Staat - Kirche - Krieg - Leo N. Tolstoi - E-Book

Staat - Kirche - Krieg E-Book

Leo N. Tolstoi

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Beschreibung

Der Russe Leo N. Tolstoi wendet sich 1900 an seine Menschengeschwister: "Nur dann könnt Ihr Euch befreien, wenn Ihr mutig in das Gebiet jener höheren Idee der Verbrüderung aller Völker eintretet, der Idee, die schon lange ins Leben getreten ist und Euch von allen Seiten zu sich heranruft." Patriotismus ist in seinen Augen Sklaverei - ein Herrschaftsinstrument, mit dem die Interessen einer kleinen Minderheit verschleiert und die Massen in den Abgrund der militärischen Heilslehre getrieben werden. Der Staat benötigt für seine Kriegsapparatur vor allem ein Kirchengebäude, welches die Botschaft der Religion ins Gegenteil verfälscht, die Waffenproduktion absegnet und das Töten im Namen einer angeblich von Gott verliehenen Vollmacht rechtfertigt. Seit der konstantinischen Wende zu Beginn des 4. Jahrhunderts erfüllen die großen "christlichen" Institutionen ohne Scham diese Aufgabenstellung. Sie erweisen sich als Dienstleister der Mächtigen und Besitzenden. Der hier vorgelegte Sammelband enthält u.a. folgende Schriften Tolstois zu diesem todbringenden Komplex: Ernste Gedanken über Staat und Kirche (Cerkov' i gosudarstvo, 1879) - Patriotismus und Christentum (Christianstvo i patriotizm, 1894) - Sinnlose Hirngespinste (Bessmyslennye mectanija, 1895) - Patriotismus oder Frieden (Patriotizm ili mir?, 1896) - Cathargo delenda est (1898) - Patriotismus und Regierung (Patriotizm i pravitel'stvo, 1900) - Muss es denn wirklich so sein? (Neuzeli eto tak nado?, 1900) - Eines ist not (Edinoe na potrebu, 1905) - Es ist Zeit, zu begreifen (Pora ponjat', 1909). Das authentische Christentum unschädlich zu machen, darin liegt Tolstoi zufolge die Funktion des mit dem Staat paktierenden Kirchentums: Erst "wenn diese falsche Lehre aufhört zu existieren, wird es kein Heer geben und ... jene Vergewaltigung, Knechtung und Demoralisierung, die an den Völkern verübt werden, aufhören." Tolstoi-Friedensbibliothek. Reihe B, Band 2 (Signatur TFb_B002) Herausgegeben von Peter Bürger

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Inhalt

Vorwort des Herausgebers

E

RNSTE

G

EDANKEN ÜBER

S

TAAT UND

K

IRCHE

(Cerkov' i gosudarstvo, 1879)

P

ATRIOTISMUS UND

C

HRISTENTUM

(Christianstvo i patriotizm, 1894) Deutsch von Adele Berger

B

RIEF AN DIE

R

EDAKTION DER

L

ONDONER

Z

EITUNG

„D

AILY

C

HRONICLE

“ (1894) Übersetzt von L. Albert Hauff

S

INNLOSE

H

IRNGESPINSTE

Eine Auseinandersetzung über Autokratie und Demokratie (Bessmyslennye mečtanija, 1895)

B

RIEF AN EINEN

P

OLEN

(10. September 1895; übersetzt von L. A. Hauff) 0000

P

ATRIOTISMUS ODER

F

RIEDEN

(Patriotizm ili mir?, 1896) Übersetzung von Sophie Behr 0000

C

ATHARGO DELENDA EST

(1898) Übersetzt von Nathan Syrkin

P

ATRIOTISMUS UND

R

EGIERUNG

(Patriotizm i pravitel'stvo, 1900) Übersetzung von Wladimir Czumikow

M

USS ES DENN WIRKLICH SO SEIN

? (Neuželi èto tak nado?, 1900) Übersetzt von Wladimir Czumikow

„E

INES IST NOT

“ Über die Staatsmacht (Edinoe na potrebu, 1905) Berechtigte Übersetzung von Adolf Heß

A

US DEM

L

ESEZYKLUS FÜR ALLE

T

AGE

(Krug čtenija, 1904-1906) Von Leo Tolstoi ausgewählte und selbst verfasste Texte

D

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ALTUNG DER FRÜHEN

C

HRISTEN ZUM

K

RIEG

Zusammengestellt von Nikolaj N. Gussew, bearbeitet von Leo N. Tolstoi (um 1908)

E

S IST

Z

EIT

,

ZU BEGREIFEN

Ein staatskritischer Text über den „Dschingis Khan mit Telegraphen“ (Pora ponjat', 1909)

_____

A

NHANG

Gesamtübersicht und Anmerkungen zu den ausgewählten Texten

VORWORT DES HERAUSGEBERS

Dieser zweite Sammelband der Reihe B unseres Editionsprojektes ‚Tolstoi-Friedensbibliothek‘ ist der Trias „Staat – Kirche – Krieg“ gewidmet. Erschlossen werden Texte aus drei Jahrzehnten. Sie sind z. T. noch weniger bekannt als die religiösen (bzw. theologischen) Grundwerke von LEO N. TOLSTOI (1828-1910) und angesichts fehlender Antiquariatsangebote zumeist nur als ziemlich teure Nachdrucke oder gar nicht mehr erhältlich.

Schon als junger Mann bestreitet TOLSTOI kategorisch, der Staat als Betreiber von Totmachmaschinen könne ein Hüter von Moral sein.1 (Im letzten Lebensjahr wird er dann vor einem „Dschingis Khan mit Telegraphen“ warnen →XIII). In seiner ‚Sinnkrise‘ der 1870er Jahre erahnt der Dichter so etwas wie ein ‚Lehramt der Armen‘ und versucht deshalb, sich wieder der volkskirchlichen Praxis zu nähern. Ein Religionsunterricht, in dem seine Kinder Katechismus-Paragraphen über erlaubte Tötungsakte lernen sollen, führt schneller als alle anderen Bedenken zum Abbruch der Annäherungen an die Priesterkirche.

Zu Beginn des unheilvollen 20. Jahrhunderts wendet sich TOLSTOI mit folgender Botschaft an seine Menschengeschwister: „Nur dann könnt Ihr Euch befreien, wenn Ihr mutig in das Gebiet jener höheren Idee der Verbrüderung aller Völker eintretet, der Idee, die schon lange ins Leben getreten ist und Euch von allen Seiten zu sich heranruft“ (→VIII). Patriotismus ist in seinen Augen Sklaverei: ein Herrschaftsinstrument, mit dem die Interessen einer kleinen Minderheit verschleiert und die Massen in den Abgrund der militärischen Heilslehre getrieben werden.

Der Staat benötigt für seine Kriegsapparatur vor allem einen Kirchenbau, welcher die Botschaft der Religion ins Gegenteil verfälscht, die Waffenproduktion absegnet und die Ermordung von Menschen im Namen einer angeblich von Gott verliehenen Vollmacht rechtfertigt. Seit der konstantinischen Wende zu Beginn des 4. Jahrhunderts erfüllen die großen ‚christlichen‘ Institutionen ohne jede Scham diese Aufgabenstellung. Sie erweisen sich als Dienstleister der Mächtigen und Besitzenden.

Das authentische Christentum unschädlich zu machen, darin liegt TOLSTOI zufolge die Funktion des mit dem Staat paktierenden Kirchentums. Hier pflichtet der russische Denker dem sonst wenig geschätzten FRIEDRICH NIETZSCHE bei (→XI.C) und zeichnet sich durch eine Vehemenz aus, die uns – je nachdem, wo wir beheimatet sind – in Erstaunen oder Erschrecken versetzt. Noch ohne Kenntnis der auf allen Sendern theologisierten Kriegsgewalt im ‚Menschenschlachthaus 1914-1918‘ vertritt er schließlich – besonders nachdrücklich in den Traktaten „Muss es denn wirklich so sein?“ (→IX) und „Eines ist Not“ (→X) – die These, es seien weder soziale Befreiung noch Frieden möglich, solange die traurigen Staatskirchen- und Klerikergebilde fortbestehen: Erst wenn diese gotteslästerliche „falsche Lehre aufhört zu existieren, wird es kein Heer geben und … jene Vergewaltigung, Knechtung und Demoralisierung, die an den Völkern verübt werden, aufhören.“

In seinem Lesezyklus für alle Tage (Krug čtenija, 1904-1906) möchte LEO N. TOLSTOI, der sich in wissenschaftlicher Hinsicht durchaus nicht mit editorischen Tugenden hervortut, seine Freude an den Sprach- und Lebenszeugnissen anderer mit uns teilen (→XI). Wieso kennt kaum jemand die scharfsinnige Kritik der Staatsmacht aus der Feder des sechszehnjährigen Etienne de La Boëtie (1530-1563) oder die Entlarvung des blasphemischen Kriegskirchenkomplexes schon durch den tschechischen Laienreformator Peter von Chelčický (ca. 1390-1460)? Abhilfe soll geschaffen werden durch Lesebücher im Dienste des Lebens. Die populäre Vermittlung historischen Grundwissens über den Pazifismus der Alten Kirche (→XII ) war den zeitgenössischen Zensoren allerdings schon zu viel des Guten.

pb

1 Vgl. Leo N. TOLSTOI: Texte gegen die Todesstrafe. Über die Unmöglichkeit des Gerichtes und der Bestrafung der Menschen untereinander. Mit einem Geleitwort von Eugen Drewermann. (= Tolstoi-Friedensbibliothek: Reihe B, Band 1). Norderstedt: BoD 2023.

I. Ernste Gedanken über Staat und Kirche

(Cerkov' i gosudarstvo, 1879)

Von Graf Leo Tolstoi

Aus dem russischen Manuskript übersetzt2

(Vorwort des Herausgebers [dieser Übersetzung]: Nachstehende Broschüre soll den Lesern als eine Ergänzung der philosophischen Schriften des Grafen Leo Tolstoi dienen. Obgleich bereits im Jahre 1886 entstanden, erschien sie [diese Übersetzung, pb] trotzdem nicht im Druck, sondern es wurden von ihr nur zwei Exemplare hektographisch vervielfältigt.

Indem ich die gegenwärtige Ausgabe dem denkenden Publikum übergebe, halte ich es für meine Pflicht zu bemerken, daß man die Anschauungen Tolstois über Gott, Christus und Religion und seine Anschauungen über die Kirche, das heißt über dieselbe in ihrer gegenwärtigen Gestalt, wohl auseinander halten muß.

Tolstoi erscheint in dieser Schrift als Gegner der Kirche in ihrem jetzigen Zustande, weil ihm dieselbe den wesentlichen Inhalt der Religion Christi, d. h. den Gottesglauben und die Liebe zum Nächsten nicht zur fruchtbaren Wirksamkeit kommen zu lassen scheint.

Einige Ausdrücke, die mir im Original zu schroff erschienen, sind in der Übersetzung gemildert worden.

Berlin den 14. Februar 2. Februar 1891. Der Herausgeber)

Der Glaube ist dasjenige, was dem Leben einen Sinn giebt, dasjenige, was Kraft zu demselben verleiht und die Richtung desselben bestimmt.

Diesen Glauben findet jeder lebende Mensch und auf Grund desselben lebt er. Hat der Mensch dagegen keinen Glauben, so stirbt er.

Abgesehen von diesem Glauben bedarf er alles dessen, was die ganze Menschheit sich erarbeitet hat. Dieser Erwerb der Menschheit heißt ,,Offenbarung“ und ist dasjenige, was dem Menschen den Sinn des Lebens begreifen hilft.

Hierauf beruht das Verhältnis des Menschen zum Glauben.

Bewunderungswürdig ist es aber, daß es Menschen giebt, welche Alles aufgeboten haben, damit diese und nicht jene Form der Offenbarung von der gesammten Menschheit unbedingt anerkannt werde. Zu diesem Zwecke verdammen, bekämpfen und vernichten sie alle diejenigen, welche mit ihnen nicht übereinstimmen. Auf die gleiche Weise handelt die entgegengesetzte Partei und so bekämpft und vernichtet Einer den Anderen, wobei jeder behauptet, daß seine Ansicht die richtige sei.

Ich erstaunte anfangs darüber, daß eine solche handgreifliche Absurdität und ein derartiger Widerspruch nicht den Glauben selbst vernichtet und daß es überhaupt noch Menschen giebt, die an einen solchen Betrug glauben; denn vom allgemeinen Standtpunkte aus betrachtet, ist es unumstößlich wahr, daß ein jeder Glaube ein Aberglaube oder, besser gesagt, ein Betrug ist, was ja auch die jetzt herrschende Philosophie nachzuweisen sucht. Vom allgemeinen Standpunkte aus kam auch ich unabweislich zu der Anschauung, daß aller Glauben menschlicher Betrug sei, doch konnte ich nicht bei dieser Erwägung stehen bleiben, da die ganze Dummheit des Betruges seine Augenscheinlichkeit zusammen mit der Thatsache, daß die Menschheit ihm trotzdem verfallen ist, darauf hinweist, daß diesem Betruge etwas zu Grunde liegt, was an sich nicht Betrug ist, es sei denn, daß alles thöricht ist, was nicht trügen kann.

Diese allgemeine Unterordnung der wahrhaft lebenden Menschheit unter einen solchen Betrug ließ mich die Wichtigkeit der Erscheinung, welche der Grund dieses Betruges ist, erkennen und veranlaßte mich die Lehre der Christenheit, welche der Glaube der Menschen unserer Umgebung ist, zu zergliedern.

Solche Überzeugungen haben sich mir vom allgemeinen Standpunkte aufgedrängt. Zieht man jedoch den persönlichen Standpunkt in Betracht, von welchem aus ein jeder Mensch, wie auch ich selbst, um zu leben, einen Glauben an den Sinn des Lebens haben muß, so erscheint diese Thatsache in ihrer Ungereimtheit noch auffallender, denn, warum ist es notwendig nicht nur zu glauben, sondern seinen Glauben auch einer Prüfung zu unterziehen. Der Mensch lebt, folglich begreift er den Sinn des Lebens. Er hat sein Verhältnis zu Gott begründet, er kennt die Wahrheit, wie auch ich die Wahrheit der Wahrheiten kenne. Die Äußerung dieses Verhältnisses kann verschieden sein, während das Wesentliche in allen Äußerungen gleich bleiben muß. Aber wie könnte ich Jemand zwingen oder es von ihm verlangen, daß er seine Erkenntnis ebenso ausdrückt, wie ich meine Erkenntnis[;] da hilft weder Zwang, Gewalt, noch Schlauheit und Betrug. Der Glaube ist das Leben des Menschen und dem Menschen seinen Glauben nehmen, um ihm einen anderen zu geben, wäre ungefähr dasselbe, als wollte man ihm das Herz aus dem Leibe reißen, um ein anderes hineinzusetzen.

Solches wäre nur in dem Falle möglich, wenn sein Glaube, oder der meine, nur in Worten bestände, nicht aber das bedeutete, was uns Beiden notwendige Lebensbedingung ist.

Jeder Mensch, der durch seinen Glauben an Gott sein Verhältnis zu dem Schöpfer begründet hat, kann weder durch Gewalt noch List zu einem anderen Verhältnisse zu Gott gezwungen werden. Trotzdem dieser Zwang zu einem anderen Glauben innerlich nicht möglich ist, wird und wurde er äußerlich überall vollzogen.

Die Menschen wollen und wollten einer dem andern etwas, was ihrem Glauben ähnlich ist, aufdrängen[,] und es fanden sich Menschen, die dieses mit sich geschehen ließen.

Der Glaube kann sich selbst nicht aufdrängen oder aus irgend einer äußeren Ursache angenommen werden, das wäre kein wirklicher Glaube, sondern eine Glaubenstäuschung. Aber diese Täuschung ist schon seit lange[m] ein wesentlicher Faktor des menschlichen Lebens.

Worin aber besteht diese Täuschung und worauf läßt sie sich zurückführen. Wie haben die, welche täuschten, sie hervorgerufen und wie hat sie sich bei den Getäuschten erhalten können. Ich rede nicht von dem Betrug des Brahmanentums, des Buddhaismus, des Confucionismus und Mohamedanismus, – man braucht diesen nicht mehr nachzuweisen, er ist Jedem, der über die angeführten Religionen Forschungen angestellt hat, klar. Ich rede aber von dem Christentum, einer uns bekannten, notwendigen und teuren Religion. Hier ist jede Täuschung auf einen phantastischen Begriff von der Kirche gebaut, welcher auf nichts gegründet ist und welche [sic] Jeden, der mit der christlichen Lehre näher bekannt wird, durch seine Absurdität in Erstaunen versetzt.

Unter allen gottlosen Begriffen und Worten giebt es keine Worte und Begriffe, die noch gottloser wären, als der Begriff der ,,Kirche.“

Es giebt keinen Begriff, welcher mehr Böses hervorgerufen hat und welcher der christlichen Lehre so feindlich ist, als der Begriff der ,,Kirche.“ –

Eigentlich bedeutet das Wort ἐκκλησία „Versammlung“ und sonst nichts, wie es ja auch im Evangelium gebraucht wurde. In den Sprachen aller modernen Völker dagegen bedeutet das Wort ἐκκλησία „Haus des Gebetes“.

Über diese Bedeutung ist das Wort in keiner Sprache hinausgekommen, trotzdem die Täuschung des Begriffes der Kirche schon 1500 Jahre besteht.

Wie aber die Priester dieses Begriffes der Kirche bedürfen geht aus folgendem Satz, den sie sich zu ihrer Richtschnur gemacht haben, hervor: ,,Alles, was ich rede, ist Wahrheit und falls Du nicht daran glaubst, so verbanne, verdamme oder peinige ich Dich.“

Eine solche Auffassung der Kirche ist aber ein Sophismus, welchen sie für ihre dialektischen Zwecke wohl nötig haben mögen, der aber auch das ausschließliche Eigentum derer, die seiner bedürfen, bleibt. – Nicht nur dem einfachen Volke, sondern auch den Angehörigen der gebildeten Klassen ist eine solche Auffassung fremd, obgleich sie dieselbe aus dem Katechismus gelernt haben.

Trotzdem es lächerlich erscheinen könnte, diese Deutung des Wortes ,,Kirche“ ernst zu nehmen, muß es doch in Anbetracht dessen geschehen, daß viele Menschen diesem Begriffe eine ungeheure Bedeutung beimessen. Aber in der That ist diese Auffassung eine sehr falsche. Wenn man sagt: „Die Kirche ist eine Versammlung von wahrhaft Glaubenden“ – so ist damit noch nichts gesagt. Es ist ebenso bedeutungslos, wenn man ein Orchester eine Versammlung von ,,wahrhaften“ Musikern nennt und nicht hinzufügt, was unter ,,wahrhaften“ Musikern zu verstehen ist. Die Theologie aber beweist, daß nur der ein wahrhaft Gläubiger ist, der nach den Vorschriften der Kirche lebt, d. h. welcher der Kirche angehört.

Nun giebt es aber nur eine wahre Kirche, in welcher es Hirten und Herden giebt. Die von Gott eingesetzten Hirten lehren die wahre und einzige Lehre. Sie sagen:

,,Alles was ich jetzt im Namen Gottes sagen werde, ist die reine Wahrheit! – Darüber hinaus giebt es keine Wahrheit.“

Der ganze Irrtum beruht also auf der falschen Auffassung des Wortes ,,Kirche“. Ferner besteht er darin, daß sich Leute finden, welche ihren Glauben durchaus Anderen beibringen wollen.

Warum aber wollen sie denn durchaus ihren Glauben einem Andern beibringen? Wenn sie einen wahren Glauben hätten, so wüßten sie, daß der Glaube der Sinn des Lebens ist, also das Verhältnis des Menschen zu Gott, in welchem jeder Mensch steht. Sie mußten es also wissen, daß man nicht diesen wahrhaften Glauben, sondern nur einen falschen lehren kann.

Jedoch sie wollten lehren! – Aber warum?

Die einfachste Antwort hierauf wäre die: „Der Pfaffe braucht Eier, (die er von der Gemeinde erhält). Der Erzpriester einen Palast, Pasteten und seidene Priestergewandung ec.“ – doch diese Antwort würde nicht das Richtige treffen. Hier besteht ohne Zweifel ein innerliches, psychologisches Motiv zur Irreführung, sonst würde dieselbe nicht solange bestehen, denn auf die Frage: „Wie kann ein Mensch (z. B. der Henker) den anderen, gegen den er absolut nicht in dem Grade feindlich gesinnt sein kann, wie es die That verlangt, töten“ – genügt nicht die Antwort, daß der Henker, um Wein, Brot und ein rotes Hemd zu erlangen tötet. – Ebenso unzureichend wäre der Grund, daß der Kiewsche Metropolit ein Gehalt von 30.000 Rubel (gegen 85.000 Mark) jährlich erhält, um zu erklären, warum er mit seinen Mönchen Säcke mit Stroh füllt und sie heilige Reliquien nennt. Das eine wie das andere ist zu schrecklich und widerstrebt der menschlichen Natur zu sehr und deshalb kann dafür eine so einfache und grobe Erklärung nicht genügend sein.

Um ihr Thun zu erklären, werden der Henker und auch der Metropolit eine ganze Reihe von Gründen anführen, von welchen der Hauptgrund wahrscheinlich eine historische Überlieferung sein wird.

Der Henker sagt: „Man muß den Übelthäter bestrafen. Er wird schon seit dem Anfang der Welt bestraft. Strafe ich ihn nicht, so straft ihn ein anderer. Ich werde es mit Gottes Hilfe besser als ein anderer ausführen.“

Ebenso sagt der Metropolit: „Es ist eine sichtbare Gottesverehrung erforderlich. Solange die Welt steht, werden die Reliquien der Heiligen besucht und verehrt und wenn nicht ich die Verwaltung derselben ausübe, so thut es ein anderer. Ich hoffe mit Gottes Hilfe, die materiellen Opfer, welche die Reliquienverehrung den Gläubigen auferlegt, so gottgefällig wie möglich zu verwenden.“

Um vollständig zu verstehen, wie diese Einrichtungen sich in der (griechisch-katholischen) Kirche herausgebildet haben, muß man dem Anfange und der Quelle derselben nachspüren.

Wir reden hier von dem, was allgemein bekannt ist, – vom Christentum.

Wenn wir auf den Anfang der christlichen Lehre im Evangelium zurückblicken, so finden wir, daß hier jede sichtbare Gottesverehrung ausgeschlossen und jede Lehrhaftigkeit der Religion getadelt wird. Entfernen wir uns jedoch von der Zeit Christi und nähern uns unserer Zeit, so sehen wir, daß die jetzige Lehre von den christlichen Grundsätzen ganz bedeutend abweicht. Diese Abweichung begann schon in der Zeit der Apostel, besonders aber war es Paulus, welcher das Christentum in der Form der Lehre verbreitete. Und je mehr sich das Christentum ausbreitete, desto mehr verbreiteten sich auch die sichtbare Gottesverehrung und solche Lehren, die Christus selbst nicht gelehrt hat.

In der ersten Zeit des Christentums war die Idee der Kirche nur der Inbegriff derjenigen, welche den Glauben bekannten, den auch ich für wahr halte.

Diese Bedeutung des Begriffes ist vollständig richtig, wenn der Glaube sich nicht in Worten äußert, sondern in der Führung des Lebens, denn der eigentliche Glaube kann gar nicht in Worten ausgedrückt werden.

Der Begriff der wahren Kirche diente außerdem noch als Argument gegen die in ihrem Glauben Abweichenden. So war vor Konstantin und dem Konzil zu Nicaea die Kirche nur ein ideeller Begriff.

Seit der Zeit Konstantins und des Konzils zu Nicaea erscheint die Idee der Kirche realisiert; denn von hier aus datieren die Einrichtungen der Reliquien und Heiligenverehrung, die für den Metropoliten, die des Abendmahles, das für die Pfaffen·geschaffen wurde [sic], der Synoden ec. Wohl können wir über diese Institutionen in Erstaunen geraten und nicht anders können wir sie erklären, als daß eben das Konzil es für vorteilhaft fand, jene Einrichtungen in’s Leben zu rufen.

Immerhin war ein derartiges Vorgehen nicht neu und es ist nicht daraus entstanden, daß vielleicht einzelne Privatpersonen ihren Vorteil dabei suchten, denn es giebt kaum solch ein Ungeheuer unter den Menschen, das sich als Erster zu einer derartigen That entschließen könnte, wenn es keine anderen Gründe hierfür gegeben hätte. Dennoch ist die Annahme nicht ausgeschlossen, daß selbstsüchtige Motive vorlagen.

„An den Früchten werdet ihr sie erkennen.“

Der erste Grund war der Haß und die Feindschaft gegen Arius und seine Anhänger. (Auf dem Konzil [325 n. Chr.] standen sich zwei Parteien, die Arianer und Athanasianer feindlich gegenüber, die Lehre der letzteren wurde als orthodoxes [katholisches] Glaubensgesetz angenommen, die der ersteren als Häresie verdammt); der zweite wichtigere wohl die Vereinigung der Kirche mit der staatlichen Gewalt.

Nach den heidnischen Begriffen stand Konstantin der Große an der Spitze der Menschheit (er wurde zu den Göttern gerechnet!), und als er den christlichen Glauben annahm, gab er damit dem ganzen Volke ein Beispiel. Er bekehrte es und half ihm gegen die Ketzer und begründete auf dem ökumenischen Konzil den rechtgläubigen christlichen Glauben.

Hier fing das Mißverständnis an. Noch heute hält man an der Verbindlichkeit gegenüber den Bestimmungen dieses Konzils fest. Jenes Ereignis [Konstantins Annahme des Christentums] wandte auf solche Weise einen großen Teil der Menschheit von seinem eigenen Glauben ab. Eine Menge von Christen aber wandelt seit dieser Zeit auf halbheidnischem Wege fort bis auf den heutigen Tag.

Karl der Große und Wladimir setzten Konstantins Werk fort und dieselbe Täuschung dauert bis heute, darin bestehend, daß die Annahme des Christentums von solchen mit Gewalt gefordert wird, welche wohl den Buchstaben, aber nicht den Geist des Christentums verstehen.

Dieses doch nur scheinbare Christentum in einer profanierenden Verbindung mit dem Staat, besteht nun schon 1500 Jahre und es gehört keine geringe Mühe dazu, die komplicierten Sophismen zu zerstören, welche überall dazu dienen, das Christentum mit dem Staat zu vereinigen, die christliche Religion gänzlich zu verunstalten und welche sich bemühen, die Heiligkeit, die Legalität des Staates und seine Möglichkeit ein christlicher zu sein, begreiflich zu machen.

Der Begriff ,,Christlicher Staat“ ist ebenso unfaßbar wie der Begriff „Heißes Eis.“

Es giebt entweder keinen Staat oder es giebt kein Christentum.

Um dieses zu begreifen, müssen wir alle die Phantasieen, welche uns anerzogen sind, vergessen und direkt von den historischen und juristischen Wissenschaften Aufklärung zu erlangen suchen.

Alle diese Wissenschaften haben eigentlich keine reelle Grundlage und sind nichts weiter als eine Apologie des Zwanges.

Übergehen wir die Geschichte der Medier und Perser ec. und wenden wir uns direkt zur Betrachtung der Geschichte desjenigen Staates, welcher den Bund mit dem Christentum zuerst geschlossen hat. –

Rom war zur Zeit der Entstehung des Christentums ein Räubernest, welches sich durch seinen Raub immer mehr vergrößerte und Völker durch Zwang und Mord unterjochte. Diese Räuber mit ihren Hauptleuten an der Spitze, welche bald Cäsar, bald Augustus hießen, plünderten und marterten die Menschen zur Befriedigung ihrer launenhaften Begierden.

Ein Nachfolger dieser Herrscher des räuberischen Roms, welcher Konstantin hieß, der sehr gebildet und von den brutalen Vergnügungen seiner Zeit übersättigt war, zog etliche christliche Dogmen seinem heidnischen Glauben vor: Er vertauschte die Menschenopfer mit der Liturgie und die Verehrung des Apollo, der Venus und des Zeus mit der Verehrung Gottes und seines Sohnes Christus, und diesen Glauben befahl er unter die zu verbreiten, welche unter seiner Gewalt standen. „Die Fürsten regieren das Volk unter Euch, soll es nicht also sein? –“ „Du sollst nicht ehebrechen!“ – ,,Du sollst nicht Böses mit Bösem vergelten!“ – Alles das hatte ihm Niemand gesagt.

Aber Du willst ein Christ heißen und dabei fortfahren, Herrscher eines räuberischen Kriegsvolkes zu bleiben, zu schlagen, zu brennen, die Ehe zu brechen, zu martern und zu verschwenden?

Es war alles dieses möglich!

Sie machten ihm das Christentum so mundgerecht und richteten es ihm so bequem ein, wie man es kaum erwarten konnte. Sie sahen voraus, daß, wenn er das Evangelium lesen würde, er das begünstigen könnte, was dort gefordert wird: Ein christliches Leben und nicht Kirchenbau und Kirchenbesuch. Das alles sahen sie voraus und suchten ihm mühsam ein solches Christentum zurechtzumachen, daß er ungescheut nach alter heidnischer Weise leben konnte.

Einerseits war ja Christus, der Sohn Gottes, nur deshalb gekommen, um ihn und die anderen zu erlösen. Andererseits hatte ja Christus gelitten, damit Konstantin leben konnte, wie er wollte. Das aber war noch nicht alles. Man ließ ihn auch Buße thun und Brod und Wein verschlucken – solches würde ihm zum Heil gereichen und Alles würde ihm verziehen werden.

Außerdem segneten sie seine Residenz, die, wie wir schon sagten, ein wahres Räubernest war, salbten ihn und nannten ihn von Gottes Gnaden. Dafür willfahrte er auch ihnen, als sie die Pfaffenversammlung (das Konzil von Nicaea) wünschten, ließ sie das Verhältnis des Menschen zu Gott und zu den Menschen festsetzen und befahl ihre auf dem Konzil gefaßten Beschlüsse zu verbreiten.

So wurden alle Teile befriedigt und dieser Glaube besteht nun 1500 Jahre auf der Welt; andere Herrscher kriegerischer Völker führten ihn ebenfalls ein und auch sie wurden gesalbt und Alles – Alles – war von Gott. Ja, wenn überhaupt irgend ein gewaltthätiger Fürst seine Unterthanen plünderte und viel Volk unterwarf, so salbten sie ihn und nannten ihn von Gottes Gnaden. –

Der Pfaffe dagegen ist nicht nur von Gott, sondern er ist fast Gott selbst, denn in ihm ist der heilige Geist.

Trotzdem alles so gut war, verstanden sie es doch nicht, sich darüber zu einigen[,] und deshalb fingen die Gesalbten an sich gegenseitig zu befehden und Schimpfnamen beizulegen, die sie thatsächlich auch verdienten.

Die Menschen aber, welche alles dieses hörten, verloren ihren Glauben an diese Gesalbten und an die Gefässe des heiligen Geistes und lernten es, sie so zu nennen, wie sie sich selbst gegenseitig nannten, d. h. Räuber und Pharisäer.

Die Räuber erwähnte ich nur, weil sie die Pharisäer verderben. Es ist aber die Rede von den scheinbaren Christen, zu welchen diese durch die Verbindung mit den Räubern geworden waren.

Anders konnte es ja auch garnicht sein.

Von derselben Minute an, in welcher die Pfaffen den Herrscher salbten und ihm sagten, daß er durch seine Gewalt den Glauben der Demüthigung, Selbstaufopferung und Vergebung der Schuld erzwingen könne, wichen sie vom Wege des Glaubens ab.

Die ganze Geschichte der jetzigen, nicht ideellen Kirche, d. h. die Geschichte der Hierarchie unter der Macht der Könige ist eine Reihe von grausamen Versuchen der Hierarchie, diejenige Wahrheit, welche sie fälschlich predigt, und von welcher sie durch ihre Thaten abweicht, zu erhalten.

Die Bedeutung der Hierarchie ist nur auf die Lehre, welche sie lehren will, gegründet.

Die wahre Lehre spricht von der Demut, Selbstaufopferung, Liebe und der Armut, aber sie selbst wird durch Gewalt und Zwang aufgedrungen.

Damit aber die Hierarchie ein Bestehen hat, darf sie von dieser Lehre nicht abweichen und, um sich und ihren Bund mit der Regierung zu rechtfertigen, muss sie mit mannigfaltigen Täuschungen den wirklichen Thatbestand der Lehre verbergen und deshalb legt sie alles Gewicht nicht auf den inhaltlichen Thatbestand der Lehre, sondern auf ihre äußere Form.

So ist das Thun der Hierarchie die Quelle der Glaubenstäuschung, d. h. diese Quelle ist die Vereinigung der Hierarchie unter dem Namen ,,Kirche“ mit dem Staat durch die Gewalt.

Die Ursache, dass diese Menschen ihren Glauben zu verbreiten suchen, liegt in der Furcht, daß der wahre Glauben sie ihres Mißverständnisses überführen könnte und deshalb müssen sie, um sich in Autorität zu erhalten, religiöse Täuschung ausüben.

Der wahre Glaube kann in allen möglichen Sekten und Ketzereien vorhanden sein, aber nur nicht dort, wo er mit dem Staate in Verbindung steht und mit Gewalt aufgedrungen wird.

Es ist eigentümlich, daß die Worte: „Rechtgläubig“, ,,katholisch“ und ,,protestantisch,“ wie sie ja gewöhnlich gebraucht werden, nichts weiteres als die Vereinigung des Glaubens mit dem Staate bedeuten[,] d. h. den sogenannten Staatsglauben.

Dieses ist falsch! –

Die Idee der Kirche, d. h. die Übereinstimmung Vieler im Glauben und die Nähe der Lehrquellen bildeten in der ersten Zeit eines jener schlechten äusseren Motive.

Paulus sagte: Ich weiß es von Christo selbst. Ein anderer wiederum sagte: Ich weiß es von Lucas und alle sprechen: Wir denken richtig und der Beweis dafür, daß wir richtig denken, ist, daß wir eine große Versammlung, ἐκκλησία – Kirche bilden.

Aber von der Zeit des Konzils zu Nicäa, welches der Kaiser berufen hatte, fing jener Zustand an, in welchem alle diejenigen Pfaffen, welche die Lehre anerkannten, nicht das predigten, was sie für recht befanden, sondern das, was ihnen die Kirche vorschrieb.

Die Kirche war nicht nur ein schlechtes Argument, sondern sie wurde eine staatliche Gewalt[;] denn, indem sie sich mit dem Staate vereinigte, fing sie auch an wider den Staat mit Gewalt zu handeln, und alles, was sich mit dem Staat vereinigte, hörte auf ,,Glaube“ zu sein und wurde ,,Satzung“.

Was lehrt das Christentum, wenn wir darunter die Lehre irgend einer oder aller Kirchen verstehen?

Wie man auch die Bestandteile der Lehre trennt und wieder zusammensetzt, so zerfällt die christliche Lehre doch immer in zwei verschiedene Teile.

Erstens, in die dogmatische Lehre von Gott, dem Sohne und dem heiligen Geiste und dem Verhältnis derselben zur Eucharistie mit oder ohne Wein und mit gesäuertem oder ungesäuertem Brot und zweitens, in die Sittenlehre, d. h. die Lehre von der Demut, der Reinheit des Körpers, sowie der Seele und der Friedensliebe.

Die Väter der Kirche bemühten sich diese beiden Lehren im Leben des Menschen zu vereinigen – an diesen Früchten aber können wir erkennen, welche Seite der Lehre die wichtigere und, wenn ich so sagen darf, die wahre ist.

Wendet Euch zur Geschichte des Christentums und ein Schreck wird Euch überfallen!

Wohin wir auch blicken, vom Beginn der christlichen Kirche bis jetzt, zu welchem Dogma wir uns auch wenden, von Christus zum Abendmahl mit Wein oder ohne Wein, – die Früchte dieser vergeblichen Bemühungen, welche auf die Erklärung der Dogmen gerichtet sind, sie heißen Bosheit, Haß, Verzweiflung, Züchtigung der Frauen und Kinder, Scheiterhaufen und Inquisition.

Wendet man sich auf die andere Seite zur Sittenlehre hin – als: Sich in die Wüste entfernen, um sich Gott zu nähern, Brot in den Gefängnissen verteilen ec. ec. – so sind die Früchte dieses Lebens alle Freuden und Tröstungen, die wir in diesem Leben finden.

Ein Irrtum ist nur bei solchen möglich, denen die Früchte der Lehren nicht vor Augen waren, oder bei denen, die unschuldig in den Streit hineingezogen wurden und nicht wußten, daß sie mit diesen Dogmen nicht Gott, sondern dem Teufel dienten, denn Christus sprach offen aus, daß er gekommen sei, um alle Dogmen zu vernichten; irren können sich auch diejenigen, welche die Dogmen für mehr halten als Worte oder phantastische Vorstellungen, aber wir, denen der Sinn des Evangeliums, der keine Dogmen anerkennt, aufgedeckt ist und die wir die Früchte dieser Dogmen vor Augen haben, wir – wir können uns nicht irren. –

Die Geschichte dient uns als Probe der Richtigkeit der Lehre, ja sie ist sogar eine mechanische Probe. –

Können wir, das heißt, unsere Religion, auch ohne das Dogma der unbefleckten Empfängnis der Mutter Gottes existieren oder müssen wir es haben?

Was ist die Folge? – Entrüstung, Spott und Gelächter.

Und war es uns von Nutzen?

Gewiß nicht!

Und die Lehre, daß man die Buhlerei3 nicht verdammen muß – war die uns von Nutzen oder nicht? – Was folgte hieraus?

Tausend und abermal tausend mal wurden die Menschen durch die Erinnerung daran in ihrem Urteil über den Ehebruch milder.

Ein anderes: – Sind aber mit anderen Dogmen auch Alle einverstanden?

Nein!

Aber mit dem, das man dem Bittenden geben soll?

Alle!

Ein Dogma, in Betreff dessen niemand mit dem Anderen übereinstimmt, welches sogar die Menschen vernichteten, hat die Hierarchie als Glauben ausgegeben und giebt es noch heute dafür aus. Das aber, worüber Alle einverstanden sind, was Allen notwendig ist und was die Menschen rettet, kann die Hierarchie zwar nicht verneinen, aber sie wagt dieses auch nicht als Lehre hinzustellen, weil es die Verneinung der Hierarchie ist.

2 Textquelle [Lev Nikolaevič TOLSTOJ:] Ernste Gedanken über Staat und Kirche – von Graf Leo Tolstoi. Aus dem russischen Manuskript übersetzt. Berlin: Verlag Cassirer & Danzinger 1891. [28 Seiten]

3 Bezieht sich auf Christus und die Ehebrecherin.

II. Patriotismus und Christentum

(Christianstvo i patriotizm, 1894)

Graf Leo Tolstoi

Deutsch von Adele Berger4

VORWORT

Die französisch-russischen Festlichkeiten, die im vorigen Oktober in Frankreich stattfanden, haben mich – und zweifellos auch andere – zuerst belustigt, dann erstaunt und zuletzt empört. Ich wollte diese Gefühle in einem kurzen Zeitungsartikel zum Ausdruck bringen, aber während ich die Hauptursachen des Geschehenen näher studierte, kam ich zu den Reflexionen, die ich hiermit dem Leser darlege.

_____

I.

Russen und Franzosen kennen einander seit vielen Jahrhunderten, wobei sie manchmal in freundliche, öfter leider aus Antrieb ihrer Regierungen in sehr unfreundliche Beziehungen zu einander traten. Plötzlich geschah etwas Seltsames. Weil vor zwei Jahren ein französisches Geschwader nach Kronstadt kam, dessen Offiziere nach ihrer Landung viel aßen und tranken und dabei viele falsche und thörichte Reden hörten und hielten und weil voriges Jahr ein russisches Geschwader in Toulon erschien, dessen Offiziere, in Paris angekommen, ebenfalls reichlich aßen und tranken und noch eine größere Menge alberner und unwahrer Reden anhörten und hielten – ja, einzig und allein aus diesem Grunde bildeten sich nicht nur die, die aßen, tranken und sprachen, sondern jeder, der diesen Festen beigewohnt, und selbst solche, die von diesen Vorgängen bloß hörten oder in der Zeitung lasen – kurz, Millionen Franzosen und Russen, plötzlich ein, daß sie auf ganz besondere Weise in einander verliebt seien, das heißt, daß alle Franzosen alle Russen und alle Russen alle Franzosen lieben.

Diese Gefühle kamen in Frankreich durch die Vorgänge im Oktober in ganz unerhörter Weise zum Ausdruck.

Im „Cjelsky Wjestnik“5*, einem Blatte, das seine Informationen der Tagespresse entnimmt, erschien die folgende Beschreibung dieser Vorgänge:

„Als das französische und russische Geschwader zusammentraf, begrüßten sie einander mit Kanonenschüssen, feurigen ,Hurrahs‘ und mit den begeisterten Rufen: ‚Es lebe Rußland!‘ ‚Es lebe Frankreich!‘

In dieses Freudengeschrei mischten sich die Klänge zahlreicher Musikkapellen (auch die meisten Privatdampfer führten solche mit sich), die ‚Das Leben für den Zar‘ und die ‚Marseillaise‘ spielten. Das Publikum auf den Dampfern schwenkte Hüte, Fahnen, Taschentücher und Blumensträuße; viele Boote waren ganz mit Männern und Frauen der arbeitenden Klasse und ihren Kindern besetzt, die Bouquets in den Händen hielten und mit aller Macht ‚Es lebe Rußland!‘ schrieen. Angesichts einer solchen nationalen Begeisterung konnten unsere Seeleute die Thränen nicht zurückhalten.

Im Hafen waren alle französischen Kriegsschiffe in zwei Divisionen ausgefahren, und unsere Flotte, das Admiralsschiff an der Spitze, fuhr zwischen ihnen durch. Das war ein prächtiger Moment.

Das russische Flaggenschiff gab zu Ehren der französischen Flotte einen Salut von fünfzehn Schüssen ab, und das französische Flaggenschiff antwortete mit dreißig. Aus den französischen Schiffen ertönte die russische Nationalhymne; französische Matrosen kletterten auf Maske und Tafelwerk, ununterbrochen ertönte lautes Willkommgeschrei. Die Matrosen schwenkten zu Ehren der lieben Gäste die Mützen, die Zuschauer Hüte und Taschentücher. Überall, auf See und am Strande erdröhnte der Ruf: ‚Es lebe Rußland!‘ ‚Es lebe Frankreich!‘

Wie es bei Besuchen der Marine Brauch ist, gingen Admiral Avellan und die Offiziere seines Stabes ans Land, um den Lokalbehörden ihre Ehrerbietung zu bezeugen.

Auf dem Landungsplatze wurden sie von dem französischen Marinestab und den Oberbeamten des Touloner Hafens empfangen, und unter Kanonendonner und Glockengeläute erfolgte eine freundschaftliche Begrüßung Die Marinekapelle spielte die russische Nationalhymne, die mit einem brausenden ‚Es lebe der Zar!‘ ‚Es lebe Rußland!‘ aufgenommen ward.

Das Geschrei schwoll zu einem mächtigen Getöse an, das die Musik und selbst die Kanonen übertäubte. Die Zeugen dieser Scene erklären, daß die Begeisterung der riesigen Menschenmenge in diesem Moment den höchsten Grad erreichte, und daß es unmöglich wäre, in Worten die Gefühle auszusprechen, die die Herzen aller Anwesenden überfluteten.

Admiral Avellan, unbedeckten Hauptes und begleitet von den französischen und russischen Offizieren, fuhr hierauf in das Gebäude der Marineadministration, wo er von dem französischen Marineminister empfangen wurde.

Bei der Bewillkommnung des Admirals sagte der Minister: ‚Kronstadt und Toulon waren jedes einzeln Zeugen der Sympathie, die zwischen dem französischen und dem russischen Volke besteht. Sie werden überall als Freunde empfangen werden. Die Regierung und ganz Frankreich begrüßt Sie und Ihre Kameraden bei Ihrer Ankunft als die Vertreter einer großen und ehrenhaften Nation.‘

Der Admiral antwortete, daß er keine Worte finden könne, um seine Gefühle auszudrücken. ‚Die russische Flotte und ganz Rußland werden Ihnen für diesen Empfang dankbar sein,‘ fügte er hinzu.

Nach einigen weiteren Worten dankte der Admiral, indem er sich von dem Minister verabschiedete, abermals für den Empfang und fügte hinzu: ‚Ich kann mich nicht entfernen, ohne die Worte auszusprechen, die im Herzen eines jeden Russen geschrieben stehen: ›Es lebe Frankreich!‹‘“6*

Das war der Empfang in Toulon. In Paris war die Bewillkommnung noch außerordentlicher.

Das Folgende ist eine den Zeitungen entnommene Beschreibung des Pariser Empfanges:

,,Aller Augen sind nach dem Boulevard des Italiens gerichtet, wo die russischen Seeleute zum Vorschein kommen sollten. Endlich wird in der Ferne das Gebrause eines wahren Orkanes von Geschrei und Hurrahs gehört. Der Orkan nähert sich. Die Menge wogt auf den Platz. Die Polizei drängt zurück, um den Weg zum Cercle Mititaire freizuhalten, aber die Aufgabe ist keine leichte. Es herrscht ein unglaubliches Gedränge. Endlich erscheint die Spitze des Zuges, und im selben Moment erhebt sich ein betäubendes Geschrei: ‚Es lebe Rußland!‘ ‚Es leben die Russen!‘

Alles zieht den Hut; die Fenster und Balkone, sogar die Dächer sind mit Zuschauern bedeckt, die Taschentücher, Fahnen, Hüte schwenken, enthusiastisch jubeln und aus den oberen Fenstern Wolken trikolorer Kokarden herabwerfen. Ein Meer von Taschentüchern, Hüten und Fahnen wogt über den Köpfen der Menge, die aus hunderttausend Kehlen rasend ‚Es lebe Rußland!‘ schreit, den lieben Gästen die Hände entgegenstreckt und aus jede nur mögliche Art und Weise ihre Begeisterung auszudrücken sucht.“

Ein anderer Korrespondent schreibt, daß das Entzücken der Menge einem Delirium glich. Ein russischer Journalist, der sich zur Zeit in Paris befand, beschreibt den Einzug der russischen Offiziere folgendermaßen:

„In der That, das war ein Ereignis von universaler Bedeutung, erstaunlich, zu Thränen rührend, herzerhebend – ein Ereignis, das die Seele mit einem Schauer jener Liebe durchrieselte, die in allen Menschen Brüder sieht, die Blut vergießen und gewaltsame Einverleibungen haßt, durch die Kinder der liebenden Mutter entrissen werden. Ich habe mich während der letzten Stunden in einer Art von Betäubung befunden. Es war ein fast überwältigend seltsames Gefühl, auf dem Lyoner Bahnhof unter den Vertretern der französischen Regierung in ihren goldgestickten Uniformen, unter den Munizipalbehörden in voller Gala zu stehen und Rufe ‚Es lebe Rußland!‘ ‚Es lebe der Zar!‘ und immer wieder unsern Nationalgesang zu hören.

Wo bin ich? dachte ich, was ist geschehen? Was für eine magische Strömung hat all diese Gefühle, diese Bestrebungen in einen Strom zusammengeführt? Ist das nicht die sichtbare Gegenwart des Gottes der Liebe und Brüderlichkeit, die Gegenwart des höchsten Ideals, das in seinen erhabensten Momenten zu den Menschen herabsteigt?

Meine Seele ist so voll von etwas Schönem, Reinem und Erhabenem, daß meine Feder es nicht auszudrücken vermag. Worte sind zu schwach im Vergleich zu dem, was ich sah und fühlte. Es war nicht Entzücken – dies Wort ist zu alltäglich – es war etwas Besseres, etwas Tieferes, Froheres, Mannigfaltigeres Unmöglich läßt sich beschreiben, was vor sich ging, als Admiral Avellan auf dem Balkon des Cercle Militaire erschien. Worte vermögen hier nichts. Während des ‚Te Deum‘, während der Chor in der Kirche ‚Oh Herr, rette Dein Volk‘ sang, schlugen die triumphierenden Klänge der ,Marseillaise‘, von Fanfaren exekutiert, von der Straße zur offenen Kirchenthür herein.

Das rief einen unbeschreiblichen Eindruck hervor.“7*

_____

II.

Nach der Ankunft in Frankreich gerieten die russischen Seeleute während voller vierzehn Tage aus einer Festlichkeit in die andere; während oder nach einer jeden aßen, tranken oder hielten sie Reden. Der Telegraph aber übermittelte ganz Rußland Bericht, wo und was sie Mittwoch und wo und was sie Freitag aßen und tranken, und was sie bei diesen Gelegenheiten sprachen.

So oft einer der russischen Kommandanten auf das Wohl Frankreichs trank, wurde es der ganzen Welt bekannt gemacht, und jedesmal, wenn der russische Admiral sagte: „Ich trinke auf das schöne Frankreich“, wurde das Universum davon sofort benachrichtigt. Der Eifer der Zeitungen war jedoch derart, daß sie nicht bloß die Toaste verewigten, sondern auch die Gerichte, und nicht einmal die hors-d’oeuvres oder Imbisse ausließen.

So veröffentlichte ein Blatt das folgende Menu, mit dem Kommentar, daß das Diner ein Kunstwerk gewesen sei:

,,Consommé de volaille; petits pâtés.

Mousse de homard parisienne

Noisette de boeuf à la Béarnaise

Faisans à la Périgord

Casseroles de truffes au champagne.

Chaudfroids de volaille à la Toulouse.

Salade russe.

Croûte de fruits toulonnaise.

Parfaits à l'ananas.

Desserts.“

In der nächsten Nummer stand zu lesen: „Das Diner gab dem vorhergehenden nichts nach. Das Menu lautete:

,Potage livonien et Saint-Germain.

Zéphyrs Nantua.

Esturgeon braisé moldave.

Selle de daguet grand veneur, etc. etc.’“

Und die nächste Ausgabe enthielt ein drittes Menu, gefolgt von einer eingehenden Beschreibung der Weinkarte – der und der Liquer, der und der Burgunder, Grand Moët ec.

In einem englischen Blatte wurde die Menge der während der Festlichkeiten ausgetrunkenen berauschenden Liqueure angegeben. Sie war so ungeheuer, daß man kaum glauben kann, daß alle Trunkenbolde von Frankreich und Rußland in so kurzer Zeit so viel bewältigen könnten.

Die gehaltenen Reden wurden ebenfalls veröffentlicht, aber die Menschen waren mannigfaltiger als die Reden. Die letzteren bestanden ohne Ausnahme immer aus denselben Worten in verschiedenen Kombinationen. Der Sinn war immer derselbe:

„Wir lieben einander zärtlich und sind entzückt, so zärtlich verliebt zu sein. Unser Ziel ist nicht Krieg, nicht eine Revanche, nicht die Wiedereroberung der verlorenen Provinzen; unser Ziel ist nur Friede, die Förderung des Friedens, die Sicherheit des Friedens, die Ruhe und der Friede Europas. Es lebe der russische Kaiser und die russische Kaiserin! Wir lieben sie und lieben den Frieden. Es lebe der Präsident der Republik und seine Gattin! Wir lieben sie und lieben den Frieden. Es lebe Rußland, Frankreich, deren Flotte und deren Armee! Wir lieben die Armee, aber auch den Frieden und den Kommandanten der russischen Flotte.“

Die Reden schlossen regelmäßig, wie irgend ein populäres Couplet, mit dem Refrain: ,,Toulon-Kronstadt“ oder ,,Kronstadt-Toulon“. Die Namen dieser Städte, wo so viele verschiedene Gerichte gegessen und so viele Weine getrunken worden waren, wurden wie Worte ausgesprochen, die die Vertreter einer jeden Nation zu den edelsten Thaten antreiben sollten – wie Worte, die keinen Kommentar erfordern, da sie an und für sich einen tiefen Sinn besitzen.

„Wir lieben einander, wir lieben den Frieden, Kronstadt-Toulon!“ Was braucht man diesen Worten noch hinzuzufügen, besonders wenn dabei gleichzeitig zwei Nationalhymnen erklingen – die eine den Zar preisend und alles mögliche Glück auf ihn herabflehend, die andere alle Zaren verfluchend und ihnen Vernichtung weissagend?

Jene, welche ihre Liebesgefühle bei diesen Gelegenheiten besonders gut zum Ausdruck brachten, erhielten Orden und Belohnungen. Andere, die sich wahrscheinlich das Übermaß der Gefühle zu nutze machten, wurden mit den seltsamsten und unerwartetsten Gegenständen beschenkt. Eine französische Provinz beschenkte den Zar mit einem goldenen Buche, in dem, wie es scheint, nichts oder wenigstens nichts von Bedeutung steht, und der russische Admiral erhielt einen blumenbedeckten Aluminiumpflug und noch viele andere ebenso erstaunliche Kleinigkeiten.

Diese sonderbaren Handlungen wurden von noch sonderbareren religiösen Ceremonien begleitet, deren sich, sollte man meinen, die Franzosen schon längst entwöhnt haben müßten.

Seit der Zeit des Konkordats sind schwerlich so viele Gebete gesprochen worden wie während dieser kurzen Zeit. Alle Franzosen wurden plötzlich sehr religiös und brachten in den Zimmern der russischen Seeleute sorgfältig dieselben Bilder an, die sie kurze Zeit vorher ebenso sorgfältig als schädliche Werkzeuge des Aberglaubens aus ihren Schulen entfernt hatten.

Es wurde unaufhörlich gebetet; die Kardinäle und Bischöfe veranstalteten überall Andachten und hielten selbst die seltsamsten ab. So wandte sich ein Bischof in Toulon nach dem Stapellaufe eines Panzerschiffes an den Gott des Friedens, gab aber gleichzeitig zu verstehen, daß er im Notfalle ebenso bereitwillig mit dem Gotte des Krieges verkehren würde:

„Was sein Schicksal sein wird, weiß nur Gott,“ sagte der Bischof, von dem Schiffe sprechend. „Wird es aus seinem schrecklichen Leibe Tod aussprühen? Das weiß niemand. Aber wenn wir, nachdem wir heute zum Gotte des Friedens gebetet haben, später einmal zum Gotte des Krieges werden beten müssen, so können wir sicher sein, daß es gegen den Feind in einer Reihe mit den mächtigen Schiffen vorrücken wird, deren Mannschaft heute in einen so nahen und brüderlichen Bund mit uns getreten ist. Möge ihm aber diese Zukunft nie beschieden sein! Möge dieses Fest nichts als friedliche Erinnerungen zurücklassen, wie die Erinnerung an den Großfürsten Constantini (Constantin Nikolajewitsch besuchte Toulon im Jahre 1857). Möge die Freundschaft Frankreichs und Rußlands diese beiden Nationen zu Hütern des Friedens machen!“

Zu derselben Zeit flogen zehntausende von Telegrammen von Rußland nach Frankreich und von Frankreich nach Rußland; die Frauen Frankreichs beglückwünschten die Frauen Rußlands und diese drückten ihren Dank aus. Eine russische Schauspielertruppe begrüßte französische Schauspieler; die französischen Schauspieler antworteten, daß sie die Begrüßung ihrer russischen Kameraden tief im Herzen tragen würden. Russische Rechtsstudenten in irgend einer russischen Stadt drückten der französischen Nation ihre Begeisterung aus. General so und so dankte Frau so und so. Frau so und so versicherte General so und so der Inbrunst ihrer Gefühle für die russische Nation. Russische Kinder schickten Grüße in Versen an französische Kinder; die französischen Kinder antworteten in Versen und Prosa. Der russische Unterrichtsminister versicherte den französischen Unterrichtsminister der plötzlichen Freundschaft für Frankreich, die in allen Kindern, Beamten und Gelehrten seines Departements entstanden sei. Die Mitglieder des Tierschutzvereins sprachen ihre warme Zuneigung für die Franzosen aus. Die Munizipalität von Kasan that dasselbe.

Der Canonicus von Arrare übermittelte dem Protopopen des kaiserlichen Hofes die Versicherung, daß im Herzen aller französischen Kardinäle und Bischöfe eine tiefe Liebe für Seine Kaiserliche Majestät den Kaiser und die ganze Kaiserliche Familie bestehe, daß die französische und russische Geistlichkeit beinahe denselben Glauben habe und gemeinsam die heilige Jungfrau verehre. Darauf antwortete der Protopope, daß die Gebete des französischen Klerus für die Kaiserliche Familie im Herzen des russischen Volkes, das voller Liebe an dem Zar hänge, ein freudiges Echo finde und daß Frankreich, da die russische Nation die heilige Jungfrau ebenfalls verehre, im Leben und im Tode auf dieselbe zählen könne.

Generale, Telegraphenbeamte und Handelsleute wurden von denselben Gefühlen beseelt. Alle Welt beglückwünschte und dankte einander.

Die Erregung war so groß, daß die außerordentlichsten Dinge geschahen, ohne daß jemand deren Sonderbarkeit bemerkte. Im Gegenteil, jeder billigte sie, war von ihnen entzückt und beeilte sich, etwas Ähnliches zu thun, um von den übrigen nicht übertroffen zu werden.

Wenn manchmal Proteste gegen diesen Wahnwitz erhoben wurden und dessen Unvernunft bewiesen, wurden sie entweder vertuscht oder verheimlicht.8*

*So ist mir der folgende Protest bekannt, den russische Studenten verfaßten und nach Paris schickten, der aber von keinem der Blätter acceptiert wurde:

Offener Brief an die französischen Studenten.

Vor kurzer Zeit hat sich eine kleine Verkörperung russischer Studenten, von ihren Inspektoren angeführt, erkühnt, im Namen der Universität über die Touloner Festlichkeiten zu sprechen.

Wir, die Vertreter des ,Landsleutebundes‘ protestieren hiermit nachdrücklich gegen die Anmaßung dieser Körperschaft und im wesentlichen gegen den Austausch der Begrüßungen, der zwischen ihnen und den französischen Studenten stattfand. Auch wir betrachten Frankreich mit warmer Liebe und tiefem Respekt, aber wir thun dies, weil wir in ihm eine große Nation sehen, die in der Vergangenheit immer der Herold und Verkünder der höchsten Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der ganzen Welt war, und auch als erste kühn versuchte, diese hohen Ideale zu verkörpern.

Der bessere Teil der russischen Jugend war immer bereit, Frankreich als den ersten Kämpfer für eine höhere Zukunft der Menschheit zu akklamieren, aber wir halten Festlichkeiten, wie die von Toulon, nicht für passende Gelegenheiten für solche Begrüßungen.

Im Gegenteile, diese Empfänge repräsentieren einen traurigem aber hoffentlich nur vorübergehenden Zustand: den Verrat Frankreichs an seiner großen historischen Rolle in der Vergangenheit. Das Land, welches einst die ganze Welt einlud, die Ketten des Despotismus zu brechen und jeder Nation, die sich empören wollte um ihre Freiheit zu erlangen, seine brüderliche Hilfe anbot, zündet jetzt Weihrauch vor der russischen Regierung an, die systematisch das normale organische Wachstum eines Volkslebens hindert und erbarmungslos, ohne Bedenken, jedes Streben der russischen Gesellschaft nach Licht, Freiheit und Unabhängigkeit erstickt. Die Touloner Manifestationen sind ein Akt in dem Drama des Antagonismus zwischen Frankreich und Deutschland, den Bismarck und Napoleon III. gegründet haben. Dieser Antagonismus hält heute ganz Europa unter Waffen und erteilt das entscheidende Votum in Europa dem russischen Despotismus, der immer die feste Stütze all dessen gewesen ist, was willkürlich und der Freiheit feindlich war, die Stütze der Tyrannen gegen die Tyrannisierten.

Ein Gefühl des Schmerzes für unser Land, des Bedauerns über die Blindheit eines so großen Teiles der französischen Gesellschaft sind die Gefühle, die diese Festlichkeiten in uns hervorrufen. Wir sind überzeugt, daß die jüngere Generation Frankreichs vom nationalen Chauvinismus nicht verlockt wird und daß sie immer bereit ist, für den besseren sozialen Zustand, dem sich die Gesellschaft nähert, zu kämpfen, und wissen wird, wie sie die jetzigen Ereignisse auszulegen, überhaupt welche Stellung sie ihnen gegenüber einzunehmen hat. Wir hoffen, daß unser entschiedener Protest in dem Herzen der französischen Jugend ein Echo finden wird. –“

(Unterzeichnet). Der versammelte Rat des „Bundes von 24 Landsmannschaften“ an der Moskauer Universität.

Abgesehen von der bei diesen Festlichkeiten verschwendeten Zeit, der unmäßigen Trinkgelage, von denen sich selbst die Kommandanten nicht ausschlossen, der Sinnlosigkeit der gehaltenen Reden, wurden auch ganz wahnsinnige und tolle Handlungen begangen, ohne daß jemand ihnen Aufmerksamkeit schenkte.

So zum Beispiel wurden eine Menge Leute erdrückt und niemand hielt es für notwendig, diese Thatsache zu berichten.

Ein Korrespondent erzählt, er habe auf einem Balle erfahren, daß es in Paris kaum eine Frau gab, die nicht bereit gewesen wäre, ihre Pflichten zu vergessen, um die Wünsche eines der russischen Seeleute zu befriedigen. Und all’ dies ging wie etwas ganz Selbstverständliches unbemerkt vorüber.

Die Erregung förderte auch einige Fälle unverkennbaren Wahnsinns zu Tage. So erwartete eine Frau, nachdem sie ein in den Farben der französisch-russischen Fahnen zusammengestelltes Kleid angelegt hatte, die Ankunft der russischen Seeleute, warf sich in den Fluß und ertrank.

Im allgemeinen spielten die Frauen bei all’ diesen Gelegenheiten eine hervorragendere Rolle als die Männer, leiteten dieselben sogar. Die Französinnen gaben sich nicht nur mit dem Zuwerfen von Blumen, verschiedenen Bändern, dem Überreichen von Geschenken und Adressen zufrieden, sondern warfen sich auf der Straße in die Arme der russischen Seeleute und küßten sie.

Einige Frauen brachten ihre Kinder zum Küssen herbei und wenn die russischen Seeleute diese Bitte erfüllt hatten, waren alle Anwesenden von Freude hingerissen und vergossen Thränen.

Diese seltsame Erregung war so ansteckend, daß, wie ein Korrespondent erzählt, ein russischer Matrose, der vollkommen gesund zu sein schien, mitten am Tage über Bord sprang und mit dem Rufe: „Es lebe Frankreich!“ herumschwamm. Als man ihn ans dem Wasser zog und über sein Benehmen befragte, antwortete er, er habe geschworen, zur Verherrlichung Frankreichs rings um sein Schiff zu schwimmen.

So wuchs die Erregung wie ein rollender Schneeball und nahm zuletzt solche Dimensionen an, daß nicht nur die auf dem Platz befindlichen oder nervös veranlagte Personen, sondern starke, gesunde Männer von der allgemeinen Strömung ergriffen und in einen abnormalen geistigen Zustand versetzt wurden. Ich erinnere mich sogar, dass ich selbst, als ich zerstreut eine Beschreibung dieser Festlichkeiten las, derart von heftiger Bewegung überwältigt wurde, daß ich in Thränen ausbrach und nur mit Anstrengung meine Gefühle beherrschte.

_____

III.

Ein Professor der Psychologie, namens Sikorsky, hat in den „Annalen“ der Kiewer Universität eine geistige Epidemie besprochen, die er im Distrikte Wassilkow studiert hatte und „Malavanchina“ [sic] nannte. Das Symptom dieser Krankheit war nach Sikorsky die Überzeugung der unter dem Einflusse eines gewissen Malevani stehenden Bauern, daß das Ende der Welt nahe sei. Infolgedessen begannen sie ihre Lebensgewohnheiten zu ändern, über ihren Besitz zu verfügen, ihre Kleider zu schmücken und auf das Beste zu essen und trinken. Der Professor hielt diesen Zustand für abnormal; er sagte: „Ihre auffallend gute Laune erreichte oft einen Zustand der Exaltation und zwar aus keinem augenscheinlichen Grunde. Sie waren sentimental, bis zum Übermaß höflich, geschwätzig, hatten lebhafte Bewegungen, Thränen traten rasch in ihre Augen und verschwanden ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie verkauften das Notwendigste, um Schirme, seidene Taschentücher und ähnliche Artikel zu kaufen, die sie zum Schmucke trugen, aßen eine Menge Süßigkeiten, führten eine vollkommen müßige Lebensweise, besuchten einander und gingen zusammen spazieren. Schalt man sie wegen ihres Benehmens und wegen ihres Müßigganges, antworteten sie stets: ‚Wenn es mir gefällt, werde ich arbeiten, wenn es mir nicht gefällt, wozu mich dazu zwingen?‘“

Der gelehrte Professor hielt diesen Zustand für einen ausgesprochenen Fall von Psychopathie und schließt, indem er der Regierung empfiehlt, Maßregeln zur Verhinderung der Ausbreitung anzuwenden: „Diese Malevanchina ist der Aufschrei einer kranken Bevölkerung, ein Gebet um Befreiung von Trunkenheit und Verbesserung der sanitären und Unterrichtszustände.“

Aber wenn die Malevanchina der Aufschrei einer kranken Bevölkerung nach Befreiung von der Trunkenheit und von verderblichen sozialen Zuständen ist, welch’ furchtbarer Aufschrei eines kranken Volkes und welch ein Flehen um Errettung von den Wirkungen des Weines und einer falschen sozialen Existenz ist die neue Krankheit, die mit so furchtbarer Plötzlichkeit in Paris auftrat und den größeren Teil der städtischen Bevölkerung Frankreichs und beinahe die gesamten Regierungskreise, die privilegierten und civilisierten Klassen Rußlands infizierte?

Zugegeben jedoch, daß in dem psychischen Zustande der Malevanchina eine Gefahr existierte und die Regierung wohl daran that, dem Rate des Professors zu folgen, indem sie einige Führer der Malevanchina in Irrenanstalten und Klöstern unterbrachte, andere hingegen in ferne Länder verbannte – um wieviel gefährlicher muß uns diese neue Epidemie erscheinen, die in Toulon und Paris auftrat und sich von dort durch Rußland und Frankreich verbreitete? Um wie viel notwendiger ist es, daß, im Falle die Regierung sich nicht einmischen will, die Gesellschaft entscheidende Maßregeln trifft, um die Ausbreitung der Epidemie zu verhindern!

Die Analogie zwischen beiden Krankheiten ist eine vollkommene.

Dieselbe auffallend gute Laune, die in eine vage und freudige Ekstase übergeht, dieselbe übertriebene Höflichkeit, Geschwätzigkeit, das gerührte Weinen, für dessen Beginnen und Aufhören kein Grund vorliegt; dieselbe festliche Stimmung, dasselbe Spazierengehen und Besuchen; dieselbe Vorliebe für prächtige Kleider, dieselben unklaren und ziellosen Reden, dasselbe Singen und Musizieren, dieselbe dominierende Stellung der Frauen, derselbe clownhafte Zustand der attitudes passionnées, den Sikorsky beobachtete, und der, wie ich glaube mit den verschiedenen, unnatürlichen physischen Attituden übereinstimmt, die viele Leute bei Empfängen und bei den Trinksprüchen der Diners annehmen.

Die Ähnlichkeit ist vollständig; der Unterschied, ein ungeheurer für die Gesellschaft, in der diese Dinge stattfinden, besteht bloß darin, daß in dem einen Falle ein paar hundert armer Bauern ihren Verstand verloren haben, Leute, die von ihrem eigenen kleinen Verdienste leben, ihren Nachbarn keine Gewalt anthun und andere bloß durch die Schilderung ihres Zustandes anstecken können, während im anderen Falle Millionen von Menschen den Verstand verloren haben, die ungeheure Summen Geldes und ungeheure Machtmittel, Flinten, Kanonen, Festungen, Panzerschiffe, Melinit, Dynamit besitzen und außerdem die wirksamsten Mittel zur Verbreitung ihres Wahnwitzes zur Verfügung haben wie Post, Telegraph, Telephon, die gesamte Presse und alle Arten von Zeitschriften, die die Ansteckung mit größtmöglichster Eile in der ganzen Welt verbreiten.

Ein anderer Unterschied besteht darin, daß erstere nicht nur nüchtern bleiben, sondern sich von allen berauschenden Getränken fernhalten, während sich letztere beständig in einem Zustande der Halbtrunkenheit befinden.

Aus diesen Gründen ist zwischen den beiden Gesellschaften, in der solche Epidemien stattfinden, zwischen der von Kiew, wo nach Sikorsky keine Gewaltthat, kein Totschlag vorkommt, und der von Paris, wo bei einem Aufzuge mehr als zwanzig Frauen erdrückt wurden, ein Unterschied, wie zwischen dem Fallen eines kleinen glühenden Kohlenstückchens aus dem Herde auf den Fußboden und dem Feuer, das bereits von den Fußboden und Wänden des Hauses Besitz ergriffen hat.

Das schlimmste Resultat des Ausbruches in Kiew wird sein, daß die Bauern eines millionsten Teiles von Rußland den Ertrag ihrer Mühe ausgeben und die Steuer nicht werden zahlen können. Aber der Ausbruch von Paris und Toulon, der Menschen ergriffen hat, die ungeheure Summen Geldes, die größte Macht, Waffen und Mittel zur Ausbreitung ihres Wahnsinnes besitzen, kann und muß einen furchtbaren Ausgang nehmen. –

_____

IV.

Man kann dem Gefasel eines schwachen, alten unbewaffneten Idioten in Nachtmütze und Schlafrock mitleidig zuhören, ohne ihm zu widersprechen, und ihm sogar aus Gutmütigkeit beistimmen. Wenn jedoch eine Menge kräftiger Irrsinniger, bis an die Zähne mit Messern, Schwertern und Revolvern bewaffnet, wild vor Aufregung ihre mörderischen Waffen schwenkend, aus ihren Zellen hervorbricht, da hört man nicht nur auf, ihnen zuzustimmen, sondern man ist nicht imstande, sich einen Moment sicher zu fühlen.

Ein solcher Zustand höchster Erregung wurde durch die französisch-russischen Empfänge hervorgerufen und hat die ganze russische und französische Gesellschaft ergriffen. Aber diejenigen, welche dieser geistigen Epidemie erlagen, gebieten über die schrecklichsten Waffen des Mordes und der Zerstörung.

Freilich wurde in allen zur Verherrlichung dieser Festlichkeiten gehaltenen Reden und in allen darüber geschriebenen Artikeln beständig verkündet, daß diese Festlichkeiten kein anderes Ziel hätten, als die Sicherstellung des Friedens; selbst die Anhänger des Krieges, darunter der vorher citierte Korrespondent, sprechen nichts von Haß gegen die Eroberer der verlorenen Provinzen, sondern von einer „Liebe, die haßt“.

Die Schlauheit der Geisteskranken ist jedoch bekannt, und wir können begreifen, gerade daß die fortwährende Wiederholung des Wunsches nach Frieden und dieses Schweigen über die wahren Gefühle eines jeden ein höchst bedenkliches Phänomen ist.

Der russische Gesandte sagte in seiner Rede beim Diner im Elysée:

„Ehe ich einen Toast ausbringe, der nicht nur in diesen Wänden ein Echo finden wird, sondern in der tiefsten Seele aller, deren Herzen, fern oder nahe, in dem großen, schönen Frankreich wie in Rußland, in diesem Moment im Einklang mit den unseren klopfen – gestatten Sie mir, Ihnen den Ausdruck tiefster Dankbarkeit für die Begrüßung auszusprechen, die Sie dem vom Zaren zur Erwiderung des Kronstädter Besuches abgesandten Admiral boten. In der hohen Stellung, die Sie einnehmen, drücken Ihre Worte die volle Bedeutung der friedlichen Festlichkeiten aus, die mit solcher Einigkeit, Loyalität und Aufrichtigkeit gefeiert werden.“

Dieselbe grundlose Anspielung auf den Frieden ist in der Rede des französischen Präsidenten zu finden:

„Die Bande der Liebe, welche Rußland und Frankreich verbinden,“ sagte er, „und die vor zwei Jahren durch die erhebenden Manifestationen gestärkt wurden, deren Gegenstand unsere Flotte in Kronstadt war, werden täglich fester; der ehrliche Austausch unserer freundschaftlichen Gefühle muß alle jene begeistern, denen die Wohlfahrt des Friedens, der Sicherheit und des gegenseitigen Vertrauens am Herzen liegt ec.“

In beiden Reden wird grundlos, unerwartet und ohne jede Gelegenheit auf die Wohlthaten des Friedens und die friedlichen Festlichkeiten hingewiesen.

Dasselbe läßt sich in dem Austausch der Telegramme zwischen dem russischen Kaiser und französischen Präsidenten bemerken.

Der Kaiser telegraphierte:

,,In dem Momente, wo die russische Flotte Frankreich verläßt, ist es Mein inniger Wunsch, Ihnen auszusprechen, wie gerührt Ich über den prächtigen und warmen Empfang bin, den Meine Marine überall auf französischem Boden gefunden hat. Die Beweise warmer Sympathie, die abermals so beredt an den Tag gelegt wurden, werden ein frisches Band zu jenen hinzufügen, die beide Länder verbinden, und werden, wie Ich hoffe, zu der Befestigung des allgemeinen Frieden beitragen, der das Ziel Unserer beharrlichen Anstrengungen und Wünsche ist.“

Der französische Präsident antwortete: