Spuren, Geier, falsche Freunde - Nike Mangold - E-Book

Spuren, Geier, falsche Freunde E-Book

Nike Mangold

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Beschreibung

Sechs Kurzthriller um Grusel in einer Ferienidylle, den Besuch bei einem seltsamen Paar, Retro-Krankenschwestern, falsche Freunde, Dinge von Toten und Geier im tückischen Watt.Die wechselnden Hauptdarsteller sind Charlotte, eine arbeitssüchtige Managerin, Mark, ihr vernachlässigter Ehemann, und die Kinder Merle und David, die sich diese Eltern nicht ausgesucht haben.

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Seitenzahl: 247

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Spuren, Geier, falsche Freunde

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 Geier

In der Pension war alles durchschnittlich, vom Nachttisch aus dem Möbeldiscounter bis hin zu den uninspirierten Landschaftsdrucken. Nur der Geruch stach hervor. Es stank nach Verwesung.         Charlotte setzte sich im Bett auf und hauchte in ihre hohle Hand. Nein, aus ihrem Mund kam das nicht. Bei der Anreise am Abend zuvor war ihr nichts aufgefallen. Spielte ihre Nase ihr einen Streich? Das würde nur zu gut ins Bild passen. Doch Charlotte wollte jetzt nicht an die Dinge denken, die in letzter Zeit schiefgelaufen waren. Sie ging ins Bad und hielt es zwei Minuten lang unter der kalten Dusche aus. Der Schock wirkte. Beim Abtrocknen fühlte Charlotte sich unbesiegbar. Auch den Gestank nahm sie jetzt nur noch schwach wahr. Ihre Reisetasche enthielt Kleidung für fünf Tage. Jedes Teil war schwarz. Es gab Morgen, an denen die Wahl der Sockenfarbe Charlotte überforderte. Entscheidungsmüdigkeit nannte Dr. Chan das. Der Psychologe war ein zupackender Typ, coachte Sportler und verhalf Politikern zu sicherem Auftreten. Einen dieser Strickjacken-Analytiker hätte Charlotte auch nicht besucht. Sie musste schnell wieder mental fit werden, und würde das schaffen, indem sie Dr. Chans Tipps beherzigte: gesund essen, genug schlafen und sich an der frischen Luft bewegen. Auf ihrem Handy waren alle Arbeitskontakte blockiert, und im Büro wusste man Bescheid. Während ihrer Abwesenheit war Charlotte nicht zu erreichen. 

»Schließlich ist das kein Urlaub, sondern eine Kontemplation«, hatte ihr Chef gesagt und von seinem eigenen Burn-out erzählt. Ein Zusammenbruch gehöre im Management ja mittlerweile zum guten Ton. Von Geruchshalluzinationen war allerdings nicht die Rede gewesen.

Mit einem Hauch Zugluft aus dem Flur kam der süßlich-beißende Gestank zurück. Charlotte schlüpfte in Thermo-Wanderkleidung und tupfte etwas »Dior Hypnotic Poison« an den Rollkragen ihres Pullovers. Bis zum Frühstück um sieben blieben ihr zehn Minuten. Sie wählte die Nummer von zu Hause. Mark meldete sich sofort.

»Ist was passiert?«, fragte er.

»Nein, ich wollte bloß anrufen, solange die Kinder noch da sind.«

»Merle trödelt, und David hat sein Deutschheft verlegt. Wie ist es bei dir, im hohen Norden?«

»Ganz okay, es müffelt nur ein bisschen. Gleich mache ich eine Wattwanderung.«

»Heute schon? Willst du nicht erst mal ausruhen?«

Mark schien zu glauben, die Pension »Zum Krabbenkutter« verfüge über einen Spa-Bereich. Doch Charlotte hatte absichtlich eine Unterkunft gewählt, in der sie beruflich nie absteigen würde. Jemand polterte an ihrem Zimmer vorbei.

»Verdammt noch mal, die Kellertür soll zu bleiben!«, schimpfte eine Frau.

»Ich laufe bei Ebbe zur nächsten Hallig, fahre bei Flut mit dem Boot zurück und haue mich wieder in die Federn«, sagt Charlotte. »Mehr kann man hier nicht machen.«

»Hauptsache, du hast einen Plan. Viel Spaß.«

Charlotte verabschiedete sich und schloss das Telefon an das Ladegerät an. Trüge sie es beim Frühstück bei sich, würde sie automatisch ihre Mails checken. Gewohnheiten wurde man nur schwer los.

Im Frühstücksraum der Pension waren zwei Tische gedeckt. Auf einem Servierwagen vor dem Fenster stand eine Thermoskanne mit der Aufschrift »Wasser«, daneben eine Schachtel Teebeutel und ein Glas mit Instantkaffeepulver.

»Guten Morgen. Sie sind ja pünktlich.« Eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren trug einen Korb mit vier Brötchen und eine Aufschnittplatte herein.

Wie Charlotte amüsiert bemerkte, waren auch Wurst und Käse abgezählt: Zwei Scheiben Gouda, zwei Scheiben Emmentaler, vier Scheiben Mortadella.

»Weil ich nach Neuwerk will«, sagte Charlotte.

»Durchs Watt? Aber das Niedrigwasser ist gerade vorbei.«

Bei der Blondine klangen die Worte wie »Waaatt« und »Waaasser«. Stammte sie aus Polen? Dann war sie mit der Ostsee groß geworden, der harmlosen Schwester der Nordsee. Charlotte dagegen, konnte sich eine waschechte Friesin nennen. Ihre Eltern wohnten noch immer in einem Dorf in der Nähe. Eigentlich hätte Charlotte das Wochenende bei ihnen verbringen können, aber mit Ruhe wäre es dort nichts gewesen. Ihre Mutter hätte Fragen gestellt, auf die Charlotte keine Antworten wusste. Um die zu finden, brauchte sie die Weite der Küste. Andere liefen in einer Lebenskrise den Jakobsweg, aber dafür hatte Charlotte keine Zeit. Sie würde ihr Tief überwinden, wie sie alles erledigte – in Rekordzeit. Dafür musste sie nur über den trockenen Meeresboden zu einer winzigen Insel spazieren, Möwenschreie hören, den Wind im Gesicht spüren und in einem Reetgedecktem Haus Milchreis essen. Schon könnte sie wieder Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden und säße nicht mehr vor ihren Mails wie ein hypnotisiertes Kaninchen.

»Ich habe die Tidenzeiten gegoogelt«, sagte Charlotte. »Mir ist bekannt, dass man bereits bei zurückgehendem Wasser aufbrechen muss.«

Wortlos verschwand die Frau und kehrte mit einem Ausdruck zurück, der die Höchst- und Tiefstände der Nordsee auflistete. Tatsächlich war das Niedrigwasser um 6:50 Uhr gewesen. Um den Weg gefahrlos zu schaffen, hätte Charlotte vor eineinhalb Stunden aufbrechen müssen.

»Mist«, sagte Charlotte. »Ich muss im Datum verrutscht sein.«

»Vielleicht können Sie ein Stück der Strecke mit Frau Botthus fahren. Sie wollte das neue Amphibienfahrzeug der Wattrettung ausprobieren.«

»Perfekt. Würden Sie für mich fragen?«

»Sofort.«

Die Blondine eilte hinaus. Während sie fort war, belegte Charlotte ein Brötchen. Dann frühstückte sie eben unterwegs. Und der Kaffee war auf Neuwerk bestimmt besser.

»Moin!«

Frau Botthus stand in der Tür. Vor Schreck fiel Charlotte das Brötchen herunter. Sie kannte die Pensionswirtin! Zwar waren über dreißig Jahre vergangen, doch an manche Menschen würde man sich noch im nächsten Leben erinnern. Ein Blick aus wimpernlosen Augen traf Charlotte. Falsch, da waren Wimpern. Auf einer Faschingsfeier der Schule hatte Leyla die hellen Härchen zu tuschen versucht, mit pechschwarzem Mascara, das Resultat hatte komisch gewirkt. Charlotte sah das Bild wieder vor sich, nur die Heiterkeit kehrte nicht zurück.

Mit etwas Glück erkennt sie mich nicht. Ich habe meine Haarfarbe und den Nachnamen geändert.

Auch Xenia Botthus hatte früher anders geheißen.

Charlotte streckte die Hand aus und ging auf sie zu. »Guten Morgen!«

Den richtigen Zeitpunkt für die Wattwanderung verpasst zu haben, konnte nun nützlich sein. Charlotte würde die naive Touristin spielen.

»Sie haben was verloren.« Xenia deutete auf das Brötchen.

Charlotte hob es auf und wischte über die Kruste. »Lässt sich noch essen.«

»Muss wohl.« Xenia sah zum mager gedeckten Buffet. »Alicja sagt, Sie möchten Wattwürmer gucken. Denn man tau.«

Beinahe hätte Charlotte genickt. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass sie kein Platt verstehen sollte.

»Wie bitte?«, fragte sie.

»Dann aber los«, sagte Xenia in übertrieben deutlichem Hochdeutsch. »Budder bei die Fische.«

Eine Viertelstunde später saß Charlotte auf der Vorderbank des Amphibienfahrzeugs. Xenia lenkte es über die Landstraße Richtung Strand. Die Pensionswirtin würde Charlotte einige Kilometer in das Watt hineinfahren, bis zu einem Punkt, von dem aus die restliche Strecke nach Neuwerk zu Fuß zu schaffen war, bevor das Wasser zurückkehrte.

Das Amphibienfahrzeug hatte eine Windschutzscheibe, aber kein Dach. Zwar war die Temperatur für einen Tag im März ungewöhnlich mild, doch Charlotte wickelte ihr Halstuch trotzdem bis zur Nase hoch. Wenn sie möglichst viel von ihrem Gesicht versteckte, würde Xenia hoffentlich auch weiterhin nicht merken, wer sie war. Natürlich hätte Charlotte ihre Wattwanderungspläne über den Haufen werfen und lediglich einen langen Spaziergang auf dem Deich unternehmen können, aber das wäre einer Flucht gleichgekommen. Man durfte keine Angst zeigen. Wäre Charlotte das als Kind gelungen, hätte Herr Bleeker sich vielleicht nicht auf sie eingeschossen. Stattdessen hatte sie in der Hälfte aller Schulstunden davor gezittert, aufgerufen zu werden. In der ersten und zweiten Klasse unterrichtete Herr Bleeker Deutsch, Mathe und Sport. Er war ein grobschlächtiger Mann, durchquerte den Klassenraum mit schleppenden Schritten und ließ sich ächzend hinter seinem Pult nieder. Wenn er ihnen Aufgaben zum stillen Arbeiten gab, verharrte er reglos, mit aufgestützten Unterarmen und hängendem Kopf, wie ein Bär, der im Sitzen schlief. Aber Herr Bleeker war hellwach. Er lauerte. Charlotte schwankte zwischen dem Drang, zu erfahren, was der Lehrer tat, und der Furcht, aufzusehen und seinem Blick zu begegnen. Schielte sie unter gesenkten Lidern nach oben, konnte sich ein Finger auf sie richten.

»Du. Komm mal nach vorn.«

Auf dem Weg zum Pult begannen Charlottes Beine zu zittern und sie schwitzte. Noch in der Pause würde sie der nasse Rücken ihres T-Shirts an die angstvollen Minuten erinnern. Ihr Heft wie ein Schutzschild vor sich haltend, stand sie vor dem Lehrer.

»Schalotte …« So fing er immer an. Er sprach ihren Namen falsch aus und dehnte die zwei Silben als wälze er einen Klumpen widerlichen Kaugummis in seinem Mund. »Warum haben deine Eltern dich so genannt?«

Jede Antwort darauf war verkehrt. Was Charlotte sagte, wurde mit verächtlichem Lachen quittiert. Doch wenn sie schwieg, kam Herr Bleeker ihr näher, bis seine Nase fast die ihre berührte.

Beim ersten Mal hatte Charlotte die Wahrheit verraten: »Ich heiße nach meiner Großmutter.«

»Oho. War das eine Adlige?«

»Nein, ich glaube nicht. Sie hat Kühe gemolken.«

»Kühe! Gemolken!«

Herr Bleeker verzog das Gesicht zu einer Fratze des Entsetzens, wandte sich der Klasse zu und wartete, bis mindestens drei Kinder lachten. Anfangs blieben die Reaktionen aus, aber die anderen begriffen schnell, dass sie verschont wurden, wenn sie sich anbiederten. Charlotte nützte es auch nichts, alternative Antworten auf die immer wiederkehrende Frage zu finden.

»Meine Eltern fanden den Namen einfach schön,«, sagte sie an einem anderen Tag.

Herr Bleeker senkte seinen Ton zu einem Raunen. »Weißt du, was eine Schalotte ist?«

»Nein.«

»Eine Zwiebel. Scharf auf der Zunge. Brennt in den Augen.«

Eilfertige Heiterkeit in den Tischreihen.

Manchmal schwieg Herr Bleeker auch bloß und schien sich an Charlottes Furcht zu ergötzen. Oder – und das war das Schlimmste – er rutschte mit seinem Stuhl zurück um Charlotte von Kopf bis Fuß zu mustern. Plötzlich drehte er sich weg und sagte, mit Ekel in der Stimme: »Du hast da was.«

Beobachtet von ihren Mitschülern, musste Charlotte den Fehler entdecken. Es konnte sich um Schlammspritzer auf den Schuhen handeln, einen Fussel auf der Hose, oder die hochstehende Kragenecke eines Poloshirts. Minutenlang suchte sie an sich herum, bevor sie etwas fand.

Charlotte tat alles, um nicht aufzufallen. Ließ Herr Bleeker sie einen Tag lang in Ruhe, schrieb sie zu Hause auf, wie sie sich verhalten hatte und zog am nächsten Tag wieder dieselbe Kleidung an. Doch an ihrer äußeren Erscheinung lag es nicht. Wie sie sich auch mühte, kam Charlotte nicht darauf, was die Grausamkeit des Lehrers hervorrief.

Erst als junge Erwachsene verstand sie den Grund. Das Studentenkino zeigte einen alten Film mit Klaus Kinski. Innerhalb einer Sekunde verwandelte sich die kindlich-staunende Miene des Schauspielers in eine Grimasse mit gefletschten Zähnen. Auch Charlottes Lehrer hatte ein inneres Tier gehütet, das seine Kette zerriss, wenn es Blut roch. Die Diagnose lautete auf Wahnsinn.

Ob der Lehrer die Geisteskrankheit an seine Tochter vererbt hatte?

Charlotte musterte ihre Fahrerin. Xenia Botthus, geborene Bleeker, steuerte das Auto mit lockerer Hand. Zur Wattrettung ging man nicht, wenn man Menschen hasste. Für Einrichtung und Kulinarik mochte die Pensionswirtin kein Händchen besitzen, aber gefährlich war sie gewiss nicht. Eher hatte sie ein Helfersyndrom und kompensierte ihre schlimme Kindheit mit guten Taten. So jemand trug nichts nach.

Mittlerweile hatten sie den Strand erreicht und rollten über einen Betonweg. Charlotte schlüpfte wieder in die Rolle der neugierigen Urlauberin.

»Wow, es ist ja wirklich alles trocken«, sagte sie. »Man weiß gar nicht, wo der Strand aufhört und das Watt beginnt.«

»Sehen Sie den Streifen aus Tang und Seegras dort?« Xenia deutete auf eine grüne Linie wenige Meter vor ihnen. »Das ist der Spülsaum. Bis dorthin reicht die Flut.«

Charlotte sog geräuschvoll Luft durch die Nase ein. »Und es riecht jetzt auch nach Meer.«

»Der Fahrtwind ist unser Freund. Aber Achtung, wenn ich stehen bleibe.«

»Was meinen Sie?«

Mit dem Daumen wies Xenia zur Ladefläche. »Tierabfälle, ungekühlt.«

Hinter ihnen stand eine rot lackierte Metallkiste. Kaum hatte Charlotte sich umgedreht, war der Verwesungsgestank zurück.

»Ich fahre darum immer erst raus, wenn die Wanderer schon weg sind«, sagte Xenia ungerührt. »Neulich habe ich einen Biologiestudenten mitgenommen. Der wollte Fotos für eine Seminararbeit machen. Schaffte auch ein paar, bevor er auf die Muscheln kotzte.«

»Wofür -? Entschuldigung.« Charlotte suchte in ihrer Jacke nach Pfefferminzpastillen. Da waren sie. Schnell zwei lutschen. Ja, nun ging es besser. 

»Ich versorge einen Kuttengeier«, sagte Xenia. »Die kommen hier eigentlich nicht vor. Wahrscheinlich ist er auf der Durchreise hängen geblieben. War unterernährt, findet nicht genug Nahrung. Darum päppele ich ihn wieder auf.«

»Verstehe«, sagte Charlotte. »Der Geier frisst nur Aas und das muss schon gammlig sein?«

»In verdorbenem Fleisch sind Mikroben, die ihm bei der Verdauung helfen.« Xenia zuckte mit den Schultern. »Aber ich fahre ohnehin nur einmal die Woche bei der Schlachterei vorbei und kann die Tierabfälle schlecht im Kühlschrank lagere. Darum bewahre ich sie Keller auf und hole jeden Tag eine Ration hoch. Die ist mal frischer und mal madiger. Geier sind nicht wählerisch. Die nehmen sich ihren Teil auch, wenn er noch warm ist. Haben Sie von der Frau in den Pyrenäen gelesen?«

Charlotte schüttelte den Kopf.

»Die ist auf einer Tour zu Tode gestürzt«, sagte Xenia. »Als die Bergwacht die Stelle zwei Stunden später erreichte, kreisten Geier am Himmel. Von der Frau waren bloß noch Knochen übrig.«

Sie fuhr langsamer. »Wir kennen uns«, sagte sie unvermittelt.

»Das denken Leute oft.« Charlotte sah stur geradeaus. »Ich habe ein Allerweltsgesicht.«

»Sie gingen auf meine Schule. Mein Vater war Ihr Lehrer. Herr Bleeker, den haben Sie bestimmt nicht vergessen. 1987 kam er ins Gefängnis.«

»Wirklich? Ich weiß nicht …«

»Natürlich. Alle haben darüber gesprochen. Sprechen noch heute darüber.«

Charlotte sah zurück. Die Küste lag schon etwa zwei Kilometer hinter ihnen. Zwar war die Hallig noch immer viel weiter entfernt, aber das musste zu schaffen sein. Charlotte machte Anstalten, aufzustehen.

»Ich kann jetzt laufen.«

»Können Sie nicht. Vertrauen Sie mir, ich kenne die Strecke. Im flachen, leeren Watt überschätzen sich die Leute. Und dann müssen sie gerettet werden. Von mir.«

Xenia rollte nun nur noch mit 15 km/h über den sandigen Boden. Im Kopf rechnete Charlotte: Die Distanz vom Festland zur Hallig betrug 10 Kilometer. Davon waren 8 übrig. Für einen Kilometer brauchten sie in dieser Geschwindigkeit 4 Minuten. Hielt Charlotte noch 10 Minuten durch, hätten sie weitere 2,5 Kilometer zurückgelegt und fast die Hälfte hinter sich. Marschierte Charlotte stramm, erreichte sie in einer Stunde Neuwerk.

Ruhe bewahren und vom Thema ablenken.

Charlotte würde sich diesen Ausflug nicht von alten Geschichten vermiesen lassen. Wann hatte sie das letzte Mal ein paar Tage nur für sich gehabt? Das musste vor der Geburt von David gewesen sein. 

»Ist er das?« Charlotte deutete auf einen dunklen Fleck am Himmel. »Er scheint sich nicht zu bewegen.«

»Weil er im Aufwind segelt«, sagte Xenia. »Aber nun hat er uns entdeckt.«

Der Fleck kam näher und verwandelte sich in einen Vogel. Hundert Meter vom Fahrzeug entfernt landete das Tier und legte den Kopf schief. Es ließ die Flügel hängen, wodurch es noch größer und bedrohlicher wirkte.

»Ein riesiges Exemplar«, entfuhr es Charlotte.

»Dabei ist er jung«, sagte Xenia. »Ausgewachsen haben die eine Flügelspannweite von bis zu drei Metern.«

»Warum halten Sie an?«

»Essenszeit.«

Xenia kletterte vom Fahrzeug herunter. Langsam näherte sich der Geier. Sein Gefieder war braun, mit Sprenkeln hellerer Federn darin.  

Wie Patchwork, dachte Charlotte. Wie der Mantel.

Herr Bleeker hatte ein Kleidungsstück besessen, das er sommers wie winters trug, einen Ledermantel mit Flicken. Sogar für die modisch verwirrten 80er-Jahre war das ein absonderliches Teil gewesen. Herr Bleeker schien die Flicken in mehreren Schichten aufgebracht zu haben, und zwar nicht, um Löcher zu überdecken, sondern um einen Schutzpanzer zu schaffen. Einmal hatte Sebastian, sein Lieblingsschüler, vorlaut gefragt, wieso Herr Bleeker den Mantel nicht einmal bei Freibadwetter zuhause ließ. Der Lehrer hatte geantwortet: »Weil er meine Rüstung ist.«

Dieser Satz setzte sich in Charlotte fest. Während der Stunde hing der Mantel an einem Haken vorn an der Wand, immer in Charlottes Blickfeld, wenn sie von der Tafel abschrieb.

Eines Tages stellte Charlotte sich in der Pause neben die Vertrauenslehrerin. Sie hieß Frau Wunder (»Kein Scherz, Kinder!«), besuchte zu Beginn jedes Schuljahrs die Klassen, verteilte Gummibärchentüten mit ihrem Namen darauf und sagte, man dürfe mit kleinen und großen Problemen jederzeit zu ihr kommen.

»Alles in Ordnung, Charlotte?«, fragte Frau Wunder.

Charlotte war drauf und dran, ihr Herz auszuschütten. Man musste doch etwas gegen Herrn Bleeker unternehmen können! Aber als sie den Mund öffnen wollte, trat der Lehrer aus dem Gebäude. Charlotte sah seinen Mantel, dieses speckige Teil aus Tierhäuten. Frau Wunder trug weiße Stoffturnschuhe. Was hätte sie ausrichten können?

Auch gegenüber ihren Eltern schwieg Charlotte. Sie hätte ihr Problem nicht erklären können. Zwei Jahre früher wäre der Lehrer »böse« gewesen. Doch so drückten sich Kindergartenkinder aus. Mit fast neun Jahren war Charlotte kein Baby mehr, aber noch zu jung, um die treffenden Worte zu finden. Für Rache allerdings, hatte sie das richtige Alter gehabt.

»Jetzt fällt es mir Ihr Name ein«, sagte Xenia. »Charlotte Lührhoff. Wollen wir uns nicht duzen?«

»Meinetwegen«, sagte Charlotte. »Aber füttere bitte den Vogel, damit wir weiterkönnen. Er sieht hungrig aus.«

»Seine Art hat Geduld. Gestorben wird schließlich nicht nach der Uhr.« Xenia lehnte sich in ihrem Sitz zurück. »Kennst du die Religion der Parsen?«

»Nein.«

»Für die Parsen sind Feuer, Erde, Wasser und Luft heilig. Die Körper von Verstorbenen gelten als schmutzig und sollen darum weder beerdigt noch verbrannt werden. Sie werden den Geiern überlassen.«

»Interessant.« Charlotte sprang aus dem Fahrzeug. »Aber ich habe Pläne für heute.«

»Ich rate dringend davon ab, jetzt schon loszugehen. Es sei denn, du wanderst zurück zum Festland.«

»Nächstes Jahr laufe ich einen Halbmarathon. Ich bin fit.« Unter Charlottes Sohlen fühlte sich das Watt fest an. Der Untergrund war weicher als eine Tartanbahn doch härter als Waldboden, und anders als im Wald konnte man sich hier nicht verlaufen. Am Horizont zeichnete sich der Leuchtturm der Hallig schon deutlich vor dem grauen Himmel ab. Sich endlich zu bewegen tat gut. Wer aktiv war, wurde kein Opfer. Xenia konnte Charlotte nicht zwingen, grausigen Geschichten über Aasfresser zu lauschen. Offenbar war die Pensionswirtin ähnlich gestört wie ihr Vater. Das war nicht Charlottes Problem. Sie würde wandern und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.

»Als mein Vater aus dem Gefängnis kam, war er nicht mehr derselbe«, rief Xenia ihr hinterher. »Er sagte, er wäre reingelegt worden und niemand habe ihm geglaubt. Das hat ihn fertiggemacht.«

Charlotte vergrub die Hände in den Jackentaschen und stapfte weiter.

»Er meinte, nur du wüsstest, was passiert ist«, rief Xenia.

Charlotte summte die Melodie von »My Bonnie is over the ocean«.

»Dir wird nichts passieren, wenn du mit mir redest«, rief Xenia. »Mein Vater ist vor zehn Jahren gestorben. Die Leber.«

Natürlich die Leber. Ein Säufer war er gewesen. Auch das hatte Charlotte damals nicht benennen können. Alles an dem Lehrer stieß sie ab, die Alkoholfahne war dabei nur ein Detail. Aber Charlotte erkannte, wie sich Herr Bleeker über die Woche verwandelte. Montags wirkte er noch am aufmerksamsten. Seine Augen glitzerten wie die eines Raubtiers auf der Jagd. Zum Freitag hin gelang es ihm nicht mehr, den oberen Rand der Tafel zu wischen. Seine Gliedmaßen schienen bleischwer geworden zu sein und sein Blick war stumpf gewesen.

Aber, dass er schon so lange tot war!

Wenn sie das gewusst hätte … Ja, was dann? Wann hatte sie das letzte Mal an den Lehrer gedacht? Die Erinnerungen an ihn verrotteten mit den Schulheften auf der Müllkippe. Dort wurden sie zu friesischer Erde – Erde, wie die, in der Herr Bleeker lag und auf der Charlotte nun lief. Womit sich der Kreis schloss.

Aber ich kann wenigstens noch laufen. Mir geht es gut.

Charlotte fiel in einen leichten Trab und konzentrierte sich darauf, gleichmäßig zu atmen. Feuchte Luft kühlte ihre Kehle, und auf den Lippen schmeckte sie Salz.

Unter ihren Schuhen knirschte es. Charlotte vermutete einen Stein im Profil ihrer Sohle und blieb stehen, um nachzusehen. Da war auch wirklich etwas dunkelglänzendes, aber als sie es mit den Fingern herauszuholen versuchte, spürte sie einen jähen Schmerz in der Fingerkuppe. Die scharfe Kante einer Miesmuschel hatte sie geschnitten. Den Finger im Mund, den Geschmack von Blut auf der Zunge, suchte Charlotte mit der unverletzten Hand in ihrer Jackentasche nach einem Gegenstand, mit dem sich die Muschelschale entfernen ließ. Sie ertastete den Autoschlüssel. Unsinnigerweise hatte sie ihn mitgenommen, aber ihr Handy nicht. Das hing immer noch am Ladekabel im Bad. Immerhin konnte ihr der Schlüssel nun als Werkzeug dienen. Charlotte hebelte die Muschel aus der Sohle und richtete sich wieder auf. Nun erst bemerkte sie, vor welchem Hindernis sie stand. Der Wattboden vor ihr war mit Muschelschalen gespickt. Sie lagen so dicht zusammen, dass Charlotte keinen Fuß zwischen sie setzen konnte. Kleine, schwarze Fallen, wohin man sah.

Überquerte Charlotte das Muschelfeld, ginge sie wie auf Glasscherben. Wenn sie stürzte, würde sie sich Hände und Unterarme zerschneiden. Sie musste einen Umweg machen. Parallel zur Küstenlinie der Hallig hastete sie durch das Watt. Das Ziel nicht direkt anzusteuern, obwohl die Zeit drängte, kostete Überwindung. Wie weit erstreckte sich das Muschelfeld? Charlotte konnte kein Ende erkennen. Umzukehren wäre die sichere Wahl gewesen, und das hätte Charlotte vermutlich jeder geraten. Doch Ratschläge brachten einen nur dorthin, wo alle waren, in die wohlige Gesellschaft der Mittelmäßigen. Dr. Chan war der Ansicht, Charlotte müsse ihren eigenen Weg finden. Wo sie war, war sie nur dank ihres Willens. Sie machte weiter, auch wenn es wehtat.

Als Achtjährige hatte sie auf dem Heimweg von der Schule vor Demütigung geweint und sich geschworen, Herrn Bleeker für jede Träne büßen zu lassen. Ihre wachsende Wut trieb sie weiter von der Hilfe durch andere fort. Erwachsene einzuweihen war schon bald keine Option mehr. Dabei sprängen höchstens Gespräche und eine Entschuldigung heraus, und danach müsste Charlotte tun, als sei wieder alles in Ordnung. Aber etwas in ihr würde klein bleiben.

In der Schulbibliothek suchte sie Rat in Büchern. Machiavelli hätte ihr Kluges über Macht beibringen können, doch der war keine Kinderlektüre. Im Gottesdienst hatte sie »Auge um Auge, Zahn um Zahn« aufgeschnappt, aber in der bebilderten Ausgabe des Neuen Testaments wurden nur Füße gewaschen und Brot geteilt. Nützlicher fand Charlotte Märchen. In ihrer noch unsicheren Schreibschrift hatte sie alle Stellen, in denen Drachen getötet oder böse Könige besiegt wurden, in ein Notizbuch übertragen.

Endlich war das Ende des Muschelfelds erreicht. Seine Umrundung hatte Charlotte weiter weg vom Leuchtturm geführt. Ihr Mund war trocken. Obwohl inzwischen kräftiger Wind wehte, zog Charlotte den Schal aus und öffnete die Jacke. Beim Laufen war ihr warm geworden war, und durch Schwitzen verlor sie Flüssigkeit. Charlotte kämpfte gegen den Impuls an, ihre rissigen Lippen mit der Zunge zu befeuchten. Das verschlimmerte den Durst nur. Auch der Labello lag im Bad, in guter Gesellschaft des Handys.

Nur noch ein paar Kilometer bis zu einem Tee mit Honig.

Waren diese Böen noch normal? Bei Sturm lief das Wasser höher auf und kam früher zurück. Aber wenn solch eine Wetterlage vorausgesagt wäre, hätte Xenia doch sicher eine Warnung ausgesprochen. Charlotte stemmte sich dem Wind entgegen. Es war, als schiebe sie eine unsichtbare Wand vor sich her. Sie dachte an die gekrümmten Bäume am Strand.

Man passt sich der Umgebung an.

Als Kind hatte Charlotte keinen Wecker gebraucht. Jeden Tag schreckte sie um sechs Uhr früh hoch, eine halbe Stunde vor der Aufstehzeit. Nur samstags, sonntags und in den Ferien gelang es ihr dann, wieder einzuschlafen. An Schultagen tappte sie in das Elternschlafzimmer, wo sich ihre Mutter an einem altmodischen Frisiertisch schminkte. In eine Decke gekuschelt, beobachtete Charlotte das Cremen, Konturieren, Pudern und Tuschen. Fingernägel wurden zu Krallen gefeilt, Haare zu einer Löwenmähne toupiert.

»Warum gehst du nicht, wie du bist?«, fragte Charlotte einmal.

»Weil das müde Wesen im Spiegel nicht ich ist.« Ihre Mutter tupfte etwas Helles auf ihre Augenringe.

»Aber Papa putzt sich bloß die Zähne, bevor er aus dem Haus geht.«

»Er ist Installateur, Lottie. Würde er im Büro arbeiten, trüge er Jacketts mit Schulterpolstern.«

»Ich finde, alle sollten im Schlafanzug bleiben dürfen.«

»Das wäre lustig, aber dann würde nur herumgegammelt werden. Kleider machen Leute. Denk an dein Indianerkostüm. Wenn du das trägst fühlst du dich anders, oder?«

Charlotte besaß einen Federschmuck aus dem Kostümfundus des Hamburger Theaters. Ihre Patentante hatte ihn beim Tag der offenen Tür ersteigert. Die Federn waren echt, und das Wildleder des Stirnbands schmiegte sich an die Haut. In ihrer Verkleidung wurde Charlotte zu Nscho-Tschi. Automatisch ging sie aufrechter und trug eine undurchdringliche Miene zur Schau. Auf ihrem Kopf schien der Federschmuck magische Kräfte zu entfalten, doch auf dem obersten Brett ihres Kleiderschranks schrumpfte er zu einem Ding von vielen. Auch Herrn Bleekers Mantel war bloß ein Gegenstand. In diesem Moment reifte in Charlotte ein Entschluss. Sie würde den Lehrer entwaffnen.

Was war das? Abrupt blieb Charlotte stehen. Vor ihr floss ein Bach.

Ein Priel.

Der Meeresboden war keine Badewanne, er hatte Sandbänke, tiefere Stellen und diese tückischen Rinnen, die sich füllten, lange bevor das restliche Wasser zurückkehrte. Kannte man ihre Verläufe nicht, schnitten sie einem den Weg ab.

Charlotte verfluchte ihr Pech. Wieder musste sie von der Luftlinie abweichen und parallel zur Insel laufen. Wie spät war es? Ihren müden Füßen nach zu urteilen, schon Mittag vorbei. Jetzt nicht verzagen.

Selten klappt etwas beim ersten Mal.

Die Entsorgung von Herrn Bleekers Mantel war nicht planmäßig verlaufen. Charlotte schleppte ihn zu der Feuerstelle des Kleingartenvereins. Unter einer Bank lagen eine Tüte mit Zeitungspapier und Grillanzünder bereit. Die Zeitung brannte sofort, aber der Mantel qualmte nur. Als Charlotte ihn auf das Gras zog, war das Leder zusammengeschrumpelt, aber ansonsten intakt. Um den Mantel loszuwerden, hätte sie ihn vergraben können, doch erstens hatte sie keine Schaufel zur Hand und zweitens wollte sie das Kleidungsstück weit weg wissen. An einen fernen Ort sollte es verschwinden. Zusammengelegt war es immer noch so groß wie ein Kasten Wasser und passte nicht in die Abfalleimer der Anlage. Sie hatte überlegt, es in den Fluss zu werfen, aber …

Charlotte knickte um und fiel mit einem Schmerzenslaut zu Boden. Ihr rechter Fuß war auf eine nachgiebige Stelle getroffen. Als sie sich mit den Händen abstützen wollte, sank sie bis zu den Ellenbogen ein. Der Untergrund glänzte und war fast schwarz. Die Farbe deutete auf Eisenbestandteile hin, und das wiederum hatte mit dem Sauerstoffgehalt und dem Wasseranteil zu tun.

Schlickwatt, schoss es Charlotte durch den Kopf.

Doch wen interessierte, wie das Zeug hieß? Darauf laufen konnte man nicht, und das war großer Mist. Langsam, um von der dunklen Masse nicht gänzlich verschluckt zu werden, zog Charlotte ihren Arm wieder heraus. Sie musste wie auf dünnem Eis vorwärtskrabbeln und das Körpergewicht auf eine möglichst große Fläche verteilen. Auf allen Vieren kroch sie zu einer helleren Stelle. Ihr rechter Knöchel schmerzte. Wahrscheinlich war eine Sehne überdehnt. Charlotte würde die Zähne zusammenbeißen und noch schneller laufen müssen, bevor der Knöchel dick und unbeweglich wurde.

Im Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Der Geier war zurück. Hundert Meter entfernt von ihr hockte er auf dem Boden und beobachtete sie. Sein gebogener, spitz zulaufender Schnabel erinnerte Charlotte an einen Dosenöffner. Der Aasfresser lüftete seine Flügel und schüttelte sich. Er wirkte, als ob er eine Position einnehme, in der er warten konnte. Aber worauf? Vielleicht wusste er etwas, das Charlotte nicht wusste.

Sie wandte sich von ihm ab, stütze sich auf das gesunde Bein und stemmte sich hoch.

Weiter!

Das Watt gab jetzt den Weg vor. Im Labyrinth von Prielen und Schlick musste Charlotte die noch trockenen Stellen finden. Wenn die Kraft zur Neige ging und das Ziel noch weit war, konzentrierte man sich am besten immer nur auf den nächsten Schritt. 

Hätte sie damals weit voraus gedacht, wäre ihr der Mut vergangen. Sie war ein altkluges, abgeklärtes Kind gewesen, das schon mit vier Jahren nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubte. Bei ihrem Versuch, durch das Stehlen des Mantels den Lehrer zu »besiegen« wurde sie von verzweifelter Hoffnung getrieben. Hätte ein anderes Kind diesen Plan gehabt und Charlotte davon erzählt, hätte sie es dumm genannt.

Ich sag dir, was passiert: Herr Bleeker besorgt sich einen neuen Mantel, einen noch gruseligeren mit Aufnähern von Totenköpfen. Sein Hass auf dich wird noch größer. Er kann dir nichts beweisen, aber das ist ihm egal. Beweise brauchen nur Leute, die gerecht sind. Herr Bleeker tobt vor Wut und wird sich an dir rächen.

Sie wusste schon, warum sie niemanden einweihte. Um Wunder bat man still und für sich. Jede Erwähnung, wie unwahrscheinlich ein glücklicher Ausgang wäre, schwächte die Macht des Glaubens. Charlotte schleifte den Mantel zu einem Altkleidercontainer. An das Einwurffach reichte sie nicht heran, darum legte sie ihre Beute auf den Gehweg. Dort musste jemand den Mantel gefunden und an sich genommen haben. Dieser Jemand suchte am Abend Ärger. Hinter einer Diskothek in einem Industriegebiet schnorrte er einen jungen Mann um Zigaretten an, und als er keine bekam, stieß er Beschimpfungen aus. Widerworte beantwortete er mit einem Tritt an die Brust, und als der junge Mann um Hilfe rief, schwang der Jemand eine Flasche. Das Ergebnis waren eine Platzwunde und viel Blut. Ein Taxifahrer entdeckte das bewusstlose Opfer und rettet damit vermutlich sein Leben.

Der junge Mann erlitt Erinnerungslücken, die sich nur langsam schlossen, doch den Mantel konnte er gleich nach dem Aufwachen beschreiben. Anhand einer Zeichnung fahndete die Polizei nach dem Kleidungsstück und erhielt über hundert Hinweise auf den Besitzer, nicht wenige von Schülern. Zeugen tauchten auf. Sie wollten die Tat beobachtet haben. Niemand fragte, warum sie weder eingeschritten noch die Polizei alarmiert hatten. Wichtig schien nur, dass sie die Aussage des Opfers stützten: Der Schläger war Herr Bleeker gewesen.  

Die Flut kam heimtückisch wie ein Meuchelmörder. Zuerst verschwand die Riffelstruktur des Wattbodens, dann bedeckte ein Wasserfilm den Sand. Charlotte lief auf einem vollgesogenen Schwamm. Bei jedem Schritt hielt der Meeresgrund sie länger fest. Und wo war der Geier? Als Charlotte schon glaubte, den Vogel losgeworden zu sein, hörte sie ihn. Er flog so nah über sie, dass sie den Kopf einzog. Der Geier steuerte die Hallig an. Wahrscheinlich machte er sich nicht gern nass.  Charlotte verlor ihn aus den Augen. Zu weit weg war die Insel, um einen Vogel am Strand zu erkennen. Wasser drang von oben in Charlottes Schuhe. Eine halbe Stunde würde sie noch waten können, dann stünde sie bis zur Hüfte in der Nordsee. Das Wasser war kalt. Charlottes Herz würde schneller schlagen und ihr Atem unregelmäßig gehen. Wenige Minuten lang würde sie schwimmen, aber dann könnte sie Arme und Beine nicht mehr koordinieren. Geschichten über Wattwanderer, die per Boot aufgesammelt werden mussten, kamen Charlotte in den Sinn. Oft wurde betont, dass die Unglücklichen Touristen waren, nicht vertraut mit der hiesigen Natur. Wie leichtsinnig konnte man sein, unvorbereitet und ohne Begleitung ins Watt aufzubrechen? Auch Charlotte hatte oft den Kopf geschüttelt, doch nun war sie selbst in Gefahr. Ein einziger Fehler genügte. Man musste rechtzeitig losgehen, den kürzesten Weg finden, sich nicht verletzen. Immerhin wusste Charlotte die Wattrettung in ihrer Nähe. Das rotlackierte Amphibienfahrzeug war als leuchtender Punkt im Grau der auflaufenden Flut erkennbar.

Charlotte schluckte ihren Stolz herunter und winkte. Nichts geschah. Sie hüpfte auf und ab, obwohl ihr Knöchel dabei Schmerzensblitze aussandte. Sie wedelte mit den Armen bis ihre Hände kribbelten. Noch immer blieb die Position des Fahrzeugs unverändert. Wollte Xenia sie zappeln lassen? Sollte Charlotte sich mühsam zu ihr zurückkämpfen? Wenn das nötig war, um zu überleben, würde sie es tun. Man musste wissen, wann man geschlagen war. Der Spielstand wäre unentschieden. Charlottes Sieg über ein Mitglied der Familie Bleeker würde ausgeglichen.

Damals hatte Charlotte alle Zeitungsberichte über die angebliche Gewalttat ihres Lehrers ausgeschnitten und die Fakten mit grünem Filzstift unterstrichen. Herr Bleeker war 47 Jahre alt, Opfer und Zeugen um die 20. Damit konnte der Lehrer die, die ihn beschuldigten, unterrichtet haben. Ob das so gewesen war, wurde nicht vermerkt. Dagegen erwähnte die Zeitung eine frühere Versetzung (»Grund: unbekannt«), die Worte einer Ex-Freundin (»Ich traue ihm solch eine Tat absolut zu.«) und den Fund des Hausmeisters (»Fünf leere Kornflaschen im Papiermüll, und das an einer Grundschule!«)