In der Zwischenzeit sind über Demenz so viele Bücher, wissenschaftliche Arbeiten und Konzepte geschrieben und Projekte durchgeführt worden. Entscheidend ist für die heutige Gesellschaft, besonders auch im Umgang mit Menschen mit Demenz, eine Haltung zu entwickeln, die von der Absicht und dem Ziel bestimmt ist, den Menschen in seiner individuellen Vielfalt und Eigenständigkeit wahrzunehmen, zu achten und leben zu lassen. Selbstreflexion ist zu fördern, um Eigenverantwortung zu übernehmen.

Vielfach wird mit dem Finger auf Andere gezeigt, z. B. auf Politiker: diese sollen, müssen, haben das oder jenes zu tun. Das jedoch ist einfacher gesagt als getan. Wie schnell wird vergessen, dass drei Finger auf mich selbst gerichtet sind, wenn ich mit einem Finger auf Andere zeige. Sichtbar wird zugleich, dass es bei mir selber, beim Einzelnen anfängt. Ich gehöre zum Ganzen und bin mitverantwortlich, wie die Gesellschaft sich weiterentwickelt.

Einen individuellen Blickrichtungswechsel einzuüben ist ein lebenslanger, lernender, authentischer Prozess. Ein erster Schritt ist, den Weg zu sich selbst zu finden. Toleranz mit sich selber einzuüben, sich ganzheitlich annehmen, sich selber zu loben und zu lieben ist für viele eine besondere Herausforderung, weil es nicht gelehrt wird. In meiner Generation wurde den Kindern und jungen Menschen vermittelt »Eigenlob stinkt!«. Ich habe es verändert in »Eigenlob stimmt!«. Das bedeutet, sich ganzheitlich mit allen Ecken und Kanten zu bejahen und sich selbst liebend anzunehmen.

Trotz meiner Bedenken will ich es wagen, meine Gedanken aufzuschreiben, denn Spiritualität hat in jeder Lebenslage Sinn gebende Bedeutung und ist ein Lebenselixier.

Mein Mentor Prof. em. Konrad Pfaff, Soziologe, Gründer des Seniorenstudiums in Dortmund, hat mich gefördert und gefordert und mir folgenden Text mit auf den Weg gegeben.

Genieße deine Spiritualität

Ich glaube an jeden Gott in jedem Menschen.

Ich glaube an die geschwisterliche Gleichheit

durch unser tiefes weites Selbst.

Ich glaube an den Anfang und den Mut.

Ich glaube an den Weg, die Reise und die Hoffnung.

Ich glaube an das Jetzt und nicht an das Vorgestern und Übermorgen.

Ich glaube verzagt.

Ich suche, zweifle, richte mich aus und auf.

Ich glaube an mein Selbst in jedem Du,

an die tiefe Basis der Verbundenheit der Erwachten.

Raum zur Selbstreflexion

Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort. Dort treffen wir uns.

nach Rumi (13. Jh.)

Gott wohnt in jedem Menschen, und wenn wir ihn finden wollen, dann können wir ihm nur in den Tiefen unseres Herzens begegnen, dort ist er zu Hause. Das ist der einzige Ort, an dem Gott wohnt.

Rabindranath Tagor (1861–1914)

 

1          Blickrichtungswechsel einüben

 

 

 

Jede neue Beschreibung und Definition des Begriffs »Blickrichtungswechsel« ist weder ein Richtungs- noch Perspektivenwechsel, sondern eine Drehung um 180°, bringt mich einen Schritt weiter. Er wird umfassender, verständlicher und mein Anliegen wird adäquater vermittelt.

Der Blickrichtungswechsel ist ungeeignet für ein Konzept, denn er würde an Inhalt und Umsetzung verlieren. Ich kann nur Impulse weitergeben, die individuell umzusetzen sind, denn jeder Lebensweg ist einmalig.

Die Beziehung zur Urquelle, zum Unfassbaren, das, was Größer ist als ich selbst, ist so unterschiedlich, wie der Daumenabdruck oder wie das Blatt am Baum. Wird die Sicht der Blickrichtung verinnerlicht und gelebt, verblasst die Dualität, Reglementierungen entfallen. Das Entweder-oder wird zum Sowohl-als-auch, statt dem Schwarz-weiß-Denken entstehen Grautöne. Die hierarchische Sichtweise wird zum Miteinander auf Augenhöhe im Geben und Nehmen. Der gegenseitige Respekt, die Toleranz und die umfassende Liebe werden gefördert und gelebt.

Lebensstufen

Auch in diesem Buch werde ich die (aus meinen früheren Büchern) bekannten und vertrauten Skizzen einfügen. Bilder prägen sich besser ein als Worte, und Wiederholungen vertiefen. Der Blickrichtungswechsel ist ein Prozess, der lebenslang einzuüben ist.

Bei der Umsetzung bin ich auf unterschiedliche Gegenüber angewiesen, denn sie erklären, ergänzen, spiegeln, ermutigen. Vier Augen sehen mehr als die eigene Sichtweise.

Im Internet finden sich zahlreiche Bilder, die darstellen, wie man sich vor etwa 120 Jahren das Stufenalter bzw. die »Lebenstreppe« des Menschen vorstellte. Es fängt bei Adam und Eva an. Stufe um Stufe geht es aufwärts bis zum Höhepunkt. Dann geht es abwärts bis zum Zittergreis, der in sich geknickt auf dem Stuhl sitzt.

Diese Darstellung betont das Defizitäre, das Abnehmen, das weniger Werden im Alter. Verminderte Leistungsfähigkeit und Produktivität geben in unserer Gesellschaft dem Minderwertigkeitsgefühl Raum. Älter werdende Personen sind auf Unterstützung der Jüngeren angewiesen. Das ist oft schwer anzunehmen, weil der Wunsch, das Bedürfnis nach Autonomie auch im Alter dominieren. Die äußere Arbeit älterer Menschen verblasst und ihre innere Arbeit wird intensiver. Weshalb wird das nicht früher eingeübt? Kommt ein Erdenbürger auf die Welt, hat er sich auch wieder zu verabschieden. Weshalb wird dieser Weg so verdrängt, statt sich frühzeitig damit zu beschäftigen und sich darauf vorzubereiten?

Stattdessen wird zumeist versucht, das Älterwerden zu verdrängen. Anti-Aging wird großgeschrieben. Warum nicht Happy-Aging?

Jede Lebensphase geht aus meiner Sicht und Erfahrung mit besonderen Fähigkeiten einher, die es sich lohnt, sie zu entdecken und zu leben. Weshalb wird das weder vermittelt noch eingeübt?

Im Alter verblassen körperliche Fähigkeiten. Dafür können sich andere Kompetenzen entfalten, wenn die Bereitschaft da ist, diese Lebensphase anzunehmen und entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Kinder sind zu loben, damit sie wachsen können. Wir älteren Menschen brauchen Lob, dass uns Flügel wachsen und wir davonfliegen können. Aus diesem Grund spreche ich nie »es wird weniger«. Nein, es wird mehr, weil uns Flügel wachsen, um davon zu fliegen.

Glücklicherweise wird mit den sog. Babyboomern, also der nach dem II. Weltkrieg bis etwa Mitte der 1960er-Jahre geborenen Menschen eine Generation eines Tages in Senioren-Einrichtungen kommen, deren Sichtweise und Haltung hoffentlich weniger durch das Defizitäre geprägt sein wird.

Ich genieße in meinem Alter einen beneidenswerten Freiraum. Ich muss nicht mehr müssen, bin frei von Systemen, Konventionen und Reglementierungen und kann mich stattdessen an meinen, Wilhelm Busch entliehenen Slogan halten: »Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.«.

Abb. 1.1: Lebensphasen in der westlichen Kultur

Mit der Geburt beginnt jeder Mensch das Leben in der Horizontalen, auf der Gefühls- und Herzensebene. Schritt für Schritt lernt der Säugling dazu, wird Kleinkind, lernt sitzen, stehen, gehen, wird – entsprechend den Traditionen und Regeln unserer westlichen Kultur – geschult, erzogen, sozialisiert, lernt gesellschaftliche Werte, Regeln, Pflichten, logisches Denken. Die Verstandesebene, d. h. die Vertikale, bekommt immer mehr Raum. Auch die Dualität wird eingeübt: Gut – Böse, Richtig – Falsch, Schwarz – Weiß. Es wird vermittelt: Entweder isst du deinen Spinat oder du bekommst keinen Pudding.

Das Lernen ist einfacher als das Verlernen. Wer die Veränderung wagt, denkt nicht mehr absolut, sondern spricht von Grautönen und Sowohl-als-auch. Der erste Schritt zum Blickrichtungswechsel ist gemacht. Dabei wird Toleranz eingeübt. Eine solche Haltung kann nicht verordnet werden. Wer tolerant zu sich selber ist, ist auch tolerant zu andern. Das betrifft auch das Loben und Lieben.

In der östlichen Kultur geht es im Allgemeinen zuerst abwärts, dann folgt der Aufwärtstrend. Es entsteht eine gefüllte Schale. Älter werdende Menschen werden in der östlichen Kultur beachtet, verehrt und respektvoll in die Endlichkeit begleitet.

Abb. 1.2: Lebensphasen in der östlichen Kultur

Der Ahnenkult ist uns aus diesen Kulturen vertraut.

Menschen mit Demenz befinden sich auf der gleichen Ebene wie Kinder. Sie haben einen weiten Weg hinter sich. Sie brauchen weder Erziehungsmaßnahmen noch Maßreglungen, sondern eine wohlwollende und wertschätzende Begleitung.

Auch die weiteren Ausführungen und das folgende Bild können uns dabei helfen, uns in die Welt der Menschen mit Demenz einzufühlen, um sie adäquat begleiten zu können.

Die Entwicklung unseres Kurz- und Langzeitgedächtnisses über die Spanne unseres Lebens hinweg lässt sich anhand von drei gleich aussehenden Bäumen mit Wurzeln, Stamm und Krone veranschaulichen. Nur ein Teil des Baumes verändert sich mit zunehmendem Alter. Seine Krone, das Kurzzeitgedächtnis, wird immer blasser: deshalb wird das gegenwärtig Erlebte so schnell vergessen. Wurzeln und Stamm jedoch bleiben bestehen. Sie bilden das Langzeitgedächtnis.

Aus diesem Grund ist es hilfreich und fruchtbar, wenn wir älteren Menschen begegnen und sie begleiten, immer wieder ihre Erinnerungen an frühere Zeiten wachzurufen. Fotos, Gedichte, Musik und u. a. m. können dabei als Brücken zu Kindheit, Jugend oder auch das frühe Erwachsenenalter unterstützen. Wohlvertraute Lieder sind dabei häufig eine besondere spirituelle Fundgrube. Musik ist der Königsweg zu Menschen mit Demenz, die Lieder oft auswendig singen und sich darüber freuen, aktiv teilhaben zu dürfen. Das stärkt ihr Selbstbewusstsein.

Abb. 1.3: Bildhafte Darstellung der Demenz