Sprich nicht drüber, aber halte dich dran: Die Macht impliziter Regeln in Systemen - Bernd Sprenger - E-Book

Sprich nicht drüber, aber halte dich dran: Die Macht impliziter Regeln in Systemen E-Book

Bernd Sprenger

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Beschreibung

Jeder kennt es, alle spüren es: In Unternehmen und Organisationen wirken unsichtbare Regeln, denen alle unterworfen sind. Aber wie geht man mit Regeln um, nach denen alle handeln, die aber nirgendwo festgeschrieben sind? Versteckte Systemregeln sind in jeder Organisation und in jedem Unternehmen zu finden. Sie sind meist Ergebnis der Geschichte des jeweiligen Systems und bestimmen in hohem Maße, was in ihm möglich ist und was nicht. Entscheidend ist die Tatsache, dass diese Regeln weder offen kommuniziert oder kritisiert werden noch auf den ersten Blick erkennbar sind. Wie kommt man diesen versteckten Regeln auf die Spur? Wie wirken sie auf das Verhalten einzelner? Bernd Sprenger zeigt, wie Antworten in der systemischen Beratung gefunden werden können. Er erläutert die impliziten Systemregeln verschiedener organisationaler Kontexte, von der Kirche über Familienunternehmen bis zu Universitäten, und beleuchtet Handlungsoptionen für Beratende.

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Leben.Lieben.ArbeitenSYSTEMISCH BERATEN    

Herausgegeben von Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe

Bernd Sprenger

Sprich nicht drüber, aber halte dich dran: Die Macht impliziter Regeln in Systemen

Mit 7 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: pixnio.com, Public Domain (CC0)

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2625-6088

ISBN 978-3-647-99991-3

Inhalt

Zu dieser Buchreihe

Vorwort von Arist von Schlippe

I   Was sind implizite Systemregeln?

1 Was ist das Thema?

2 Implizite Systemregeln – ein Beispiel

2.1 Fallvignette: Eine hoch qualifizierte Frau und zwei Patriarchen

2.2 Patriarchale Dynamiken in Familienunternehmen und in arabischen Kulturen

II  Der Kontext

3 Das Individuum und das System

3.1 Was ist der Sinn von offenen und verdeckten Systemregeln?

3.2 Wie entstehen implizite Systemregeln?

3.3 Wie erreicht ein System, dass die Regeln tradiert und eingehalten werden?

3.4 Wie stabil sind die Regelsysteme, und was kann sie verändern?

4 Implizite Systemregeln in verschiedenen organisationalen Kontexten

4.1 Zuerst die Idee – Kirchen, Gewerkschaften, Parteien

4.2 Feeling well together – NGOs, ehrenamtlich betriebene Vereine

4.3 Ebit ist alles – Wirtschaft, börsennotierte Unternehmen

4.4 Agil und hierarchiefrei – Start-up-Szene

4.5 Die Familie zuerst – Familienunternehmen

4.6 Der Dienstweg ist der Königsweg – Ministerien, Behörden

4.7 Die Kunst schwebt über allem – Galerien, Museen, Theater

4.8 Organisation ist unter unserer Würde – Universitäten, Akademien

5 Jenseits des eigenen Systemhorizonts

5.1 Systemregeln im kulturellen Kontext

5.2 Organisationen und Subsysteme

III Lehren für Systemisches Coaching und Organisationsentwicklung

6 Vom System her denken

7 Double-Loop-Learning für Organisationen

8 Implizite Regeln und deren Sinn erfassen

9 Technik der Erarbeitung impliziter Regeln

10 Keyplayer und »social emotional leaders«: Wer verkörpert die Regeln?

11 Systemregeln verändern: Geht das, und wenn ja, wie?

12 Fazit

IV Am Ende

Literatur

Der Autor

Zu dieser Buchreihe

Die Reihe »Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten« befasst sich mit Herausforderungen menschlicher Existenz und deren Bewältigung. In ihr geht es um Themen, an denen Menschen wachsen oder zerbrechen, zueinanderfinden oder sich entzweien und bei denen Menschen sich gegenseitig unterstützen oder einander das Leben schwermachen können. Manche dieser Herausforderungen (Leben.) haben mit unserer biologischen Existenz, unserem gelebten Leben zu tun, mit Geburt und Tod, Krankheit und Gesundheit, Schicksal und Lebensführung. Andere (Lieben.) betreffen unsere intimen Beziehungen, deren Anfang und deren Ende, Liebe und Hass, Fürsorge und Vernachlässigung, Bindung und Freiheit. Wiederum andere Herausforderungen (Arbeiten.) behandeln planvolle Tätigkeiten, zumeist in Organisationen, wo es um Erwerbsarbeit und ehrenamtliche Arbeit geht, um Struktur und Chaos, um Aufstieg und Abstieg, um Freud und Leid menschlicher Zusammenarbeit in ihren vielen Facetten.

Die Bände dieser Reihe beleuchten anschaulich und kompakt derartige ausgewählte Kontexte, in denen systemische Praxis hilfreich ist. Sie richten sich an Personen, die in ihrer Beratungstätigkeit mit jeweils spezifischen Herausforderungen konfrontiert sind, können aber auch für Betroffene hilfreich sein. Sie bieten Mittel zum Verständnis von Kontexten und geben Werkzeuge zu deren Bearbeitung an die Hand. Sie sind knapp, klar und gut verständlich geschrieben, allgemeine Überlegungen werden mit konkreten Fallbeispielen veranschaulicht und mögliche Wege »vom Problem zu Lösungen« werden skizziert. Auf unter 100 Buchseiten, mit etwas Glück an einem langen Abend oder einem kurzen Wochenende zu lesen, bieten sie zu dem jeweiligen lebensweltlichen Thema einen schnellen Überblick.

Die Buchreihe schließt an unsere Lehrbücher der systemischen Therapie und Beratung an. Unsere Bücher zum systemischen Grundlagenwissen (1996/2012) und zum störungsspezifischen Wissen (2006) fanden und finden weiterhin einen großen Leserkreis. Die aktuelle Reihe erkundet nun das kontextspezifische Wissen der systemischen Beratung. Es passt zu der unendlichen Vielfalt möglicher Kontexte, in denen sich »Leben. Lieben. Arbeiten« vollzieht, dass hier praxisbezogene kritische Analysen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ebenso willkommen sind wie Anregungen für individuelle und für kollektive Lösungswege. Um klinisch relevante Störungen, um systemische Theoriekonzepte und um spezifische beraterische Techniken geht es in diesen Bänden (nur) insoweit, als sie zum Verständnis und zur Bearbeitung der jeweiligen Herausforderungen bedeutsam sind.

Wir laden Sie als Leserin und Leser ein, uns bei diesen Exkursionen zu begleiten.

Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe

Vorwort

In dieser Situation wird wohl jede Leserin/jeder Leser einmal gewesen sein: Eine Gruppe kommt für einen gewissen Zeitraum zusammen. Man sitzt im Kreis, nach der ersten Einführungsrunde beginnt ein Gespräch, nach einiger Zeit kommt eine Pause, nach der Pause setzen sich wieder alle auf »ihre« Plätze, es geht weiter. Nach der zweiten Pause setzt sich eine Person, vielleicht ist sie zu spät gekommen oder sie will provozieren, auf den Platz eines anderen. »Hey, das ist mein Platz!« dürfte dessen zu erwartende Antwort sein. Daran mag sich ein Streit anschließen: »Dein Platz? Der gehört dir doch nicht!« – »Doch, ich habe hier schon vorhin gesessen!!!« – »Na und?« usw. Wie auch immer der Streit ausgeht, die Herausforderung hat eine simple implizite Regel verdeutlicht: »Wir setzen uns immer auf denselben Stuhl!« Dabei steht natürlich nirgendwo ein Schild, das eine entsprechende Anweisung gäbe (an einigen Hotelpools in Südeuropa soll es ja sogar den Hinweis geben, dass die Liegestühle gerade nicht mit dem eigenen Handtuch reserviert werden sollen – und es geschieht trotzdem).

Im Kleinen begegnen wir hier einem Phänomen, das für unser soziales Leben typisch ist: Wir erleben, wie sich ein soziales Ordnungsmuster entwickelt. Solche Muster entstehen oft ohne tieferen Grund, einfach weil sie entstehen, oft steckt auch keine bewusste Intention dahinter. »Das haben wir schon immer so gemacht!«, heißt es dann etwa lapidar. Gerade bei den impliziten, also nicht angeordneten Regeln, um die es in diesem Buch geht, haben wir es mit solchen emergenten Phänomenen zu tun. Das Zusammenspiel der Elemente eines Systems erzeugt neue Strukturen. Sie entstehen, indem sich Personen in sozialen Kontexten verhalten. Ihre immer gleichen Verhaltensweisen werden zu Mustern, diese können über Regeln beschrieben werden: »Immer, wenn …«.

Wenn ein Muster einmal entstanden ist, passiert etwas Spannendes: Die impliziten Regeln übernehmen »die Macht«, sie beginnen, das Verhalten zu dominieren. Und interessanterweise halten sich vielfach alle wie von selbst an sie. In Organisationen spricht man dann von Unternehmenskultur. Diese wird von Niklas Luhmann als »unentscheidbare Entscheidungsprämisse« bezeichnet, sie entsteht da, wo Probleme auftauchen, die nicht durch Anweisungen (sprich: explizite Regeln) gelöst werden können (Luhmann, 2000, S. 241). Die Selbstverständlichkeit der impliziten Regeln sorgt zum einen für Reibungslosigkeit, zum anderen macht sie die Akteure selbst blind dafür. Erst wenn sie bewusst gemacht werden – z. B. weil jemand die Regel anspricht, oder wenn sie infrage gestellt werden – etwa durch einen Tabubruch, können sie diskutiert, konfrontiert werden, mit der Chance ihrer Veränderung.

Natürlich ist das mit den impliziten Regeln meist nicht so einfach wie mit dem Einnehmen des immer gleichen Platzes im Seminar. Sie entstehen auch nicht nur durch das Verhalten von ein paar Gruppenmitgliedern. Implizite Regeln sind meist komplexer, sie können die Zugehörigkeit von Personen zu spezifischen Gruppen oder aber deren Ausschluss bestimmen, sie können das Verhältnis der Geschlechter festlegen, die Reihenfolge des Sprechens in einer Teamsitzung oder die Lautstärke, mit der über einen Witz gelacht wird (es wurde übrigens nachgewiesen, dass die Lautstärke des Lachens je nach Status des Erzählers variiert). Implizite Regeln können auch nicht per Anordnung verändert werden, denn sie sind oft schon lange als verdeckte Ordnungsstrukturen etabliert, oft länger als die Akteure, die sie tragen und weitertragen.

Um genau diese Muster geht es Bernd Sprenger in diesem Buch. Seine Beispiele sind zahlreich und sehr eindrücklich. Sie zeigen auf, wie komplex implizite Regeln sind und wie sie in unterschiedlichen Wertesystemen ganz unterschiedliche Formen annehmen können, etwa in der Kirche, in einer Klinik, in der Politik, in einer NGO oder in der Wirtschaft. Sehr prägnant wird hier aufgezeigt, welche Macht den geheimen Spielregeln zukommt und wie wichtig es ist, diese Macht nicht »personenbezogen« zu verrechnen (sie also einem identifizierten Bösewicht zuzuschreiben), sondern sie als Herausforderung zu verstehen, größere systemische Zusammenhänge zu identifizieren und der Reflexion zugänglich zu machen. Wohlgemerkt, das bedeutet nicht, dass Verantwortlichkeiten nicht klar benannt werden sollten. Natürlich ist auch die Frage zu stellen, welche Einflussgruppen eher von impliziten Regeln profitieren und welche dafür einen Preis zu zahlen haben.

Doch der Königsweg der Veränderung liegt darin, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Diese stehen nämlich oft im Dienst der Tabuisierung der Regeln. Es ist ja nicht die Aufgabe einer Beraterin/eines Beraters, normativ und brachial Regelsysteme zu verändern. Vielmehr geht es darum, diese immer wieder durch Formen der Enttabuisierung der Beobachtung zugänglich zu machen: Beobachtung verändert, Selbstbeobachtung verändert. Nur das, was man nicht mehr als selbstverständlich ansieht, nur das, was thematisiert wird, kann diskutiert werden. Die sich hier ergebende Chance ist die Bewusstheit – und Bewusstheit kann in Veränderung münden.

Ich wünsche, dass dieses wichtige Buch vielen interessierten Leserinnen und Lesern hilft, ihr Sichtfeld zu erweitern, sensibel für implizite Machtstrukturen in kleineren und größeren sozialen Systemen zu werden und diese mutig zu hinterfragen. Denn darin liegt die Chance zu ihrer Veränderung.

Arist von Schlippe

Was sind implizite Systemregeln?

1 Was ist das Thema?

Vor allem im Sommerloch, wenn alle im Urlaub sind und die Nachrichtenlage weniger ergiebig ist als sonst, schaffen es regelmäßig Berichte auf die erste Seite der Zeitungen und Magazine, die man sonst eher weiter hinten im Blatt vermuten würde. Zwei relativ beliebige Beispiele aus dem Sommer 2018: die Berichte über den systematischen sexuellen Missbrauch Jugendlicher durch katholische Geistliche in Pennsylvania (Pitzke, 2018) sowie Artikel über die angeblichen Mobbing-Praktiken von Direktorinnen von Max-Planck-Instituten (Barthels, 2018).

Die Reaktionen in Leserbriefspalten oder sozialen Medien liefern daraufhin zuverlässig Äußerungen von Empörung und Abscheu über die moralische Verkommenheit der Beschuldigten (Priester, Direktor/-innen, Politiker/-innen usw.).

Die Presseabteilung der jeweiligen Institution – sei es die Kirche, ein Forschungsinstitut, eine politische Partei oder ein Unternehmen – lässt dann verlauten, es handele sich um bedauernswerte Einzelfälle. Auch dies geschieht mit verlässlicher Regelhaftigkeit, egal um welche Institution es gerade geht.

Die geneigte Leserschaft wundert sich vielleicht, dass diese Einzelfälle – z. B. sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Bereich der katholischen Kirche – doch relativ häufig und immer wieder vorkommen, in sehr verschiedenen Kontinenten, zu verschiedenen Zeiten und mit immer anderen Beteiligten, aber immer unter dem Dach der gleichen Institution.

Nun leben wir im Bereich der sogenannten »westlichen Kultur« im Zeitalter eines ausgeprägten Individualismus. Daher ist es doch nur konsequent, das Individuum in den Fokus des Interesses zu rücken: den Priester, der moralisch versagt und kriminell wird, die Führungskraft, die ihre Macht missbraucht, und so weiter.

Eher selten kommen ernsthaft die Institutionen selbst und deren Regeln in den Blick. Das Handeln einzelner Akteure und Akteurinnen in der jeweiligen Institution wird allerdings maßgeblich von diesen Regeln bestimmt. Die institutionellen Regeln – die geschriebenen und vor allem die ungeschriebenen – sind erheblich relevanter für das Entstehen von Missständen, als gemeinhin angenommen wird.

Hierzu ein Fallbeispiel:

Eine hochrangige Mitarbeiterin eines Bundesministeriums beklagt, dass ihre Mitarbeiter/-innen ihr gegenüber illoyal seien, obwohl sie sich sehr viel Mühe gebe, mit diesen konstruktiv ins Gespräch zu kommen. Sie habe sehr viele Ideen, wie man den Bereich, für den sie verantwortlich sei, schlagkräftiger machen könnte, aber die Leute würden einfach nicht mitziehen – allmählich nehme sie das persönlich.