Sprachen und Identitäten -  - E-Book

Sprachen und Identitäten E-Book

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Beschreibung

Eine Vielzahl an subjektiven Ausprägungsformen sprachlicher, sozialer, ökonomischer und biografischer Erlebnisse und Erfahrungen beeinflusst den Einzelnen und dessen Identität. Was bedeutet aber eine solche Erkenntnis für den Deutschunterricht, der sich lange Zeit als hegemonialer Muttersprachenunterricht verstanden hat und dem in der heutigen bildungspolitischen Debatte erneut eine exponierte Position in Bezug auf das zielsprachliche Lernen zugewiesen wird? Um diese Frage zu beantworten, werden in diesem Buch bewusst unterschiedliche Herangehensweisen und Perspektiven gewählt, um die Bedeutung und Funktion von Sprachen für die Identitätsbildung darzustellen. Auch der Blick über den eigenen Tellerrand darf folglich nicht ausbleiben, weshalb neben deutschdidaktischen Fragestellungen Überlegungen zu Deutsch als Zweit- und Fremdsprache sowie Ansätze aus der anglistischen Fremdsprachendidaktik vorgestellt werden.

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Anja Wildemann/Mahzad Hoodgarzadeh (Hrsg.)

Sprachen und Identitäten

 

ide-extraEine deutschdidaktische Publikationsreihe

Herausgegeben vonMargit Böck, Stefan Krammer, Annemarie Saxalber,Anja Wildemann und Werner Wintersteiner

Band 20

 

© 2019 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 InnsbruckE-Mail: [email protected]: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7065-5996-6

Satz: Studienverlag/Roland KubandaUmschlag: Studienverlag/Vanessa Sonnewend, www.madeinheaven.atUmschlagabbildung: © Mahmoud Abdallah Moussa;Deutschabteilung der Männerabteilung der Al Azhar Universität in Kairo/Ägypten

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at

Inhalt

ANJA WILDEMANN, MAHZAD HOODGARZADEH: Zu den Beiträgen

Einführung

ANJA WILDEMANN: Mehrsprachige und transkulturelle Identitätskonstruktionen und ihr Potenzial für eine moderne Deutschdidaktik

I. Einsprachige Schule – mehrsprachige Schule

HEIDI RÖSCH: Mehrsprachigkeit und Deutschdidaktik – eine kritische-historische Auseinandersetzung

MARIJANA KRESIĆ: Minderheitensprachen, Identitätsbildung und Mehrsprachigkeitsdidaktik

HANS-JOACHIM ROTH: Sprachenvielfalt zwischen Nationalstaat und europäischer Bildungspolitik

KONRAD EHLICH: Mehrsprachigkeit als curriculare Herausforderung – ein Problemaufriss

II. Ein Experten-Interview

MAHZAD HOODGARZADEH im Interview mit KATHARINA BRIZIĆ: Die Macht der Sprachen – ein Interview mit der Linguistin Katharina Brizić

III. Mehrsprachigkeit und Identität aus der Sicht von Literatur- und Sprachdidaktik

ARATA TAKEDA: Beim Bau des Hauses des Seins Zur mehrsprachigen Literatur- und Kulturdidaktik

ANNEMARIE SAXALBER: Grenzen überwinden. Für eine integrierte Sprachdidaktik als gemeinsames Unterrichtsprinzip in mehrsprachigen Bildungsräumen am Beispiel Südtirol – Kärnten

HANS H. REICH, HANS-JÜRGEN KRUMM: Ein Curriculum Mehrsprachigkeit

IV. Transkulturalität in der Lehrerprofessionalisierung

YVONNE DECKER, KATJA SCHNITZER: Mehrsprachigkeit an Freiburger Grundschulen und deren Konsequenzen für die Professionalisierung von Lehrpersonen Ergebnisse aus dem Projekt FreiSprachen

EVA WILDEN: Kultur und Identität im fremdsprachlichen Literaturunterricht. Ein Projekt zur Förderung der transkulturellen Kompetenz von angehenden Fremdsprachenlehrkräften

HENRIETTE DAUSEND: Ich spraye, also bin ich. Reflexive Lernprozesse angehender Fremdsprachenlehrkräfte mit Street Art fördern

V. Projekte in Schule und Forschung

NIKU DOROSTKAR, ALEXANDER PREISINGER: Rassismus und Diskriminierung in Leserkommentarforen. Bericht über das Forschungs-Schul-Kooperationsprojekt «migration.macht.schule»

JÖRG ROCHE (unter Mitarbeit von JANINA REHER und MIRJANA SIMIC): Zum Erwerb sozialer und demokratischer Kompetenzen im Rahmen handlungsorientierter Sprachvermittlung – eine explorative Studie

SANEM ALTINYILDIZ: «SAG’S MULTI!» – Mehrsprachiger Redewettbewerb Ein Sprachprojekt der besonderen Art

MAHZAD HOODGARZADEH, SARAH FORNOL: Multikulturelle Identitäten in Schulklassen – ein Einblick in Schulpraxis und Forschungsethik

Autorinnen und Autoren

Anja Wildemann, Mahzad Hoodgarzadeh

Zu den Beiträgen

«Sprachen und Identitäten» dezidiert aus der Sicht der Deutschdidaktik zu betrachten, ist ein vordringliches Anliegen dieses Buches. Bewusst werden unterschiedliche Herangehensweisen und Perspektiven gewählt, um die Bedeutung und Funktion von Sprachen für die Identitätsbildung darzustellen. Auch der Blick über den eigenen Tellerrand darf folglich nicht ausbleiben, weshalb neben deutschdidaktischen Fragestellungen Überlegungen zu Deutsch als Zweit- und Fremdsprache sowie Ansätze aus der anglistischen Fremdsprachendidaktik vorgestellt werden. Dabei können die Unterrichtsideen und -beispiele als eine Quintessenz der in den Ländern zum Teil in Ansätzen realisierten Mehrsprachigkeitsdidaktik angesehen werden. Darüber hinaus sollen mit ihnen Anregungen für die eigene Umsetzung geliefert werden. Der Blick in den Deutschunterricht in mehrsprachigen Regionen sowie in den Fremdsprachenunterricht ermöglicht zusätzliche Perspektiven für eine Unterrichtsdidaktik, in der (viel-)sprachliche Kompetenz Ausgangs- und Zieldimension zugleich ist. Last, but not least zeigen Projekte aus Forschung und Schule, wie die schulische und außerschulische Auseinandersetzung mit Sprachen genutzt werden kann, um sprachliche Identität zu fördern. Die Beiträge in diesem Band geben somit gleichermaßen Einblicke in wissenschaftliche Deutschdidaktik und unterrichtliche Praxis.

Das Buch gliedert sich in folgende fünf Themenblöcke:

I. Einsprachige Schule – mehrsprachige Schule

II. Ein Experten-Interview

III. Mehrsprachigkeit und Identität aus der Sicht von Literatur- und Sprachdidaktik

IV. Transkulturalität in der Lehrerprofessionalisierung

V. Projekte in Schule und Forschung

Anja Wildemann führt mit ihrem Beitrag «Mehrsprachige und transkulturelle Identitätskonstruktionen und ihr Potenzial für eine moderne Deutschdidaktik» in das Thema ein. Sie diskutiert darin ein traditionelles Verständnis des Deutschunterrichts als Muttersprachenunterricht und stellt diesem die Erfordernisse eines modernen Deutschunterrichts, wie er im Kontext einer Mehrsprachigkeitspolitik der Europäischen Union zu konzeptualisieren ist, gegenüber.

Block I. Einsprachige Schule – mehrsprachige Schule

Im ersten Themenblock «Einsprachige Schule – mehrsprachige Schule» beginnt Heidi Rösch mit einer Betrachtung der Deutschdidaktik aus historischer Perspektive und geht der Frage nach, welche Folgen individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit auf die sprachliche Bildung hatten und haben. Dazu stellt sie zunächst ein- und mehrsprachige Bildungskonzepte gegenüber, um im Folgenden die Entstehung und Bedeutung des Deutsch als Zweitspracheunterrichts in den Blick zu nehmen. Schließlich mündet sie in der aktuellen Diskussion um eine längst geforderte Mehrsprachigkeitsdidaktik und hinterfragt deren Position in der heutigen Sprach- und Literaturdidaktik.

Die im Zusammenhang mit mehrsprachiger Bildung und Identitätsentwicklung teilweise vernachlässigte Bedeutung von Minderheitensprachen diskutiert Marijana Kresić in ihrem Beitrag. Am Beispiel des Kroatischen in Deutschland und des Deutschen in Kroatien verdeutlicht sie den Nutzen einer Mehrsprachigkeitsdidaktik sowohl für das sprachliche Lernen als auch für die Herausbildung einer mehrsprachigen, mehrkulturellen Identität.

Weshalb nach wie vor die Angst vor Sprachverlust durch immigrierte Sprachen vorherrscht, erörtert Hans-Joachim Roth, indem er die Entwicklungslinie von nationalstaatlichen Hegemonieansprüchen bis hin zu einer europäischen Bildungspolitik der Sprachenvielfalt nachzeichnet. Um die frühe Umsetzung einer an Mehrsprachigkeit orientierten Deutschdidaktik in der universitären Qualifikation von angehenden Lehrkräften zu ermöglichen, plädiert er für die Implementation eines grundlegenden und durchgängigen Sprachbildungskonzeptes für alle Schülerinnen und Schüler.

Den Abschluss des Themenblockes bildet der essayistische Beitrag von Konrad Ehlich, in dem er eine Zusammenschau gesellschaftlicher und schulischer Entwicklungsprozesse im Hinblick auf Mehrsprachigkeit vornimmt und sich darüber hinaus für die «Anerkennung von Mehrsprachigkeit als eine anthropologische Möglichkeit» ausspricht.

Block II. Ein Experten-Interview

Katharina Brizić hat vor allem mit ihrem Buch «Das geheime Leben der Sprachen» (2007) dazu beigetragen, dass sprachliches Können und mehrsprachige Identität stärker als zuvor vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und individueller Entwicklungen im Herkunfts- und Zielland von Migrantinnen und Migranten betrachtet werden. In dem Interview, durchgeführt von Mahzad Hoodgarzadeh, geht es insbesondere um die Macht der Sprachen und deren Bedeutung für die individuelle Sprachentwicklung.

Block III. Mehrsprachigkeit und Identität aus der Sicht von Literatur- und Sprachdidaktik

Im ersten Beitrag dieses Themenblockes moduliert Arata Takeda in Anlehnung an Heidegger «ein Haus des Seins», welches in seiner Bauweise Offenheit, Durchlässigkeit und Komplexität in Bezug auf die Sprachen der Schülerinnen und Schüler und deren Integration in einen mehrsprachigen Literaturunterricht symbolisiert.

In ihrem Beitrag greift Annemarie Saxalber das Modell einer Integrierten Sprachendidaktik (ISD) als Unterrichtsprinzip wieder auf, konzeptualisiert es jedoch über die Fremdsprachendidaktik hinaus gleichfalls für den Unterricht in der Erstund Zweitsprache.

Hans H. Reich und Hans-Jürgen Krumm berichten in ihrem Beitrag von der Entwicklung eines Curriculums im Sinne einer durchgehenden Mehrsprachigkeitsdidaktik. Danach wird ein an Mehrsprachigkeit ausgerichteter Unterricht zur «Schaltstelle für kooperative Unterrichtsprojekte», an denen sowohl die unterschiedlichen Sprach- als auch die Sachfächer beteiligt sind.

Block IV. Transkulturalität in der Lehrerprofessionalisierung

Mit Fragen zur Lehrerprofessionalisierung beschäftigen sich die Beiträge im vierten Themenblock. Gleich im ersten Beitrag wird von Yvonne Decker und Katja Schnitzer ein in seinen Erkenntnissen weitreichendes Forschungsprojekt vorgestellt. Die Erfassung der real vorhandenen Mehrsprachigkeit an Freiburger Schulen hat nicht nur zu differenzierten Einsichten in Bezug auf die individuelle Sprachpraxis von Schülerinnen und Schülern geführt, sondern darüber hinaus zu Konsequenzen für die Professionalisierung von Lehrkräften.

Anknüpfend daran präsentiert Eva Wilden in ihrem Beitrag ein Hochschulprojekt, in dem angehende Fremdsprachenlehrkräfte aufgefordert werden, eigene Identitäts- und Kulturkonstruktionen zu hinterfragen, um auf diese Weise transkulturelle Kompetenz auszubilden.

Auch Henriette Dausend richtet ihren Blick auf die universitäre Qualifizierung von Fremdsprachenlehrkräften. Am Beispiel eines Projektes zu Street Art stellt sie dar, auf welche Weise diese reflexive und diskursive Kompetenzen ausbilden können. Beide Seminarkonzepte, das von Eva Wilden und das von Henriette Dausend, stehen hier als Beispiele für mögliche Formen und Inhalte universitärer Bildung.

Block V. Projekte in Schule und Forschung

Der abschließende Themenblock lässt Raum für solche Projekte, die über die primäre schulische Bildung hinausgehen und damit den Horizont um Sprachen und Identitäten in Bildung und Gesellschaft erweitern. So fokussiert das Wiener Forschungs-Schul-Kooperationsprojekt «migration.macht.schule», das von Niku Dorostkar und Alexander Preisinger vorgestellt wird, die Schnittstelle von Internet, Sprache und Identität. Gemeinsam mit Jugendlichen untersuchten Sprachwissenschaftler der Universität Wien Leserkommentarforen einer Online-Zeitungsplattform hinsichtlich ihres diskriminierenden und rassistischen Sprachgebrauchs.

Jörg Roche (unter Mitarbeit von Janina Reher und Mirjana Simic) illustriert in seinem Beitrag, wie über kommunikative Kompetenzen soziale und demokratische Kompetenzen im Rahmen einer Kinder-Akademie vermittelt werden können. Die explorative Studie widmet sich dabei der Frage, wie handlungsorientierte und offene Lernformen zur sprachlichen Bildung beitragen können.

Ein Projekt, bei dem es vor allem darum geht, dass mehrsprachige Sprecherinnen und Sprecher ihr sprachliches Können im Rahmen eines öffentlichen Wettkampfes präsentieren, stellt Sanem Altınyıldız in ihrem Beitrag vor. Der mehrsprachige Redewettbewerb «SAG’S MULTI!» ist inzwischen weit über die Grenzen Wiens bekannt. Hier werden junge Mehrsprachige ermuntert, Reden zu gesellschaftsrelevanten Themen in zwei Sprachen zu halten und auf diese Weise einen Teil ihrer Identität darzustellen.

Wie Sprachen und Identitäten zum Unterrichtsgegenstand werden können, zeigt der Beitrag von Mahzad Hoodgarzadeh und Sarah Fornol. In dem Projekt BEN wurden Hauptschülerinnen und Hauptschüler dazu aufgefordert, ihre Identitätskonstruktionen im Feld von Sprache, Adoleszenz und Zugehörigkeit zu reflektieren. Für die Anbahnung selbstreferentieller und reflexiver Auseinandersetzung wurden unterschiedliche Herangehensweisen gewählt, die sich durchaus im Rahmen eines sprachsensiblen Deutschunterrichts realisieren lassen. Dass Reflexion nicht nur seitens der Schülerinnen und Schüler erforderlich ist, sondern gleichfalls eine forschungsethische Sensibilität seitens der Untersuchenden bestehen muss, zeigen die Autorinnen ebenfalls auf.

Wir danken allen Autorinnen und Autoren für das Verfassen ihrer Beiträge und für die Geduld bis zur Fertigstellung des Buches. Außerdem gilt unser Dank Julia Rapp und Sarah Fornol für das unermüdliche Korrekturlesen.

Einführung

 

Anja Wildemann

Mehrsprachige und transkulturelle Identitätskonstruktionen und ihr Potenzial für eine moderne Deutschdidaktik

«Auch wenn alle Menschen der Erde sich heute darauf einigen würden, ein und dieselbe Sprache zu sprechen, würde sich diese sehr bald durch den bloßen Gebrauch verändern, sich auf tausend verschiedene Weisen in den verschiedenen Ländern modifizieren und zur Entstehung von ebenso vielen verschiedenen Idiomen führen, die sich zunehmend voneinander entfernen.» (Éléments d’Idéologie, II, 6, S. 569)

1. Einleitung

Die Sprachenvielfalt eines Landes zeichnet sich nicht durch die Nationalvielfalt aus, sondern vor allem durch die gelebten Sprachen und ihre Variationen, die je nach Milieu divergierende Strukturen und Motivationen und damit einen engen Zusammenhang zum jeweiligen sozialen Kontext, in dem sie realisiert werden, erkennen lassen. So kann beispielsweise ein Schüler serbischer Herkunft, unabhängig davon, in welchem Land er lebt, in der Schule fließend die Mehrheitssprache sprechen, in seinem Freundeskreis in englischer Sprache rappen und mit seinen Eltern bevorzugt in Serbisch kommunizieren. Es sind vor allem die wechselnden sozialen und sprachlichen Kontexte innerhalb einer Gesellschaft, die einen Sprecher dazu bewegen, im Alltag diverse Rollen einzunehmen. Die Vielzahl an subjektiven Ausprägungsformen sprachlicher, sozialer, ökonomischer und biografischer Erlebnisse prägt auf diese Weise den Einzelnen und dessen Identität. Wiater spricht in Bezug auf Mehrsprachige von «multiplen sprachlichen und kulturellen Identitäten» (2006, S. 67), die eine Mehrsprachigkeitsdidaktik erfordern, durch die Schülerinnen und Schüler zur transnationalen, multilingualen und multikulturellen Identitätsfindung angeregt werden. Er bezeichnet Identität in diesem Sinne als «Collage von Bereichsidentitäten, bei der der Bereich Sprache zentral ist» (ebd.). Auch Griese u.a. kommen in ihrer Studie «Wir denken deutsch und fühlen türkisch», in der sie deutsch-türkische Studierende befragt haben, zu dem Ergebnis, dass Identität eine vielschichtige und flexible Kategorie ist, die sich in Abhängigkeit zu den Erfahrungen, die in unterschiedlichen Lebensphasen gemacht werden, konturiert (vgl. Griese et al. 2007, S. 168f.). Deutlich wird in dieser und anderen Untersuchungen (z.B. von Brizić 2007, Hoodgarzadeh 2010, Oomen-Welke/Schumacher 2005, Reinders 2003, Reinders u.a. 2006) ein evidenter Zusammenhang zwischen den drei Entitäten Sprache, Selbstwert und Zugehörigkeit, die maßgeblich für heutige transkulturelle Identitätskonstruktionen sind. Was bedeutet nun aber eine solche Erkenntnis für den Deutschunterricht, der sich lange Zeit als hegemonialer Muttersprachenunterricht verstanden hat und dem in der heutigen bildungspolitischen Debatte erneut eine exponierte Position in Bezug auf das zielsprachliche Lernen zugewiesen wird? Unumstritten ist, dass sich unsere Schulklassen durch eine Vielfalt an Sprachen, Kulturen und Identitäten auszeichnen, was an den Deutschunterricht vielschichtige Anforderungen stellt, für die es bislang weder ausreichend wissenschaftlich fundierte Konzepte und Materialien noch genügend Qualifizierungsangebote für Lehrkräfte gibt. Eine «Didaktik der Vielsprachigkeit» (vgl. Oomen-Welke 1999, 2010), wie sie Oomen-Welke bereits 1999 gefordert hat, existiert in den Köpfen vieler Lehrkräfte noch längst nicht (vgl. Cantone 2011, Pünter 2012). Vielmehr besteht weiterhin ein immenser Nachholbedarf in Bezug auf empirisch fundierte Kenntnisse über Voraussetzungen und Bedingungen eines sprachsensiblen Deutschunterrichts und daraus ableitbaren curricularen Festlegungen, durch die ein solcher Unterricht konkretisiert wird. Eine Deutschdidaktik, die sich als «empirisch-praktische Wissenschaft» versteht (Wintersteiner 2007, S. 22) muss sich den genannten Erfordernissen stellen. Neben lehr-lerntheoretischen, fachlichen und didaktisch-pädagogischen Überlegungen sind es die Zusammenhänge zwischen Sprachen und Identitäten in der Entwicklung des Individuums, die essentielle Ankerpunkte einer modernen Deutschdidaktik sind bzw. werden müssen.

2. Migration und Mehrsprachigkeit

«Migranten_innen sind Menschen, die nicht in ihrem Herkunftsland leben; also beispielsweise Jürgen Klinsmann, Thomas Gottschalk, Howard Carpendale, Nastasia Kinski, Mick Jagger, Madeleine Albright und Huub Stevens.» (Show 2011, S. 445)

Es ist ein wenig müßig zu wiederholen, dass die heutige Gesellschaft, egal, wo man hinschaut, durch Menschen geprägt ist, deren Biografien sich nicht in eine In- und Auslandstypologie einordnen lassen. Um die sich daraus ableitenden Folgerungen für den Deutschunterricht zu legitimieren, beginnt fast jeder Beitrag und nahezu jedes Buch zu dieser Thematik mit dem Verweis auf Aspekte wie Globalisierung, Vernetzung, Ein- und Auswanderungsgeschichten sowie sprachlicher Vielfalt. Warum verhält es sich so, obwohl allen beteiligten Berufs- und Wissenschaftsgruppen längst bekannt ist, dass der Mikrokosmos Schule ein Abbild der gesellschaftlichen Vielfalt darstellt und entsprechend Antworten darauf bereitzustellen hat? Eine nicht von der Hand zu weisende Argumentationslinie verbirgt sich in der Perspektive des Faches selbst, welches nach wie vor in einer scheinbar unauflösbaren Tradition eines «reinen» Muttersprachenunterrichts steht. Daran hat auch die aktuelle Diskussion um Bildungssprachlichkeit nur wenig geändert, handelt es sich doch in erster Linie um eine akademische Debatte, die bislang kaum zu sichtbaren Konsequenzen im Deutschunterricht geführt hat. So konnte im Rahmen einer kleinen Erhebung festgestellt werden, dass Lehrkräfte weder über ein einheitliches Verständnis von Bildungssprache verfügen (vgl. Pünter 2012, S. 76f.), noch ihr Wissen über sprachliches Lernen unter mehrsprachigen Bedingungen für die Unterrichtsgestaltung nutzen. Dies gilt selbst für Lehrkräfte mit langjähriger Erfahrung mit mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern und der Einsicht in die Notwendigkeit eines sprachsensiblen Deutschunterrichts (vgl. ebd., S. 79). Andere Untersuchungen, die den jeweiligen Mehrheitssprachenunterricht eines Landes in den Blick nehmen, untermauern dieses Ergebnis über den deutschsprachigen Raum hinaus (vgl. u.a. Gándara et al. 2005, Gershberg et al. 2004, Tikly 2006). Es handelt sich somit um ein länderübergreifendes Phänomen. Schließen lässt sich aus den bisherigen Forschungsresultaten, dass das Wissen um gesellschaftliche Bedingungen und curriculare Vorgaben noch lange nicht den gewünschten, an Mehrsprachigkeit orientierten Deutsch- bzw. Sprachunterricht nach sich zieht. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Allen voran haben wir es nach wie vor mit einer äußerst engen Sichtweise auf Mehrsprachigkeit als Folge von Migration zu tun, die konträr zu den Prämissen der Europäischen Kommission verläuft, wonach Mehrsprachigkeit sowohl Voraussetzung für eine selbstbestimmte Teilhabe an einer pluralen Gesellschaft als auch ein Garant für Bildungserfolg ist (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2005). Deutlich wird, dass sich hier zwei Denkweisen konträr gegenüberstehen. Während die vermeintliche Mehrheitssprache eines Landes häufig im Kontext ihrer nationalstaatlichen Formierung betrachtet und mit einer Homogenisierungsfunktion versehen wird, hat die Europäische Union längst eine mehrsprachige Identität angenommen. Nach außen sichtbar wird dies durch das Vorhandensein von derzeit 23 Amtssprachen sowie die ausdrückliche Akzeptanz von Regional- und Minderheitensprachen und diversen Programmen zur Förderung von Mehrsprachigkeit (vgl. Gerhards 2010, Elsner/Wildemann, i. D.). Folgt man der Europäischen Union, so ist Mehrsprachigkeit inzwischen weniger eine Folge als vielmehr eine Voraussetzung für Migrationsbewegungen. Sowohl im deutschen wie auch österreichischen Schulalltag ist diese Sichtweise bislang jedoch nicht angekommen.

3. Das Konstrukt Identität zwischen Nationalität und Transkulturalität

«Die meisten unter uns sind in ihrer kulturellen Formation durch mehrere kulturelle Herkünfte und Verbindungen bestimmt. Wir sind kulturelle Mischlinge. Die kulturelle Identität der heutigen Individuen ist eine patchwork-Identität.» (Welsch 2010, S. 46)

Die Bindung von Identität an Kultur ist die eine, die von Identität an Sprache die andere. Beide sind in der Debatte um heutige Identitätskonstruktionen in einer pluralen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Dreht sich die Auseinandersetzung zudem um Migrantinnen und Migranten bilden die Begriffe Identität, Sprache und Kultur eine nahezu unauflösliche Triade, mit der kontroverse Assoziationen und Attitüden einhergehen. Feststellen lässt sich in der wissenschaftstheoretischen Debatte eine zunehmende Abkehr von national determinierter Identität zugunsten crosskultureller und multilingualer Identitäten (vgl. u.a. Auer 2007, Lösch 2005, Welsch 2010). Anders also als zu Zeiten der Nationalstaatenbildung, die vor allem durch Bestrebungen zur Vereinheitlichung geprägt waren (vgl. Roth 2011), wird Identität nunmehr transdifferent gedacht. Danach sind Identitäten zum einen multidimensional konturiert und in der Folge zum anderen in höchstem Maße individuell. Wie ein Mensch sein Selbst definiert, hängt von unzähligen Einflussgrößen ab, wie z.B. Umwelterfahrungen, Sozialisationsbedingungen, emotionalen Befindlichkeiten und Vielem mehr. Je größer jedoch die Spannbreite der identitätsstiftenden Elemente ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit von Schnittmengen mit den Identitäten anderer Individuen, was, so Welsch, zu einer Erhöhung der Austauschmöglichkeiten zwischen den Individuen führt (vgl. Welsch 2010, S. 47). Folgt man dem Paradigma der Transkulturalität im Sinne Welschs, so ermöglicht gerade diese Form der «cross-cutting identities» (Bell 1980, S. 243, zitiert nach Welsch 1996, S. 5) das gelingende Miteinander von Menschen mit zwar unterschiedlichen, sich jedoch zugleich überschneidenden Identitätskonstruktionen. In diesem Zusammenhang ist ein vergleichender Blick auf den in Deutschland erstellten «Zweiten Integrationsindikatorenbericht» aus dem Jahr 2011 und dem österreichischen Bericht zu «Migration und Integration» (2012) durchaus erkenntnisbringend. Beide prüfen den Stand der Integration im jeweiligen Land. In Deutschland wurden dafür in erster Linie Daten zur Bildungs- und Arbeitsmarktintegration sowie zur gesellschaftlichen Integration erhoben, die vordringlich die aktive Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund messen und damit eher eindimensionale Integrationsbestrebungen dokumentieren. Zwar wurden auch Integrationsangebote, wie etwa frühkindliche Bildung als Indikator für gelingende Integration erfasst, dennoch bleibt der Fokus auf das Nutzungsverhalten der vermeintlich zu integrierenden Personen im Vergleich zu Personen ohne Migrationshintergrund beschränkt. Anders in dem österreichischen Bericht zu «Migration und Integration» aus dem Jahr 2012, in dem über die quantitative Datenerhebung hinaus zugewanderte Personen und nichtzugewanderte Personen aufgefordert wurden, den Integrationsprozess in Österreich zu beurteilen. Interessant ist, dass die Gruppe der nichtzugewanderten Personen den Integrationsprozess mit 57,4% mehrheitlich als «schlecht» bis «sehr schlecht» einschätzt, während sich aus der Gruppe der Zugewanderten 87,1% als «heimisch» und damit integriert betrachten. Deutlich an der österreichischen Befragung der Bevölkerung wird, dass Integration bzw. Zugehörigkeit nicht ausschließlich am Nutzungsverhalten institutioneller und öffentlicher Angebote abgelesen werden kann, sondern, dass Integration stets eine emotionale Befindlichkeit, eine Identifikation, beinhaltet. Sehr eindrücklich hat dies Hoodgarzadeh im Rahmen ihrer Muttersprachenstudien (2010, 2011) belegt, die darin schon für junge Migrantinnen und Migranten feststellt, dass «eine selbstbewusste Auseinandersetzung der Jugendlichen mit ihrer Verortung in der deutschen Mehrheitsgesellschaft» (Hoodgarzadeh 2010, S. 43) erfolgt, bei der von außen tradierte Zuschreibungsmerkmale eine Emanzipation von Innen erfahren (vgl. ebd., S. 44). Variablen, wie Alter, Geschlecht, Aufenthaltsdauer und sozio-ökonomischer Status bestimmen hierbei, dass belegen auch die Erhebungen in Deutschland und Österreich, den Grad der Integration bzw. Identifikation. Zu verzeichnen sind sowohl positive als auch negative Zusammenhänge, die wiederum die enge Verbindung zwischen Identität und Integration offenlegen. Dass gerade Identitätsbildung im Kontext von Migration Zwängen und Einschränkungen unterworfen ist, wie wir es in Flüchtlingsbiografien gut beobachten können, fasst Welsch sehr eindrücklich zusammen. Er verweist damit auf einen wesentlichen Aspekt von Identität in der Migration:

«Die Identitätsbildung der Individuen erfolgt also in einem Raum, der durch mannigfache Disparitäten und Beschränkungen und oft durch Zwang, Not und Armut gekennzeichnet ist. Es ist keineswegs so, dass die Individuen die Elemente ihres Identitätsfächers gleichsam frei wählen und zusammenstellen könnten. Sie unterliegen vielmehr mannigfachen Einschränkungen und äußerem Druck. Das ist teilweise im Globalisierungsdiskurs, vor allem jedoch im postkolonialen, postfeministischen und generell im Minoritätendiskurs vielfach untersucht und dargestellt worden.» (Welsch 2010, S. 53)

In Bezug auf Fragen zur Identitätsbildung in der Migration und damit zusammenhängender Integration plädiert auch Brizić nachdrücklich dafür zu bedenken, «dass wir es beim Thema Migration immer mit Menschen und deren persönlicher und kollektiver Geschichte zu tun haben, sowohl in der Einwanderungs- als auch in der Herkunfts- und Migrationsgesellschaft» (Brizić 2007, S. 22). Folgt man Brizić Auffassung, so vollzieht sich Identitätsbildung stets in Interdependenz zu gesellschaftlichen und biografischen Prozessen, denen das Individuum ausgesetzt ist. Die soziolinguistische Forschung macht sich dies zu Eigen, indem sie im Hinblick auf den mehrsprachigen Spracherwerb sprachbiografische Daten und subjektive Theorien in Bezug auf den individuellen Spracherwerb erfasst und, ausgehend von diesen, einen an Mehrsprachigkeit orientierten Unterricht vorschlägt (vgl. Brizić 2009, Jessner 2003).

Die bisherigen Erkenntnisse zur Identitätsbildung im Kontext von Mehrsprachigkeit offenbaren, wie facettenreich individuelle Identitätskonstruktionen sind, wobei der Aspekt «Jugendkultur» an dieser Stelle noch ausgeklammert geblieben ist, er aber unweigerlich zu weiteren Identitätsdimensionen führt. Will Schule, explizit der Deutschunterricht, zur Identitätsbildung mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler beitragen, ist eine Annäherung an deren gesellschaftliche und biografische Geschichte erforderlich. Die Frage nach der vermeintlichen Herkunft der Kinder und Jugendlichen reicht da nicht aus, vielmehr müssen identitätsreflektierende Inhalte ausgewählt werden, um dem Einzelnen unterschiedliche Identitätskonstruktionen zu ermöglichen. Das kann und sollte sehr konkret im Sprach- und Literaturunterricht geschehen, indem dort Sprache und damit einhergehende Identitätskonstruktionen im Sinne von Superdiversity nicht mehr im Singular gedacht, sondern als komplexe Gefüge verstanden werden (vgl. Vertovec 2007, 2009).

4. Implikationen einer modernen Deutschdidaktik

«Festhalten lässt sich somit fürs Erste, dass ein Deutschunterricht, der sich zum Ziel gesetzt hat, die (bildungs-)sprachlichen Leistungen mehrsprachiger Lerner zu fördern, nicht umhin kommt, dies vor dem Hintergrund ihrer sprachbiografischen Voraussetzungen zu tun.» (Wildemann/ Hoodgarzadeh 2011, S. 233)

Bei der Etablierung einer transkulturellen sprachsensiblen, sprich modernen Deutschdidaktik heißt es über die fachdidaktische Debatte und empirischen Erkenntnisse hinaus die bestehende Hierarchisierung zwischen den Sprachen, die sich vor allem in den bildungspolitischen Entscheidungen wiederfindet, mitzudenken. Im Gegensatz zu den modernen Fremdsprachen, die schon bei jungen Lernern ein hohes Prestige besitzen, ist es um sogenannte Minderheitensprachen oft weniger gut bestellt. Besonders deutlich zeigt sich die Divergenz zwischen Erwünschtheit und Nichterwünschtheit in der Wahrnehmung der Sprachenlerner selbst (vgl. Wildemann 2010a, Wildemann/Hoodgarzadeh 2011). Zum Ausdruck gebracht werden diese Selbstwahrnehmungen u.a. in jugendkulturellen Gegenbewegungen, so beispielsweise in bewusst initiierten Sprachvarianten wie dem Türkendeutschen bzw. Kiezdeutschen (vgl. Havva/Olsen 2009, Keim 2008, Wiese 2012). Jedoch erst mit der Etablierung der Kiez-Sprache als literarisches «Genre» ist es Autoren wie Feridun Zaimoglu gelungen, die Aufmerksamkeit auf die gesellschaftliche und sprachliche Situation türkisch-deutschsprachiger Mitbürger zu lenken (vgl. Wildemann 2011). Eine der Folgen sind Versuche, mehrsprachige Identitäten neu zu definieren. Diese Initiative geht von den «Betroffenen» selbst aus (vgl. Engin/Olsen 2009, 3f.), indem sie sich zunehmend gegen die von Außen an sie herangetragenen Zuschreibungen zur Wehr setzen und eigene Umschreibungen für ihre Zwei- oder Mehrsprachigkeit wählen. Beispielhaft dafür sind u.a. Bezeichnungen wie DeuKisch für Deutsch-Türkisch (vgl. ebd.) oder Deufars für Deutsch-Farsi (vgl. Hoodgarzadeh 2010).

Offensichtlich ist es mehr denn je erforderlich, dass im Deutschunterricht eine reflexive Auseinandersetzung mit Sprachen stattfindet, in der der eigene Sprachgebrauch nicht weiter ausgeklammert bleibt. Das gilt sowohl für verschiedene Herkunftssprachen als auch für Sprachvarietäten wie dem Kiez-Deutschen. Es gilt, die eigene Mehrsprachigkeit als Ressource erkennbar und nutzbar zu machen, um auf diese Weise das Sprachenselbstbewusstsein im Sinne von Language Awareness zu fördern (vgl. Fornol 2012, Wildemann 2010a). Es gilt aber auch – und hier treffen sich Deutschdidaktik und Politische Bildung – den Zusammenhang zwischen Sprache und Macht zu durchschauen und zu erkennen, wer aus welchen Gründen welche Sprachen fördert und welche Sprachen diskriminiert.

In seinem Plädoyer für eine sprachvielfältige europäische Schule schlägt Schmitt vor, ein «diversifiziertes Sprachenangebot in den Schulen zu fördern» (1998, S. 40) und dafür die Funktionen der Sprache nach ihrem Gebrauchswert, ihrem Bildungswert, ihrem Entwicklungswert, ihrem linguistischen Wert, ihrem kulturellen Wert, ihrem ökonomischen Wert und ihrem gesellschaftlichen Wert zu unterscheiden (vgl. ebd., S. 40f.). So fraglich die Feststellung der Wertigkeit einer Sprache gegenüber einer anderen Sprache ist, ermöglicht der Vorschlag von Schmitt dennoch eine systematische Integration von Sprachen in den Deutschunterricht. Dazu ist es nicht zwingend notwendig, seiner Bewertung von Sprachen, z.B. wenn er den Bildungswert alter Sprachen (Latein, Griechisch, Arabisch) hervorhebt, dafür jedoch andere Sprachen außer Acht lässt, unbesehen zu folgen. Aber es ist durchaus möglich, und hier ist das Potenzial eines solchen Ansatzes zu sehen, die von ihm vorgeschlagenen Kategorien einer sprach- und gesellschaftskritischen Betrachtung zu unterziehen und ggf. gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern um neue Sprachfunktionen zu modifizieren. Letztlich geht auch Schmitt diesen Weg, indem er anregt, dass Schulen eigene Sprachenprofile entwickeln, die sowohl regional vorhandene Sprachen – im Sinne einer Begegnungssprachendidaktik – als auch Mutter-, Fremd- und Weltsprachen zum Lerngegenstand machen. Er selbst bezeichnet seine Überlegungen als «real-utopisch» und resümiert:

«Ich sehe für die Zusammenarbeit in Europa und in der Welt gerade diese Notwendigkeit, zunächst das Utopische des vielfältigen Sprachenlernens zu denken und dann – und zwar nicht vorschnell-kompromißhaft [sic] – das Mögliche zu realisieren.» (ebd., S. 47)

Wie aber muss sich eine moderne Deutschdidaktik, die transkulturelle und sprachsensible Prämissen als inhärenten Bestandteil ihres Denkens und Tuns versteht, neu konfigurieren? Die nachfolgenden Implikationen knüpfen an bereits vorhandene Modelle und Konzepte an. Es wäre ja auch vermessen, existierende deutschdidaktische Ansätze wie beispielsweise von Oomen-Welke (1999, 2005, 2010), Wintersteiner (2006a, b) oder Schmitt (1998) zu vernachlässigen, liefern sie doch wichtige empirische und theoretische Einsichten. Ergänzend dazu wird zum anderen auf Erkenntnisse aus der Mehrsprachigkeitsforschung rekurriert, um Grundsätze einer modernen Deutschdidaktik zu formulieren. Aus den hier skizzierten Wissensbeständen lassen sich somit folgende Folgerungen ableiten:

I. Die Deutschdidaktik muss sich als empirische und anwendungsbezogene Didaktik definieren, die Erklärungsansätze zu gesellschaftlicher und individueller Heterogenität im Ganzen und Mehrsprachigkeit im Speziellen liefert, um Grundlagenwissen für sprachliches Lernen bereitzustellen. Dazu bedarf es einer dezidierten interdisziplinären Forschungstätigkeit, in deren Zuge eine Zusammenarbeit zwischen der Deutschdidaktik und benachbarten Disziplinen erfolgt (siehe dazu auch Wildemann 2010b).

II. Sprachbildung, Identitätsfindung und Integration müssen in der deutschdidaktischen Disziplin sowohl domänenspezifisch als auch gesellschaftspolitisch diskutiert und untersucht werden. Nur eine Verzahnung von individueller Sprachentwicklung und politisch gewollter institutioneller Förderung führt zu Modellen nachhaltigen sprachlichen Lehrens und Lernens.

III. Erforderlich ist die Aufgabe einer zu engen Koppelung von Mehrsprachigkeit an Migration, da sie lediglich eine Dimension von Mehrsprachigkeit darstellt. Stattdessen ist ein multidimensionales Verständnis von Mehrsprachigkeit zu etablieren, welches mehrsprachige Kompetenz als Produkt und Ziel lebensweltlicher Begebenheiten versteht. Ein solches Verständnis hat unmittelbare Konsequenzen für den Deutschunterricht, der sich dann in einem ersten Schritt gelebter Mehrsprachigkeit öffnen muss.

IV. Sprachbiografien der Schülerinnen und Schüler sind im Sprach- und Literaturunterricht implizit und explizit zu thematisieren. Dies kann implizit beispielsweise durch die Auswahl literarischer Texte geschehen – gemeint ist in diesem Fall nicht eine stigmatisierende Auswahl sogenannter Migrantenliteratur – und explizit durch die Sichtbarmachung der sprach(lern)bezogenen Präkonzepte (vgl. Oomen-Welke 2010).

V. Es muss ein grundlegendes und durchgängiges Ansinnen des Deutschunterrichts sein, vorhandene Identitätskonstruktionen wahrzunehmen, in das Unterrichtsgeschehen zu integrieren und somit zur Identitätsbildung beizutragen. Die empirisch-praktische Deutschdidaktik liefert dafür Grundlagenwissen und Konzepte, die sich in curricularen Vorgaben und unterrichtspraktischen Modellen wiederfinden.

Mehrsprachigkeit und Transkulturalität werden von denen, die darüber aus der Sicht der Wissenschaft schreiben, in der Regel als «Normalfall» deklariert. Aus der Sicht derjenigen, die in mehrsprachigen Klassen unterrichten, stellt sich die Situation zumeist anders, nämlich mehrheitlich als problematisch und teilweise sogar als hinderlich dar. Offensichtlich hat die didaktische Wissenschaft es weder ausreichend geschafft, den sprach- und kulturheterogenen Normalfall in ihren didaktischen Modellen umzusetzen, noch den Lehrkräften ein umfassendes Handwerkszeug bereitzustellen. Hier liegt noch ein weiter Weg vor uns.

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I.Einsprachige Schule – mehrsprachige Schule

Heidi Rösch

Mehrsprachigkeit und Deutschdidaktik – eine kritisch-historische Auseinandersetzung

1. Einleitung

Der Beitrag bezieht sich auf die Situation in Deutschland und konzentriert sich auf die Veränderungen, die sich durch die Zuwanderung seit Mitte des letzten Jahrhunderts bezogen auf die Deutschdidaktik ergeben haben. Ausgangspunkt bilden grundsätzliche Überlegungen zu Mehrsprachigkeit und mehrsprachigen Bildungsangeboten in der Einwanderungsgesellschaft. Anschließend wird der Beitrag der Deutschdidaktik auf diese Situation diskutiert. Deutschdidaktik als eine auf die deutsche Sprache, Literatur und/bzw. inklusive Medien1 bezogene Wissenschaft des sprachlichen, literarischen und/bzw. inklusiven medialen Lehrens und Lernens, zu der auch die Bereiche Erstlesen und Erstschreiben gehören, bezieht sich auf den Unterricht im deutschen Sprachraum, der längst kein «Erstsprachenunterricht» mehr ist, weil daran auch Kinder und Jugendliche teilnehmen, die mehrsprachig aufwachsen bzw. Deutsch als Zweitsprache (DaZ) erwerben. Damit muss der Deutschunterricht, wie jeder andere Fachunterricht auch, angemessen auf die heterogene Spracherwerbssituation in seinen Lerngruppen reagieren und Modelle entwickeln, die auf der Sach-, didaktischen sowie methodischen Ebene dieser Heterogenität gerecht werden. Auch wenn die Deutschdidaktik eng mit der DaZ-Didaktik verbunden ist, ist zwischen der Entwicklung des Deutschen als Zweitsprache, die über den Deutschunterricht hinausweist, und einer interkulturellen Deutschdidaktik unter besonderer Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit, die in den Deutschunterricht hineinweist, zu unterscheiden.

2. Mehrsprachigkeit in der Einwanderungsgesellschaft

Mehrsprachigkeit bezeichnet die Fähigkeit eines Menschen, mehr als eine Sprache zu gebrauchen (individuelle Mehrsprachigkeit). Uriel Weinreich unterschied 1953 zwischen koordinierter, kombinierter und subordinativer Zweisprachigkeit. Bei koordinierter Zweisprachigkeit existieren beide Sprachen parallel und damit unabhängig voneinander. Darauf gründet das Prinzip der personellen oder situativen Sprachtrennung, die vor allem im familiären und Elementarbereich angewendet wird. Bei kombinierter Zweisprachigkeit bilden beide Sprachen dagegen ein zusammengesetztes System. Kombinierte zweisprachige Förderung stellt dagegen eine Verbindung zwischen beiden Sprachen her und wird in der Regel erst im Schulalter praktiziert, z.B. durch das Bewusstmachen von Sprachunterschieden (zur Vermeidung von Interferenzen). Beide Formen arbeiten einer subordinativen Zweisprachigkeit entgegen, nach der die Zweitsprache der Erstsprache untergeordnet wird, wie beim Vokalbellernen im traditionellen Fremdsprachenunterricht.

Ernst Apeltauer (vgl. 1977, S. 18) unterscheidet im Blick auf Eingewanderte zwischen balanciert (oder parallel) Zweisprachigen, Bilingualen mit einer dominanten Sprache und Monolingualen am Anfang des Zweitspracherwerbs. Damit erweitert er das Feld der Mehrsprachigkeit auf all diejenigen, die erst beginnen eine weitere Sprache zu erwerben. Bezogen auf Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund hat das vor allem bildungspolitische Gründe und will der Reduktion dieser Gruppe auf ihre (ihnen unterstellten oder auch empirisch nachgewiesenen geringen) Deutschkenntnisse durch den Hinweis auf das Vorhandensein einer weiteren Sprache entgegenwirken. Dieser sehr weite Begriff von Mehrsprachigkeit wird im pädagogisch-didaktischen Diskurs reduziert auf diese Gruppe verwendet und nicht etwa auf Kinder, die im schulischen Kontext eine Fremdsprache zu erwerben beginnen.

In diesem Zusammenhang unterscheidet Frank G. Königs (vgl. 2005) folgende Typen von Mehrsprachigkeit: Retrospektive Mehrsprachigkeit wird lebensweltlich erworben und in die Schule mitgebracht, prospektive Mehrsprachigkeit entsteht durch das institutionelle Erlernen von Sprachen und retrospektiv-prospektive Mehrsprachigkeit ist das Ergebnis schulischen Fremdsprachenunterrichts mit retrospektiv mehrsprachigen Schüler. Aufgrund dieser besonderen Situation legt Adelheid Hu (vgl. 2003) ein Konzept vor, das auch und gerade im schulischen Fremdsprachenunterricht die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit berücksichtigt und Bezüge nicht nur zur deutschen, sondern auch zu anderen Muttersprachen der Lernenden herstellt. Solche Konzepte wurden schon früher für den Deutschunterricht entwickelt (vgl. z.B. Oomen-Welke 1997) und sind auch für nicht-sprachliche Fächer denkbar.

Rosemarie Tracy (2007) entkräftet sieben Mythen über Mehrsprachigkeit: Auf individueller Ebene zeigt sie, dass Mehrsprachigkeit weder ein kognitiver Ausnahmezustand ist, noch Kinder im Vorschulalter überfordert, dass das Mischen von Sprachen nicht auf Inkompetenz verweist, sondern ein angemessenes Verhalten zwischen Bilingualen darstellt. Außerdem betont sie, dass eine Sprache nicht beherrscht sein muss, bevor Menschen eine weitere erwerben können, und dass jede Sprache in Abhängigkeit vom Thema, von Gesprächssituationen etc. erworben wird. Damit verweist sie auf eine funktionale Mehrsprachigkeit, die von Gundula und Günther List (vgl. 2001) zu einem Verständnis von «Quersprachigkeit» weiterentwickelt wird, nach dem lebensweltliche Sprachpraxen von Individuen und Gruppen quer durch die gesellschaftlichen Sprachsysteme erworben und gepflegt werden und sich kommunikative Möglichkeiten dem pluralistischen Umgang mit situations- und adressatengerechten sprachlichen Registern verdanken. Dieses Verständnis von integrativer statt additiver Mehrsprachigkeit ist zentral für die aktuelle Mehrsprachigkeitsforschung (vgl. Oksaar 2003, Müller et al. 2007).

Neben der individuellen existiert Mehrsprachigkeit auch auf gesellschaftlicher Ebene, wenn in einer Gesellschaft, einer Region oder einer Nation mehrere Sprachen verbreitet sind oder Geltung haben wie in Südtirol das Deutsche und das Italienische. Haben die verschiedenen Sprachen keine offizielle Geltung, ist diese Mehrsprachigkeit von Diglossie geprägt, denn die Sprachen werden in unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionsbereichen verwendet. In der Bundesrepublik Deutschland herrscht noch immer eine «einseitige Diglossie mit unzureichendem Bilingualismus» (Stölting 1984, S. 356), denn nur die Minderheitenangehörigen brauchen für ihren beruflichen Erfolg und die Möglichkeit gesellschaftlicher Partizipation zusätzlich zur Erstsprache auch Kompetenzen im Deutschen. Rosemarie Tracy (vgl. 2007) entkräftet deshalb neben den oben genannten auch die Mythen, Mehrsprachigkeit sei nur positiv, wenn prestigeträchtige Sprachen betroffen seien, und nicht-deutschsprachige Eltern müssten Deutsch zur Familiensprache machen, damit ihre Kinder Deutsch erwerben. Indirekt weist sie damit die Vorstellung zurück, Deutsch sei eine Bringschuld der Minderheitenangehörigen, und übergibt die Aufgabe des Deutschlernens an Bildungseinrichtungen, die sich, so ihr siebter Mythos, davon verabschieden sollten, Sprachförderung müsse «ganzheitlich» erfolgen. Sie plädiert dafür, durch Input und spezifische Maßnahmen auf die Sprachstrukturen des Deutschen aufmerksam zu machen, damit diese auch erworben werden können.

Tove Skuttnabb-Kangas (1992, S. 41) stellt dieses Phänomen in den Kontext von Linguizismus als Ideologie, die benutzt wird, «um eine ungleiche Verteilung von Macht und Ressourcen (materiellen und ideellen) zwischen Gruppen, die auf der Basis ihrer Sprache (ihrer Muttersprachen) definiert sind, zu legitimieren, zu effektivieren und zu reproduzieren». Sie verweist damit darauf, dass vor allem Minderheitenmehrsprachigkeit in einer sich als einsprachig verstehenden Gesellschaft zu einer Konfliktmehrsprachigkeit führen kann, die vor allem in Bildungsprozessen bezogen auf Kinder und Jugendliche aus Einwanderungsfamilien nicht als Chance, sondern als Problem betrachtet wird. Hieraus entstehen Forderungen nach einer Erhaltungszweisprachigkeit (vgl. Luchtenberg 2002), das heißt, dass Bildungsprozesse bi- oder multilingual aufwachsenden Kindern und Jugendlichen die Ausbildung einer parallelen, mindestens aber einer funktionalen Minderheitenmehrsprachigkeit ermöglichen und Quersprachigkeit als eine Form dieser besonderen Sprachsozialisation anerkannt wird.

Ein dritter Aspekt, neben der individuellen und gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit, ist die Mehrsprachigkeit auf europäischer oder globaler Ebene, wenn politische Institutionen wie die Europäische Union an der Mehrsprachigkeit ihrer Mitglieder festhalten und statt der Verwendung einer lingua franca eine Kommunikationsform wählen, bei der Informationen für möglichst viele unterschiedliche Sprachgruppen bereitgestellt werden. Denkbar ist die Beibehaltung von Mehrsprachigkeit statt der Durchsetzung einer gemeinsamen Sprache auch in international agierenden Unternehmen, internationalen Forschungsprojekten oder anderen Kooperationen. Für Bildungsprozesse bedeutet dies, dass in allen Ländern nicht nur die Amtssprache/n und mindestens eine Fremdsprache zum Bildungskanon gehören, sondern dass auch Minderheiten- und Regionalsprachen anerkannt werden, ohne dass allerdings eine Verpflichtung besteht, diese in den Bildungskanon aufzunehmen.

3. Mehrsprachige Bildung

Folgende tabellarische Übersicht zu Formen von Mehrsprachigkeit bezieht sich auf Schule als Bildungseinrichtung, wobei sich die genannten Formen durchaus auch im vor- und außerschulischen Bereich finden lassen. Grob wird zwischen ein- und mehrsprachiger Bildung unterschieden. Dazwischen ist die translinguale Erziehung angesiedelt. Gemeint ist damit, dass die Erstsprache so lange Unterrichtssprache ist, bis die Lernenden in der Lage sind, den gesamten Unterricht in ihrer Zweitsprache zu erhalten. Solche Angebote finden sich an Auslands- oder fremdsprachigen Schulen, sie werden aber für Sprachminderheiten in Deutschland nicht diskutiert. Letztendlich bewirken sie bezogen auf die Bildungssprache einen Sprachwechsel, weil der Unterricht nach einer Übergangszeit einsprachig wird und die Erstsprache der Lernenden keine bildungssprachliche Förderung mehr erhält.

Es mag verwundern, dass unter der Themenstellung Mehrsprachigkeit auch auf einsprachige Konzepte verwiesen wird. Der Grund ist, dass der «monolinguale Habitus» (Gogolin 2008), der im Zuge der Nationalstaatengründung in den westeuropäischen Staaten die weitgehende Durchsetzung einer einzigen Landessprache erwirkt hat, nach wie vor dominiert, es aber dennoch Konzepte wie Deutsch als Zweitsprache, Minderheitensprachangebote sowie den etablierten Fremdsprachenunterricht gibt, die das Prinzip der Einsprachigkeit zwar nicht aufheben, aber doch mittlerweile auch im Blick auf Sprachminderheiten aufzubrechen versuchen. Bezogen auf die Zielgruppe wird zwischen der Sprachminderheit und der Regellerngruppe unterschieden, die in Einwanderungsgesellschaften längst bezogen auf die mitgebrachten Sprachen eine multilinguale ist, auch wenn Bildungspläne und lehrerbildende Studiengänge darauf noch immer nicht angemessen zu reagieren bereit sind.

Mit anderen Worten: Der Regelunterricht an deutschen Schulen ist nach wie vor einsprachig Deutsch, was bedeutet, dass Kinder und Jugendliche mit Deutsch als Erstsprache diesen landessprachlichen Unterricht als Muttersprachenunterricht erleben, während er sich für ihre Mitschüler mit Migrationshintergrund, die Deutsch als Zweitsprache erwerben, als Unterricht in einer Zweitsprache darstellt. Diese Schülergruppe erlebt den landessprachlichen Unterricht – wenn er gelingt – als sprachliche Assimilation bzw. – wenn er nicht gelingt – als Hindernis, an schulischen Lernangeboten angemessen partizipieren zu können.

Alle Schüler erhalten bereits in der Primarstufe Fremdsprachenunterricht, wobei die Dominanz zwischen der Verwendung der Fremd- bzw. Landessprache als Unterrichtssprache variabel ist. Es ist davon auszugehen, dass DaZ-Schüler von einem einsprachig fremdsprachlichen Unterricht weit mehr profitieren als von einem Fremdsprachenunterricht, der die Landessprache als Vermittlungssprache einsetzt und damit Lernende, die diese Sprache als Erstsprache erwerben, auch im Fremdsprachenunterricht begünstigt. Einsprachig-zielsprachliche oder Immersionskonzepte orientieren sich dagegen an einer koordinierten Mehrsprachigkeit und konfrontieren die Lernenden ohne direkten Bezug zu ihrer Erstsprache mit der Zielsprache, was Lernenden nicht-deutscher Erstsprachen eine Chance auf gleichberechtigte Partizipation ermöglicht.

Tab. 1: Schulische Formen von Mehrsprachigkeit (Legende: L1 Erstsprache, L2 Zweitsprache, LS Landessprache, FS Fremdsprache, MS Minderheitensprache, FU Fachunterricht)