Sprecher für die Toten - Orson Scott Card - E-Book

Sprecher für die Toten E-Book

Orson Scott Card

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein neuer Krieg

Ender Wiggin hat die „Krabbler“, die insektoiden Aliens, vernichtend geschlagen – und damit eine ganze Spezies ausgelöscht. Sein Name ist jetzt gleichbedeutend mit Genozid. Doch Ender selbst ist verschwunden. Stattdessen wird eine neue Stimme in der Galaxis laut: der „Sprecher für die Toten“, der die wahre Geschichte hinter dem Krieg gegen die „Krabbler“ erzählt. Als auf dem Planeten Lusitania eine weitere intelligente Alien-Spezies entdeckt wird, droht sich die Geschichte zu wiederholen: die Außerirdischen sind zu fremdartig für die Menschen, es kommt erst zu Missverständnissen, dann zu Todesfällen. Ein neuer Krieg droht – und einzig der Sprecher für die Toten hat den Mut, die Wahrheit zu sagen …

Im Heyne Verlag sind die Romane der Ender-Saga als E-Books lieferbar:

Enders Spiel
Sprecher für die Toten
Xenozid
Enders Kinder

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 671

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ORSON SCOTT CARD

Sprecher

für die Toten

Ender-Saga 2

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Ender Wiggin hat die »Krabbler«, die insektoiden Aliens, vernichtend geschlagen – und damit eine ganze Spezies ausgelöscht. Sein Name ist jetzt gleichbedeutend mit Genozid. Doch Ender selbst ist verschwunden. Stattdessen wird eine neue Stimme in der Galaxis laut: der »Sprecher für die Toten«, der die wahre Geschichte hinter dem Krieg gegen die »Krabbler« erzählt. Als auf dem Planeten Lusitania eine weitere intelligente Alien-Spezies entdeckt wird, droht sich die Geschichte zu wiederholen: die Außerirdischen sind zu fremdartig für die Menschen, es kommt erst zu Missverständnissen, dann zu Todesfällen. Ein neuer Krieg droht – und einzig der Sprecher für die Toten hat den Mut, die Wahrheit zu sagen …

Der Autor

Orson Scott Card, 1951 in Richland, Washington geboren, studierte englische Literatur und arbeitete als Theaterautor, bevor er sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Mit »Enders Spiel« gelang ihm auf Anhieb ein internationaler Bestseller, der mit dem Hugo und dem Nebula Award ausgezeichnet wurde. Auch die Fortsetzung »Sprecher für die Toten« gewann diese beiden prestigeträchtigen Auszeichnungen, somit ist Orson Scott Card der bislang einzige SF-Schriftsteller, dem es gelang, beide Preise in zwei aufeinanderfolgenden Jahren zu gewinnen. Orson Scott Card kehrte immer wieder in Enders Welt zurück und schrieb mehrere Fortsetzungen. Mit »Enders Schatten« erschuf er einen zweiten Helden, dessen Geschichte parallel zu »Enders Krieg« erzählt wird. »Enders Game« wurde 2013 mit Asa Butterfield und Harrison Ford in den Hauptrollen verfilmt. Card lebt mit seiner Familie in Greensboro, North Carolina.

Im Heyne Verlag sind die Romane der Ender-Saga als E-Books lieferbar:

Enders Spiel

Sprecher für die Toten

Xenozid

Enders Kinder

www.diezukunft.de

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Titel der Originalausgabe
SPEAKER FOR THE DEAD
Aus dem Amerikanischen von Karl Ulrich Burgdorf
Copyright © 1977/1985/1986 by Orson Scott Card Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: Das Illustrat, München

Inhalt

Einige Bewohner der Lusitania-Kolonie

Zur Aussprache ausländischer Namen

Prolog

1. Pipo

2. Trondheim

3. Libo

4. Ender

5. Valentine

6. Olhado

7. Das Haus der Ribeiras

8. Dona Ivanova

9. Geburtsfehler

10. Kinder des Geistes

11. Jane

12. Dateien

13. Ela

14. Renegaten

15. Das Sprechen

16. Der Zaun

17. Die Gattinnen

18. Die Schwarmkönigin

Einige Bewohner der Lusitania-Kolonie

Xenologen (Zenadores)

Pipo (João Figueira Alvarez)

Libo (Liberdade Graças a Deus Figueira de Medici)

Miro (Marcos Vladimir Ribeira von Hesse)

Ouanda (Ouanda Quenhatta Figueira Mucumbi)

Xenobiologen (Biologistas)

Gusto (Vladimir Tiago Gussman)

Cida (Ekaterina Maria Aparecida do Norte von Hesse-Gussman)

Novinha (Ivanova Santa Catarina von Hesse)

Ela (Ekaterina Elanora Ribeira von Hesse)

Gouverneurin

Bosquinha (Faria Lima Maria do Bosque)

Bischof

Peregrino (Armão Cebola)

Abt und Prinzipalin des Klosters

Dom Cristão (Amai a Tudomundo Para Que Deus vos Ame Cristão)

Dona Cristã (Detestai o Pecado e Fazei o Direito Cristã)

* Alle Jahresangaben beziehen sich auf die Zeit nach Übernahme des Sternenwege-Kodex

* Alle Jahresangaben beziehen sich auf die Zeit nach Übernahme des Sternenwege-Kodex

Zur Aussprache ausländischer Namen

Drei menschliche Sprachen werden von den Personen in diesem Buch verwendet. Da es aus dem Englischen entstand, ist Stark im Buch auch als Englisch bzw. in der vorliegenden Übersetzung als Deutsch wiedergegeben. Das auf Trondheim gesprochene Nordisch entwickelte sich aus dem Schwedischen. Portugiesisch ist die Muttersprache auf Lusitania. Auf jeder Welt wird den Schulkindern jedoch von Anfang an Stark beigebracht.

Die portugiesische Sprache klingt zwar ungewöhnlich schön, wenn sie gesprochen wird, ist aber sehr schwierig für Leser, die daran gewöhnt sind, dass Buchstaben so klingen, wie man sie schreibt. Selbst wenn Sie nicht vorhaben, dieses Buch laut zu lesen, fühlen Sie sich vielleicht wohler, wenn Sie eine allgemeine Vorstellung davon haben, wie die portugiesischen Namen und Ausdrücke ausgesprochen werden.

Konsonanten: Einzelne Konsonanten werden ungefähr wie folgt ausgesprochen:

c vor a, o und u wie k

c vor e und i wie scharfes (stimmloses) s

ç (nur vor a, o und u) wie scharfes (stimmloses) s

g vor a, o und u wie g

g vor e und i wie j in Journal

h ist stumm

j wie j in Journal

s im Anlaut eines Wortes oder einer Silbe wie scharfes (stimmloses) s, im Inlaut zwischen Vokalen wie weiches (stimmhaftes) s, im Auslaut fast wie sch

x wie scharfes oder weiches s, sch oder ks

z im An- und Inlaut eines Wortes wie weiches s, im Auslaut fast wie sch

Vokale: Einzelne Vokale werden ungefähr wie folgt ausgesprochen:

a ähnelt unbetont dem ä in lästig, betont dem a in Abend

e als ê wie in See, als é offen wie in hätte, als Murmellaut wie in Gabe

i geschlossen wie in sie

o geschlossen wie in Ofen, als ó offen wie in Sonne

u halblang wie in du

Das ist immer noch eine Vereinfachung, denn beispielsweise das o wird in unbetonter Silbe oder in einsilbigen Wörtern keineswegs wie o, sondern wie u ausgesprochen (Beispiel: Novinha). Aber es sollte ausreichen, damit Sie durch dieses Buch kommen.

Konsonantenkombinationen: Die Kombination ch wird wie sch ausgesprochen; qu vor e und i wie g; lh wie lj, nh wie nj; qu vor a wie das deutsche q; qu vor e und i wie k. Folglich spricht sich Quara als KUAH-ra; Novinha als nu-WIN-ja; und Figueira als Fi-GEH-ra.

Vokalkombinationen: Bei den portugiesischen Vokalkombinationen (Diphthongen) wie ai, ei, eu, ou usw. ist unbedingt darauf zu achten, dass jeder der beiden im Diphthong enthaltenen Vokale seine eigene Lautqualität voll behält. Eine Aussprache des eu im portugiesischen Wort Europa wie im deutschen Wort Europa wäre daher falsch.

Nasalierte Vokale: Ein Vokal oder eine Vokalkombination mit einer Tilde – gewöhnlich ão oder ã – oder die Kombination am am Ende eines Wortes werden alle wie im Französischen nasaliert. Das heißt, sie werden so ausgesprochen, als würde der Vokal mit dem deutschen ng-Laut enden, nur ist das ng nie ganz geschlossen. Außerdem wird die Silbe mit einer Tilde immer betont (Beispiel: Marcão). Silben mit den Akzentzeichen ^ und ´ werden ebenfalls betont.

Wenn ich Ihnen jetzt noch erzählen würde, dass p vor c, ç und t nicht ausgesprochen wird, was im Übrigen auch für c gilt, dann würden Sie vielleicht ganz aufgeben, darum lasse ich es lieber.

Prolog

Im Jahre 1830 nach der Gründung des Sternenwege-Kongresses schickte ein Robot-Scoutschiff über Verkürzer einen Bericht: Der Planet, den es untersuchte, lag genau innerhalb der Parameter für menschliches Leben. Der nächste Planet mit irgendeiner Art von Bevölkerungsdruck war Baía; der Sternenwege-Kongress erteilte ihnen die Forschungslizenz.

So kam es, dass die ersten Menschen, die die neue Welt erblickten, der Sprache nach Portugiesen, der Kultur nach Brasilianer und dem Glauben nach Katholiken waren. Im Jahre 1886 steigen sie aus ihrer Landefähre, bekreuzigten sich und tauften den Planeten Lusitania: der alte Name für Portugal. Sie machten sich daran, die Pflanzen- und Tierwelt zu katalogisieren. Fünf Tage später erkannten sie, dass die kleinen Waldtiere, die sie porquinhos – Schweinchen – genannt hatten, gar keine Tiere waren.

Erstmals seit dem Xenozid an den Krabblern durch Ender das Monster hatten Menschen intelligentes außerirdisches Leben entdeckt. Die Schweinchen waren in technologischer Hinsicht primitiv, aber sie gebrauchten Werkzeuge und hatten eine Sprache. »Gott hat uns eine zweite Chance gegeben«, verkündete Erzkardinal Pio von Baía. »Wir können die Vernichtung der Krabbler wiedergutmachen.«

Die Mitglieder des Sternenwege-Kongresses verehrten viele Götter, manche auch keinen, aber sie stimmten dem Erzkardinal zu. Lusitania würde von Baía aus besiedelt werden und deshalb unter katholischer Lizenz, wie die Tradition es verlangte. Aber die Kolonie würde sich nie über ein bestimmtes Gebiet hinaus ausbreiten oder eine begrenzte Einwohnerzahl überschreiten. Und vor allem anderen war sie an ein Gesetz gebunden:

Die Schweinchen durften unter keinen Umständen gestört werden.

Kapitel 1

Pipo

Da wir uns immer noch nicht so recht mit dem Gedanken angefreundet haben, dass auch die Leute aus dem nächsten Dorf Menschen sind wie wir, wäre es äußerst vermessen anzunehmen, dass wir jemals gesellige, technisch begabte Geschöpfe, die aus anderen evolutionären Bahnen aufgestiegen sind, anschauen können und keine Bestien, sondern Brüder sehen, keine Rivalen, sondern Mitpilger, die ebenfalls zum Schrein der Intelligenz unterwegs sind.

Das aber ist es, was ich sehe oder sehen möchte. Der Unterschied zwischen Ramännern und Varelse liegt nicht in dem beurteilten Geschöpf, sondern in dem Geschöpf, das urteilt. Wenn wir eine außerirdische Spezies zu Ramännern erklären, bedeutet das nicht, dass sie eine Schwelle moralischer Reife überschritten haben. Es bedeutet, dass wir es getan haben.

Demosthenes, Briefe an die Framlinge

Wühler war zugleich der schwierigste und der hilfreichste der Pequeninos. Er war immer da, wenn Pipo ihre Lichtung besuchte, und tat sein Bestes, um die Fragen zu beantworten, die Pipo nach dem Gesetz nicht offen stellen durfte. Pipo war – vielleicht zu sehr – von ihm abhängig, doch obwohl Wühler herumkasperte und spielte wie der verantwortungslose Jüngling, der er war, beobachtete er auch, sondierte, testete. Pipo musste sich ständig vor den Fallen in acht nehmen, die Wühler ihm stellte.

Vor einem Augenblick noch war Wühler Bäume hinaufgewackelt, wobei er die Borke mit den hornigen Polstern an seinen Knöcheln und an der Innenseite seiner Oberschenkel umklammerte. In den Händen trug er zwei Stöcke – Vaterstöcke wurden sie genannt –, die er in einem unwiderstehlichen, arrhythmischen Muster gegen den Baum schlug, während er kletterte.

Der Lärm trieb Mandachuva aus dem Blockhaus. Er rief Wühler in der Männersprache und dann auf Portugiesisch etwas zu. »P'ra baixo, bicho!« Mehrere Schweinchen in der Nähe, die sein portugiesisches Wortspiel hörten, drückten ihre Anerkennung aus, indem sie ihre Oberschenkel scharf aneinanderrieben. Es erzeugte ein zischendes Geräusch, und Mandachuva vollführte angesichts ihres Applauses einen kleinen Freudensprung in die Luft.

Inzwischen neigte Wühler sich nach hinten, bis es sicher schien, dass er fallen würde. Dann stieß er sich mit den Händen ab, machte einen Überschlag in der Luft und landete auf den Beinen. Er hüpfte ein paar Mal, stolperte aber nicht.

»Jetzt bist du also ein Akrobat«, sagte Pipo.

Wühler kam zu ihm herüberstolziert. Es war seine Art, Menschen zu imitieren. Sein Spott war um so wirksamer, als seine abgeflachte, nach oben gebogene Schnauze unverkennbar schweineartig aussah. Kein Wunder, dass Außenweltler sie »Schweinchen« nannten! Schon die ersten Besucher dieser Welt hatten damals 1886 in ihren ersten Berichten begonnen, sie so zu nennen, und als 1925 die Lusitania-Kolonie gegründet wurde, war der Name längst unaustilgbar. Die über die Hundert Welten verstreuten Xenologen schrieben von ihnen als »lusitanische Aborigines«, aber Pipo wusste sehr wohl, dass das bloß eine Frage professioneller Würde war: außer in wissenschaftlichen Veröffentlichungen nannten die Xenologen sie sicher auch Schweinchen. Was Pipo anging, so nannte er sie Pequeninos, und sie schienen nichts dagegen zu haben, denn sie selbst nannten sich »die Kleinen«. Trotzdem, Würde oder nicht, ließ es sich nicht ableugnen. In Augenblicken wie diesem sah Wühler wie ein Hausschwein aus, das auf den Hinterbeinen stand.

»Akrobat«, sagte Wühler, wie um das neue Wort auszuprobieren. »Was ich da gerade gemacht habe? Ihr habt ein Wort für Leute, die das machen? Also gibt es Leute, die das als Arbeit machen?«

Pipo seufzte im Stillen, während er das Lächeln auf seinem Gesicht zu einer Maske erstarren ließ. Das Gesetz verbot ihm strikt, Informationen über die menschliche Gesellschaft preiszugeben, damit sie die Schweinchen-Gesellschaft nicht kontaminierten. Trotzdem spielte Wühler ein andauerndes Spiel, noch den letzten Tropfen an Bedeutung aus allem herauszupressen, was Pipo sagte. Diesmal jedoch hatte er es nur sich selbst zuzuschreiben, weil er eine alberne Bemerkung fallengelassen hatte, die unnötige Fenster auf das menschliche Leben eröffneten. Hin und wieder fühlte er sich so wohl bei den Pequeninos, dass er ungezwungen sprach. Das war immer eine Gefahr. Ich bin nicht gut in dem ständigen Spiel, Informationen zu sammeln, möglichst ohne eine Gegenleistung zu geben. Libo, mein schweigsamer Sohn, ist schon jetzt geübter in der Kunst der Verschwiegenheit als ich, und er ist erst seit – wie lange ist es her, dass er dreizehn wurde? – seit vier Monaten bei mir in der Lehre.

»Ich wünschte, ich hätte solche Polster in den Beinen wie ihr«, sagte Pipo. »Die Borke an dem Baum da würde mir die Haut in Fetzen reißen.«

»Das würde uns alle in große Verlegenheit bringen.« Wühler verharrte still in der erwartungsvollen Haltung, die Pipo für ihre Art hielt, leichte Besorgnis zu zeigen, oder vielleicht eine nonverbale Warnung an andere Pequeninos, vorsichtig zu sein. Ebenso gut mochte es auch ein Zeichen höchster Furcht sein, aber nach allem, was Pipo wusste, hatte er nie miterlebt, dass ein Pequenino höchste Furcht empfand.

Auf jeden Fall sagte Pipo rasch, um ihn zu beruhigen: »Keine Sorge, ich bin zu alt und zu verweichlicht, um auf solche Bäume zu klettern. Das überlasse ich euch Jungen.«

Und es funktionierte: Wühlers Körper entspannte sich sofort wieder. »Ich klettere gern auf Bäume. Ich kann alles sehen.« Wühler hockte sich vor Pipo hin und neigte das Gesicht dicht heran. »Wirst du das Tier mitbringen, das über das Gras läuft, ohne den Boden zu berühren? Die anderen glauben mir nicht, wenn ich sage, ich hätte ein solches Wesen gesehen.«

Wieder eine Falle! Was nun, Pipo, du Xenologe? Wirst du diesen Vertreter der Gruppe, die du studierst, demütigen? Oder wirst du dich an das strenge Gesetz halten, das der Sternenwege-Kongress aufgestellt hat, um diese Begegnung zu reglementieren? Es gab wenige Präzedenzfälle. Die einzigen anderen intelligenten Außerirdischen, denen die Menschheit begegnet war, waren die Krabbler, vor dreitausend Jahren, und zum Schluss waren die Krabbler alle tot. Diesmal wollte der Sternenwege-Kongress sichergehen, dass, wenn die Menschheit irrte, ihre Irrtümer in die andere Richtung gehen würden. Minimale Information, minimaler Kontakt.

Wühler erkannte Pipos Zögern, sein vorsichtiges Schweigen.

»Ihr sagt uns nie etwas«, sagte Wühler. »Ihr beobachtet und studiert uns, aber ihr lasst uns nie durch euren Zaun und in euer Dorf, um euch zu beobachten und euch zu studieren.«

Pipo antwortete so ehrlich er konnte, aber Vorsicht war wichtiger als Ehrlichkeit. »Wenn ihr so wenig lernt und wir soviel, weshalb sprecht ihr dann sowohl Stark als auch Portugiesisch, während ich immer noch mit eurer Sprache kämpfe?«

»Wir sind schlauer.« Danach lehnte Wühler sich zurück und drehte sich auf den Hinterbacken herum, so dass er Pipo den Rücken zukehrte. »Geht zurück hinter euren Zaun«, sagte er.

Sofort erhob sich Pipo. Nicht allzu weit entfernt stand Libo mit drei Pequeninos und versuchte zu erfahren, wie sie getrocknete Merdona-Ranken zu Dachstroh flochten. Er sah Pipo und war einen Augenblick später abmarschbereit bei seinem Vater. Pipo führte ihn ohne ein Wort davon; da die Pequeninos die Menschensprachen so flüssig beherrschten, diskutierten sie nie über das, was sie herausgefunden hatten, bis sie innerhalb des Tores waren.

Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie zu Hause waren, und es regnete heftig, als sie das Tor passierten und an der Stirnseite des Hügels entlang zur Zenadorstation gingen. Zenador? Pipo dachte an das Wort, während er auf das kleine Schild über der Tür blickte. Auf ihm war in Stark das Wort XENOLOGE geschrieben. Das ist es wohl, was ich bin, dachte Pipo, wenigstens für die Außenweltler. Aber der portugiesische Titel Zenador war so viel leichter auszusprechen, dass auf Lusitania kaum jemand Xenologe sagte, selbst wenn er Stark sprach. So verändern sich Sprachen, dachte Pipo. Wenn es nicht den Verkürzer gäbe, der eine verzögerungsfreie Kommunikation zwischen den Hundert Welten ermöglicht, könnten wir unmöglich eine gemeinsame Sprache bewahren. Interstellare Reisen sind zu selten und dauern zu lange. Stark würde binnen eines Jahrhunderts in zehntausend Dialekte zersplittern. Es mochte interessant sein, den Computer eine Hochrechnung der linguistischen Veränderungen auf Lusitania anstellen zu lassen, für den Fall, dass man dem Stark gestatten würde, zu verfallen und das Portugiesische zu absorbieren …

»Vater«, sagte Libo.

Erst da bemerkte Pipo, dass er zehn Meter von der Station entfernt angehalten hatte. Abschweifungen. Die besten Teile meines intellektuellen Lebens sind Abschweifungen in Gebiete außerhalb meines Fachs. Vermutlich, weil die Regeln, die man mir innerhalb meines Fachgebiets auferlegt hat, es unmöglich machen, irgendetwas zu wissen oder zu erkennen. Die Wissenschaft der Xenologie beharrt auf mehr Mysterien als Mutter Kirche.

Sein Handabdruck genügte, um die Tür zu öffnen. Pipo wusste schon, wie der Abend sich entwickeln würde, als er eintrat, um zu beginnen. Es würde sie beide mehrere Stunden Arbeit an den Terminals kosten, zu berichten, was sie während der heutigen Begegnung gemacht hatten. Danach würde Pipo Libos Aufzeichnungen durchlesen, und Libo würde Pipos lesen, und wenn sie zufrieden waren, würde Pipo eine kurze Zusammenfassung schreiben und sie dann den Computern geben, die die Aufzeichnungen ablegten und sie außerdem via Verkürzer augenblicklich den Xenologen auf dem Rest der Hundert Welten übermittelten. Mehr als tausend Wissenschaftler, deren ganzes Lebenswerk darin besteht, die einzige außerirdische Rasse zu studieren, die wir kennen, und abgesehen von dem wenigen, was die Satelliten über diese baumlebende Spezies herausfinden können, sind alle Informationen, über die meine Kollegen verfügen, die, die Libo und ich ihnen schicken. Das ist wirklich eine minimale Einmischung.

Aber als Pipo das Innere der Station betrat, sah er sofort, dass es kein Abend steter, aber entspannender Arbeit werden würde. Dona Cristã war da, in ihre Mönchskutte gekleidet. Handelte es sich um eines der jüngeren Kinder, das Probleme in der Schule hatte?

»Nein, nein«, sagte Dona Cristã. »Ihre Kinder machen sich alle sehr gut, außer dem hier, das, wie ich finde, viel zu jung ist, um nicht mehr zur Schule zu gehen und hier zu arbeiten, selbst als Lehrling.«

Libo sagte nichts. Ein weiser Entschluss, dachte Pipo. Dona Cristã war eine brillante und anziehende, vielleicht sogar schöne junge Frau, aber zuerst und vor allem anderen war sie ein Mönch vom Orden der Filhos da Mente de Cristo, Kinder des Geistes Christi, und sie war nicht schön anzuschauen, wenn sie sich über Ignoranz und Dummheit ärgerte. Die Anzahl der durchaus intelligenten Leute, deren Ignoranz und Dummheit im Feuer ihrer Verachtung ein wenig dahingeschmolzen waren, war erstaunlich. Schweigen, Libo, ist eine Politik, die dir gut bekommen wird.

»Ich bin nicht wegen irgendeines Ihrer Kinder hier«, sagte Dona Cristã. »Ich bin hier wegen Novinha.«

Dona Cristã brauchte keinen Nachnamen zu erwähnen: jeder kannte Novinha. Die furchtbare Descolada war erst vor acht Jahren zu Ende gegangen. Die Seuche hatte die Kolonie auszulöschen gedroht, bevor sie eine rechte Gelegenheit gehabt hatte, sich zu etablieren; das Heilmittel war von Novinhas Vater und Mutter entdeckt worden, Gusto und Cida, den beiden Xenobiologen. Es war eine tragische Ironie, dass sie die Ursache der Epidemie zu spät gefunden hatten, um sich selbst zu retten. Ihres war das letzte Descolada-Begräbnis gewesen.

Pipo erinnerte sich noch genau an das kleine Mädchen Novinha, wie es dastand und die Hand der Bürgermeisterin Bosquinha hielt, während Bischof Peregrino höchstpersönlich die Seelenmesse las. Nein – sie hatte nicht die Hand der Bürgermeisterin gehalten. Das Bild kehrte in seinen Geist zurück und damit zugleich die Art und Weise, wie er sich gefühlt hatte. Er erinnerte sich daran, dass er sich gefragt hatte: Wie fasst sie das auf? Es ist das Begräbnis ihrer Eltern, sie ist die letzte Überlebende ihrer Familie; und doch kann sie überall um sich herum die große Freude der Menschen der Kolonie spüren. Jung, wie sie ist, begreift sie, dass unser Frohsinn die beste Huldigung an ihre Eltern ist? Sie haben gekämpft und waren erfolgreich, fanden unsere Rettung in den schwindenden Tagen, bevor sie starben; wir sind hier, um das große Geschenk zu feiern, das sie uns machten. Aber für dich, Novinha, ist er der Tod deiner Eltern, so wie zuvor deine Brüder starben. Fünfhundert Tote und mehr als hundert Messen für die Toten hier in dieser Kolonie in den letzten sechs Monaten, und sie alle wurden in einer Atmosphäre der Angst und Trauer und Verzweiflung abgehalten. Nun, da deine Eltern sterben, sind Angst und Trauer und Verzweiflung für dich nicht geringer als zuvor – aber niemand sonst teilt deinen Schmerz. Es ist die Erlösung vom Schmerz, an die wir vor allem anderen denken.

Als er sie so beobachtete und versuchte, sich ihre Gefühle vorzustellen, gelang es ihm nur, seine eigene Trauer beim Tode seiner Maria neu zu entfachen: sieben Jahre alt, davongeweht im Todeswind, der ihren Leib mit krebsigen Gewächsen und schwammig wuchernden Geschwülsten überzog, das Fleisch angeschwollen oder eingefallen, ein neues Glied, nicht Arm noch Bein, das aus ihrer Hüfte wuchs, während das Fleisch sich von ihren Füßen und ihrem Kopf löste, die Knochen freilegend, ihr süßer und schöner Körper vor ihren Augen zerstört, während ihr heller Verstand gnadenlos wach war, imstande, alles, was mit ihr geschah, zu fühlen, bis sie zu Gott schrie, er möge sie sterben lassen. Daran erinnerte Pipo sich, und dann erinnerte er sich an ihr Totenamt, das sie mit fünf anderen Opfern teilte. Während er mit seiner Frau und den überlebenden Kindern dasaß, kniete, stand, hatte er die vollkommene Einheit der Menschen in der Kathedrale gespürt. Er wusste, dass sein Schmerz der Schmerz aller war, dass er durch den Verlust seiner ältesten Tochter mit seiner Gemeinde durch die untrennbaren Bande des Kummers verbunden war, und das war ihm ein Trost, es war etwas, an das man sich klammern konnte. So sollte ein solcher Kummer sein: eine öffentliche Klage.

Die kleine Novinha hatte nichts dergleichen. Ihr Schmerz war womöglich noch größer, als der Pipos es gewesen war: immerhin hatte Pipo nicht ganz ohne Familie dagestanden, und er war ein Erwachsener, kein durch den plötzlichen Verlust seiner Lebensgrundlage zu Tode erschrockenes Kind. In ihrem Kummer wurde sie nicht fester in die Gemeinde eingebunden, sondern vielmehr aus ihr ausgeschlossen. Heute freute sich jeder außer ihr. Heute pries jeder ihre Eltern; sie allein sehnte sich nach ihnen, hätte es lieber gehabt, sie hätten nie ein Heilmittel für andere gefunden, wenn nur sie selbst am Leben geblieben wären.

Ihre Isolation war so schmerzhaft deutlich, dass Pipo sie von dort aus erkennen konnte, wo er saß. Novinha entzog der Bürgermeisterin ihre Hand so rasch wie möglich. Ihre Tränen versiegten, während die Messe ihren Fortgang nahm; am Ende saß sie stumm da wie eine Gefangene, die sich weigert, mit denen zusammenzuarbeiten, die sie gefangen halten. Pipos Herz brach für sie. Und doch wusste er, dass er, selbst wenn er es versuchte hätte, nicht seine eigene Freude angesichts des Endes der Descolada hätte verbergen können, sein Frohlocken, dass ihm keines seiner anderen Kinder genommen werden würde. Das würde sie sehen; sein Bemühen, sie zu trösten, würde eine Farce sein, würde sie weiter forttreiben.

Nach der Messe schritt sie in bitterer Einsamkeit inmitten der Massen wohlmeinender Leute, die ihr grausamerweise erzählten, dass ihre Eltern ganz sicher Heilige seien, ganz gewiss zur Rechten Gottes sitzen würden. Was für eine Art von Trost ist das für ein Kind? Laut flüsterte Pipo seiner Frau zu: »Den heutigen Tag wird sie uns nie vergeben.«

»Vergeben?« Conceição war keine dieser Ehefrauen, die den Gedankengang ihres Mannes augenblicklich verstehen. »Wir haben ihre Eltern doch nicht umgebracht …«

»Aber wir freuen uns heute alle, oder nicht? Dafür wird sie uns nie vergeben.«

»Unsinn. Überhaupt begreift sie nichts; sie ist zu jung.«

Sie begreift, dachte Pipo. Hat Maria denn nicht begriffen, was geschah, als sie sogar noch jünger war als Novinha jetzt?

Während die Jahre vergingen – acht Jahre inzwischen –, hatte er sie von Zeit zu Zeit gesehen. Sie war im gleichen Alter wie sein Sohn Libo, und bis zu Libos dreizehntem Geburtstag bedeutete das, dass sie viele Kurse zusammen besuchten. Zusammen mit den anderen Kindern hörte er sie gelegentlich Vorträge und Reden halten. Es lag eine Eleganz in ihrem Denken, eine Leidenschaft in der Art, wie sie Ideen prüfte, die ihn ansprach. Gleichzeitig wirkte sie völlig kalt, völlig fern von allen anderen. Pipos eigener Junge, Libo, war scheu, aber trotzdem hatte er verschiedene Freunde und die Zuneigung seiner Lehrer gewonnen. Novinha jedoch hatte überhaupt keine Freunde, niemanden, dessen Blick sie suchte nach einem Augenblick des Triumphs. Es gab keinen Lehrer, der sie wirklich mochte, weil sie sich weigerte, sich erkenntlich zu zeigen, zu reagieren. »Sie ist gefühlsmäßig paralysiert«, hatte Dona Cristã einmal gesagt, als Pipo nach ihr fragte. »Man kann sie nicht erreichen. Sie schwört, dass sie vollkommen glücklich sei, und sieht keine Notwendigkeit, sich zu ändern.«

Jetzt war Dona Cristã zur Zenadorstation gekommen, um mit Pipo über Novinha zu sprechen. Warum Pipo? Er konnte nur einen Grund vermuten, aus dem die Prinzipalin der Schule ihn wegen dieses sonderbaren Waisenmädchens aufsuchte. »Soll ich glauben, dass ich in all den Jahren, in denen Sie Novinha in Ihrer Schule hatten, der einzige gewesen bin, der sich nach ihr erkundigt hat?«

»Nicht der einzige«, sagte sie. »Vor ein paar Jahren, als der Papst ihre Eltern seligsprach, zeigte man alle möglichen Arten von Interesse für sie. Da fragte jeder, ob die Tochter von Gusto und Cida, Os Venerados, je irgendwelche wundersamen Ereignisse im Zusammenhang mit ihren Eltern bemerkt hätte, wie so viele andere Leute.«

»Das hat man sie tatsächlich gefragt?«

»Es gab Gerüchte, und Bischof Peregrino musste Nachforschungen anstellen.« Dona Cristã wurde ein wenig verkniffen, als sie von dem jungen geistlichen Oberhaupt der Lusitania-Kolonie sprach. Allerdings sagte man, dass die Hierarchie nie gut mit dem Orden der Filhos da Mente de Cristo auskam. »Ihre Antwort war aufschlussreich.«

»Kann ich mir vorstellen.«

»Sie sagte mehr oder weniger, wenn ihre Eltern tatsächlich auf Gebete hörten und Einfluss im Himmel darauf hätten, ihre Erfüllung zu veranlassen, warum sie dann nicht ihre Gebete erhört hätten, aus dem Grabe aufzuerstehen? Das wäre ein nützliches Wunder gewesen, sagte sie, und es gäbe ja Präzedenzfälle. Wenn Os Venerados tatsächlich die Macht besäßen, Wunder zu gewähren, dann müsse das bedeuten, dass sie sie nicht genug liebten, um ihr Gebet zu erhören. Sie zöge es vor zu glauben, dass ihre Eltern sie immer noch liebten und ganz einfach nicht die Macht hätten, tätig zu werden.«

»Eine geborene Sophistin«, sagte Pipo.

»Eine Sophistin und eine Expertin in Sachen Schuld; sie erklärte dem Bischof, dass es, wenn der Papst ihre Eltern für verehrungswürdig erkläre, das gleiche wäre, als wenn die Kirche sage, dass ihre Eltern sie hassten. Der Antrag auf Heiligsprechung ihrer Eltern sei der Beweis, dass Lusitania sie verachte; werde ihm entsprochen, sei es ein Beweis dafür, dass die Kirche selbst verachtenswert sei. Bischof Peregrino war fuchsteufelswild.«

»Ich stelle fest, dass er den Antrag trotzdem einreichte.«

»Für das Wohl der Gemeinde. Und es hatte ja all diese Wunder gegeben.«

»Jemand berührt den Schrein, und ein Kopfweh verschwindet, und sie schreien ›Milagre! – os santos me abençoaram!‹ Ein Wunder – die Heiligen haben mich gesegnet!«

»Sie wissen, dass das heilige Rom substantiellere Wunder als so etwas verlangt. Aber es ist egal. Der Papst hat uns gnädig gestattet, unser kleines Dorf Milagre zu nennen, und jetzt male ich mir aus, wie jedes Mal, wenn jemand diesen Namen ausspricht, Novinha vor geheimem Zorn ein bisschen heißer brennt.«

»Oder kälter. Man weiß nie, was für eine Temperatur dergleichen annimmt.«

»Wie dem auch sei, Pipo, Sie sind nicht der einzige, der je nach ihr gefragt hat. Aber Sie sind der einzige, der je um ihrer selbst willen nach ihr gefragt hat und nicht wegen ihrer heiligsten und gesegneten Eltern.«

Es war ein trauriger Gedanke, dass es neben dem der Filhos, die die Schule Lusitanias leiteten, kein Interesse an dem Mädchen gegeben hatte außer den spärlichen Scherben an Aufmerksamkeit, die Pipo über die Jahre für sie erübrigt hatte.

»Sie hat einen Freund«, sagte Libo.

Pipo hatte vergessen, dass sein Sohn anwesend war – Libo war so still, dass man ihn leicht übersehen konnte. Auch Dona Cristã schien verblüfft. »Libo«, sagte sie, »ich glaube, es war indiskret von uns, so über eine deiner Schulkameradinnen zu sprechen.«

»Ich bin jetzt Zenadorlehrling«, erinnerte Libo sie. Was heißen sollte, dass er nicht mehr zur Schule ging.

»Wer ist ihr Freund?«, fragte Pipo.

»Marcão.«

»Marcos Ribeira«, erläuterte Dona Cristã. »Der große Junge …«

»Ah, ja, der, der wie eine Cabra gebaut ist.«

»Er ist stark«, sagte Dona Cristã. »Aber ich habe nie irgendwelche Freundschaft zwischen ihnen bemerkt.«

»Einmal, als man Marcão wegen etwas anklagte und sie es zufällig mitbekam, sprach sie für ihn.«

»Du deutest das sehr großzügig, Libo«, sagte Dona Cristã. »Ich glaube, es wäre richtiger zu sagen, dass sie gegen die Jungen sprach, die es in Wirklichkeit getan hatten und nun versuchten, ihm die Schuld zuzuschieben.«

»Marcão sieht es nicht so«, sagte Libo. »Ich habe mehrfach bemerkt, wie er sie beobachtete. Es ist nicht viel, aber es gibt jemanden, der sie mag.«

»Magst du sie?«, fragte Pipo.

Libo blieb einen Moment stumm. Pipo wusste, was das bedeutete. Er erforschte sich selbst, um eine Antwort zu finden. Nicht die Antwort, die, wie er meinte, ihm am ehesten die Gunst der Erwachsenen einbringen würde, und nicht die Antwort, die ihren Zorn herausfordern würde – die beiden Arten von Täuschung, an denen sich die meisten Kinder seines Alters ergötzten. Er erforschte sich selbst, um die Wahrheit zu entdecken.

»Ich glaube«, sagte Libo, »ich nahm an, dass sie nicht gemocht werden wollte. Als wäre sie ein Besucher, der damit rechnet, jeden Tag nach Hause zurückzugehen.«

Dona Cristã nickte ernst. »Ja, das trifft es genau. Ganz genauso wirkt sie. Aber nun, Libo, müssen wir unserer Indiskretion ein Ende machen, indem wir dich bitten, uns allein zu lassen, während wir …«

Er war fort, bevor sie ihren Satz beendete, mit einem raschen Kopfnicken, einem angedeuteten Lächeln, das besagte: Ja, ich verstehe, und einer Gewandtheit der Bewegung, die seinen Abgang zu einem beredteren Beweis seiner Diskretion machte, als wenn er Argumente dafür vorgebracht hätte, bleiben zu dürfen. Daran erkannte Pipo, wie sehr es Libo ärgerte, dass man ihn bat zu gehen; er hatte ein Händchen dafür, Erwachsene sich im Vergleich zu ihm irgendwie unreif fühlen zu lassen.

»Pipo«, sagte die Prinzipalin, »sie hat um eine vorzeitige Prüfung als Xenobiologin ersucht. Um die Stelle ihrer Eltern einzunehmen.«

Pipo hob eine Augenbraue.

»Sie behauptet, sie habe das Gebiet intensiv studiert, seit sie ein kleines Kind war. Sie sei bereit, sofort mit der Arbeit zu beginnen, ohne Lehrzeit.«

»Sie ist dreizehn, nicht wahr?«

»Es gibt Präzedenzfälle. Viele haben solche Prüfungen vorzeitig abgelegt. Einer hat sie sogar noch jünger als sie bestanden. Das war vor zweitausend Jahren, aber es wurde erlaubt. Bischof Peregrino ist natürlich dagegen, aber Bürgermeisterin Bosquinha, gesegnet sei ihr praktisches Empfinden, hat darauf hingewiesen, dass Lusitania sehr dringend einen Xenobiologen braucht – wir müssen uns endlich an die Arbeit machen, neue Pflanzenarten zu entwickeln, damit wir eine anständige Abwechslung in unserem Speiseplan und viel bessere Ernten aus lusitanischem Boden erzielen können. Mit ihren Worten: ›Mir ist egal, ob es ein Säugling ist, wir brauchen einen Xenobiologen.‹«

»Und Sie wollen, dass ich ihre Prüfung abnehme?«

»Wenn Sie so freundlich wären.«

»Es wird mir ein Vergnügen sein.«

»Das habe ich ihnen auch schon gesagt.«

»Ich gestehe, dass ich einen Hintergedanken dabei habe.«

»Ach?«

»Ich hätte mehr für das Mädchen tun sollen. Ich würde gerne sehen, ob es noch nicht zu spät ist, damit anzufangen.«

Dona Cristã lachte ein bisschen. »Ach, Pipo, ich wäre froh, wenn Sie es versuchen würden. Aber glauben Sie mir, mein lieber Freund, ihr Herz zu berühren ist wie ein Bad in Eis.«

»Ich stelle es mir vor. Ich stelle mir vor, dass es sich für die Person, die sie berührt, wie ein Bad in Eis anfühlt. Aber wie fühlt es sich für sie an? Kalt, wie sie ist, muss es gewiss wie Feuer brennen.«

»Welch ein Poet«, sagte Dona Cristã. In ihrer Stimme lag keine Ironie; ihr war Ernst damit. »Begreifen die Schweinchen, dass wir ihnen unseren Allerbesten als Botschafter geschickt haben?«

»Ich versuche es ihnen zu erklären, aber sie sind skeptisch.«

»Ich schicke sie morgen zu Ihnen. Ich warne Sie – sie wird erwarten, die Prüfungen auf Anhieb zu bestehen, und sie wird sich jedem Versuch von Ihrer Seite widersetzen, sie vorzuprüfen.«

Pipo lächelte. »Ich mache mir viel mehr Sorgen über das, was passiert, nachdem sie den Test abgelegt hat. Wenn sie versagt, wird sie sehr schlimme Probleme haben. Und wenn sie besteht, dann fangen meine Probleme an.«

»Wieso?«

»Libo wird hinter mir her sein, damit ich auch ihn vorzeitig die Zenadorsprüfung ablegen lasse. Und wenn er das täte, gäbe es keinen Grund mehr für mich, nicht nach Hause zu gehen, mich zusammenzurollen und zu sterben.«

»Was für ein romantischer Narr Sie doch sind, Pipo! Wenn es einen Mann in Milagre gibt, der seinen dreizehnjährigen Sohn als Kollegen anzunehmen vermag, dann sind Sie es.«

Nachdem sie gegangen war, arbeiteten Pipo und Libo wie gewöhnlich gemeinsam daran, die Ereignisse des Tages bei den Pequeninos aufzuzeichnen. Pipo verglich Libos Arbeit, seine Denkweise, seine Einsichten, seine Einstellungen mit jenen der Diplomstudenten, die er an der Universität gekannt hatte, bevor er sich der Lusitania-Kolonie anschloss. Er mochte klein sein, und er mochte noch eine Menge Theorien und Wissen zu lernen haben, aber er war schon ein echter Wissenschaftler in seiner Methode und ein Humanist im Herzen. Als die abendliche Arbeit getan war und sie gemeinsam beim Licht von Lusitanias großem strahlendem Mond nach Hause gingen, hatte Pipo entschieden, dass Libo es bereits verdiente, als Kollege behandelt zu werden, ob er nun die Prüfung abgelegt hatte oder nicht. Die Tests konnten ohnehin nicht die Dinge messen, auf die es wirklich ankam.

Und ob es ihr gefiel oder nicht, Pipo gedachte herauszufinden, ob Novinha die unmessbaren Qualitäten eines Wissenschaftlers besaß; wenn nicht, dann würde er dafür sorgen, dass sie den Test nicht ablegte, ganz egal, wie viele Fakten sie auswendig gelernt hatte.

Pipo würde es ihr nicht einfach machen. Novinha wusste, wie Erwachsene sich verhielten, wenn sie vorhatten, nicht nach ihrer Pfeife zu tanzen, wollte aber keinen Kampf oder auch nur irgendwelche Bosheiten. Natürlich, selbstverständlich kannst du den Test ablegen. Aber es besteht kein Grund zum Überstürzen, nehmen wir uns doch etwas Zeit, um sicherzugehen, dass du beim ersten Anlauf erfolgreich bist.

Novinha wollte nicht warten. Novinha war bereit.

»Ich springe durch alle Reifen, die Sie aufstellen«, sagte sie.

Sein Gesicht wurde kalt. Das wurden ihre Gesichter immer. Das war okay, Kälte war okay, sie konnte sie zu Tode frieren lassen. »Ich will nicht, dass du durch Reifen springst«, sagte er.

»Das einzige, worum ich bitte, ist, dass Sie sie alle in einer Reihe aufstellen, damit ich schnell durch sie hindurchspringen kann. Ich will nicht tagelang hingehalten werden.«

Einen Augenblick lang sah er sie nachdenklich an. »Du hast es so eilig.«

»Ich bin bereit. Der Sternenwege-Kodex gestattet mir, den Test jederzeit in Angriff zu nehmen. Das ist eine Sache zwischen mir und dem Sternenwege-Kongress, und ich kann nirgendwo eine Stelle finden, an der es heißt, dass ein Xenologe versuchen dürfte, schlauer als der interplanetarische Prüfungsausschuss zu sein.«

»Dann hast du nicht sorgfältig nachgelesen.«

»Das einzige, was ich benötige, um den Test abzulegen, bevor ich sechzehn bin, ist die Genehmigung meines gesetzlichen Vormundes. Ich habe keinen gesetzlichen Vormund.«

»Im Gegenteil«, sagte Pipo. »Bürgermeisterin Bosquinha war seit dem Todestag deiner Eltern dein gesetzlicher Vormund.«

»Und sie hat erlaubt, dass ich den Test ablegen könnte.«

»Vorausgesetzt, du kämest zu mir.«

Novinha sah den eindringlichen Blick in seinen Augen. Sie kannte Pipo nicht, also dachte sie, es sei der Blick, den sie in so vielen Augen gesehen hatte, der Wunsch zu dominieren, sie zu beherrschen, der Wunsch, ihre Entschlossenheit zu untergraben und ihre Unabhängigkeit zu brechen, der Wunsch, sie dazu zu bringen, sich zu unterwerfen.

Von Eis zu Feuer in einem Augenblick. »Was wissen Sie über Xenobiologie! Sie gehen nur hinaus und reden mit den Schweinchen, Sie verstehen ja nicht einmal in Ansätzen das Wirken von Genen! Wer sind Sie, mich zu beurteilen! Lusitania braucht einen Xenobiologen, und man ist acht Jahre lang ohne einen gewesen. Und Sie wollen sie sogar noch länger warten lassen, damit Sie die Zügel in der Hand behalten können!«

Zu ihrer Überraschung wurde er nicht nervös, trat nicht den Rückzug an. Er schien auch nicht seinerseits ärgerlich zu werden. Es war, als habe sie gar nicht gesprochen.

»Ich verstehe«, sagte er. »Es liegt an deiner großen Liebe zu den Menschen Lusitanias, dass du Xenobiologin werden willst. Weil du die öffentliche Not sahst, hast du dich aufgeopfert und dich darauf vorbereitet, vorzeitig in ein Leben selbstlosen Dienens einzutreten.«

Es klang absurd, wenn sie es ihn so sagen hörte. Und es war absolut nicht das, was sie empfand. »Ist das als Grund nicht gut genug?«

»Wenn es wahr wäre, wäre es gut genug.«

»Nennen Sie mich eine Lügnerin?«

»Deine eigenen Worte nennen dich eine Lügnerin. Du sprachst davon, wie sehr sie, die Menschen Lusitanias, dich brauchen. Aber du lebst unter uns. Dein ganzes Leben hast du unter uns gelebt. Bereit, dich für uns zu opfern, obwohl du dich nicht als Teil dieser Gemeinschaft fühlst.«

Also war er nicht wie die Erwachsenen, die Lügen immer so lange glaubten, wie sie sie als das Kind erscheinen ließen, das sie gerne gehabt hätten. »Warum sollte ich mich als Teil der Gemeinschaft fühlen? Ich bin es nicht.«

Er nickte ernst, als dächte er über ihre Antwort nach. »Von welcher Gemeinschaft bist du denn ein Teil?«

»Die einzige andere Gemeinschaft auf Lusitania sind die Schweinchen, und draußen bei den Baumanbetern haben Sie mich noch nicht gesehen.«

»Es gibt viele andere Gemeinschaften auf Lusitania. Beispielsweise bist du Schülerin – es gibt eine Gemeinschaft der Schüler.«

»Nicht für mich.«

»Ich weiß. Du hast keine Freunde, du hast keine vertrauten Gefährten, du gehst zur Messe, aber du gehst nie zur Beichte, du bist so völlig losgelöst, dass du das Leben dieser Kolonie, das Leben der menschlichen Rasse, so wenig wie irgend möglich berührst, an keinem Punkt. Allem Anschein nach lebst du in völliger Isolation.«

Darauf war Novinha nicht vorbereitet.

Er nannte den elementaren Schmerz ihres Lebens beim Namen, und sie hatte keine Vorsorge getroffen, um damit fertig zu werden. »Wenn ich das tue, dann ist es nicht mein Fehler.«

»Das weiß ich. Ich weiß, wo es anfing, und ich weiß, wessen Fehler dazu führten, dass es bis zum heutigen Tage weitergeht.«

»Meine?«

»Meine. Und die aller anderen. Aber meine am allermeisten, weil ich wusste, was mit dir geschah, und ich nicht das geringste tat. Bis heute.«

»Und heute wollen Sie mich von der einzigen Sache abhalten, die mir in meinem Leben etwas bedeutet! Vielen Dank für Ihr Mitgefühl!«

Wieder nickte er mit feierlichem Ernst, so, als nehme er ihre ironische Dankbarkeit entgegen und nehme sie förmlich an. »In einem Sinne, Novinha, kommt es nicht darauf an, dass es nicht dein Fehler ist. Denn die Stadt Milagre ist eine Gemeinschaft, und ob sie dich schlecht behandelt hat oder nicht, sie muss trotzdem immer noch so handeln, wie alle Gemeinschaften es tun, um das größtmögliche Glück für alle ihre Mitglieder sicherzustellen.«

»Was heißen soll: für jedermann auf Lusitania außer mir – außer mir und den Schweinchen.«

»Der Xenobiologe ist sehr wichtig für eine Kolonie, insbesondere eine wie diese, die von einem Zaun umgeben ist, der unser Wachstum für immer einschränkt. Unser Xenobiologe muss Möglichkeiten finden, mehr Protein und Kohlenhydrate pro Hektar wachsen zu lassen, was die genetische Modifikation des von der Erde stammenden Korns und der Tomaten erfordert, um …«

»Um größtmöglichen Nutzen aus den in der lusitanischen Umwelt zur Verfügung stehenden Nährstoffen zu ziehen. Denken Sie, ich hätte vor, meine Prüfung abzulegen, ohne mein zukünftiges Lebenswerk zu kennen?«

»Es ist also dein Lebenswerk, dich der Verbesserung der Lebensweise von Menschen zu widmen, die du verachtest.«

Nun erkannte Novinha die Falle, die er für sie ausgelegt hatte. Zu spät; sie war zugeschnappt. »Also denken Sie, eine Xenobiologin könne ihre Arbeit nicht tun, wenn sie die Menschen nicht liebt, die ihre Ergebnisse nutzen?«

»Mir ist egal, ob du uns liebst oder nicht. Was ich wissen muss, ist, was du wirklich willst. Warum du so leidenschaftlich darauf aus bist, das hier zu machen.«

»Elementare Psychologie. Meine Eltern sind bei dieser Arbeit gestorben, und darum versuche ich, in ihre Fußstapfen zu treten.«

»Vielleicht«, sagte Pipo. »Und vielleicht auch nicht. Was ich wissen will, Novinha, was ich wissen muss, bevor ich dich den Test ablegen lasse, ist, welcher Gemeinschaft du wirklich angehörst.«

»Sie haben es selber gesagt! Ich gehöre keiner an.«

»Unmöglich. Jeder Mensch wird durch die Gemeinschaften definiert, denen er angehört, und auch die, denen er nicht angehört. Ich bin dies und dies und dies, aber bestimmt nicht das und das und das. Alle deine Definitionen sind negativ. Ich könnte eine endlose Liste der Dinge aufstellen, die du nicht bist. Aber ein Mensch, der wirklich glaubt, er gehöre überhaupt keiner Gemeinschaft an, bringt sich unweigerlich selbst um, entweder, indem er seinen Körper ruiniert oder indem er seine Identität aufgibt und wahnsinnig wird.«

»Das bin ich, verrückt bis in die Wurzel.«

»Nicht verrückt. Von einem Zweckgefühl getrieben, das erschreckend ist. Wenn du diesen Test ablegst, wirst du ihn bestehen. Aber bevor ich dir erlaube, ihn abzulegen, muss ich eins wissen: Wer wirst du werden, wenn du bestehst? An was glaubst du, wovon bist du ein Teil, woraus machst du dir etwas, was liebst du?«

»Niemanden in dieser oder irgendeiner anderen Welt.«

»Ich glaube dir nicht.«

»Ich habe auf der Welt nie einen guten Mann oder eine gute Frau gekannt außer meinen Eltern, und die sind tot. Und selbst sie … keiner versteht irgendetwas.«

»Dich.«

»Ich bin ein Teil von irgendetwas, oder? Aber keiner versteht irgendjemanden, nicht einmal Sie, der Sie vorgeben, so weise und mitfühlend zu sein, aber Sie bringen mich nur so zum Weinen wie jetzt, weil Sie die Macht haben, mich an dem zu hindern, was ich tun will.«

»Und das ist nicht die Xenobiologie.«

»Ist es doch! Jedenfalls ist es ein Teil davon.«

»Und was ist der Rest?«

»Was Sie sind. Was Sie machen. Nur, dass Sie alles ganz falsch machen, dass Sie es dumm machen.«

»Xenobiologin und Xenologin.«

»Man hat einen dummen Fehler gemacht, als man eine neue Wissenschaft begründete, um die Schweinchen zu studieren. Das waren ein Haufen müder alter Anthropologen, die sich neue Hüte aufgesetzt und sich selbst Xenologen genannt haben. Aber man kann die Schweinchen nicht verstehen, indem man einfach nur beobachtet, wie sie sich verhalten! Sie haben sich aus einer andersartigen Evolution entwickelt! Man muss ihre Gene verstehen, das, was im Innern ihrer Zellen vorgeht. Und auch in den Zellen der anderen Tiere, denn sie können nicht für sich studiert werden, niemand lebt völlig isoliert …«

Halte mir keine Vorlesung, dachte Pipo. Sage mir, was du fühlst. Und um sie zu provozieren, emotionaler zu sein, flüsterte er: »Außer dir.«

Es klappte. Eben noch kalt und verächtlich, wurde sie hitzig und abwehrend. »Sie werden sie nie verstehen! Aber ich!«

»Warum machst du dir etwas aus ihnen? Was sind die Schweinchen für dich?«

»Das werden Sie nie verstehen. Sie sind ein guter Katholik.« Sie sprach das Wort voller Verachtung aus. »Es ist ein Buch, das auf dem Index steht.«

Pipos Gesicht erglühte in plötzlichem Verstehen. »Die Schwarmkönigin und der Hegemon.«

»Er lebte vor dreitausend Jahren, wer immer er war, der, der sich der Sprecher für die Toten nannte. Aber er verstand die Krabbler. Wir rotteten sie alle aus, die einzige andere außerirdische Rasse, die wir je kannten, wir brachten sie alle um, aber er verstand.«

»Und du möchtest die Geschichte der Schweinchen schreiben, so, wie der ursprüngliche Sprecher über die Krabbler schrieb.«

»So, wie Sie es sagen, klingt es so einfach wie das Verfassen einer gelehrten Abhandlung. Sie wissen nicht, wie es war, die Schwarmkönigin und den Hegemon zu schreiben. Wie viel Seelenangst es ihn kostete, sich … sich in einen fremden Geist hineinzudenken … und erfüllt mit Liebe für das große Geschöpf, das wir vernichtet haben, daraus hervorzukommen. Er lebte zur selben Zeit wie das übelste menschliche Wesen, das je existierte, Ender der Xenozide, der die Krabbler vernichtete, und er tat sein Bestes, um rückgängig zu machen, was Ender getan hatte: Der Sprecher für die Toten versuchte, die Toten auferstehen zu lassen …«

»Aber das konnte er nicht.«

»Aber er tat es! Er ließ sie wieder leben – Sie wüssten es, wenn Sie das Buch gelesen hätten! Ich weiß nichts von Jesus, ich höre Bischof Peregrino zu und glaube nicht, dass in ihrem Priestertum irgendeine Macht liegt, Hostien in Fleisch zu verwandeln oder ein Milligramm Schuld zu vergeben. Aber der Sprecher für die Toten hat die Schwarmkönigin wieder zum Leben erweckt.«

»Wo ist sie denn dann?«

»Hier drin! In mir!«

Er nickte. »Und noch jemand anderes ist in dir. Der Sprecher für die Toten. Das ist es, was du sein willst.«

»Es ist die einzige wahre Geschichte, die ich je gehört habe«, sagte sie. »Die einzige, die mir etwas bedeutet. Ist es das, was Sie hören wollten? Dass ich eine Häretikerin bin? Und dass es mein ganzes Lebenswerk sein wird, dem Index der Wahrheiten, die guten Katholiken zu lesen verboten sind, ein weiteres Buch hinzuzufügen?«

»Was ich hören wollte«, sagte Pipo sanft, »war der Name dessen, was du bist, anstatt des Namens all der Dinge, die du nicht bist. Was du bist, ist die Schwarmkönigin. Was du bist, ist der Sprecher für die Toten. Es ist eine sehr kleine Gemeinschaft, klein an Zahl, aber eine mit großem Herzen. Also entschiedest du dich dafür, nicht Teil der Kinderbanden zu sein, die sich nur aus dem Grunde zusammenscharen, um andere auszuschließen. Leute betrachten dich und sagen, armes Mädchen, sie ist so isoliert, aber du kennst ein Geheimnis, du weißt, wer du wirklich bist. Du bist das eine menschliche Wesen, das imstande ist, den fremden Geist zu verstehen, weil du der fremde Geist bist; du weißt, wie es ist, nicht menschlich zu sein, weil es nie eine Gruppe von Menschen gegeben hat, die dir ein Leumundszeugnis als redlicher Homo sapiens ausgestellt hat.«

»Nun sagen Sie, ich sei nicht einmal menschlich? Sie bringen mich zum Weinen wie ein kleines Mädchen, weil Sie mich den Test nicht ablegen lassen wollen, Sie bringen mich dazu, mich selbst zu demütigen, und nun sagen Sie, ich sei nicht menschlich?«

»Du kannst den Test ablegen.«

Die Worte hingen in der Luft.

»Wann?«, flüsterte sie.

»Heute Abend. Morgen. Fang an, wann du willst. Ich werde meine Arbeit unterbrechen, um dich so rasch durch die Tests zu führen, wie du möchtest.«

»Danke! Danke, ich …«

»Werde zum Sprecher für die Toten. Ich werde dir nach besten Kräften helfen. Das Gesetz verbietet mir, irgendjemanden außer meinem Lehrling, meinem Sohn Libo, mit hinaus zu den Pequeninos zu nehmen. Aber wir werden dir unsere Aufzeichnungen übergeben. Alles, was wir erfahren, zeigen wir dir. Alle unsere Vermutungen und Spekulationen. Dafür zeigst du uns auch deine ganze Arbeit: was du über die genetischen Strukturen dieser Welt herausfindest, das uns helfen könnte, die Pequeninos zu verstehen. Und wenn wir genug erfahren haben, gemeinsam, kannst du dein Buch schreiben, kannst du zum Sprecher werden. Aber diesmal nicht der Sprecher für die Toten. Die Pequeninos sind nicht tot.«

Unwillkürlich lächelte sie. »Der Sprecher für die Lebenden.«

»Ich habe die Schwarmkönigin und den Hegemon auch gelesen«, sagte er. »Ich wüsste keinen besseren Ort für dich, um deinen Namen zu finden.«

Aber noch vertraute sie ihm nicht, glaubte nicht, was er da zu versprechen schien. »Ich werde oft hierher kommen wollen. Ständig.«

»Wir schließen ab, wenn wir ins Bett gehen.«

»Aber die ganze übrige Zeit. Sie werden mich bald satt haben. Sie werden mir sagen, ich solle weggehen. Sie werden Geheimnisse vor mir bewahren. Sie werden mir befehlen, still zu sein und meine Ideen nicht zu erwähnen.«

»Gerade eben sind wir Freunde geworden, und schon glaubst du, ich sei solch ein Lügner und Betrüger, solch ein ungeduldiger Dummkopf.«

»Aber Sie werden es tun, jeder tut es; alle wünschen sich, dass ich weggehe …«

Pipo zuckte die Achseln. »Und? Irgendwann einmal wünscht sich jeder, dass irgendwer weggeht. Irgendwann werde ich mir wünschen, dass du weggehst. Was ich dir damit sagen will ist, dass selbst dann, selbst wenn ich dir sage, du solltest weggehen, du nicht weggehen musst.«

Es war auf verblüffende Weise das Vollkommenste, das irgendwer ihr je gesagt hatte. »Das ist irre.«

»Nur eines: Versprich mir, dass du nie versuchen wirst, zu den Pequeninos hinauszugehen. Denn das darf ich dir nie gestatten, und wenn du es trotzdem machst, würde der Sternenwege-Kongress unsere gesamte Arbeit hier einstellen, würde jeglichen Kontakt mit ihnen untersagen. Versprichst du mir das? Oder alles – meine Arbeit, deine Arbeit – wäre ruiniert.«

»Ich verspreche es.«

»Wann willst du den Test ablegen?«

»Jetzt! Kann ich ihn jetzt beginnen?«

Er lachte leise, streckte dann die Hand aus und berührte das Terminal, ohne hinzuschauen. Es erwachte zum Leben, und die ersten Genmodelle erschienen in der Luft über dem Terminal.

»Sie hatten die Prüfung fertig«, sagte sie. »Sie waren dazu bereit, auf der Stelle anzufangen! Sie wussten die ganze Zeit, dass ich sie ablegen würde!«

Er schüttelte den Kopf. »Ich hoffte es. Ich glaubte an dich. Ich wollte dir helfen, zu tun, was du dir erträumtest. Solange es etwas Gutes war.«

Sie wäre nicht Novinha gewesen, wenn ihr nicht noch eine giftige Bemerkung eingefallen wäre. »Ich verstehe. Sie sind der Richter der Träume.«

Vielleicht wusste er nicht, dass es eine Beleidigung war. Er lächelte bloß und sagte: »Glaube, Hoffnung und Liebe – diese drei. Das größte unter ihnen aber ist die Liebe.«

»Sie lieben mich nicht«, sagte sie.

»Ah«, sagte er. »Ich bin der Richter der Träume, und du bist die Richterin der Liebe. Nun, ich befinde dich schuldig, gute Träume geträumt zu haben, und verurteile dich zu einem Leben der Arbeit und des Leidens um deiner Träume willen. Ich hoffe nur, dass du mich nicht eines Tages des Verbrechens für unschuldig befindest, dich zu lieben.« Einen Augenblick lang wurde er nachdenklich. »Ich habe eine Tochter in der Descolada verloren. Maria. Sie wäre nur ein paar Jahre älter gewesen als du.«

»Und ich erinnere Sie an sie?«

»Ich dachte gerade, dass sie ganz anders gewesen wäre als du.«

Sie begann den Test. Er dauerte drei Tage. Sie bestand ihn mit einer Punktzahl, die ein ganzes Stück höher lag als die manch eines Diplomstudenten. In der Rückschau würde sie sich jedoch nicht an den Test erinnern, weil er der Beginn ihrer Karriere war, das Ende ihrer Kindheit, die Berufung zu ihrem Lebenswerk. Sie würde sich an den Test erinnern, weil er der Beginn ihrer Zeit in Pipos Station war, wo Pipo und Libo und Novinha zusammen die erste Gemeinschaft bildeten, der sie angehört hatte, seit ihre Eltern in die Erde gesenkt worden waren.

Es war nicht leicht, besonders zu Anfang nicht. Novinha legte nicht gleich ihre Neigung zu kalter Konfrontation ab. Pipo verstand das, war darauf vorbereitet, ihren verbalen Hieben auszuweichen. Für Libo war es ein viel größeres Problem. Die Zenadorstation war ein Ort gewesen, wo er und sein Vater zusammen allein sein konnten. Ohne dass jemand seine Zustimmung eingeholt hätte, war jetzt eine dritte Person hinzugekommen, eine kalte und fordernde Person, die mit ihm redete, als sei er ein Kind, obwohl sie gleichaltrig waren. Es ärgerte ihn, dass sie eine fertige Xenobiologin war, mit dem vollen Erwachsenenstatus, den das mit sich brachte, während er immer noch ein Lehrling war.

Aber er versuchte, das geduldig zu ertragen. Er war von Natur aus ruhig, und Gelassenheit war seine bestimmende Eigenschaft. Er neigte nicht dazu, offen Anstoß zu nehmen. Aber Pipo kannte seinen Sohn und sah, wie er innerlich brannte. Nach einer Weile begann Novinha, so unsensibel sie war, zu begreifen, dass sie Libo mehr provozierte, als jeder normale junge Mann ertragen konnte. Aber statt es ihm leichter zu machen, begann sie es als Herausforderung zu betrachten. Wie konnte sie diesem unnatürlich ruhigen, sanftmütigen, schönen Jungen irgendeine Reaktion abringen?

»Du meinst, ihr habt all diese Jahre gearbeitet«, sagte sie eines Tages, »und wisst nicht einmal, wie die Schweinchen sich vermehren? Woher wisst ihr, dass es alles Männer sind?«

Libo antwortete höflich: »Wir haben ihnen ›männlich‹ und ›weiblich‹ erklärt, als sie unsere Sprache erlernten. Sie beliebten, sich ›Männer‹ zu nennen. Und bezeichneten die anderen, die, die wir nie gesehen haben, als ›Frauen‹.«

»Aber nach allem, was ihr wisst, können sie sich durch Knospung vermehren! Oder durch Zellteilung!«

Ihr Tonfall war verächtlich, und Libo antwortete nicht sofort. Pipo stellte sich vor, er könne die Gedanken seines Sohnes hören, der seine Antwort immer wieder neu in Worte fasste, bis sie sanft und ungefährlich war. »Ich wünschte mir, unsere Arbeit hier wäre mehr wie biologische Anthropologie«, sagte er. »Dann wären wir besser darauf vorbereitet, deine Untersuchungen der subzellularen Lebensmuster Lusitanias auf das anzuwenden, was wir über die Pequeninos erfahren.«

Novinha wirkte empört. »Du meinst, ihr nehmt nicht einmal Gewebeproben?«

Libo errötete leicht, aber seine Stimme war immer noch ruhig, als er antwortete. Der Junge hätte sich auch bei einer Befragung durch die Inquisition so verhalten, dachte Pipo. »Es ist töricht, nehme ich an«, sagte Libo, »aber wir haben Angst, dass die Pequeninos sich fragen würden, warum wir Stücke ihres Körpers nehmen. Wenn einer von ihnen durch Zufall hinterher erkrankte, würden sie denken, wir hätten die Krankheit verursacht.«

»Und wenn ihr etwas nehmen würdet, das sie auf natürlichem Wege abstoßen? Man kann eine Menge aus einem Haar lernen.«

Libo nickte; Pipo, der vom Terminal am anderen Ende des Raumes her zusah, erkannte die Geste – Libo hatte sie von seinem Vater gelernt. »Viele primitive Stämme der Erde glauben, dass abgestoßene Teile ihres Körpers etwas von ihrem Leben und ihrer Stärke enthielten. Was, wenn die Schweinchen dächten, wir würden Magie gegen sie anwenden?«

»Kennt ihr nicht ihre Sprache? Ich dachte, einige von ihnen sprächen auch Stark.« Sie gab sich keine Mühe, ihre Verachtung zu verbergen. »Könnt ihr ihnen nicht erklären, wofür die Proben sind?«

»Du hast recht«, sagte er ruhig. »Aber wenn wir erklären würden, wofür wir die Gewebeproben verwenden, könnten wir ihnen versehentlich tausend Jahre, bevor sie von sich aus diesen Punkt erreicht hätten, die Konzepte der biologischen Wissenschaft beibringen. Eben deshalb verbietet uns das Gesetz, derartige Dinge zu erklären.«

Endlich war Novinha in Verlegenheit gebracht. »Mir war nicht bewusst, wie enge Grenzen euch die Doktrin der minimalen Einmischung setzt.«

Pipo freute sich zu hören, wie sie sich von ihrer Arroganz entfernte, aber ihre Demut war womöglich noch schlimmer. Das Kind war so isoliert von menschlichem Kontakt, dass es wie ein besonders pedantisches Lehrbuch sprach. Pipo fragte sich, ob es bereits zu spät war, ihr beizubringen, wie man als menschliches Wesen lebte.

Es war nicht zu spät. Nachdem sie einmal begriffen hatte, dass sie Kapazitäten in ihrer Wissenschaft waren und dass sie fast nichts davon verstand, gab sie ihre aggressive Haltung auf und fiel beinahe ins gegenteilige Extrem. Wochenlang sprach sie nur noch selten mit Libo und Pipo. Stattdessen studierte sie ihre Berichte und versuchte, den Sinn hinter dem zu erfassen, was sie taten. Dann und wann hatte sie eine Frage und stellte sie; sie antworteten höflich und eingehend.

Langsam machte die Höflichkeit der Vertrautheit Platz. Pipo und Libo begannen sich offen vor ihr zu unterhalten, erörterten ihre Spekulationen darüber, warum die Schweinchen einige ihrer fremdartigen Verhaltensweisen entwickelt hatten, welche Bedeutung hinter einigen ihrer merkwürdigen Äußerungen lag, warum sie so zum Verrücktwerden unzugänglich blieben. Und da das Studium der Schweinchen ein sehr neuer Wissenschaftszweig war, brauchte Novinha nicht lange, selbst aus zweiter Hand sachkundig genug zu sein, um ein paar Hypothesen zu äußern. »Schließlich«, ermutigte Pipo sie darin, »sind wir alle gleich blind.«

Pipo hatte vorausgesehen, was als nächstes geschah. Libos sorgfältig kultivierte Geduld hatte ihn für andere seines Alters selbst dann kalt und reserviert erscheinen lassen, wenn Pipo ihn dazu bewegen konnte, den Versuch zu machen, gesellig zu sein; Novinhas Isolation war auffälliger, aber nicht tiefgreifender. Nun aber brachte ihr gemeinsames Interesse an den Schweinchen sie einander näher – mit wem sonst sollten sie sich unterhalten, wenn niemand außer Pipo ihre Gespräche auch nur verstehen konnte?

Sie entspannten sich gemeinsam, lachten Tränen über Witze, die unmöglich irgendeinen anderen Luso amüsiert hätten. Genau wie die Schweinchen jedem Baum im Wald einen Namen zu geben schienen, gab Libo spielerisch allen Möbeln in der Zenadorstation Namen und verkündete regelmäßig, bestimmte Möbelstücke seien schlechter Laune und dürften nicht gestört werden. »Setz dich nicht auf Stuhl! Sie hat wieder mal ihre Tage.« Sie hatten nie ein weibliches Schweinchen gesehen, und die Männer schienen stets mit beinahe religiöser Ehrfurcht von ihnen zu sprechen; Novinha schrieb eine Reihe komischer Pseudo-Berichte über eine »Ehrwürdige Mutter« genannte imaginäre Schweinchenfrau, die übermütig, gemein und fordernd war.

Nicht alles war lustig. Es gab Probleme, Sorgen und einmal eine Zeit wirklicher Angst, dass sie genau das getan haben könnten, was der Sternenwege-Kongress so mühsam zu verhindern versucht hatte: nämlich radikale Veränderungen in der Schweinchen-Gesellschaft herbeizuführen. Natürlich begann es mit Wühler. Wühler, der unbeirrt fortfuhr, herausfordernde, unmögliche Fragen zu stellen wie zum Beispiel: »Wenn ihr keine andere Menschenstadt habt, wie könnt ihr dann Krieg führen? Es bringt euch keine Ehre, ›Kleine‹ zu töten.« Pipo plapperte etwas darüber, dass Menschen niemals Pequeninos, »Kleine«, töten würden; aber er wusste, dass das nicht die Frage war, die Wühler eigentlich stellte.

Pipo hatte seit Jahren gewusst, dass die Schweinchen eine Vorstellung von Krieg hatten, aber noch Tage danach debattierten Libo und Novinha hitzig darüber, ob Wühlers Frage bewies, dass die Schweinchen Krieg als wünschenswert oder bloß als unvermeidlich ansahen. Auch andere Bruchstücke an Information kamen von Wühler, manche wichtig, manche nicht – und viele, deren Wichtigkeit sich unmöglich beurteilen ließ. Auf eine gewisse Art war Wühler selbst der Beweis für die Klugheit der Politik, die es den Xenologen verbot, Fragen zu stellen, die menschliche Erwartungen und damit menschliche Bräuche enthüllten. Wühlers Fragen gaben ihnen unweigerlich mehr Antworten, als sie durch seine Antworten auf ihre eigenen Fragen erhielten.

Die letzte Information, die Wühler ihnen gab, war jedoch nicht in einer Frage enthalten. Es war eine Vermutung, die er vertraulich Libo gegenüber äußerte, als Pipo mit ein paar der anderen fortgegangen war, um die Art und Weise zu erforschen, wie sie ihr Blockhaus gebaut hatten. »Ich weiß ich weiß«, sagte Wühler, »ich weiß, warum Pipo noch am Leben ist. Eure Frauen sind zu dumm, um zu erkennen, dass er weise ist.«

Libo bemühte sich, einen Sinn in dieser offenbar irrigen Folgerung zu erkennen. Was dachte Wühler? Dass, wenn Menschenfrauen klüger wären, sie Pipo töten würden? Das Gerede von Töten war beunruhigend – dies war offensichtlich eine wichtige Angelegenheit, und Libo wusste nicht, wie er alleine damit zurechtkommen sollte. Trotzdem konnte er Pipo nicht zu Hilfe rufen, da Wühler offensichtlich darüber sprechen wollte, ohne dass Pipo es hören konnte.

Als Libo nicht antwortete, fuhr Wühler fort: »Eure Frauen sind schwach und dumm. Ich habe das den anderen erzählt, und sie meinten, ich könnte dich fragen. Eure Frauen sehen Pipos Weisheit nicht. Ist das wahr?«

Wühler schien sehr erregt; er atmete schwer und zupfte sich andauernd Haare aus den Armen, immer vier bis fünf auf einmal. Libo musste antworten, irgendwie. »Die meisten Frauen kennen ihn nicht«, sagte er.

»Wie werden sie dann wissen, ob er sterben sollte?«, fragte Wühler. Dann plötzlich wurde er sehr still und sprach sehr laut. »Ihr seid Cabras!«

Erst da kam Pipo in Sicht, verwundert, worum es bei dem Geschrei ging. Er sah sofort, dass Libo hoffnungslos schwamm. Jedoch hatte Pipo keine Ahnung, worum sich die Unterhaltung überhaupt drehte – wie konnte er helfen? Alles, was er wusste, war, dass Wühler sagte, Menschen – oder wenigstens Pipo und Libo – seien irgendwie den großen Tieren ähnlich, die in Herden auf der Prärie grasten. Pipo vermochte nicht einmal festzustellen, ob Wühler wütend oder glücklich war.

»Ihr seid Cabras! Ihr entscheidet!« Er deutete auf Libo und dann auf Pipo. »Nicht eure Frauen wählen eure Ehre, sondern ihr! Genau wie im Kampf, nur ständig!«

Pipo hatte keine Vorstellung, wovon Wühler sprach, aber er konnte sehen, dass alle Pequeninos so reglos wie Baumstümpfe waren, während sie darauf warteten, dass er – oder Libo – antwortete. Es war offenkundig, dass Libo von Wühlers seltsamem Verhalten zu eingeschüchtert war, um überhaupt eine Antwort zu riskieren. In diesem Fall konnte Pipo keine bessere Lösung erkennen, als die Wahrheit zu sagen; schließlich war es eine relativ offensichtliche und triviale Information über die menschliche Gesellschaft. Es verstieß gegen die Regeln, die der Sternenwege-Kongress für ihn aufgestellt hatte; aber nicht zu antworten wäre noch schädlicher gewesen, und darum trat Pipo die Flucht nach vorn an.

»Frauen und Männer entscheiden gemeinsam, oder sie entscheiden für sich selbst«, sagte Pipo. »Einer entscheidet nicht für den anderen.«