Spiritualität und Spiritual Care - Birgit Heller - E-Book

Spiritualität und Spiritual Care E-Book

Birgit Heller

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Beschreibung

Spiritual Care beinhaltet eine existenzielle Auseinandersetzung, die jenseits von Schmerztherapie und Symptomkontrolle Sinn und Bedeutung des Todes für das menschliche Leben thematisiert. Dabei ist sie nicht auf die Sterbephase beschränkt, sondern auch bei Krankheit und in anderen kritischen Lebenssituationen bedeutsam. Sie ist eine Form professioneller menschlicher und gesellschaftlicher Partizipation, die Leiden und Tod in der Realität der Gemeinschaft neu verortet. Spiritual Care macht beides zu einem sichtbaren und spürbaren Teil des Lebenszyklus, gibt Gepflegten wie Pflegenden Würde und Wertschätzung. Die zweite überarbeitete und erweiterte Auflage bietet ergänzende Informationen über Nahtoderfahrungen, Spiritualität der Hospizbewegung. Neue Kapitel beschreiben die Themen: "Totensorge mit der Beziehung zwischen Diesseits und Jenseits" und "Spiritual Care als Sorgekunst". Aus dem Inhalt Spiritual Care: Die Wiederentdeckung des ganzen Menschen Spiritualität versus Religion/Religiosität? Christliche Krankenhausseelsorge Die Spiritualität der Hospizbewegung Weibliche und männliche Religiosität/Spiritualität Spiritualität als Aufgabe des Alters? Werde, der/die du bist: Auf der Suche nach Heilung Schmerz und Leiden

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Spiritualität und Spiritual Care

Spiritualität und Spiritual Care

Birgit Heller, Andreas Heller

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Pflege:

Jürgen Osterbrink, Salzburg; Doris Schaeffer, Bielefeld; Christine Sowinski, Köln; Franz Wagner, Berlin; Angelika Zegelin, Dortmund

Birgit Heller

Andreas Heller

Spiritualität und Spiritual Care

Orientierungen und Impulse

2., ergänzte und erweiterte Auflage

Mit einem Geleitwort von Allan Kellehear

Prof. Mag. Dr. theol., Dr. phil. habil. Birgit Heller

Institut für Religionswissenschaft, Universität Wien

Schenkenstraße 8–10

A-1010 Wien

E-Mail: [email protected]

Prof. Mag. Dr. Andreas Heller, M.A.

tAbteilung für Palliaive Care und Organisationsethik am Institut für Pastoraltheologie der Karl-Franzens-Universität Graz

Heinrichstrasse 78

A-8010 Graz

E-Mail: [email protected]

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Hogrefe AG

Lektorat Pflege

z.Hd.: Jürgen Georg

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel: +41 31 300 45 00

E-Mail: [email protected]

Internet: www.hogrefe.ch

Lektorat: Jürgen Georg, Michael Herrmann

Herstellung: René Tschirren

Umschlagabbildung: iStock/Stefan Rotter

Umschlag: Claude Borer, Riehen

Kapiteltrennblätter: Peter Kuliew, Basel

Satz: punktgenau, GmbH, Bühl

Format: EPUB

2., erg. u. erw. Auflage 2018

© 2018 Hogrefe Verlag, Bern

© 2014 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-95868-2)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-75868-8)

ISBN 978-3-456-85868-5

http://doi.org/10.1024/85868-000

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Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Audiodateien.

Anmerkung:

Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort Spiritual Care in Palliative Care: Wessen Job ist das?

VorwortDem Tod ins Gesicht blicken

1. Spiritual Care: Die Wiederentdeckung des ganzen Menschen

1.1 Kranksein und Sterben in der Moderne

1.2 Zur Genese von Spiritual Care

1.3 Spannung zwischen traditioneller Seelsorge und Spiritual Care

1.4 Spiritual Care für alle?

1.5 Sterben Gläubige/Spirituelle leichter?

1.6 Wer ist zuständig für Spiritual Care?

1.6.1 Ausgangsthese: Spiritual Care geht alle an

1.6.2 Verschiedene Kompetenzebenen

1.6.3 Wie erlernt man Spiritual Care?

1.6.4 Spiritual Care ist zuallererst Selbstsorge

1.6.5 Der Tod setzt dem Expertentum eine Grenze

1.7 Zur Erhebung spiritueller Bedürfnisse

1.8 Ethische Prinzipien und Ziele von Spiritual Care

1.9 Zur Funktion von Spiritual Care

1.10 Würde entsteht in Beziehungen

1.10.1 Engführungen im Würdeverständnis

1.10.2 Würde braucht ein Gegenüber

1.10.3 Würde ist unverlierbar

2. Spiritualität versus Religion/Religiosität?

2.1 Alltagsverständnis und aktuelle Begriffsdebatte

2.1.1 Religiös und/oder spirituell oder keins von beiden

2.1.2 Verschiedene Verhältnisbestimmungen von Religion/Religiosität und Spiritualität

2.1.3 Spiritualität: ein offener, aber schwammiger Begriff

2.2 Was ist Spiritualität?

2.2.1 Spiritualität: Kern jeder religiösen Tradition

2.2.2 Spiritualität: persönliche Religiosität und Mystik

2.2.3 Spiritualität und religiöse Transformationsprozesse

2.2.4 Spiritualität: Demokratisierung mystischer Religiosität

2.2.5 Spiritualität: Gegenbegriff zu Religion?

2.2.6 Spiritualität: traditionelle und moderne Religiosität

2.3 Gibt es eine nichtreligiöse Spiritualität?

2.3.1 Spiritualität wird meist religiös definiert

2.3.2 Spiritualität mit oder ohne „große“ Transzendenz?

2.4 Moderne oder postmoderne Spiritualität?

2.5 Spiritualität als Ausdruck moderner Selbstbezogenheit?

2.5.1 Spirituelle Bastelexistenz, Ego-Trip und „Health Shopping“

2.5.2 Eigenverantwortliche Heilssuche und kosmopolitische „Melange-Religiosität“

2.6 Sind alle Menschen spirituell?

3. Christliche Krankenhaus­seelsorge: ein Spiegel für Spiritual Care?

3.1 Defizite der Gesundheitsberufe und des Gesundheitssystems

3.2 Das Krankenhaus heute

3.3 Kranken-Haus-Seelsorge

3.4 Professionelle Krankenhausseelsorge

3.5 KrankenhausseelsorgerInnen: Spezialisten fürs Sterben?

3.6 Das Multioptionsdilemma

3.7 Die Haltung der Begleitung

3.8 Spannung Seelsorge – Kirche

3.9 Seelsorge: die Erinnerung an Selbstsorge und Sorgebeziehungen

3.10 Die Haltung der offenen Hände und die Kritik am System

3.11 Von der Seelsorge zur Spiritual Care?

3.12 Interkulturelle Kompetenz der Krankenhausseelsorge

3.12.1 Interkulturelle Praxis der Sorge

3.12.2 Politische Dimension des Zuhörens

3.12.3 Krankenhausseelsorge praktiziert interkulturelle Kompetenz

4. Die Spiritualität der Hospizbewegung

4.1 Sterben im Wandel

4.2 Sterben heute

4.3 Hospizbewegung: christlich motivierte Gastfreundschaft

4.4 Spiritualität der offenen Türen

4.5 Von Sterbenden lernen?

4.6 Zwei Pionierinnen an der Wiege der internationalen Hospizbewegung

4.7 Konzeptionelle Perspektiven von Hospizarbeit und Palliative Care

4.8 Hospizliche Haltungen

4.8.1 Von der Würde des Lebens und des Sterbens inspiriert

4.8.2 Von der Individualität des Lebens und Sterbens inspiriert

4.8.3 Vielseitig musikalisch und mehrsprachig

4.8.4 Sich kritisch positionieren

4.8.5 Widersprüche aushalten

4.8.6 Die Spiritualität der Gabe

4.8.7 Die Spiritualität der „Umsonstigkeit“ (Ivan Illich)

5. Zwischen Bindung und Loslösung: weibliche und männliche Religiosität/Spiritualität

5.1 Religiosität/Spiritualität und Geschlecht

5.2 Sex und Gender: Natur versus Kultur?

5.3 Die „Geburts- und Todeskompetenz“ von Frauen

5.4 Der Tätigkeitsbereich „care“ als Geschlechterfalle

5.5 Von der beziehungsorientierten Sorge zur autonomen Selbstentsorgung

5.6 Trauer ist weiblich: Trauer als Aufgabe und Talent von Frauen?

5.7 Sind Frauen grundsätzlich religiöser/spiritueller als Männer?

5.8 Wie lässt sich der Geschlechtsunterschied erklären?

5.9 Kennzeichen einer femininen Religiosität/Spiritualität

5.10 Spirituelle Bedürfnisse kranker und sterbender Frauen und Männer

6. Spiritualität als Aufgabe des Alters?

6.1 „Mythen“ über Spiritualität und Alter

6.1.1 Mythos: Spiritualität als Sinnsuche gehört zum Menschsein

6.1.2 Mythos: Religiosität/Spiritualität verläuft in Stufen

6.1.3 Mythos: Religiosität/Spiritualität nimmt im Alter zu

6.1.4 Mythos: Erfolgreiches Altern umfasst die spirituelle Entwicklung

6.1.5 Mythos: Spiritualität ist geschlechtslos oder „altersandrogyn“

6.1.6 Mythos: Zielvision des Alters: das volle menschliche Potenzial entwickeln

6.2 Alter und Spiritualität in religiösen Traditionen

6.3 Spiritualität ist keine Aufgabe des Alters

7. Werde, der/die du bist: Auf der Suche nach Heilung

7.1 Heil und Heilung

7.2 Zerfall von Körper und Seele/Geist

7.3 Das neue Interesse am „ganzen“ Menschen

7.4 Heilung von Krankheit oder Heilung als Transformationsprozess?

8. Schmerz und Leiden: Zugänge zu einer spirituellen Wahrnehmung

8.1 Die Praxis der Narrativität

8.2 Befund versus Befinden

8.3 Das größere Ganze erschließen

8.4 Der Schmerz ist vielschichtig und vielgesichtig

8.5 Spiritueller Schmerz und Leiden in der Literatur

8.6 Der instrumentell-technische Umgang mit Schmerz

8.7 Der existenziell-spirituelle Umgang mit Schmerz und Leiden

8.8 Schmerz ist nicht immer zu bekämpfen

8.9 Der Schmerz der Einsamkeit und Sprachlosigkeit

8.10 Der Sehnsuchtsschmerz der Liebenden

8.11 Protest gegen den Schmerz

8.12 Mit dem Leiden umgehen

8.13 Leiden und Mitleidenschaft (compathie) in der jüdisch-christlichen Spiritualität

8.14 Schmerz und Leiden in einer „leidfreien Zukunft“?

9. Wohin gehen unsere Toten? Jenseitsvorstellungen und Spiritualität

9.1 Jenseitsverlust in der Moderne?

9.2 Der Tod als Übergang: Jenseitsvorstellungen in den Religionen

9.2.1 Wo liegt das Jenseits?

9.2.2 Wie lebt es sich im Jenseits?

9.2.3 Der Tod macht nicht alle gleich

9.3 Jenseitsreisen und Nahtoderfahrungen

9.3.1 Leben und Tod als Reise

9.3.2 Totengericht und negative Jenseitsvisionen

9.3.3 Zur Funktion von Jenseitsreisen und Nahtoderfahrungen/End-of-Life Experiences

9.3.4 Wie real ist visionäres Erleben?

9.4 Spirituelle Suchbewegungen

9.4.1 Jenseits und Reinkarnation

9.4.2 Jenseits, Raum und Zeit

9.4.3 Jenseits und Identität

10. Totensorge: Solidargemeinschaft zwischen Lebenden und Toten

10.1 Beziehungen zwischen Diesseits und Jenseits

10.2 Vorsorge

10.3 Übergangsriten

10.4 Facetten der Totensorge

10.4.1 Totenpflege als Frauensache

10.4.2 Von der Totenfrau zum Bestatter

10.4.3 Bestattung: mehr als ein Menschenrecht

10.4.4 Identifikation und Solidarität mit den Toten

10.4.5 Gefährliche Tote

10.4.6 Die Reise nach dem Tod: Nicht nur Sterbende benötigen Unterstützung

10.4.7 Begegnung mit den Toten: Nachtodkontakte haben eine lange Tradition

10.4.8 Die Toten sorgen für die Lebenden (und die Sterbenden)

10.4.9 Verbundenheit über den Tod hinaus

11. Spirituelle Sorge in sorgenden Gemeinden

11.1 Sterben und Tod im suizidassistenzbereiten Sozialstaat

11.2 Sterben und Tod in einer Gesellschaft ohne Tod

11.3 Spiritual Care und sorgende Gemeinden

Autorin/Autor

Literaturverzeichnis

Internetquellen

Sachwortverzeichnis

Palliative Care und Spiritual Care im Verlag Hogrefe

Geleitwort Spiritual Care in Palliative Care: Wessen Job ist das?

Allan Kellehear

In unserem Verständnis von Spiritual Care in Palliative Care liegt ein tiefgründiges Paradox verborgen. Am besten lässt es sich enthüllen, wenn wir versuchen, die Frage zu beantworten, wer für die spirituelle Begleitung sterbender Menschen und ihrer Familien zuständig ist. Offenbar hat in der Pallia­tive-Care-Literatur jeder eine fertige Antwort darauf parat.

Viele Leute glauben, dass Seelsorger und Kleriker im Allgemeinen die Verantwortung für Spiritual Care übernehmen sollten. Andere meinen, dass die Seelsorger bei dieser Aufgabe durch Pflegedokumentationen ­unterstützt werden sollten. Wieder andere vertreten die Auffassung, dass die Pflegepersonen, die in der vordersten Front von Palliative Care stehen, diejenige Berufsgruppe bilden, die dazu prädestiniert ist, sich auch um ­diese Bedürfnisse zu kümmern. Ärzte und Sozialarbeiter haben ebenfalls argumentiert, sie wären besser als andere für diesen Stil oder Typ von Sorge geeignet. Einen Mangel an Freiwilligen für Spiritual Care gibt es jedenfalls nicht.

Wenn ich aber mich selbst oder meine Freunde oder sogar meinen Automechaniker frage, wessen Verantwortung es ist, Sinn zu finden in meinen Verlusten, meinen Hunden, meiner Ehe oder meiner Arbeit, Gott zu finden in welcher Form auch immer ich ihn finden kann oder meine Enttäuschungen und Begrenzungen zu verstehen, würden die meisten sagen, dass es meine Verantwortung ist. Mit anderen Worten stellen die alltäglichen Aufgaben, Sinn zu suchen, Leiden zu bewältigen und etwas Größeres als mich selbst zur Unterstützung bei diesen Aufgaben zu finden, meine eigene, persönliche ­Herausforderung dar. Spiritual Care ist nicht die Aufgabe meines Mecha­nikers, meiner Freunde oder meines Arbeitgebers. Alle diese Menschen können mir auf dieser Reise behilflich sein – manchmal bewusst und absichtlich, manchmal unbewusst und unabsichtlich – aber die wesentliche Verant­wortung, der erste und der letzte Schritt, muss meiner sein. Das ist die Herausforderung des Lebens selbst und wir sind in Gemeinschaften hinein­geboren, sodass wir nicht einsam vor dieser Aufgabe stehen.

Dennoch scheint die Erkenntnis, dass das Selbst in der Health Care im Allgemeinen und in der Palliative Care im Besonderen zentral ist, der Pal­liative-Care-Literatur zu Spiritualität entlegen und sogar fremd zu sein. Wir betrachten Spiritual Care fortdauernd als etwas, das wir zuteilen, etwas, das wir für andere tun und nicht als etwas, das wir mit anderen tun, weil es Teil dessen ist, für das wir alle zuständig sind. Wie ist es dazu gekommen?

Spiritual Care wird häufig als eine Abfolge psychologischer „assessments“ und Interventionen beschrieben. Es handelt sich um eine verbale Tätigkeit, vielleicht eine Übung in Selbstmitteilung oder eine Art der Beratung. Andere betonen die Fähigkeit des Zuhörens, als könnte man unabhängig von Kontexten und Persönlichkeiten sinnvoll über Handlungen sprechen. Die Pallia­tive-Care-Literatur ist eindeutig problemzentriert, als ob das übliche Zusammentreffen von persönlichem Sinn und seinen sozialen Bezügen in familiären und gemeinschaftlichen (community) Netzwerken immer auf irgendeine Art entfremdet oder dysfunktional wäre. Da ist die Rede von den Krisen in der Zeit der Krankheit oder von den „Symptomen“ des spirituellen „Schmerzes“, als ob es sich um irgendein medizinisches Problem handeln würde, das durch ein Arsenal an Interventionen in Angriff genommen werden könnte oder vielmehr sollte. Zweifellos sind die Sprache und der Erzählduktus von Care schwergewichtig der Sprache und Kultur der Akutmedizin entlehnt. Dieser Zugang erscheint so selbstverständlich, weil diese spezifischen Zeichen in einem breiteren Kontext auftauchen, der diese Sprache und diese Vor­stellungen als natürlich betrachtet. Offenbar hat sich Palliative Care langsam von einem gemeindebasierten (community-based) Ansatz zur Sorge am ­Lebensende zu einem klinischen Ansatz hinbewegt. Im klinischen Ansatz liegen die Betonung und Sprache auf Diagnose und Management, auf Symptom­kontrolle oder „assessments“ von Bedürfnissen.

Die Forschung hat betont, was wir wissen müssen, um unseren Job zu erfüllen, sie hat Probleme identifiziert und Modelle zur Lösung dieser Probleme angeboten. Die Spiritual-Care-Literatur ist voll von heroischen Geschichten über Problemfälle und deren erfolgreiche Lösungen aufgrund besonderer pastoraler Interventionen irgendeines Palliative-Care-Spezialisten. Wie können wir derart viel über spirituelle Probleme wissen, wenn die Literatur sich so wenig mit dem Zustand des spirituellen Wohlbefindens beschäftigt? Bedeutet die zeitgenössische Betonung der medizinischen Sprache und psycho­logischer Zugänge zu Spiritual Care, dass Spiritualität zu einer weiteren klinischen Größe in Pal­liative Care geworden ist? Und wie könnte ein Public-Health-Ansatz für Spiri­tual Care aussehen, eine Perspektive, die die Gemeinde (community) betont und die einen eher inklusiven als territorialen Standpunkt einnehmen würde?

Zuhören, Reden, Beraten und gemeinsam Nachdenken mit Professionellen haben durchaus ihren Platz. Aber die Hauptrolle – und der wichtigste Impuls des Handelns – gehören der Person mit der lebensbedrohlichen Krankheit, dem Selbst und seiner oder ihrer sozialen Welt. Spirituelle Bedürfnisse besitzen eine große gemeinschaftsbasierte (community-based) Komponente, die Freunde und Verwandte genauso als ihre Verantwortung wie die des sterbenden Mitglieds wahrnehmen. Das soziale Selbst ist der Hauptakteur, die Person-in-der-Welt, die handeln muss und weiß, dass sie handeln muss. Der klinische und der Public-Health-Ansatz schließen sich nicht aus, sondern sind komplementär. In Public-Health-Ansätzen liegt die Betonung eindeutig auf Fragen der Lebensqualität, die klinischen Strategien stehen bereit, wenn etwas schiefgeht. Gesundheit und Krankheit sind zwei theoretische Konzepte, die gemeinsam betrachtet werden müssen, damit wir das erste vergrößern können, um das zweite zu verringern. Mein Bedenken ist, dass die klinischen Vorstellungen die Spiritual-Care-Literatur zu dominieren scheinen. Diese Sprache und Vorstellungen beziehen sich nicht in ausgewogener Weise auf spirituelle Bedürfnisse – in Hinsicht auf Gesundheit und Krankheit, auf individuelle Interventionen und Gemeindearbeit (community work), auf professionelle Unterstützung und weisen und angebrachten Rückzug.

Wie viele Berufsgruppen würden sich für Spiritual Care zuständig machen wollen, wenn dieser Ansatz als Sorge für eine „Person-in-Gemeinschaft“ und nicht eine „Person-im-Bett“ definiert wird? Die Fähigkeiten der Gesundheitsförderung – besonders der Gemeindeentwicklung (community development), gemeinschaftliche Sorge (community care) und die Erleichterung ­sozialer Veränderung – sind keine Fertigkeiten oder Erfahrungen, die in institutionelle Kontexte passen oder dort gefördert werden. Darüber hinaus ­haben wenige Professionelle Zeit für diese Art der Arbeit außerhalb oder ­innerhalb ihrer üblichen klinischen Zuständigkeit. Wenn jedoch Spiritualität herabdefiniert und auf Probleme reduziert wird, denen man mit psycho­logischen Interventionen begegnet, werden die Komplexität und Verantwortungen der Aufgabe von Spiritual Care ausverkauft. Damit wird Spiritual Care auch als direkte Service-Leistung definiert. Und auf dieser Basis denken wir – wenn wir uns fragen, wer eigentlich für diese Aufgabe zuständig ist – automatisch an professionelle Care-Tätigkeit statt – was richtiger wäre – an ­gemeinschaftliche Sorge (community care).

Wenn also die Aufgabe von Spiritual Care die Verpflichtung gegenüber der Gemeinde (community) in der Fähigkeit zur Partizipation genauso einschließt wie die Verpflichtung zur Problemlösung an der Bettkante, die Verpflichtung zur Prävention genauso wie zur Intervention in der Zeit der Krise, die Verpflichtung, eher dem sozialen Selbst Priorität einzuräumen als der professionellen Expertise, heißt die Antwort auf die Frage, wessen Job das ist: Zuständig sind jene Professionellen und Nichtprofessionellen, die in der Lage sind, diese Verpflichtungen einzugehen. Interpretiert im Horizont von Public Health ist Spiritual Care Selbstsorge, für die jeder Mensch verantwortlich ist. Der Job von Spiritual Care kann dann nur arbeitsteilig verstanden werden und bezieht sich auf eine Vielzahl von Inhalten, Räumen und Zeiten. Spiritual Care ist mehr als Gespräch oder Präsenz, um spirituelle Fragen zu beantworten. Dazu gehören auch die Teilnahme und das Behüten einer gemeinschaftlichen Suche nach dem Sinn im Leben, Tod und Verlust. Letzten Endes hat gute Spiritual Care genauso wie gute Gesundheitssorge mit der Einsicht in die Grenzen individueller professioneller Praxis zu tun.

Allan Kellehear, PhD, AcSS

University of Bradford, Faculty of Health Studies

Übersetzt von Birgit Heller

VorwortDem Tod ins Gesicht blicken

Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Gesicht blicken („le soleil ni la mort ne se peuvent regarder en face“) – diese oft zitierte Maxime des französischen Schriftstellers Francois de la Rochefoucauld deckt sich nicht mit der Erkenntnislinie dieses Buches. Seit der Frühgeschichte ist es die Erfahrung des Todes, die Menschen dazu anstößt über das Leben nachzudenken. Alle Bemühungen in Kunst, Musik und Literatur, in Religion und Philo­sophie den Tod zu zeigen und zu begreifen, dem Tod Gestalt zu geben, als Todesengel zum Begleiter zu machen oder als Tödin musizieren und tanzen zu lassen, gründen in der Erfahrung und Einsicht, dass der Tod nicht irgendein Thema unseres Lebens ist. Den Tod anzunehmen und in die eigene Selbstinterpretation aufzunehmen, ermöglicht Selbstentwicklung und spirituelles Wachsen, aber auch bewussteres und menschlicheres Zusammenleben, wesentlichere Beziehungen, tiefere Freundschaften und entschie­denere Liebe.

Es überrascht nicht, dass sich im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Sterben in der modernen Gesellschaft, mit Palliativmedizin, Palliative Care und Hospizarbeit, in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit auf den Tod als existenziellen Schlüssel unseres Lebens verlagert hat. Unter dem Stich- und Suchwort Spiritual Care bündelt und entfaltet sich eine existenzielle Auseinandersetzung, die jenseits von Schmerztherapie und Symptomkontrolle Sinn und Bedeutung des Todes für das menschliche Leben thematisiert. Spiritual Care, die Sorge für den religiös-spirituellen Leitfaden des Lebens, beschränkt sich keineswegs auf die Sterbephase, sondern ist auch bedeutsam im Fall von Krankheit und anderen kritischen Lebenssituationen bedeutsam. Der herannahende eigene Tod oder der bevorstehende Verlust eines geliebten Menschen spitzen allerdings das Leben in sonst ungekannter Schärfe auf das Wesentliche zu.

Der modernen Medizin ist es nicht gelungen und wird es wohl auch nicht gelingen, den Tod zu besiegen, obwohl das „Projekt Unsterblichkeit“ heute realisierbarer denn je zuvor erscheint. Die Entwicklungen in den Bereichen Biotechnologie, Cyborg-Technologie und Künstliche Intelligenz haben ein derart rasantes Tempo aufgenommen, dass sie bisherige Science Fiction geradezu altbacken wirken lassen. Verlängerung der Lebenszeit, ewige Jugend und schlussendlich Unsterblichkeit zeichnen sich zumindest für eine reiche Elite als Möglichkeit am Horizont ab. Leitziel ist die Optimierung des Menschen, die Abschaffung des Todes und gewissermaßen die Realisierung des Paradieses auf Erden. Ob dieses Unterfangen in absehbarer Zeit tatsächlich von Erfolg gekrönt ist, lässt sich zwar nicht abschätzen, aber eine fast utopisch anmutende Lebensverlängerung ist mittlerweile für einen Teil der Menschheit in greifbare Nähe gerückt. Allerdings bestehen prinzipielle Zweifel am Projekt der „Vergöttlichung“ des Menschen, das alternativ in der Selbstab­schaffung des Homo sapiens enden könnte (Harari, 2014). Der alte Menschheitstraum vom ewigen Leben ist in den modernen Gesellschaften zu einem Kampf gegen den verachteten Feind Tod geworden und hat viele destruktive Formen angenommen, etwa über- und aus­therapierend die Augen und Herzen zu verschließen. Erst wenn die Medizin in ihrer Gesamtheit die Beziehung zum Tod sehenden Auges in ihr Selbstverständnis übernimmt und integriert, wird sie eine neue, wärmende und freundschaftliche Beziehung zu den Sterbenskranken und zum Sterben gewinnen. Möglicherweise wird dies erst über den Umweg eines unendlich langen Lebens und der damit verbundenen gähnenden Sinnlosigkeit und Leere gelingen. Da drängt sich dann bald der Gedanke auf, ob der Tod letztlich nicht doch ein Segen ist, wie uns viele Mythen und Märchen erzählen (etwa „Der Tod im Apfelbaum“). Es ist zweifelhaft, ob das ewige irdische Leben erstrebenswert ist: Es relativiert den Stellenwert von Kindern, Partnerschaft und Freundschaft; es gibt die Ideale der Gleichheit und Ge­rechtigkeit preis, weil es elitär ist; letztlich richtet es sich gegen die Menschlichkeit im Sinn von Empathie, Beziehungsorien­tierung, des Mit- und Füreinander-Daseins. Der Sieg über den Tod könnte sich letztlich als Pyr­rhussieg erweisen, der Sieger zurücklässt, die mehr verloren als gewonnen haben.

Wien und Graz, im Mai 2018

Birgit Heller und Andreas Heller

1. Spiritual Care: Die Wiederentdeckung des ganzen Menschen

Birgit Heller und Andreas Heller

1.1 Kranksein und Sterben in der Moderne

Krankheit, Sterben, Tod und Trauer lassen wie unter einem Vergrößerungsglas nicht nur die Probleme und Herausforderungen des modernen, öko­nomisch orientierten Sozial- und Gesundheitssystems erkennen. In der Krise und am Ende des Lebens spitzen sich auch die Herausforderungen des Lebens zu. Die menschheitsalten Themen von Autonomie und Fürsorge, von Freiheit und Abhängigkeit, von Hilfe und Hilflosigkeit treten unverstellt zu Tage. Was ist Würde in der Krankheit und am Lebensende? Wie kann die Würde von Menschen geachtet, wie können Demütigungen in Organisa­tionen vermieden werden? Inwieweit soll, darf und kann in den Sterbe­prozess eingegriffen, das Sterben beschleunigt werden (verlangsamt wird es in der Regel ohnedies)? Wann sind Behandlungen zu beenden? Welche Rolle spielen Begleitung, Betreuung und Behandlung? Welche Kosten verursacht das Sterben? Und wie verhält es sich mit der Frage nach einem mehr oder weniger „guten“ (was auch immer das dann ist) Sterben für alle? Die „Gretchenfrage“ an die Politik lautet: Wie hältst du es mit den schwer Kranken und Sterbenden, wie geht eine Leistungsgesellschaft mit den von ihrer Leistung her „Unproduktiven“ um? Wie können Kriterien der Gerechtigkeit im Krankheitsfall und am Lebensende wirksam werden? Oder setzt sich ein Erste-, Zweite- und Dritte-Klasse-Sterben durch (in der Behandlung von Krank­heiten ist die Klassengesellschaft – trotz gegenteiliger Behauptungen – ohnehin bereits Realität)?

Hospizarbeit und Palliative Care sind zu Brennpunkten gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen geworden. Angesichts der Bedrohung des Lebens und der Einsicht in die Zerbrechlichkeit des Lebens in Todesnähe wird deutlicher, was in anderen Bereichen der Gesellschaft noch unspezifisch konturiert ist. Der Soziologe Hubert Knoblauch (2011) spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen Popularität des Todes, einer verstärkten Präsenz des Todes in der Öffentlichkeit, die er als postmoderne Entwicklung inter­pretiert. Im Gegensatz zur Tabuisierung des Todes in der Moderne werde der Tod nun wieder öffentlich sichtbar. Das Lebensende wird zum Diskussionsthema. Das eigene Sterben und der Umgang mit dem Leichnam werden Schauplatz und Arena eines gewandelten gesellschaftlichen Umgangs mit dem Leben. Leben und Sterben werden nicht mehr schicksalhaft erlebt, ­sondern gelten als zu „machende“ Gestaltungsaufgaben. Die ausdifferenzierte Gesellschaft erlässt den Imperativ, dass die BürgerInnen ihr Leben und ihr Sterben selbst in die Hand zu nehmen und quasi als Projekt zu gestalten haben. Der moderne Mensch fügt sich nicht mehr so einfach in sein ­Lebensende wie seine Vorfahren; er verfügt über Leben und Sterben. Millionenfach verbreitete „Patientenverfügungen“ suggerieren Sicherheit, die Wechselfälle des Lebensendes, die Angst vor der Fremdbestimmtheit durch immer ausgetüfteltere Antizipationen von Krankheitsverläufen meistern, kontrollieren und zähmen zu können. Zudem stellt dieser Verfügungs­anspruch auch eine Art Misstrauensvotum gegen eine invasive Medizin dar. Die BürgerInnen sind heute so abgrundtief misstrauisch geworden, dass sie Patientenverfügungen als Instrumente der Selbstverteidigung für ihre Würde und ihre Integrität gegen sinnlose Behandlungen, gegen unangemessene Therapieverlängerungen einsetzen. Darin äußert sich ein tiefgreifender Wandel: Leben und auch Sterben werden zu einem Unternehmen selbst­bestimmter Planung. Das Augenmerk wird auf die Körperlichkeit, die Identität und Integrität der eigenen körperlichen Existenz gerichtet. War in früheren Zeiten das „Seelenheil“ der Fokus perimortaler Aufmerksamkeit, so ist es heute das „Körperheil“. Ob nun die beobachtbaren Verschiebungen im Umgang mit dem Tod der Postmoderne geschuldet sind oder eher zu den Ambivalenzen der Moderne gerechnet werden sollten, ist für diejenigen, die in diesem Feld agieren, nicht entscheidend.

Neben der neuen Popularität des Todes – Thomas Macho, Kristin Marek (2007) sprechen von der „neuen Sichtbarkeit des Todes“ – sind auch weiterhin Mechanismen der Todesverdrängung wirksam. Ein Blick auf das bunte ­Gemenge der verschiedenen modernen Bestattungsformen (Gemeinschaftsgrab, Familiengrab, Seebestattung, Waldbestattung, Urnennische, im eigenen Garten, in den Bergen, verstreut in alle Winde etc.) etwa zeigt, dass sowohl die wachsende Zahl der anonymen Bestattungen als auch die von den USA aus­gehende Thanatopraxie der Einbalsamierung keineswegs eine verstärkte Wahrnehmung des Todes fördern. Möglicherweise befördern Anonymbestattungen die unbemerkte Selbstentsorgung, die neuen Einbalsa­mierungspraxen eine Ästhetisierung, Kosmetisierung und Verharmlosung des Todes.

1.2 Zur Genese von Spiritual Care

Die deutsche Hospizbewegung erbrachte als soziale Bewegung eine große Thematisierungsleistung, indem sie Sterben und Tod auf die Tagesordnung der Gesellschaft gesetzt hat. Und in der Hospizbewegung wurde vielen Menschen ermöglicht, Zugänge zu ihrer individuellen und seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch kollektiv eingefrorenen Trauer zu finden. Die Hospizbewegung ist ein Kontext, ein gesellschaftliches Induktionsfeld, in gewisser Weise ein Gefäß für diese kollektive Trauer. Dass sie in Deutschland verzögert Raum gewinnt, mag damit zu tun haben, dass dort die kollektiven Reaktionen nach 1945 darin bestehen, sich nicht auseinanderzusetzen, sich zu schützen und abzuschirmen, die Schrecken und gefühlsmäßigen Erschütterungen durch millionenfachen Tod und Mord, durch die Leiden aufgrund des Krieges, der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas und der Zivil­bevölkerung abzubinden und zu verdrängen.

Wer die Biographie von Cicely Saunders (1999) liest, erkennt, dass die Hospizbewegung tiefe religiös-christliche Wurzeln hat. Cicely Saunders ­betrachtet das Hospiz als christliche Institution fernab von missionarischen Absichten. Für sie stellen Achtung vor der Integrität der Sterbenden, empathische Zuwendung und spirituelle Begleitung christliche Werte dar, die auf der Liebe Gottes zum Menschen basieren.

Mit der Entwicklung des Palliative-Care-Konzepts ist historisch ein Paradigmenwechsel vom Religiösen zum Säkularen verbunden (vgl. zu dieser ­gängigen Interpretation zusammenfassend Wright, 2004a: 219). Dieser Betonungswechsel spiegelt die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen. An die Stelle der religiös geprägten Sprache von der Liebe Gottes und der Heiligkeit des Lebens treten die Begriffe Würde und Lebensqualität. Derzeit werden wir Zeugen einer weiteren Drehung des Rades, die im englischsprachigen Raum schon vor mehr als 20 Jahren begonnen hat: Spiritualität wird als ­wesentliches Merkmal der Hospiz- und Palliativversorgung betrachtet, ein ­regelrechter Spiritualitäts-Boom hat nun auch im deutschsprachigen Raum eingesetzt. Auslösend für die Entwicklung der so genannten Spiritual Care ­waren zunächst die Erfahrungen mit den modernen multikulturellen und multi­religiösen Gesellschaften. Nicht nur eine kleine Minderheit, sondern eine stets steigende Zahl von Menschen unterschiedlicher religiös-kultureller Zugehörigkeit wird in den modernen Gesundheitseinrichtungen behandelt, viele von ihnen sterben in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder Hospizen. Diesen Herausforderungen können die traditionellen Formen der christlichen Seelsorge nicht gerecht werden (vgl. Heller, 2012a). Hinzu kommt der moderne Individualisierungsschub im Kontext von Religionen und Spiritualität. In Europa ist die derzeit alternde Generation der über 65-Jährigen absehbar die letzte, die noch mehr oder weniger stark christlich-kirchlich sozialisiert und geprägt ist. In diesen Gesellschaften hat ein erheblicher Teil der Menschen keine religiös-spirituellen Interessen oder aber sehr individuelle Vorstellungen ohne feste ­Bindung an eine bestimmte religiöse Tradition oder Institution entwickelt. Die individualisierten Formen von Spiritualität gehen einher mit der generellen Tendenz zu Selbstbestimmtheit und einer größeren Unabhängigkeit vom Expertenwissen. Ob modern oder postmodern, Spiritualität im Umgang mit Krankheit und Tod erscheint als ein Weg der Selbstbehauptung. ­Spiritualität ist daher auch das Zauberwort einer Gegenbewegung zu Desubjektivierung und Entpersonalisierung. Sie wird genährt durch Erfahrungen mit einer objektivierenden Apparatemedizin, immer komplexer werdenden Organisationen und der steigenden re­flexartigen Kontrollsucht der späten Moderne. Eine Kontrollsucht, die natürlich auch den Bereich des Sterbens dem Qualitätsmanagement unterwirft, ihn normiert, definiert und das Sterben zu einer behandlungspflichtigen Diagnose macht.

Den Hintergrund der modernen Spiritual-Care-Ansätze bildet eine Vielfalt von Studien, in denen seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts Zusammenhänge zwischen Religion bzw. Spiritualität, Coping-Strategien und Gesundheit erforscht werden. Wenngleich sich die Spiritualitätsdebatte in besonderer Weise im Rahmen von Palliative Care entfaltet hat, bezieht sie sich prinzipiell wesentlich breiter auf den gesamten Bereich des Gesundheitswesens. Dass die Berücksichtigung der Spiritualität Teil eines personzentrierten, ganzheitlichen Sorgekonzepts im Gesundheitswesen ist (vgl. z.B. Cobb/Robshaw, 1998), kann mittlerweile als konsensuell angesehen werden. Spiritual Care zeichnet sich durch die starke Orientierung am Subjekt und an individuellen persönlichen Erfahrungen aus. Kontext dieses Ansatzes ist die Kritik am biomedizinischen Maschinenmodell des Menschen und ein neues Nachdenken über die Zusammenhänge von Körper, Seele und Geist/Bewusstsein. Impulse für Spiritual Care gehen von allen Professionen aus, die im Bereich der Palliative Care und darüber hinaus im Gesundheitswesen tätig sind: Seelsorge, Pflege, Medizin, Sozialarbeit, Psychologie. Ihnen gemeinsam mag die implizite Kritik an einem unterkomplexen Bild vom Menschen sein, eine – nicht immer laut geäußerte – Kritik an einem Reduktionismus des Behandelns und Heilens allein auf der Ebene der Körperlichkeit, der Physiologie und der Somatik.

1.3 Spannung zwischen traditioneller Seelsorge und Spiritual Care

Die Begleitung kranker und sterbender Menschen ist keine moderne Er­findung. Religiöse Traditionen haben in den meisten Kulturen soziale und ­rituelle Muster im Umgang mit Sterbenden, Toten und Trauernden ent­wickelt. Die christliche Krankenhausseelsorge, die ja immer nur als konfes­sionelle Seelsorge existiert – im englischen Sprachraum pastoral care – hat eine längere Geschichte von etwas mehr als 40 Jahren in der modernen Institu­tion Krankenhaus.

Christliche Krankenhausseelsorge betrachtet die derzeit boomenden ­Spiritual-Care-Ansätze entweder als Konkurrenz oder versucht sich selbst unter dem neuen Etikett zu präsentieren. So hätte man aus der Sicht des Instituts für Kultur und Religion der Evangelischen Fachhochschule Berlin ­Spiritual Care bis vor kurzem einfach als „Seelsorge“ übersetzt (vgl. http://www.­inkur-berlin.de/seelsorge.htm: Seelsorge/Spiritual Care [Zugriff: 07.05.2013]). Neuerdings wird dieser Begriff von einer spirituell verstandenen Professionalität im Bereich der Medizin und Psychologie besetzt. In Reaktion darauf wird die kirchliche Seelsorge vor der Aufgabe gesehen, eigene Angebote zu entwickeln. Ob sich parallel zur Krankenhausseelsorge – in Analogie zum ­gesellschaftlichen Esoterikmarkt – tatsächlich ein Spiritual-Care-Markt im Gesundheitswesen etablieren wird, gilt noch als fraglich.

Diese Neuetikettierung der christlichen Krankenhausseelsorge als Spiri­tual Care (vgl. Roser, 2007) ist insofern problematisch, als damit die aktuellen Veränderungen des religiös-plural besetzten Feldes verdeckt werden.

Allerdings zeichnet sich in jüngeren Veröffentlichungen eine Ausweitung des engen konfessionell-theologischen Zugangs zu Spiritual Care ab: Spiri­tual Care wird als systemischer Begriff verwendet, mit dessen Hilfe die Seelsorge der verschiedenen Religionsgemeinschaften organisational in das System Krankenhaus integriert werden soll (vgl. etwa Körtner, 2009: 4). Diese Gleichsetzung von Spiritual Care und Seelsorge provoziert aber auch Kritik. Es gibt KrankenhausseelsorgerInnen, die den Begriff Seelsorge für die traditionellen Formen der Sterbebegleitung nichtchristlicher Religionsgemeinschaften nicht verwendet sehen möchten. Kooperationen werden zwar nicht ausgeschlossen, gelten aber vor allem dann als problematisch, wenn etwa das Recht auf Religionsfreiheit nicht anerkannt wird. Dass die Freiheitsrechte der modernen Gesellschaften in den religiösen Traditionen unterschiedlich akzeptiert werden, wird als Konfliktherd eingeschätzt. In eine andere Richtung bewegt sich Traugott Roser (2009), wenn er konfessionelle Hoheitsrechte relativiert, indem er den Begriff Spiritualität als Garant für Individua­lität würdigt. Als Faktor eines ganzheitlichen Behandlungsansatzes könne Spiritualität die Freiheit des Individuums gegenüber den Ansprüchen von Religionsgemeinschaften einerseits und Einrichtungen des Gesundheits­wesens andererseits verbürgen. An der Schlüsselrolle der Seelsorge als Spiritual Care hält Roser dennoch fest.

Verglichen mit der jetzigen Generation der alten Menschen, die noch relativ stark in konfessionellen religiösen Traditionen verwurzelt ist, wird sich die Bedeutung von Religiosität/Spiritualität am Ende des Lebens in Zukunft zwar nicht auflösen, aber wandeln. Es ist absehbar, dass sich in den nächsten beiden Jahrzehnten die großen Veränderungen, die in den modernen Gesellschaften im religiös-spirituellen Bereich stattgefunden haben und weiter stattfinden, zunehmend auf die Hospiz- und Palliativkultur auswirken ­werden. Aus der Tatsache, dass die konfessionellen Bindungen stark rück­läufig sind, ergeben sich neue Herausforderungen für christliche Seelsorge und Spiritual Care. Die Veränderungen im religiös-spirituellen Bereich sind derzeit zwar noch stärker auf der Seite der „Care“-Gebenden auszumachen, aber spätestens wenn die Generation der jetzt 35- bis 55-Jährigen alt wird, wird sich das spirituelle Umfeld der Palliativversorgung im großen Stil ­gewandelt haben.

1.4 Spiritual Care für alle?

Spiritualität wird in der Spiritual-Care-Literatur als Basisqualität des Menschen aufgefasst – als eine Dimension oder Fähigkeit, die allen Menschen ­eigen ist – daher wird Spiritual Care auch als Angebot für alle gefordert. Mit dem verbreiteten Motto „Spiritual Care für alle“ ist ein möglichst weites ­Verständnis von Spiritualität verbunden. Vorherrschend ist ein integrierendes bzw. komplementäres Verständnis verschiedener Zugänge, seien sie plurireligiös oder individuell ohne Anbindung an organisierte Religion. Spiritual Care umfasst dann die spirituelle Begleitung kranker und sterbender Menschen sowohl im Rahmen verschiedener etablierter religiöser Tradi­tionen als auch im Horizont individualisierter Spiritualität und Sinnsuche. Das Sinnfinden gilt generell als zentrales Merkmal von Spiritualität, hinzu kommen fast immer die Ebenen Beziehung, Transzendenz und Persönlichkeitsentwicklung (ein typischer Vertreter dieses integrativen Ansatzes ist beispielsweise Michael Wright, 2004b). Häufig wird der Begriff Transzendenz auf alles bezogen, was die Grenzen des Selbst überschreitet, etwa auf ­zwischenmenschliche Beziehungen oder den Bezug zur Natur.

Die Gleichsetzung von Spiritualität und Sinnsuche als wichtige Kategorie für das existenzielle Wohlbefinden hängt mit der „Psychologisierung“ von Religiosität/Spiritualität eng zusammen. Nicht nur Medizin und Pflege­wissenschaften interessieren sich zunehmend für Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Religion/Spiritualität. Auch die Psychologie fragt nach der Bedeutung von Religion/Spiritualität für die psychische Gesundheit bzw. die gesundheitsbezogene Lebensqualität. In empirischen Untersu­chungen werden Auswirkungen auf die Befindlichkeit, auf Prozesse der Sinnfindung und auf Bewältigungsstrategien für den Krankheitsumgang (vgl. Zwingmann, 2005; Schnell/Becker, 2007; Klein/Lehr, 2011) erhoben. Für die Entwicklung von Fragebogenskalen und Messverfahren zur Erfassung der Bedeutung von Religiosität/Spiritualität im Gesundheitswesen sind weitgehend Konzepte, Definitionsansätze und Operationalisierungen aus der psychologischen Forschung maßgebend (vgl. z.B. Huber, 1996; Zwingmann, 2004). Spiritual Care dient nicht nur als Etikett für die traditionelle christliche Seelsorge, sondern genauso für die psycho-soziale Begleitung. Es ist jedoch unnötig, das Ethos, einen kranken oder sterbenden Menschen als Menschen wahrzunehmen, als Spiritual Care zu etikettieren. Das ist ein Teil der Humanität. Um Spiritual Care von körperbezogener und psycho-sozialer Begleitung und Sorge abzuheben, muss Spiritualität mehr sein als ein Platzhalter für Menschlichkeit.

Was genau unter Spiritual Care als Angebot für alle zu verstehen ist, ist unklar und offensichtlich von mehreren Faktoren abhängig. So meint Traugott Roser (2009: 47), dass der Berücksichtigung der spirituellen Bedürfnisse im gesamten Betreuungskonzept eine wichtige Funktion zukommt, je nachdem, „ob Spiritualität in der individuellen Lebenswelt des Patienten bedeutsam ist oder nicht“. Spiritualität scheint hier – anders als die körperliche Dimension des Menschen – etwas zu sein, das einmal mehr und ein anderes Mal weniger wichtig ist. Spiritual Care, verstanden als Angebot, das sich an alle richten will, muss zwangsläufig von einem Spiritualitätsbegriff ausgehen, der stark voneinander abweichende Lebensorientierungen umfasst.

Zu den AdressatInnen gehören in den modernen ausdifferenzierten Gesellschaften:

stark traditionsgebundene Menschen, die sich einer Religion zugehörig fühlenkritische religiöse Menschen, die sich von den Organisationsformen ihrer religiösen Herkunftstraditionen mehr oder weniger ausdrücklich distanziert haben und innerhalb einer bestimmten Tradition eigene Wege gehenMenschen, die sich selbst als spirituell bezeichnen, aber in keiner religiösen Tradition verwurzelt sind, sondern sich zu verschiedenen religiösen Melodien hingezogen fühlen und ihre eigene Symphonie komponierenreligiös-spirituell Suchende mit und ohne Praxisreligiös/spirituell Interessierte und Desinteressierteskeptische und agnostische Menschen genauso wie dezidiert atheistische.

De facto gibt es für diese verschiedenen Gruppen keinen gemeinsamen ­inhaltlichen Nenner, nicht einmal die Suche nach Sinn wird für alle wichtig sein.

Spiritual Care muss in den modernen Gesellschaften im Respekt vor der Entwicklung und dem Selbstverständnis individueller Menschen gründen. Das bedeutet, dass alle, die sich in Spiritual Care engagieren möchten, nicht nur mit einer Fülle von Spiritualitäten mit und ohne Bindung an eine ­bestimmte Organisationsform von Religion konfrontiert sind, sondern auch das Desinteresse an oder die dezidierte Ablehnung von Spiritualität ernstnehmen müssen. Was ist dann aber die Aufgabe von Spiritual Care angesichts dezidierter Ablehnung von Spiritualität? Vielleicht wäre es besser, die Sorge um einen konkreten Menschen nicht generell in die Stopfgans Spiritual Care zu packen. Dann wäre es nicht nötig, davor zu warnen, Menschen, die sich selbst als weder religiös noch spirituell verstehen, als „spirituell defizitär“ anzusehen (vgl. Büssing, 2011b: 118). Braucht das Gesundheitssystem tatsächlich einen eigenen Versorgungsauftrag für Menschlichkeit, der an die Implementierung von Spiritual Care geknüpft wird? Es besteht die Gefahr, dass damit die positive Dynamik, die hinter dem starken Interesse für Spiritual Care steckt, institutionell eingefroren wird.

1.5 Sterben Gläubige/Spirituelle leichter?

Möglicherweise ist der tiefste Impuls für den modernen Ruf nach Spiritual Care in der Begleitung von Kranken und Sterbenden die Angst vor dem Tod, die alle Menschen – ob Kranke, Sterbende oder Professionelle – verbindet. Die Angst vor Schmerzen lässt sich klinisch beruhigen, der Todesangst kann vielleicht spirituell begegnet werden, aber das ist voraussetzungsvoll. Ob Religion/Spiritualität eine Coping-Ressource darstellt, die zu einem gelassenen und adaptiven Umgang mit schwerer Krankheit und Todesbe­drohung führt, hängt von verschiedenen Faktoren, nicht zuletzt von der Art der Erkrankung ab. Es gibt durchaus Hinweise dafür, dass Religiosität/­Spiritualität bei (chronisch) kranken Menschen Depression und Todesangst reduziert und mit einer aktiven Krankheitsbewältigung und Sinnsuche einhergeht (vgl. etwa Büssing, 2006b und 2011b; Überblick auch bei Bucher, 2007: 133ff.). Es gibt Belege für diese Effekte, aber natürlich gilt das in keiner Weise für alle Befragten. Eine Übertragung auf den Umgang mit dem Sterben selbst ist als lineare Verlängerung einer abgefragten Einstellung schon gar nicht möglich. Die vorliegenden Studienergebnisse reichen ­jedenfalls nicht aus, um zu behaupten, dass Gläubige/Spirituelle leichter sterben.

Leicht sterben – was bedeutet das überhaupt? Meint „leicht“ sterben: angstfrei, entspannt, versöhnt, gelassen, schmerzfrei, schnell, friedlich und sanft sterben? Welche Faktoren beeinflussen das Sterben? Da ist zunächst die körperliche Verfassung: das Ausmaß körperlichen Leidens und der Geisteszustand. Hinzu kommen die individuellen Lebensumstände: das soziale Netz, der Ort, der Zeitpunkt und hier vor allem das Lebensalter. Obwohl vieles dafür spricht, dass junge Menschen schwerer sterben als alte Menschen, erlaubt das Lebensalter keine sichere Prognose über die Art des Sterbens. Der Glaube kommt ins Spiel, wenn es um den Umgang mit Angst und Schmerzen und um die Fähigkeit geht, sich dem Sterbeprozess zu überlassen, also die eigenen Widerstände soweit wie möglich aufzugeben. Inwieweit das gelingt, hängt jedoch auch bei gläubigen/spirituellen Menschen stark von den individuellen Lebensumständen und den prägenden Glaubensvor­stellungen selbst ab.

Der Faktor Glaube kann sich auswirken auf den Umgang mit dem Sterben, Angst und Schmerzen und auf die Todesbereitschaft. Der Glaube schafft Voraussetzungen, die Weichen stellen können, aber nicht zwangsläufig müssen. Unter den Bedingungen modernen Lebens ist die subjektive Aneignung religiöser Vorstellungen entscheidend: Es gibt kaum mehr kollektive Überzeugungen, die in Krisensituationen als bindend und tragend erfahren werden. Der Glaube im Sinne des Für-Wahr-Haltens ohne Erfahrungsbezug kippt angesichts des Todes leicht in Zweifel und Verzweiflung. Der Glaube muss zumindest für den modernen Menschen zur Spiritualität geworden sein, um sich auf den Umgang mit dem Sterben auszuwirken. Es gibt auch Glaubensvorstellungen, die stark angstbesetzt sind, wie etwa die Vorstellungen des „Jüngsten Gerichts“, Fegfeuer und Hölle – unter diesen Voraussetzungen können es Gläubige beim Sterben schwer haben. In den aktuellen Studien spricht man in diesem Fall vom negativen religiösen Coping.

Glaube bzw. Spiritualität können das Sterben erleichtern – vor allem der Glaube an ein Leben nach dem Tod. Allerdings können gläubige Menschen auch ohne Hoffnung auf ein individuelles Weiterleben Wege finden, den Tod angstfrei anzunehmen. Obwohl der Glaube das Sterben erleichtern kann, so bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass Menschen, die keiner Religion zugehören und sich selbst auch nicht als spirituell bezeichnen würden, zwangsläufig schwer sterben müssen. Beispielsweise hat Sigmund Freud mutig und geduldig sein jahrelanges Leiden getragen. Er setzte sich bewusst mit seiner Krankheit auseinander und bewahrte sich gleichzeitig die innere Freiheit für seine Lebensaufgabe. Zuletzt hat Freud, als er keinen Sinn mehr in der Qual erblicken konnte, bereitwillig seinen Tod angenommen. Er ist seiner Überzeugung, dass es darum geht, die Realität uneingeschränkt anzu­erkennen, bis zum Ende treu geblieben.

Fraglich ist prinzipiell der Maßstab für das Sterben: Ist leicht sterben überhaupt ein erstrebenswertes Ziel? Anknüpfend an Rainer Maria Rilke (1987: 347) ist es wichtiger, den eigenen Tod zu sterben („Herr, gib jedem seinen eigenen Tod.“). Der Tod wächst im Menschen wie eine Frucht, die reifen muss. Es kommt darauf an, den eigenen Tod zu verwirklichen, der zum eigenen Leben passt. Der Tod ist das Ziel, in dem alle Fäden zusammenlaufen. Rilke selbst stirbt einen schmerzhaften Tod. Er lehnt die Linderung durch Medikamente ab, weil für ihn Leiden unabdingbar zum Dasein gehört. Das eigene Krankheitserleben führt ihn zu der Überzeugung, dass Leiden ertragen werden muss, Schmerzen bedeuten ihm „Siedlung, Lager, Boden, Wohnort“ (vgl. Cermak, 1972: 113).

Spirituelles Ringen ist als ein Teil des guten Sterbens anzusehen: Der Tod ist eine Erfahrung des Bruchs, ein endgültiges Abschiednehmen von allem bisher Vertrauten. Auch ein Sterben, das nicht leicht ist, kann ein gutes ­Sterben sein. Letztendlich scheinen das Erleben einer Krankheit und das Sterben so verschieden zu sein wie die Kranken und Sterbenden selbst. Sterben ist ein Prozess, der sich letztlich trotz aller Vorbereitungen, aller Regulierungs­versuche und aller Sterbekunst der Kontrolle und Garantie entzieht.

1.6 Wer ist zuständig für Spiritual Care?

War es früher klar, dass religiöse ExpertInnen, Angehörige und der Freundeskreis für die spirituelle Begleitung zuständig sind, so hat sich diese Eindeutigkeit längst aufgelöst. Derzeit scheint ein interprofessioneller Wettbewerb, ein regelrechter Kampf zwischen den Konfessionen und Religionsgruppen, den Haupt- und Ehrenamtlichen ausgebrochen zu sein: Wer hat den besten Zugang zu den PatientInnen? Wer ist zuständig für Spiritual Care?

1.6.1 Ausgangsthese: Spiritual Care geht alle an

Spiritual Care wird nicht nur für alle gefordert, sondern geht auch alle an: Konsequenterweise müsste sie daher im multidisziplinären Team verortet werden. Aktuell sind ein besonderes Interesse an spiritueller Begleitung und die Übernahme von Zuständigkeit auf der Seite der Pflegepersonen festzustellen. Das ist insofern verständlich, als die Pflegenden die höchste Präsenz und Kontinuität in der Sorge für die kranken und sterbenden Menschen ­haben. Da die schematische Bedürfniserhebung auf diesem Gebiet höchst fragwürdig ist, sind Personen, die durch den täglichen Kontakt Nähe zu den Betroffenen entwickeln, auch prädestiniert für die Wahrnehmung spiritueller Bedürfnisse. Allerdings sind es auch zunehmend Ärztinnen und Ärzte, die eine tragende Rolle im Kontext von Spiritual Care für ihre Profession beanspruchen und sich dabei auf entsprechende Studienergebnisse berufen. Demnach möchten viele PatientInnen ihre spirituellen Belange am liebsten in die Hände des behandelnden Arztes legen (vgl. Borasio, 2009: 113).

In Diskussionen über die Frage nach der Zuständigkeit für Spiritual Care werden immer wieder auch die Putzfrauen, das Reinigungspersonal in den Gesundheitseinrichtungen als Gesprächspartnerinnen für spirituelle Themen genannt. Obwohl deren Tätigkeiten hierarchisch auf der niedrigsten Ebene der Institution angesiedelt sind, scheint die existenziell-spirituelle Dimension hier am meisten Raum zu finden. Offenbar ermöglichen alltags­nahe, niederschwellige, unmittelbare Kontakte eher eine existenzielle Kommunikation, der eine spirituelle Dimension zugeschrieben wird. Implizit äußert sich hier auch eine Kritik an ExpertInnen, als ob nur der ausgebildete und trainierte Profi sich spirituell relevant in Beziehung setzen könnte. Aus diesen Beobachtungen ergibt sich reichlich Stoff zum Nachdenken. Eine ­erste Vermutung ist, dass dieser Raum des Spirituellen frei ist von Absichten und Erwartungsdruck und vielleicht gerade deshalb geschätzt wird.

1.6.2 Verschiedene Kompetenzebenen

In Bezug auf die Zuständigkeit für Spiritual Care können verschiedene Ebenen unterschieden werden (Abb. 1-1). Als allen professionell und ehrenamtlich Tätigen gemeinsame Basis ist eine grundsätzliche Haltung erforderlich, die den jeweils anderen Menschen als Autorität seines spirituellen Lebens absichtslos respektiert (vgl. Rumbold, 2002b: 225). Hier geht es weniger um spirituelles Sorgen als um eine Spiritualität der Sorge. Spiritual Care als Fundament von Sorgekultur überhaupt setzt voraus, dass Menschen aus der Krankenrolle herausgelöst werden. Nur wer sich selbst mit den Unsicherheiten und den grundlegenden Fragen des Lebens auseinandergesetzt hat, wird die nötige Offenheit und Resonanzfähigkeit in der Beziehung mit Menschen, die sich in einer kritischen Phase ihrer Existenz befinden, entwickeln können.

Abbildung 1-1: Ebenen der Zuständigkeit für Spiritual Care (Quelle: Heller/Heller, 2008)

Von dieser allgemeinen Ebene von Spiritual Care lässt sich eine Ebene der besonderen spirituellen Kompetenz, die eine tief greifende existenzielle Auseinandersetzung voraussetzt, unterscheiden. Hier sind traditionell die professionellen Rollen der Seelsorge und der verschiedenen religiösen ExpertInnen angesiedelt, wobei teilweise die rituellen Kompetenzen viel höher gewichtet sind als die spirituellen. Spirituelle und rituelle Kompetenzen sind zwar nicht deckungsgleich, überschneiden sich jedoch. In der Gestaltung von Abschiedsritualen für die betroffenen Menschen und für diejenigen, die sich ihrer angenommen haben, drückt sich Spiritualität aus.

Neben dieser traditionellen spirituellen Expertise entstehen nun zunehmend Formen einer neuen spirituellen Professionalität. Zum einen sind es einzelne VertreterInnen aus dem Kreis der verschiedenen Professions­gruppen im Gesundheitswesen, die auf individuellen Bahnen ein beson­deres spirituelles Interesse ausbilden und in ihren Tätigkeitsbereich einbringen. Zum anderen ist der Bezug auf die spirituelle Dimension ein integrativer Bestandteil der meisten komplementär- und alternativme­dizinischen Angebote sowie der ganzheitlichen Körper-Bewusstseins-­Praktiken wie z.B. Yoga, Tai Chi oder Shiatsu. Spiritual Care ist hier ein selbstverständlicher Aspekt der professionellen Zuwendung. Neben den traditionellen Formen der Seelsorge für konfessionell-religiöse und interessierte Menschen könnte Spiritual Care auch unterschiedliche komplementär- und alternativmedizinische Angebote sowie energetische Methoden und Meditationsformen in Kooperation mit ExpertInnen umfassen, die Impulse für die spirituelle Entwicklung freisetzen (vgl. Wenzel, 2013). Inwieweit sich spirituelle ExpertInnen, die aus individuell gestalteten Ausbildungswegen hervorgehen, durchsetzen können und welche Wege der Überprüfung oder Evaluation im Dienst der kranken und sterbenden Menschen hier sinnvoll sind, ist derzeit noch nicht absehbar. Diese verschiedenen spirituellen Kompetenzen berühren und überschneiden sich mit therapeutischen und sozialkommunikativen Kompetenzen.

Die dritte Ebene bezieht sich auf Funktionen oder Rollen, die in einer ­Organisation generell den Rahmen für Spiritual Care herstellen. Hier geht es um Verständigungsprozesse zum spezifischen Zugang zu Spiritual Care im Leitbild der jeweiligen Organisation und um die Koordination der spiritu­ellen Angebote. Wer dafür zuständig gemacht wird, ist nicht von vornherein klar. Prinzipiell kommen VertreterInnen aller Berufsgruppen in Frage, vermutlich ist es sogar günstiger, wenn diese Aufgaben nicht von spiritual caregivers wahrgenommen werden. Auch Traugott Roser (2009: 52) spricht von einer organisationalen Ebene von Spiritualität, die für ihn in der gemeinsamen Haltung aller in einer bestimmten Einrichtung Tätigen, dem „Geist“ einer Institution, besteht. Spiritual Care gilt demnach als Ausprägung und Garant für die ganzheitliche Haltung aller Berufsgruppen, wobei der Seelsorge eine spezielle (rituelle) Handlungskompetenz zugesprochen wird. So wichtig ­Spiritualität als Haltung für das ganze Team auch sein mag, scheint für Roser doch weiterhin die Seelsorge für Spiritual Care zuständig zu sein. Da sich letztere in Resonanz auf ihre AdressatInnen immer stärker ausdifferenzieren muss, spricht jedoch einiges dafür, auf der Ebene der Organisation eine ­Person für die Belange von Spiritual Care zuständig zu machen, die selbst keine spirituelle Professionalität beansprucht.

1.6.3 Wie erlernt man Spiritual Care?

Hinsichtlich der erforderlichen Kompetenzen für die Umsetzung von Spiritual Care scheiden sich die Geister: Gehen die einen davon aus, dass Spiritualität in Kursen – die Palette reicht von Wochenendseminaren, Online-Kursen bis hin zu intensiveren Lehrgängen – erlernbar ist, entwerfen die anderen das Profil des heiligen und daher heilenden Menschen, der ausgestattet sein sollte mit Freundlichkeit, Toleranz, Mitgefühl, Geduld und Weisheit (vgl. z.B. Radzey/Kreutzner, 2007: 39). Demgegenüber steht die relativ ernüchternde Realität aller religiösen Traditionen. Die Zahl der wirklichen spirituellen Meister und Meisterinnen scheint doch sehr begrenzt zu sein. Möglicherweise sind sie deshalb auch so gefragt. Beobachten kann man oft auch, dass diese spirituellen Lehrer und Lehrerinnen eher selten in den Organisationen des Versorgungssystems anzutreffen sind. Man muss sie anderswo suchen, in jedem Fall sich selbst auf die Suche begeben. Sie suchen einen nicht auf.

1.6.4 Spiritual Care ist zuallererst Selbstsorge

Über all den Debatten professioneller Zuständigkeit wird man eines nicht vergessen dürfen: Es liegt zuallererst in der Verantwortung des kranken oder sterbenden Menschen selbst, sich mit dem auseinanderzusetzen, was ihm wirklich wichtig ist, was dem eigenen Leben und Sterben einen letzten Sinn gibt, was hält und trägt in der Erfahrung der Angst und Einsamkeit und was angesichts von Zweifel und Verzweiflung hoffen lässt. Spiritualität ist zuerst Selbstsorge (vgl. auch Kellehear, 2002) und dann Sorge füreinander. Allan Kellehear schärft in der Debatte um die Zuständigkeit für Spiritual Care den Blick für die tragende Rolle der Betroffenen selbst. Er spricht von einem Ungleichgewicht zwischen Unterstützung und Rückzug, der „respektvollen Abwesenheit“ der Professionellen und vertritt einen kommunalen Ansatz von Spiritual Care. AdressatIn ist nicht der Patient bzw. die Patientin, sondern eine Person, die Teil einer Gemeinschaft ist. Demnach könne das Grundprinzip von Spiritual Care, die zu umfangreich sei, um den Klinikern überlassen zu werden, nur das der Arbeitsteilung sein. Neben dem betroffenen Menschen selbst werden es dann zunächst auch die Angehörigen, Freunde und Freundinnen und andere wichtige Personen seiner sozialen Welt sein, die hier als Mit-Sorgende bedeutsam sind.

Die Gefahr einer paternalistischen Vereinnahmung der PatientInnen durch therapeutisch Tätige benennt auch Eckhardt Frick (2009: 106f.). Auch er betont, dass Spiritual Care zunächst Selbstsorge sei. Um die spirituellen Bedürfnisse und Wünsche der PatientInnen nicht zu missachten, sei auch Fürsorge vonnöten. Die behutsame Abwägung zwischen Autonomie und „schwachem Paternalismus“ gehöre zum klinischen Alltag. Anders als im kommunalen Verständnis von Kellehear bleibt Spiritual Care nach Frick jedoch eine Aufgabe der Klinik.

Traut man den Ergebnissen von aktuellen Wertestudien, wächst die Gruppe der so genannten „Glaubenskomponisten“ (Zulehner, 2010: 29), also jener Menschen am stärksten, die auch im religiös-spirituellen Bereich die Verantwortung für sich übernehmen. Gerade diese Menschen, die den Kontakt mit traditionellen religiösen ExpertInnen und damit auch den klassischen Formen der Krankenhausseelsorge nicht suchen, brauchen auch keine Spiritual-­Care-ExpertInnen. Sie werden sich standardisierten Assessment-Verfahren verweigern und lassen sich von institutionellen spiritual caregivers weder leiten noch belehren. Diese Einschätzung teilt auch Rumbold (2002a: 7).

1.6.5 Der Tod setzt dem Expertentum eine Grenze

In der aktuellen Spiritual-Care-Diskussion werden weniger die Ressourcen von Spiritualität thematisiert als vielmehr die Defizite und deren Therapie­bedarf. Der Blick richtet sich zu oft auf Defizite, die man bei PatientInnen zu erkennen glaubt. Aus dieser „spirituellen Defizitdiagnose“ erwächst dann der scheinbare Bedarf nach einem spirituellen Sterbeexperten. Versteht man Spiritual Care nicht als Defizitkompensation, sondern als Resonanzangebot, werden sowohl paternalistische Haltungen als auch Standard-Assessments obsolet. Nicht immer müssen die Kranken und Sterbenden die Bedürftigen sein. Manchmal sind sie es, die trösten, die Halt geben, deren Lebenstapferkeit Sinn erschließt. Immer ist es wohl ein Geben und Nehmen. Die Rollen können wechseln. Es ist nicht eindeutig, wer der spiritual caregiver ist. Wie in jeder Phase des Lebens können Menschen auch am Ende einander den ­Rücken stärken, achtsam und mitleidenschaftlich füreinander da sein. Spirituelle Angebote von Professionellen müssen nicht bedeutsam werden. Keineswegs alle werden sie in Anspruch nehmen wollen. Wann immer Menschen spirituell füreinander sorgen wollen, tun sie das in redlicher Weise auf ­Augenhöhe, vereint in dem menschheitsalten Wissen, dass wir diesen letzten Tanz mit dem Tod alle tanzen müssen, jede(r) auf ihre/seine Weise.

1.7 Zur Erhebung spiritueller Bedürfnisse

In einer Gesellschaft und erst recht in Krankenversorgungsystemen, die ­danach trachten, alles unter Kontrolle zu haben, ist es üblich, Sterben und Trauern zu domestizieren, in Phasen einzuteilen oder durch Qualitätskon­trollen einzuhegen. Es erleichtert den Umgang mit dem Unkontrollierbaren, wenn Ordnungsschablonen zur Verfügung stehen. Ein beträchtlicher Teil der jüngeren Spiritual-Care-Literatur setzt sich mit Phasenmodellen, Assessment-Verfahren und Spiritual-Care-Plänen auseinander. Die Erhebung ­spiritueller Bedürfnisse gilt als Sektor der Lebensqualität, verbreitet ist beispielsweise die Korrelation von spirituellem Wohlbefinden und Angst. Auffällig ist dabei neben der Defizitorientierung eine entsprechende Therapielastigkeit: Es ist viel die Rede von psychischen/emotionalen Beeinträchtigungen, wie Unruhe, Schuldgefühlen, Wut, Verzweiflung, Entfremdung, die als In­dikatoren für die mangelnde Anpassungsfähigkeit an die Situation gelten. Allerdings kann das Assessment-Verfahren selbst zur Quelle jener ­Störung werden, die man zu diagnostizieren glaubt: Aufregung und Widerstand einer Person können entstehen, wenn ein fremder Mensch versucht, den spirituellen „Status“ festzustellen (vgl. Rumbold, 2002b: 223).

Spirituelle Bedürfnisse werden erhoben, dokumentiert, therapiert und evaluiert. Die Auffassung, es sei unmöglich, Spiritualität in einem formalisierten Verfahren zu erheben (vgl. Rumbold, 2002a: 19 und 2002b: 225), nimmt in den Spiritual-Care-Ansätzen derzeit nur eine Randstellung ein. An dieser Stelle entstehen viele Fragen: Kann ein Anamnesegespräch tatsächlich der Ort spiritueller Selbstmitteilung sein? Lassen sich spirituelle Einstellungen abfragen wie Diätbesonderheiten? Wie kann das, was Menschen als Grundlage ihrer Existenz erfahren, statistisch erfasst, zahlenmäßig operationalisiert und gemessen werden? Spiritual Care ist keine planbare Technik, sondern wächst aus Beziehungen. Spirituelle Begegnung braucht wechselseitiges Vertrauen, eine Nähe, in der Verstehen und Gleichklang ein achtsames Sein-Lassen, Halt gebende Erfahrungen und Sinnzusammenhänge öffnen können. Die Vorstellung, dass die festgestellten spirituellen Bedürfnisse eines Kranken zu einer Kate­gorie der Pflegeplanung werden, die dann bei der Dienstübergabe im Schichtwechsel zu bedienen ist, mutet eigenartig, instrumentalisierend an.

1.8 Ethische Prinzipien und Ziele von Spiritual Care

Die verschiedenen Entwürfe zu Spiritual Care (vgl. z.B. Cassidy, 1995; Renz, 2003; Müller, 2004; Puchalski, 2006; Weiher, 2008) folgen ethischen Grundprinzipien, die zwar verschieden akzentuiert werden, aber generell bedeutsam sind: Mitgefühl/Empathie, Verantwortung, Absichtslosigkeit, Demut und Dienst. Wiederholt taucht der Gedanke auf, dass das Mitgefühl in der Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit gründet. An diesem Punkt unterscheiden sich Entwürfe, die stärker von einem therapeutischen Beziehungsrahmen bestimmt sind, von jenen, die den kranken und sterbenden Menschen auf „Augen­höhe“ begegnen. Es ist ein großer Unterschied, ob sich der Blick auf Defizite richtet oder den betroffenen Menschen auch als Spiegel des eigenen Weges wahrnimmt. Das Prinzip der Würdigung, von dem auch immer wieder die Rede ist, ist grundsätzlich nur realisierbar, wenn sich Menschen auf derselben Ebene begegnen. Kranke und Sterbende würdigen heißt, ihnen in einer symme­trischen Beziehung, authentisch, offen und einfühlsam zu begegnen. Kranke und Sterbende unterscheiden sich nur peripher von anderen Menschen. Alle teilen das ausrinnende gemeinsame Leben miteinander in dem Bewusstsein, Gäste des Lebens zu sein. Im Miteinander-Sprechen, im gehaltenen Schweigen kann eine Ahnung einer anderen Dimension des Lebens entstehen.

Spiritual Care verfolgt hohe Ziele und kann zu einem Überforderungsprogramm für alle Beteiligten ausarten. Wird Spiritualität zur Leistung in der Sterbephase? Welche Rolle sollen Therapieangebote in der Begleitung sterbender Menschen spielen? Da ist die Rede von menschlichem und geistlichem Wachstum, Hoffnung, Versöhnung, Bewahrung der Würde, Integration, Ganzheit und Friede. Man wird geradezu geblendet und eingeschüchtert von diesem Blitzlicht religiös-spiritueller Vollkommenheitsrhetorik. Dieses Idealbild des spirituell vollendeten Menschen als Leitbild von Spiritual Care auszugeben ist eine maßlose Überforderung. Derartige Idealbildungen sind aus vielen religiösen Traditionen überliefert, allerdings verknüpft mit dem Ringen eines ganzen Lebens, wenn nicht einer ganzen Kette von Existenzen. Es ist modern geworden, das Streben nach Weisheit mit Spiritualität zu verzahnen. Weder das eine noch das andere kann jedoch an das Lebensende oder an das Alter delegiert werden.