Spuren im Schnee - Doris Bewernitz - E-Book

Spuren im Schnee E-Book

Doris Bewernitz

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Beschreibung

Was ist das schönste Geschenk der Welt? Wozu braucht eine Maus einen Adventskranz? Was ist eine Weihnachtsgurke? Und wem gehört eigntlich Weihnachten? Doris Bewernitz erzählt 24 realistisch-märchenhafte, komisch-traurige und anrührende Geschichten rund um Weihnachten, auf dass dem, der sie liest, das Herz warm werde. Eine perfekte Einstimmung auf die besinnlichen Tage!

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Seitenzahl: 106

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DORIS BEWERNITZ

Spuren im Schnee

Geschichten zur Weihnachtszeit

Impressum

Titel der Originalausgabe: Spuren im Schnee. Geschichten zur Weihnachtszeit

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung und Layout: Tina Agard Grafik & Buchdesign, Stuttgart

Umschlagmotiv: © iStockphoto: GoodGnom

Illustrationen Innenteil: © iStockphoto: LavandaPrint

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): ISBN 978-3-451-80554-7

ISBN (Buch): ISBN 978-3-451-34792-4

Für Frieda Lewandowski

INHALT

Tante Friedas Schichtkekse

Das Geschenk

Weihnachten im Januar

Zu Hause

Das Jahr, in dem Weihnachten ausfiel

Das Krippenhuhn

Joseph und seine Liebe

Vom Wert des Geldes

Herr Püschel und der Winter

Gefährliche Spekulatius

Glückskorn

Adventskranzgäste

Der Lebkuchenmann

Überraschungen

Die fünfte Kerze

Die Konferenz der Engel

Engel ziehen

Frieden unterwegs

Scherben bringen Glück

Der Fleck

Vogelweihnacht

Die Weihnachtsgurke

Der anonyme Brief

Spuren im Schnee

Dank

Die Autorin

Tante Friedas Schichtkekse

Ich backe sie jedes Jahr zur Adventszeit. Es sind meine Lieblingsplätzchen. Bescheidene Kekse, die nur aus Butter, Mehl und Hefe bestehen. Und obwohl die Zutaten so einfach sind, kommt etwas Feines dabei heraus. Das Rezept stammt von Tante Frieda. Zwischen meinem zweiten und dritten Lebensjahr hatte ich mit ihr zu tun. Das war mein Glück.

Eine unscheinbare Frau war sie, klein und schmächtig. Ich sehe sie vor mir. Ihre Jacken, Röcke, Blusen, Schuhe und Strümpfe waren immer dunkel. Meist grau oder schwarz. Erst später konnte ich mir das zusammenreimen. Als ich verstand, was das bedeuten mochte: Ihr Liebster ist an der Front gestorben, da waren sie zehn Tage verheiratet gewesen.

Tante Frieda nannte ich sie. Dabei war sie gar nicht meine Tante. Sie lebte im selben Dorf wie wir, in einem kleinen Haus. Einen Beruf hatte sie wohl nicht. Sie tauchte überall dort auf, wo es etwas zu helfen gab, und packte mit an. Das war irgendwann so selbstverständlich geworden, dass es jeder normal fand.

Keine besondere Frau. Einfach gestrickt. Klein, zäh und drahtig. Flinke Hände, quergestreifte Stirn, das Gesicht voller Falten. Tiefliegende Augen. Dünnes, weißes Haar, das ihr um den Kopf herumflog, obwohl sie immer wieder versuchte, ihm eine Frisur beizubringen. Sonst wusste man nichts von ihr. Außer, dass sie Flüchtling gewesen war. Und dass sie allein lebte.

Auch bei uns hat sie geholfen. Wenn meine Eltern arbeiteten, passte sie auf uns Kinder auf. Kochte Suppe. Erzählte Geschichten. Wusch Wäsche. Sang uns vor. Bügelte. Pustete auf Schürfwunden. Backte Plätzchen. Ich habe noch ihren schlesischen Akzent im Ohr. Den Singsang ihrer Reime.

Warum ich sie über alles liebte? Weil sie lachen konnte. Sie sah immer fröhlich aus. Die Lachfältchen hatten sich tief in die Haut eingegraben und bildeten ein Sternenmuster um ihre Augen. Sie strahlte einen so schalkhaft an und schon war alles gut. Sie hatte ein weiches, großes Herz. Für andere, aber auch für sich selbst. Sie machte Witze über sich, wenn ihr etwas zerbrach. Selbst mit Tränen in den Augen lachte sie noch. Wenn wir Dummheiten machten, lachte sie über uns Kinder. Sie amüsierte sich über uns. Sie freute sich an uns. Geschimpft hat sie nie.

In unserer Familie wurde sonst eher nicht gelacht. Alles ging ernsthaft und gesittet vor sich und hatte eine erdrückende Tragik, die einem schnell den Atem nehmen konnte. Sicher gab es dafür Gründe. Der Krieg hatte die Kindheit meiner Eltern gefressen. Unrecht, Gewalt, Hunger und Tod hatten ihnen ans Herz gegriffen und sie stumm gemacht.

Aber all dies hatte die kleine schmächtige Frau ebenfalls erlebt. Und sich dennoch ihren Humor bewahrt. Hätte es Tante Frieda nicht gegeben, ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre.

Übrigens: Den Teig rollt man hauchdünn aus, bestreicht ihn mit einem verquirlten Ei, bestreut ihn mit ein wenig Zucker, schneidet Rauten und tupft in die Mitte jeder Raute einen winzigen Klecks Marmelade. Das Ganze backt man goldgelb. Nur ein Hauch, nur ein Husch ist dieser zerbrechliche Keks. Aber mit einem lachenden Klecks Marmelade darauf, der durch das Backen einen unglaublichen Bratapfel-und-Weihnachtsmarkt-Geschmack entwickelt, der einem das Herz durch und durch wärmt.

Tante Friedas Schichtkekse eben.

Das Geschenk

„Im nächsten Jahr mache ich dir das schönste Geschenk, das je ein Mensch bekommen hat“, sagte ich.

„Oh“, entgegnete er. „Weihnachten war gerade gestern, wie kannst du da schon vom nächsten Jahr reden. Und dein Geschenk war doch sehr schön!“

„Aber im nächsten Jahr wird es viel schöner!“, rief ich.

Er rieb sich das Kinn. „Aber nichts Gekauftes“, meinte er dann. „Und nicht größer als eine Streichholzschachtel. Du kennst unsere Abmachung.“

„Klar“, sagte ich. Und überlegte, was es sein könnte. Ich wollte, dass es ganz ausdrückte, was ich für ihn empfinde.

Der Winter verging. Die ersten Krokusse steckten ihre Köpfe aus der Erde, dann die herrlichen Tulpen. Ich ergötzte mich an ihnen und dachte an das Geschenk.

Der Sommer kam mit seinen Bienen und Kirschblüten, mit seiner Hitze und seinen roten Sonnenuntergängen. Und verging. Und immer sah ich mich nach einem Geschenk um, fand keins schön genug und tröstete mich damit, dass ja noch genug Zeit wäre.

Doch der Herbst ging vorbei wie ein Atemzug. Rasch war die bunte Pracht der Bäume abgefallen, der November mit seinen grauen Stürmen rauschte dahin und der Heilige Abend rückte immer näher.

Da wurde mir angst, dass ich mein Versprechen nicht würde erfüllen können, und ich lief nur noch draußen herum und schaute und suchte, aber ich fand nichts. Und in die Geschäfte brauchte ich ja nicht zu gehen, schließlich sollte es nichts Gekauftes sein.

Nun war der Heilige Abend herangekommen und ich hatte noch immer nichts. Ein leichter Schneefall setzte ein. Die Flocken waren groß und schwebten dahin wie taumelnde kleine Vögelchen, die ihren Weg verloren hatten. Schon schlug die Uhr fünf Mal und um sechs sollte unsere Bescherung sein und ich hatte noch immer nichts!

Der Schnee fiel dichter und stärker, es war ganz dunkel geworden. Traurig stellte ich mich unter eine Laterne.

Da sah ich sie. Sie schwebte genau auf mich zu. Ein kristallenes Wunder, ein Hauch Schönheit. Ich fing sie, barg sie behutsam in meinen Händen und eilte nach Hause.

„Fröhliche Weihnachten“, rief ich, „und hier ist mein Geschenk. Einmalig, wertvoll und kostenlos. Wie meine Liebe zu dir.“

Und ich öffnete meine Hände.

Sie waren leer.

„Was war es denn?“, fragte er.

„Die schönste Schneeflocke der Welt“, sagte ich.

Weihnachten im Januar

Es war ein harter, weißer Winter. Ein Winter, wie Kinder ihn mögen. Mit einem zugefrorenen See, auf dem man Eislaufen kann, mit Schnee für Schlittenfahrten, Schneebälle und Schneemänner und mit Eisblumen an den Fenstern.

Ich war sechs Jahre alt. Einmal im Jahr fuhr meine Mutter mit uns drei Mädchen in die Stadt, um Schuhe und anderes einzukaufen, das es bei uns nicht gab. Diesmal fiel der Termin in den Januar.

Ich liebte diese Fahrten. Der schöne Blick aus dem Zugfenster, die Schaffner mit ihren roten Mützen und ihren eisernen Lochzangen, die sie geschickt durch unsere kleinen Pappfahrkarten bohrten, die Ankunfts-Bockwurst auf dem Bahnsteig, den heißen Kakao vor der Abfahrt, all diese besonderen Dinge. Und erst die Stadt! Mit ihren schicken, hohen Häusern, Straßenbahnen und Autos!

Meine Mutter hatte tags zuvor besorgt geäußert, ob denn bei diesem Schneefall überhaupt Züge fahren würden, aber weil ich mich so auf die Fahrt freute, setzte ich einfach mein Gottvertrauen dagegen. Und ich behielt recht. Die Züge fuhren.

Gemütlich ratterten wir über eine Stunde lang in einem geheizten Waggon über die Schienen. Drinnen dampfte der Tee aus der Thermoskanne, draußen klirrte der Frost über die weißen Felder und Wälder.

Angekommen gab es die obligatorische Bockwurst am Bahnhofskiosk, dann stapften wir hinter unserer Mutter her durch die Straßen, blickten neugierig in die bunten Schaufenster, wärmten uns in Läden auf, während meine Mutter einkaufte und zuletzt ging’s zum Schuhe kaufen. Bis hierher war alles wie immer. Die Besorgungsliste war abgearbeitet, meine Mutter erschöpft aber zufrieden, wir drei aufgedreht. In Aussicht standen nun noch der heiße Kakao auf dem Weg zum Bahnhof und die gemeinsame Rückfahrt, während der wir Canasta spielen würden.

Doch als wir mit neuen Schuhen an den Füßen aus der Tür traten, war es mit der Normalität vorbei. Zum Schnee hatten sich Eisregen, Sturm und Blitzfrost gesellt. Meine Mutter machte einen Schritt aus dem Laden, segelte durch die Luft und konnte sich nur mit einem gewagten Griff an einem fremden Mann festhalten.

Die Bürgersteige glichen polierten Spiegeln.

„Den Kakao lassen wir ausfallen!“, beschloss meine Mutter.

Wir murrten, sahen aber bald ein, dass sie Recht hatte. Wir kamen kaum vorwärts. Tatsächlich langten wir nur wenige Minuten vor Abfahrt des Zuges am Bahnhof an. Das nützte uns jedoch nichts. „Heute aus technischen Gründen kein Zugverkehr!“ erklärte ein Schild an der Bahnhofstür. Entsetzen im Gesicht meiner Mutter. Ratlos sahen wir uns an.

Immer mehr Menschen kamen auf den Bahnhofsplatz. Sie sahen verfroren aus, hatten rote Nasen und ärgerliche Gesichter. Vor der einzigen Telefonzelle hatte sich eine lange Schlange gebildet. Manche hämmerten an die Bahnhofstür, in der Hoffnung zu erfahren, wie man denn jetzt nach Hause käme. Aber vom Bahnpersonal war niemand zu sprechen.

Dann brach die Dämmerung herein.

Da fuhr plötzlich ein dicker, runder Bus mit der Aufschrift „Ersatzverkehr“ auf die Gruppe der Wartenden zu.

„Gott sei Dank!“, entfuhr es meiner Mutter und wir stürmten wie alle anderen auf den Bus zu.

Und dann ging es los. Der Motor heulte, Schneewolken pfiffen am Fenster vorbei. Der Fahrer stellte die Scheibenwischer auf die schnellste Stufe, biss die Zähne zusammen und starrte in das weiße Chaos vor seiner Scheibe.

Zuerst ging alles gut. Es gab ja noch die Straßen der Stadt, es gab die Häuser und die Straßenlampen und eine gewisse Orientierung. Aber bald fuhren wir aus der Stadt heraus, zuerst hörten die Häuser auf, dann die Lampen und dann irgendwie alles. Ich hatte den Eindruck, dass das Gesicht des Fahrers, das ich von der Seite her beobachten konnte, sich immer mehr verfinsterte.

Nach einer Weile hielt er den Bus an, drehte sich zu uns um und sagte, da er die Straße nicht mehr sähe, wolle er umkehren.

„Nein! Fahren Sie weiter!“, protestierten die Leute. „Wie sollen wir denn sonst nach Hause kommen!“

Und er fuhr. Draußen war es dunkel wie im Sack. Nur das Weiß des fliegenden Schnees war vor dem Schwarz der Nacht zu erkennen. Der Motor brummte wie ein wütender Bär. Die Straße schien immer unebener zu werden, wir wurden hin und her gerüttelt. Eine Bäuerin sorgte sich um ihre Hühner, die sie in einem Käfig dabei hatte. „Die sind mir ja tot, wenn ich ankomme!“, schrie sie. Als Antwort trat der Fahrer so heftig auf die Bremse, dass wir allesamt nach vorn flogen.

Abrupt stand er auf. „So“, schimpfte er. „Jetzt reicht’s! Das ist Wahnsinn! Ich hätte nie fahren dürfen! Bleiben Sie alle sitzen, ich gehe mal gucken, wo wir überhaupt sind!“ Sprach’s, nahm eine große Taschenlampe vom Haken und stieg aus.

Als er wieder hereinkam, wurde auch dem Letzten klar, dass das Unwetter ein bedrohliches Ausmaß erreicht hatte. Sein Schnauzbart und seine Augenbrauen waren voller Eiskristalle! Er sah aus wie ein Polarforscher.

„Wir stehen auf einem Feld“, knurrte er. „Oder auf einem See! Weiß ich wo! Jedenfalls nicht auf ’ner Straße! Wär ich bloß umgekehrt! Aber Sie wollten es ja so!“ Wütend stampfte er mit dem Fuß auf, Schnee fiel von seiner Jacke.

Die Erwachsenen einigten sich darauf, dass er einfach weiter geradeaus fahren solle, bis eine Straße käme.

„Aber meine Hühner!“, rief die Bäuerin.

Der Fahrer grunzte etwas Unverständliches und startete den Bus. Das heißt, er versuchte, ihn zu starten. Aber der Motor gab nur zwei gequälte Schreie von sich, dann blieb er still.

Jetzt sagte niemand mehr etwas. Alle sahen gespannt zum Fahrer. Dieser stieß einen Fluch aus, nahm einen riesigen Schraubenschlüssel und stapfte wieder nach draußen, wobei er die Tür ein bisschen offen stehen ließ, damit wir von seinem Ärger auch etwas hatten.

„So“, meinte er, als er wieder reinkam. „Der Motor ist hin. Dann richten Sie sich mal auf eine Nacht im Bus ein. Sie wollten ja unbedingt weiterfahren!“

Die Leute nahmen es erstaunlich gelassen. Die Männer steckten sich Zigarren und Pfeifen an, die Frauen holten ihr Strickzeug heraus. Ein Bus ist immer noch besser als ein freies Feld. Dachten wir. Doch es dauerte nicht lange, da wurde es kalt. Eiskalt. Es wurde sowas von kalt, dass einem die Finger blau wurden. Mit dem Motor war nämlich auch die Heizung ausgefallen. Eine Frau begann, hin und her zu laufen, was wegen des ganzen Gepäcks, das den Gang verstopfte, eigentlich gar nicht ging. Sie solle sich hinsetzen, sagten die einen. Sie solle doch gehen, wenn es ihr nicht passt, grummelten die anderen.

„Jawohl!“, gab sie zurück, „Das mache ich. Ich gehe.“

Es gab Geschrei und Gelächter.

„Auf Ihre Verantwortung“, sagte der Busfahrer.